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Dear Mr. President

Bevor heu­te Abend das tra­di­ti­ons­rei­che Fuß­ball­spiel zwi­schen Deutsch­land und Eng­land statt­fin­det (also das Auf­ein­an­der­tref­fen zwei­er einst ruhm­rei­cher Fuß­ball­na­tio­nen), möch­te ich noch ein­mal kurz dar­an erin­nern, was das für ein Ver­ein ist, dem Sie da heu­te ver­mut­lich die Dau­men drü­cken wer­den:

Nach­dem DFB-Prä­si­dent Theo Zwan­zi­ger in zwei Instan­zen mit sei­nem Ver­such geschei­tert war, dem frei­en Sport­jour­na­lis­ten Jens Wein­reich unter­sa­gen zu las­sen, ihn einen „unglaub­li­chen Dem­ago­gen“ zu nen­nen, hat der DFB am ver­gan­ge­nen Frei­tag eine gro­ße Ver­leum­dungs­kam­pa­gne gegen Wein­reich los­ge­tre­ten.

Dabei kehrt der DFB nicht nur die bei­den Gerichts­ent­schei­dun­gen zu Unguns­ten Zwan­zi­gers unter den Tep­pich, er ver­dreht in sei­ner Pres­se­mit­tei­lung auch mun­ter Sach­ver­hal­te und Begriff­lich­kei­ten. So scheu­en sich weder DFB noch Zwan­zi­ger, das Wort „Dem­ago­ge“ mit „Volks­ver­het­zer“ zu über­set­zen und aus­schließ­lich auf den Natio­nal­so­zia­lis­mus zu bezie­hen.

Wer die Vita und das kon­se­quen­te Enga­ge­ment von Theo Zwan­zi­ger im Kampf gegen Neo-Nazis kennt, ver­steht selbst­ver­ständ­lich sei­ne Reak­ti­on. Denn als Dem­ago­ge wird ein Volks­ver­het­zer bezeich­net, der sich einer straf­ba­ren Hand­lung schul­dig macht.

(DFB-Vize­prä­si­dent Dr. Rai­ner Koch)

Wenn man eine sol­che Vita hat und außer­dem, wie ich, in Yad Vas­hem war, denkt man anders über die Din­ge nach. Ich bit­te um Ver­ständ­nis, dass mei­ne Emp­find­lich­keit, was die Nazi-Zeit angeht, grö­ßer ist, als das viel­leicht bei andern Leu­ten oder Jün­ge­ren der Fall ist.

(Theo Zwan­zi­ger im Inter­view mit „Direk­ter Frei­stoß“)

Alles wei­te­re kön­nen Sie bei Jens Wein­reich selbst und bei Ste­fan Nig­ge­mei­er nach­le­sen.

Jede Wet­te: wenn der Vor­stand eines Bun­des­li­ga­ver­eins so eine Show abzie­hen wür­de, wür­den die Fans anschlie­ßend im Sta­di­on mit Sprech­chö­ren und Trans­pa­ren­ten des­sen Abset­zung for­dern. Theo Zwan­zi­ger, der sich heu­te Abend mal wie­der mit der Bun­des­kanz­le­rin schmü­cken wird, muss so etwas kaum befürch­ten.

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Improve Your Importance!

Das Peo­p­le-Maga­zin „Vani­ty Fair“ (also des­sen tra­gi­scher deut­scher Able­ger) unter­nimmt zur Zeit mal wie­der einen Ver­such, Rele­vanz zu gene­rie­ren. Dies­mal nicht mit der belieb­ten Serie „Fried­man und die Nazis“, son­dern mit einer gro­ßen Abstim­mung:

Die 100 wichtigsten Deutschen: Stimmen Sie ab!  Sie geben unserem Land Profil, ziehen an den Strippen, sorgen für Kultur, Fortschritt und kontroverse Debatten: 100 Persönlichkeiten, die unsere Gegenwart prägen. Wählen Sie mit uns die wichtigsten Deutschen des Jahres! Unterschätzt oder überschätzt? Starten Sie die Top 100 und klicken Sie auf den entsprechenden Button. Jede Stimme zählt. Ihr Favorit ist nicht dabei? In unserem Forum können Sie ihn gerne nachnommieren. Klicken Sie hier, um sich für das Forum anzumelden.

Man wun­dert sich ein biss­chen, wer es so alles in die (aktu­el­le) Lis­te geschafft hat – über man­che Per­so­nen ärgert man sich, bei ande­ren hält man es für ver­dient und muss zuge­ben, dass man sie selbst ver­ges­sen hät­te.

Beson­ders ange­tan hat es den Machern und Nach­rei­chern der Lis­te offen­bar die Füh­rungs­eta­ge von „Spie­gel Online“ bzw. „Spiel­gel Online“:

65: Wolfgang Büchner - Geschäftsführer Spielgel Online

66: Rüdiger Ditz - Geschäftsführer Spiegel Online

91: Rüdiger Dietz

(Der Mann, der sich zwei Mal mit unter­schied­li­cher Schreib­wei­se, aber glei­chem Foto in der Lis­te fin­det, heißt kor­rekt übri­gens Rüdi­ger Ditz.)

Vor­ne wer­den die Plät­ze natür­lich vor allem von mobi­li­sier­ten Fan­clubs ver­ge­ben (es gibt kei­ne IP-Sper­re, jeder kann so oft abstim­men, wie er mag): Hape Ker­ke­ling, Tokio Hotel, Ange­la Mer­kel, Bushi­do, Bene­dikt XVI., Hel­mut Schmidt, Sido, …

Da stefan-niggemeier-fans.de.vu ver­mut­lich noch eini­ge Zeit auf sich war­ten las­sen wird, dach­te ich mir, ich könn­te ja ersatz­wei­se mal hier im Blog Stim­mung für mei­nen Chef machen – gera­de, wo sich die Ver­ant­wort­li­chen von vanityfair.de die Mühe gemacht haben, mal ein ande­res Foto von ihm zu fin­den.

Also: Kli­cket zuhauf!

PS: Sie tun vanityfair.de damit auch noch was Gutes, denn jeder Klick gilt als page impres­si­on und treibt damit deren Anzei­gen­prei­se in die Höhe.

Nach­trag, 30. August, 02:04 Uhr: Zum The­ma Ditz/​Dietz schick­te David M. die­sen schö­nen Screen­shot:

Außer­dem:

1: Stefan Niggemeier, Medienjournalist und Blogger

Nach­trag, 2. Sep­tem­ber: vanityfair.de hat auf die denk­bar unsou­ve­räns­te Wei­se reagiert und den Coun­ter für Ste­fan Nig­ge­mei­er (und offen­sicht­lich nur für ihn) ein­fach zurück­ge­setzt.

Unab­hän­gig davon bin ich der Mei­nung, dass die­se pein­li­che Abstim­mung inzwi­schen genug Auf­merk­sam­keit abbe­kom­men hat, und möch­te Sie des­halb bit­ten, mit vanityfair.de das zu tun, was man mit vanityfair.de am Bes­ten tut, und den Quatsch für­da­hin ein­fach zu igno­rie­ren.

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Digital

Heute ist kein Kavaliersdelikt

Das „Her­un­ter­la­den von Com­pu­tern“ gefähr­det die deut­sche Kul­tur­na­ti­on, sagt Ange­la Mer­kel in Ihrem gest­ri­gen Video­cast und reagiert damit auf den offe­nen Brief, den ihr Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter der „Krea­tiv­wirt­schaft“ (ist bei solch pein­li­chen Spek­ta­keln nie weit weg: Prof. Die­ter Gor­ny) geschrie­ben haben.

Bevor Mer­kel und Gor­ny mei­ne eige­ne Krea­ti­vi­tät gefähr­den, habe ich Mer­kels Anspra­che des­halb kurz in den Mixer gepackt. Und das kam dabei her­aus: Quatsch mit Sau­ce.

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Digital Gesellschaft

Angie, they can’t say we never tried

Kön­nen Sie sich die Ver­zweif­lung vor­stel­len, die in Men­schen vor­herr­schen muss, damit sie sich in ihrer Not aus­ge­rech­net an Ange­la Mer­kel wen­den? Dann ahnen Sie, was in Leu­ten wie Götz Als­mann, Hein­rich Bre­lo­er, Till Brön­ner, Det­lev Buck, Roger Cice­ro, Samy Delu­xe, Hel­mut Dietl, DJ Ötzi, Klaus Dol­din­ger, Bernd Eichin­ger, Die­ter Falk, Ame­lie Fried, Hans W. Gei­ßen­dör­fer, Her­bert Grö­ne­mey­er, Max Her­re, Höh­ner, Juli, Udo Jür­gens, Klaus&Klaus, Alex­an­der Klaws, René Kol­lo, Mickie Krau­se, Joa­chim Król, LaFee, Udo Lin­den­berg, Annett Loui­san, Peter Maf­fay, Mar­quess, Rein­hard Mey, MIA, Micha­el Mit­ter­mey­er, Mon­ro­se, Oomph!, Frank Ramond, Revol­ver­held, Bar­ba­ra Schö­ne­ber­ger, Atze Schrö­der, Til Schwei­ger, Scoo­ter, Ralph Sie­gel, Tokio Hotel, Peter Wackel und Sön­ke Wort­mann (um nur eini­ge zu nen­nen) vor­ge­hen muss: die haben näm­lich der deut­schen Bun­des­kanz­le­rin einen offe­nen Brief geschrie­ben, der ges­tern als ganz­sei­ti­ge Anzei­ge in der Süd­deut­schen Zei­tung (59.900 Euro), der FAZ (37.590 Euro) und der taz (8.064 Euro) erschie­nen ist.

In die­sem Stoß­ge­bet an St. Ange­la heißt es unter ande­rem:

Vor allem im Inter­net wer­den Musik, Fil­me oder Hör­bü­cher mil­lio­nen­fach unrecht­mä­ßig ange­bo­ten und her­un­ter­ge­la­den, ohne dass die Krea­ti­ven, die hin­ter die­sen Pro­duk­ten ste­hen, dafür eine fai­re Ent­loh­nung erhal­ten.

Klar, auch ich wür­de nicht wol­len, dass jemand mei­ne Tex­te aus dem Blog klaut und irgend­wo kos­ten­los anbie­tet … Moment, das Bild ist schief. Jeden­falls: Natür­lich kann man ver­ste­hen, dass der­je­ni­ge, der ein Lied schreibt, dafür genau­so ent­lohnt wer­den will, wie der­je­ni­ge, der einen Tisch baut. Dar­über soll­te auch all­ge­mei­ner Kon­sens herr­schen. Um das Pro­blem in den Griff zu krie­gen, braucht man aber offen­bar mehr als zwei­hun­dert Krea­ti­ve (oder zumin­dest ande­re Krea­ti­ve), denn kon­kre­te Ideen haben die Damen und Her­ren Kul­tur­schaf­fen­de nicht.

Dafür aber eine ordent­li­che Por­ti­on Ahnungs­lo­sig­keit und Arro­ganz:

Ohne Musik und Hör­bü­cher bräuch­ten wir kei­ne iPods, ohne Fil­me kei­ne Flach­bild­fern­se­her, ohne Breit­band­in­hal­te kei­ne schnel­len Inter­net­zu­gän­ge.

Gemeint ist wohl eher so etwas wie „Ohne Musik, die über die Musik­in­dus­trie ver­trie­ben und über die GEMA abge­wi­ckelt wird, sowie ohne Hör­bü­cher von Autoren, die bei der VG Wort ange­mel­det sind, …“ – und das ist natür­lich Quark, denn selbst wenn sich mor­gen alle Wer­ke aller Unter­zeich­ner und ande­rer Rock­be­am­ten (War­um steht eigent­lich Heinz Rudolf Kun­ze nicht auf der Lis­te?) in Luft auf­lö­sen soll­ten, gäbe es ja immer noch genug Musik, Fil­me und Tex­te unter Crea­ti­ve-Com­mons-Lizenz, die so eine Breit­band­lei­tung ver­stop­fen könn­ten.

Es geht aber noch düm­mer:

Auf euro­päi­scher Ebe­ne erken­nen immer mehr Län­der, dass die mas­sen­haf­te indi­vi­du­el­le Rechts­ver­fol­gung im Inter­net nur eine Zwi­schen­lö­sung sein kann und tech­no­lo­gi­scher Fort­schritt und der Schutz geis­ti­gen Eigen­tums nicht im Wider­spruch zuein­an­der ste­hen dür­fen. Frank­reich und Eng­land gehen hier mit bei­spiel­haf­ten Initia­ti­ven vor­an. Dort sind Inter­net­pro­vi­der sowie die Musik- und Film­in­dus­trie auf­ge­for­dert, unter staat­li­cher Auf­sicht gemein­sam mit Ver­brau­cher- und Daten­schüt­zern Ver­fah­ren zum fai­ren Aus­gleich der Inter­es­sen aller Betei­lig­ten zu ent­wi­ckeln.

Die ver­meint­lich leuch­ten­den Bei­spie­le Frank­reich und Eng­land ste­hen für Plä­ne, nach denen Inter­net­pro­vi­der ihren Kun­den den Zugang abklem­men sol­len, wenn die­se drei Mal urhe­ber­recht­lich geschütz­tes Mate­ri­al ille­gal her­un­ter­ge­la­den haben. Mal davon ab, dass ich die tech­ni­sche Durch­führ­bar­keit die­ses Unter­fan­gens bezweif­le, ent­stam­men sol­che Plä­ne doch den sel­ben hilf­lo­sen Hir­nen, die schon kopier­ge­schütz­te CDs, das Digi­tal Rights Manage­ment und ähn­li­che … äh, ja, doch: Flops her­vor­ge­bracht haben.

Tim Ren­ner, dem ich bekannt­lich die Ret­tung der Musik­in­dus­trie im Allein­gang zutraue, schrieb schon letz­te Woche zu dem The­ma:

Ver­steht mich nicht falsch, ich fin­de über­aus legi­tim, dass Künst­ler und Indus­trie ver­lan­gen, in irgend­ei­ner wei­se vom Staat geschützt zu wer­den. Ich glau­be jedoch nicht, dass dabei pri­mär die Bestra­fung, son­dern die Beloh­nung im Vor­der­grund ste­hen soll­te. Der Staat soll­te hell­hö­rig wer­den, wenn die Indus­trie durch Flat­rates für Musik ver­sucht, ille­ga­le Pra­xis zu lega­li­sie­ren.

Wäh­rend also eini­ge ech­te Krea­ti­ve gera­de Kon­zep­te für ein kul­tu­rel­les „All you can eat“-Büffet ent­wi­ckeln, stel­len „rund 200 teil­wei­se pro­mi­nen­te Künst­ler“ (sen­sa­tio­nel­le For­mu­lie­rung von heise.de) an höchs­ter Stel­le einen Antrag auf Haus­ver­bot wegen Laden­dieb­stahls.

Noch mal: Die sol­len sowas ruhig for­dern. Die sol­len ruhig besorgt sein, wie der kul­tu­rel­le Nach­wuchs in die­sem Land an sein Geld für But­ter, Brot und Fleisch­wurst kommt (wobei das ein Pro­blem des gesam­ten Nach­wuch­ses wer­den könn­te). Aber: Gin­ge es nicht ’ne Num­mer klei­ner? Wie wäre es mit eige­nen Ideen? Und vor allem: Mit weni­ger Arro­ganz?

Lang­fris­tig wird so die kul­tu­rel­le und krea­ti­ve Viel­falt in unse­rem Land abneh­men und wir ver­spie­len eine unse­rer wich­tigs­ten Zukunfts­res­sour­cen.

Da kann man ja regel­recht froh sein, dass es zu Zei­ten von Goe­the und Beet­ho­ven noch kein böses, böses Inter­net gab. Das gab es erst bei DJ Ötzi, Mickie Krau­se, Atze Schrö­der und Peter Wackel.

Mehr zum The­ma bei Nerd­core, gulli.com, Netz­wer­tig, Myoon oder Ciga­ret­tes and Cof­fee.

Nach­trag 20:25 Uhr: Frau Mer­kel hat auf den pein­li­chen Bet­tel­brief reagiert.

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Politik

Bananenrepublik Deutschland

Ich hat­te ja schon das eine oder ande­re Mal geschrie­ben, dass ich mir ein deut­sches Äqui­va­lent zur „Dai­ly Show“ wün­sche. Im Moment bräuch­te man dafür noch nicht mal Autoren, man müss­te nur die Zei­tung auf­schla­gen:

In den letz­ten drei Wochen hat die SPD gefühl­te ein­hun­dert Mal ihre Plä­ne für Hes­sen geän­dert – „regie­ren“, „nicht regie­ren“, „regie­ren“, „nicht regie­ren“ – ganz so, als sei Homer Simpson plötz­lich zum Bun­des­vor­sit­zen­den der Par­tei ernannt wor­den (er hät­te bes­se­re Umfra­ge­wer­te als Kurt Beck, so viel ist klar). Im Umgang mit der Abge­ord­ne­ten Dag­mar Metz­ger bewie­sen die Sozis noch kurz, dass ihnen Par­tei­dis­zi­plin wich­ti­ger ist als Moral und Kon­se­quenz, dann gab Peer Stein­brück die Bun­des­tags­wahl 2009 ver­lo­ren. Das wird vor allem Gui­do Wes­ter­wel­le gefreut haben, der gera­de erst die CDU kri­ti­siert und zu Pro­to­koll gege­ben hat­te, er kön­ne sich inzwi­schen doch eine Zusam­men­ar­beit mit SPD und/​oder Grü­nen vor­stel­len. Roland Koch, der einen der schlimms­ten Wahl­kämp­fe der Nach-Strauß-Ära geführt hat­te, war­te­te ein­fach so lan­ge, bis sich der poli­ti­sche Geg­ner ganz von allein zer­legt hat­te, dann deu­te­te er an, selbst auf das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten ver­zich­ten zu wol­len.

Unter­des­sen ver­ur­sach­ten ver­schie­de­ne Gewerk­schaf­ten (allen vor­an die GDL) alle paar Tage ein mit­tel­schwe­res bis gro­ßes Cha­os und sorg­ten damit für ein gro­ßes Hal­lo in der Bevöl­ke­rung, die sich eh schon hin­ter der Lin­ken ver­sam­melt hat­te, um nach 17 Jah­ren end­lich mal wie­der so was ähn­li­ches wie Sozia­lis­mus nach Deutsch­land zurück­zu­ho­len. Am liebs­ten hät­ten die haupt­be­ruf­li­chen „Die da oben“-Beschimpfer (auch Wäh­ler genannt) wahr­schein­lich eine gro­ße Koali­ti­on aus Lin­ker und FDP, die einen Wie­der­auf­bau des Sozi­al­staats bei gleich­zei­ti­ger Abschaf­fung aller Steu­ern durch­setzt. Wer Kanz­ler wür­de, wäre dabei egal, denn von Ange­la Mer­kel hat man in den letz­ten Wochen ja auch nichts gehört.

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Politik Gesellschaft

„Nazi!“ – „Selber!“

Bei­na­he wöchent­lich erschüt­tert ein neu­er „Nazi-Skan­dal“ die Öffent­lich­keit. Kaum jemand kann noch den Über­blick behal­ten, wer gera­de wie­der ver­se­hent­lich oder absicht­lich etwas gesagt hat, was „halt nicht geht“.

Das Dienst­leis­tungs­blog Cof­fee And TV hat sich des­halb bemüht, einen his­to­ri­schen Abriss der skan­da­lö­ses­ten Skan­da­le und der empö­rens­wer­tes­ten Ent­glei­sun­gen zusam­men­zu­stel­len, der selbst­ver­ständ­lich kei­nen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit erhe­ben will:

  • 1979 Als Franz Josef Strauß im Wahl­kampf mit Eiern und Toma­ten bewor­fen wird, ver­gleicht sein Wahl­kampf­lei­ter Edmund Stoi­ber das Ver­hal­ten der Men­schen mit dem der „schlimms­ten Nazi-Typen in der End­zeit der Wei­ma­rer Repu­blik“.
  • Sep­tem­ber 1980 In „Kon­kret“ erscheint ein Arti­kel von Hen­ryk M. Bro­der, der glaubt, bei einer Artis­tik­num­mer im „Cir­cus Ron­cal­li“ eine „faschis­ti­sche Ästhe­tik“ und den Hit­ler­gruß beob­ach­tet zu haben.
  • 15. Juni 1983 Hei­ner Geiß­ler (CDU) sagt in einer Sicher­heits­de­bat­te im Bun­des­tag: „Ohne den Pazi­fis­mus der 30er Jah­re wäre Ausch­witz über­haupt nicht mög­lich gewe­sen.“
  • 15. Juli 1982 Oskar Lafon­taine äußert sich über die „Sekun­där­tu­gen­den“ von Bun­des­kanz­ler Hel­mut Schmidt, mit denen „man auch ein KZ betrei­ben“ kön­ne.
  • 25. April 1983 Der „Stern“ prä­sen­tiert auf einer Pres­se­kon­fe­renz die angeb­li­chen Tage­bü­cher Adolf Hit­lers, die sich zehn Tage spä­ter als Fäl­schung erwei­sen. Die Chef­re­dak­ti­on muss zurück­tre­ten, Repor­ter Gerd Hei­de­mann und Fäl­scher Kon­rad Kujau wer­den zu Haft­stra­fen ver­ur­teilt.
  • 1985 Alt-Kanz­ler Brandt sagt, Hei­ner Geiß­ler sei „seit Goeb­bels der schlimms­te Het­zer in unse­rem Land.“
  • 15. Okto­ber 1986 In einem Inter­view mit „News­week“ ver­gleicht Hel­mut Kohl die PR-Fähig­kei­ten des sowje­ti­schen Staats- und Par­tei­chefs Michail Gor­bat­schow mit denen von Joseph Goeb­bels.
  • 17. Okto­ber 1988 In einem Arti­kel in der „taz“ bezeich­net der freie Mit­ar­bei­ter Tho­mas Kapiel­ski ein Dis­co als „Gas­kam­mer­voll“. Nach wochen­lan­gen Leser­pro­tes­ten wer­den die zustän­di­gen Redak­teu­rin­nen ent­las­sen.
  • 10. Novem­ber 1988 Bun­des­tags­prä­si­dent Phil­ipp Jen­nin­ger hält eine Rede über das „Fas­zi­no­sum“ des Natio­nal­so­zia­lis­mus und muss nach öffent­li­chen Pro­tes­ten sei­nen Rück­tritt erklä­ren.
  • 10. Dezem­ber 1988 Wiglaf Dros­te über­schreibt einen Arti­kel in der „taz“ über Wolf­gang Neuss mit „Trau­er­ar­beit macht frei“. Die Leser­brie­fe tref­fen wasch­kör­be­wei­se in der Redak­ti­on ein.
  • 6. April 1994 Das für den 20. April geplan­te Fuß­ball­län­der­spiel Deutsch­land – Eng­land im Ber­li­ner Olym­pia­sta­di­on wird nach Pro­tes­ten abge­sagt.
  • 10. Febru­ar 1997 In Flo­ri­da herrscht ein betrun­ke­ner Harald Juhn­ke einen far­bi­gen Wach­mann an: „Du dre­cki­ger N[*****], bei Hit­ler wäre so etwas ver­gast wor­den.“
  • Mai 1997 Bei einem Gast­spiel in Isra­el unter­schreibt ein Bas­sist der Deut­schen Oper eine Hotel­rech­nung mit „Adolf Hit­ler“.
  • Juni 1998 Nokia wirbt mit dem Slo­gan „Jedem das Sei­ne“ für aus­tausch­ba­re Han­dy­co­ver. Nach Pro­tes­ten wird die Kam­pa­gne ein­ge­stellt.
  • 11. Okto­ber 1998 Mar­tin Wal­ser hält in der Frank­fur­ter Pauls­kir­che sei­ne „Moralkeulen“-Rede, für die er von Ignatz Bubis lang­an­hal­tend kri­ti­siert wird.
  • Febru­ar 1999 Nach dem Raus­wurf von Trai­ner Horst Ehrm­an­traut sagt der Ein­tracht-Frank­furt-Spie­ler Jan-Age Fjör­toft laut Sport­di­rek­tor Ger­not Rohr: „Vor­her war es Hit­ler­ju­gend, jetzt ist es kor­rekt.“
  • 1. Febru­ar 2001 Nico­la Beer, FDP-Abge­ord­ne­te im hes­si­schen Land­tag, sieht den Unter­schied zwi­schen den „Putz­grup­pen“, denen Josch­ka Fischer frü­her ange­hört hat, und Neo­na­zis „nur dar­in, dass die Putz­trup­pen damals mit Turn­schu­hen im Wald unter­wegs waren und dass die heu­te Sprin­ger­stie­fel anha­ben.“
  • 12. März 2001 Bun­des­um­welt­mi­nis­ter Jür­gen Trit­tin sagt über den kahl­köp­fi­gen CDU-Gene­ral­se­kre­tär, die­ser habe „die Men­ta­li­tät eines Skin­heads und nicht nur das Aus­se­hen“.
  • März 2002 Jamal Kars­li, damals Grü­nen-Abge­ord­ne­ter im NRW-Land­tag ver­öf­fent­licht eine Pres­se­er­klä­rung mit der Über­schrift „Israe­li­sche Armee wen­det Nazi-Metho­den an!“ Kurz dar­auf ver­lässt er die Grü­nen und wird von Jür­gen W. Möl­le­mann kurz­zei­tig in die FDP-Frak­ti­on geholt.
  • 13. Mai 2002 Im FAZ-Feuil­le­ton schreibt Patrick Bah­ners über die feh­len­de Regie­rungs­er­fah­rung des FDP-Kanz­ler­kan­di­da­ten Gui­do Wes­ter­wel­le: „Der letz­te deut­sche Kanz­ler, den nur das Cha­ris­ma des Par­tei­füh­rers emp­fahl, war Adolf Hit­ler.“ FDP-Gene­ral­se­kre­tä­rin Cor­ne­lia Pie­per for­dert ver­geb­lich eine Ent­schul­di­gung.
  • 13. August 2002 Weil er sich vom Rasen­mä­hen sei­ner Nach­barn beläs­tigt fühlt, bezeich­net der Lie­der­ma­cher Rein­hard Mey die­se als „Gar­ten­na­zis“.
  • 29. August 2002 Wie der „Spie­gel“ berich­tet, habe Hel­mut Kohl Bun­des­tags­prä­si­dent Wolf­gang Thier­se in einem pri­va­ten Gespräch als „schlimms­ten Prä­si­den­ten seit Her­mann Göring“ bezeich­net.
  • Sep­tem­ber 2002 Nach einer wochen­lan­gen Anti­se­mi­tis­mus­de­bat­te mit Michel Fried­man ver­öf­fent­licht Jür­gen W. Möl­le­mann weni­ge Tage vor der Bun­des­tags­wahl ein Flug­blatt, auf dem er Fried­man und Ari­el Sharon scharf angreift. Dem Par­tei­aus­schluss kommt er im März 2003 durch einen Aus­tritt zuvor.
  • 18. Sep­tem­ber 2002 Her­ta Däub­ler-Gme­lin ver­gleicht die Poli­tik Geor­ge W. Bushs mit der Adolf Hit­lers.
  • 11. Dezem­ber 2002 Roland Koch bezeich­net die Rei­chen-Kri­tik von Ver.di-Chef Frank Bsir­s­ke als „eine neue Form des Sterns auf der Brust“.
  • 2. Juli 2003 Im Euro­päi­schen Par­la­ment schlägt Sil­vio Ber­lus­co­ni den deut­schen SPD-Abge­ord­ne­ten Mar­tin Schulz „für die Rol­le des Lager­chefs“ in einem Spiel­film über Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger vor.
  • 3. Okto­ber 2003 Bei einer Rede zum Tag der deut­schen Ein­heit han­tiert der CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Mar­tin Hoh­mann mit dem Begriff „Täter­volk“ in der Nähe zu „den Juden“ und wird im fol­gen­den Jahr aus der Par­tei aus­ge­schlos­sen.
  • 30. August 2004 Auf dem selbst­be­ti­tel­ten Album der Liber­ti­nes erscheint ein Song namens „Arbeit Macht Frei“. Da Pete Doh­erty aber noch nicht der „Skan­dal-Rocker“ und „(Ex-)Freund von Kate Moss“ ist, ist die­ser Umstand kei­ne Mel­dung wert.
  • 15. Dezem­ber 2004 In Hes­sen dür­fen Ord­nungs­äm­ter „Ord­nungs­po­li­zei“ hei­ßen. Da der Begriff schon für die Dach­or­ga­ni­sa­ti­on der Poli­zei im Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­wen­det wur­de, kommt es zu Pro­tes­ten und schließ­lich zur Auf­lö­sung der Behör­de.
  • 6. Janu­ar 2005 Der Köl­ner Erz­bi­schof Joa­chim Kar­di­nal Meis­ner ver­gleicht Abtrei­bun­gen mit den Ver­bre­chen von Hit­ler und Sta­lin.
  • 13. Janu­ar 2005 Der bri­ti­sche Prinz Har­ry erscheint in einer Nazi-Uni­form auf einem Kos­tüm­ball.
  • 13. Mai 2005 Der bay­ri­sche Wis­sen­schafts­mi­nis­ter Tho­mas Gop­pel bezeich­net nach einer Rede das Ver­hal­ten pro­tes­tie­ren­der Stu­den­ten als „Hin­weis auf die Into­le­ranz, die uns damals in das Schla­mas­sel gebracht haben“.
  • 12. Juli 2005 SPD-Frak­ti­ons­vi­ze Lud­wig Stiegler ver­gleicht den CDU-Slo­gan „Sozi­al ist, was Arbeit schafft“ mit der KZ-Inschrift „Arbeit macht frei“.
  • 16. Sep­tem­ber 2005 Weil CDU-Abge­ord­ne­te die Rede eines SPD-Abge­ord­ne­ten mit Zwi­schen­ru­fen stö­ren, ver­gleicht Sig­mar Gabri­el deren Ver­hal­ten mit dem der Nazis.
  • Sep­tem­ber 2005 Die­ter Tho­mas Heck ver­gleicht Ange­la Mer­kels Rhe­to­rik mit der Adolf Hit­lers.
  • 24. Febru­ar 2006 Weil er einen jüdi­schen Jour­na­lis­ten mit einem KZ-Auf­se­her ver­gli­chen hat­te, wird der Lon­do­ner Bür­ger­meis­ter Ken Living­stone für vier Wochen vom Dienst sus­pen­diert.
  • 17. August 2006 Bei einem Test­spiel in Ita­li­en for­men kroa­ti­sche Fuß­ball­fans auf der Tri­bü­ne ein Haken­kreuz.
  • Novem­ber 2006 Der Stu­diVZ-Grün­der Ehs­san Daria­ni ver­schickt eine Geburts­tags­ein­la­dung im Sti­le des „Völ­ki­schen Beob­ach­ters“.
  • 9. Febru­ar 2007 Ein „Bild“-Leser ent­deckt in Goog­le Earth den Schrift­zug „Nazi Ger­ma­ny“ bei Ber­lin.
  • 9. Febru­ar 2007 Die RTL-Woh­nungs­ver­schö­ne­rin Tine Witt­ler erwirkt eine einst­wei­li­ge Ver­fü­gung gegen einen Trai­ler für die fik­ti­ve Sen­dung „Tine Hit­ler: Ein­marsch in vier Wän­den“ bei Come­dy Cen­tral („täg­lich von 19.33 Uhr bis 19.45 Uhr“).
  • 14. März 2007 Bei einer inter­nen Unter­su­chung stellt die Frank­fur­ter Poli­zei fest, dass sich Per­so­nen­schüt­zer von Michel Fried­man ger­ne mit Nazi-Sym­bo­len prä­sen­tier­ten.
  • 11. April 2007 In sei­ner Trau­er­re­de auf Hans Fil­bin­ger bezeich­net Gün­ther Oet­tin­ger den frü­he­ren Mari­ne­rich­ter als „Geg­ner des NS-Regimes“.
  • 6. Sep­tem­ber 2007 Bei einer Buch­vor­stel­lung äußert sich Eva Her­man umständ­lich und miss­ver­ständ­lich über die Fami­li­en­po­li­tik im Natio­nal­so­zia­lis­mus und wird vom NDR gefeu­ert.
  • 14. Sep­tem­ber 2007 Im Köl­ner Dom warnt Joa­chim Kar­di­nal Meis­ner: „Dort, wo die Kul­tur vom Kul­tus, von der Got­tes­ver­eh­rung abge­kop­pelt wird, erstarrt der Kult im Ritua­lis­mus und die Kul­tur ent­ar­tet.“
  • 9. Okto­ber 2007 Bei einem Auf­tritt in der Show von Johan­nes B. Ker­ner ver­hed­dert sich Eva Her­man aber­mals in rhe­to­ri­schen Fuß­an­geln, als sie von Hit­lers Auto­bah­nen spricht. Es ist ihr letz­ter Fern­seh­auf­tritt bis heu­te.
  • 20. Okto­ber 2007 Bischof Wal­ter Mixa fühlt sich durch Äuße­run­gen von Clau­dia Roth „in erschre­cken­der Wei­se an die Pro­pa­gan­da-Het­ze der Natio­nal­so­zia­lis­ten gegen die Katho­li­sche Kir­che und ihre Reprä­sen­tan­ten“ erin­nert.
  • 25. Okto­ber 2007 In der ers­ten Sen­dung von „Schmidt & Pocher“ kommt ein „Nazo­me­ter“ zum Ein­satz, das für Pro­tes­te sorgt.
  • 7. Novem­ber 2007 Wolf­gang Schäub­le sagt im Hin­blick auf die Mas­sen­kla­ge gegen die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung: „Wir hat­ten den ‚größ­ten Feld­herrn aller Zei­ten‘, den GröFaZ, und jetzt kommt die größ­te Ver­fas­sungs­be­schwer­de aller Zei­ten.“
  • 27. Dezem­ber 2007 Will Smith spe­ku­liert über Adolf Hit­lers Mor­gen­ge­dan­ken.
  • 20. Janu­ar 2008 Gui­do Knopp fühlt sich durch einen Vor­trag von Tom Crui­se an die Sport­pa­last-Rede von Joseph Goeb­bels erin­nert.
  • 23. Janu­ar 2008 „Bild“ ver­öf­fent­licht ein Video, das DJ Tomekk mit erho­be­nem rech­ten Arm und beim Sin­gen der ers­ten Stro­phe des „Deutsch­land­lieds“ zeigt.
  • 30. Janu­ar 2008 In der Pro­Sie­ben-Quiz­show „Night­l­oft“ sagt Mode­ra­to­rin Julia­ne Zieg­ler „Arbeit macht frei“. Am nächs­ten Mor­gen trennt sich der Sen­der von ihr.
  • 31. Janu­ar 2008 In Rio de Janei­ro ver­bie­tet ein Gericht den Ein­satz eines Kar­ne­vals­wa­gens mit über­ein­an­der gesta­pel­ten Holo­caust-Opfern und eines Tän­zers im Hit­ler­kos­tüm beim Kar­ne­vals­zug.

Mit Dank an Niels W. für die indi­rek­te Anre­gung und Ste­fan N. für die Unter­stüt­zung bei der Recher­che.

Unter Zuhil­fe­nah­me von agitpopblog.org, FAZ.net und der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler an der FU Ber­lin.

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Politik

Die Normalität des Bösen

Udo Vet­ter hat im Law­blog eine sehr inter­es­san­te MP3 ver­linkt. Zu hören ist Ange­la Mer­kel bei ihrem gest­ri­gen Auf­tritt in der Stadt­hal­le Osna­brück, wo sie den nie­der­säch­si­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Chris­ti­an Wulff im Wahl­kampf unter­stütz­te.

Die­ser gut ein­mi­nü­ti­ge Aus­schnitt ist bemer­kens­wert – sprach­lich wie inhalt­lich. Und des­halb gehen wir die wesent­li­chen Stel­len mal gemein­sam durch.

Sie wer­den sich erin­nern, die Älte­ren unter Ihnen, wie vie­le Schlach­ten wir schon geschla­gen haben.

War­um aus­ge­rech­net Frau­en immer so eine mar­tia­li­sche Spra­che an den Tag legen müs­sen, habe ich mich schon bei Eva Her­man gefragt. Aber das ist hier nur ein unwich­ti­ges Detail …

Heu­te hät­ten wir weder die liba­ne­si­schen Kof­fer­bom­ber gefun­den, noch hät­ten wir die Schlä­ge­rei­en des alten Man­nes in der U‑Bahn in Mün­chen so schnell auf­klä­ren kön­nen, und heu­te fin­det jeder Video­über­wa­chung auf gro­ßen Plät­zen, öffent­li­chen Plät­zen ganz nor­mal.

Mit den „Kof­fer­bom­bern“, die auch von seriö­sen Medi­en nur unter Auf­bie­tung von Anfüh­rungs­zei­chen so genannt wer­den, war es so: Der ers­te Ver­däch­ti­ge wur­de nach Hin­wei­sen des liba­ne­si­schen Geheim­diens­tes fest­ge­nom­men, der zwei­te stell­te sich im Liba­non selbst. Und die bei­den jun­gen Män­ner, die in Mün­chen einen Rent­ner zusam­men­ge­schla­gen haben (Ist die For­mu­lie­rung „die Schlä­ge­rei­en des alten Man­nes“ nicht irgend­wie drol­lig?) wur­den mit­hil­fe eines kurz zuvor gestoh­le­nen Mobil­te­le­fons über­führt.

Auch die Behaup­tung, „jeder“ fän­de die Video­über­wa­chung „nor­mal“, hal­te ich für sehr gewagt – Frau Mer­kel aber bekannt­lich nicht.

Wenn es die Uni­on nicht gewe­sen wäre, die dafür gekämpft hät­te, dass das not­wen­dig ist, hät­ten wir heu­te noch kei­ne Video­über­wa­chung.

Es mag eine leich­te Unsi­cher­heit in der frei­en Rede sein, aber fin­den Sie es nicht auch irgend­wie merk­wür­dig, dass die Uni­on dafür „kämpft“, dass etwas „not­wen­dig“ ist? Ent­we­der etwas ist not­wen­dig, oder es ist es nicht.

Wir wer­den nicht zulas­sen, dass tech­nisch man­ches mög­lich ist, aber der Staat es nicht nutzt, dafür aber die Ver­bre­cher und Täter und Ter­ro­ris­ten es nut­zen, das ist nicht unser Staat, der Staat muss hier hart sein.

„Tech­nisch mög­lich“ sind auch die Fol­ter mit Elek­tro­schocks, die geziel­te Tötung von Ver­däch­ti­gen oder ande­re, gegen die UN-Anti­fol­ter­kon­ven­ti­on ver­sto­ßen­de Maß­nah­men. Will der Staat die zukünf­tig auch nut­zen?

Wie weit will „der Staat“ (Wer soll das über­haupt sein? Sie? Ich? Mer­kel­schäub­le­zy­pries?) beim Wett­rüs­ten mit den bösen Jungs gehen? „Die machen das, also machen wir das auch“, hal­te ich für eine sehr gefähr­li­che Argu­men­ta­ti­on, mit der man den Boden des Rechts­staats schon nach kur­zer Zeit ver­lässt.

Und: Wer sind „die Ver­bre­cher und Täter und Ter­ro­ris­ten“? Ab dem Ver­dacht zu wel­cher Straf­tat will Frau Mer­kel da wel­che tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten aus­rei­zen? Wirk­lich erst ab Ter­ro­ris­mus, oder viel­leicht doch schon bei Laden­dieb­stahl? Sicher doch auch gegen Kin­der­por­no­gra­phie, nicht? Da war die Staats­an­walt­schaft doch erst kürz­lich so mega-erfolg­reich.

Frau Mer­kels Ansich­ten sind beun­ru­hi­gend, ihre Spra­che ver­rä­te­risch.

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Mein Berlin

Weil ich ja eh schon mal mit der Video­ka­me­ra in Ber­lin war und in den ver­gan­ge­nen Jah­ren tou­ris­tisch schon wirk­lich alles abge­klap­pert hat­te, was da war, habe ich mir dies­mal gedacht: Sei doch ein biss­chen altru­is­tisch und gib dei­nen Lesern, die viel­leicht noch nie in Ber­lin waren, viel­leicht nächs­te Woche hin­wol­len, auch etwas mit.

Her­aus­ge­kom­men ist ein klei­ner Film, der völ­lig unprä­ten­ti­ös „Mein Ber­lin“ heißt und den man sich bei You­Tube anse­hen kann. Oder gleich hier:

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Literatur Gesellschaft

Don’t party like it’s 1999

Kürz­lich blät­ter­te ich mal wie­der in „Tris­tesse Roya­le“, dem Rea­der der deutsch­spra­chi­gen Pop­li­te­ra­tur der 1990er Jah­re, dem Zeit­do­ku­ment der ers­ten Tage der Ber­li­ner Repu­blik. Und mir wur­de klar: Wer ver­ste­hen will, wie sehr sich unse­re Gesell­schaft und unse­re Welt im letz­ten Jahr­zehnt ver­än­dert haben, der muss nur die­se Pro­to­kol­le der Gesprä­che lesen, die Joa­chim Bes­sing, Chris­ti­an Kracht, Eck­hart Nickel, Alex­an­der von Schön­burg und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re im spä­ten April des Jah­res 1999 im frisch wie­der­eröff­ne­ten Ber­li­ner Hotel „Adlon“ geführt haben.

Neh­men wir nur einen kur­zen Aus­schnitt, der eigent­lich alles sagt:

JOACHIM BESSING Gibt es denn eigent­lich über­haupt noch soge­nann­te gesell­schaft­li­che Tabus?
ALEXANDER V. SCHÖNBURG Die katho­li­sche Kir­che zu ver­tei­di­gen ist zum Bei­spiel ein moder­nes Tabu. Es ist ein All­ge­mein­platz, für die Anti­ba­by­pil­le und gegen die Fami­li­en­po­li­tik des Paps­tes zu sein. Wer heu­te, wie ich, sagt: Ich bin für den Papst und gegen die „Pil­le danach“, bricht ein gesell­schaft­lich ver­ein­bar­tes Tabu. Viel­leicht ist es auch ein ähn­li­cher Tabu­bruch, wenn eine Frau sagt: Ich gehö­re hin­ter den Herd und möch­te ger­ne mei­ne Kin­der erzie­hen. Ich möch­te gar nicht in die Drei-Wet­ter-Taft-Welt ein­tre­ten.

„Tris­tesse Roya­le“, S. 118

Lesen Sie die­se Aus­füh­run­gen ruhig mehr­mals. Und ver­su­chen Sie dann, sich vor­zu­stel­len, dass es eine Welt gab, in der „wir“ noch nicht Papst waren und in der Eva Her­man nur die Nach­rich­ten vor­ge­le­sen hat. Es war eine Welt, in der alles noch so war, wie es war, bevor nichts mehr so war, wie es zuvor gewe­sen war. Eine Welt in einem ande­ren Jahr­tau­send – aber wer heu­te aufs Gym­na­si­um kommt, war damals schon gebo­ren.

Natür­lich ist „Tris­tesse Roya­le“ kein Pro­to­koll einer tat­säch­li­chen Gesell­schaft. Die welt­män­ni­schen Posen der fünf jun­gen, kon­ser­va­ti­ven Her­ren lie­ßen sich auch damals nur schwer­lich mit der Welt­sicht der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung auf eine Line brin­gen. Aber sie pass­ten sti­lis­tisch in die Eupho­rie des Auf­bruchs. Das Buch ist des­halb eine gute Erin­ne­rung an die­se ers­ten Tage der soge­nann­ten Ber­li­ner Repu­blik, als es so aus­sah, als wür­den Ger­hard Schrö­der und die rot-grü­ne Koali­ti­on Deutsch­land allei­ne aus der Kri­se füh­ren. In gewis­ser Wei­se haben sie das getan, aber das Volk hat es ihnen nicht gedankt, weil die als gro­ße „Reform“ anmo­de­rier­te Agen­da 2010 weh tat und sie zu einem nicht uner­heb­li­chen Teil auch unso­zi­al war. Nie­mand fragt, war­um es Deutsch­land unter einer Kanz­le­rin Mer­kel, die bis­her kei­ne ein­zi­ge innen­po­li­ti­sche Ent­schei­dung grö­ße­rer Trag­wei­te getrof­fen hat, plötz­lich so gut gehen soll, wie lan­ge nicht mehr. Nie­mand ist erstaunt, wenn die SPD unter dem Pfäl­zer Ted­dy Kurt Beck plötz­lich wie­der Sozi­al­de­mo­kra­tie der 1960er Jah­re betrei­ben will. Aber alle jam­mern über die­se wahn­sin­ni­gen Teue­rungs­ra­ten und über die Gefahr, schon mor­gen auf dem Koblen­zer Markt­platz Opfer einer isla­mis­ti­schen Atom­bom­be zu wer­den.

Zwi­schen April ’99 und Okto­ber ’07 lag der 11. Sep­tem­ber 2001, der natür­lich viel ver­än­dert hat und der für zwei neue gro­ße Krie­ge auf die­sem Pla­ne­ten ver­ant­wort­lich ist. Aber ich glau­be nicht, dass die­se Ter­ror­an­schlä­ge, so schlimm sie auch waren und so vie­le danach auch noch kamen, der Haupt­grund für die­se Ver­schie­bung gesell­schaft­li­cher Vor­stel­lun­gen ist.

Zwi­schen 1999 und 2007 lag näm­lich auch und vor allem ein Jahr­tau­send­wech­sel, egal ob man den am 1. Janu­ar 2000 oder erst ein Jahr spä­ter begos­sen hat. Wenn wir uns anse­hen, wel­che Aus­wir­kun­gen schon eine schlich­te Jahr­hun­dert­wen­de gehabt hat, dann müs­sen wir erstaunt sein, dass die­ser Über­gang vom zwei­ten zum drit­ten Mill­en­ni­um häu­fig so ein­fach über­gan­gen wird: Das spä­te 19. Jahr­hun­dert hat­te das Fin de siè­cle, das Zeit­al­ter des Deka­den­tis­mus, und genau das fin­den wir auch in „Tris­tesse Roya­le“ und der Gesell­schaft die­ser spä­ten 1990er Tage wie­der. Nicht weni­ge erwar­te­ten für die Sil­ves­ter­nacht 1999/​2000 den sofor­ti­gen Welt­un­ter­gang und ent­spre­chend wur­de auch gefei­ert und gelebt. Die­ser Über­schwung hielt dies­mal aber kei­ne 14 Jah­re, bis ein Ereig­nis die Welt erschüt­ter­te, son­dern die paar Mona­te bis zum Sep­tem­ber 2001.

Als Peter Scholl-Latour am Abend des 12. Sep­tem­ber 2001 in der Talk­show von Michel Fried­man das Ende der Spaß­ge­sell­schaft pos­tu­lier­te, hin­ter­ließ das zwar kei­nen all­zu blei­ben­den Ein­druck bei der Welt­be­völ­ke­rung, aber nach so einer Ansa­ge fie­len die Cham­pa­gner­bä­der in Ber­lin-Mit­te viel­leicht doch zunächst ein biss­chen klei­ner aus. Und ehe man sich’s ver­sah, war auch auf höhe­rer Ebe­ne aus einer apo­li­ti­schen Deka­denz­ge­sell­schaft eine apo­li­ti­sche Bie­der­mei­er­ge­sell­schaft gewor­den, in der man sei­nen dun­kel­haa­ri­gen Nach­barn sofort für einen poten­ti­el­len Mas­sen­mör­der hält, weil der sich drei­mal am Tag die Hän­de wäscht und betet. Ande­rer­seits wird ein alter Kir­chen­mann von Jugend­li­chen wie ein Pop­star ver­ehrt und Fern­seh­mo­de­ra­to­rin­nen erhe­ben das Gegen­teil ihres eige­nen Lebens­we­ges zum Heils­ver­spre­chen für alle Frau­en.

Damit sind wir, auf Umwe­gen, wie­der beim Aus­gangs­zi­tat ange­kom­men. Was machen eigent­lich die­se gro­ßen Män­ner der deutsch­spra­chi­gen Deka­denz heu­te? Nun: Alex­an­der von Schön­burg war kurz­zei­tig Chef­re­dak­teur des Edel­ma­ga­zins „Park Ave­nue“ und kollum­ni­ert für „Bild“; Joa­chim Bes­sing schreibt Bücher, die auf dem „Lebenshilfe“-Tisch der Buch­hand­lun­gen neben denen von Eva Her­man lie­gen; Eck­hart Nickel und Chris­ti­an Kracht grün­de­ten die sehr inter­es­san­te, lei­der aber nicht sehr erfolg­rei­che Lite­ra­tur­zeit­schrift „Der Freund“; Kracht selbst ent­schwebt in sei­nen Repor­ta­gen in immer unzu­gäng­li­che­re Sphä­ren und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war zuletzt als Rosen­ver­käu­fer im neu­en Horst-Schläm­mer-Video zu sehen.

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Politik Gesellschaft

Rollenspiel

Stel­len Sie sich bit­te für einen Moment mal vor, Sie wären Ange­la Mer­kel. Das mit dem Gesicht und der Fri­sur über­las­sen wir schön den Kol­le­gen vom Pri­vat­fern­se­hen, dort macht man ja auch noch Namens­wit­ze.

Sie wären viel­mehr die ers­te Kanz­le­rin in der Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik und beliebt wie nur sonst was. Sie hät­ten in die­sem Jahr als weib­li­ches Gegen­stück zu Al Gore den Kli­ma­wan­del gestoppt und sogar die „New York Times“ hät­te gera­de groß über Sie und Ihren Rück­halt im Vol­ke berich­tet. Natür­lich wären Sie auch so beliebt, weil Sie in fast zwei Jah­ren Regie­rung nichts getan hät­ten und die gan­zen unbe­que­men Refor­men, die jetzt zu wir­ken begön­nen, alle noch auf das Kon­to der Vor­gän­ger­re­gie­rung gin­gen, aber das könn­te Ihnen ja im Prin­zip egal sein. Die ein­zi­gen Sor­gen, mit denen Sie sich bis jetzt hät­ten rum­schla­gen müs­sen, wären eine miss­glück­te Gesund­heits­re­form, leich­te Wider­stän­de gegen das „Eltern­geld“ Ihrer Fami­li­en­mi­nis­te­rin und das gan­ze Thea­ter um die Sicher­heit beim G8-Gip­fel gewe­sen.

Und dann hät­te irgend­je­mand ein paar Türen in ein paar Minis­te­ri­en nicht ord­nungs­ge­mäß ver­schlos­sen und zwei Minis­ter wür­den plötz­lich mit dem Bol­ler­wa­gen durch die deut­sche Medi­en­land­schaft zie­hen um dem letz­ten Bun­des­bür­ger klar zu machen, dass Sie Ihr Kabi­nett über­haupt nicht unter Kon­trol­le hät­ten.

Dass Wolf­gang Schäub­le seit Mona­ten immer tie­fe­re Ein­schnit­te in die Grund­rech­te der Bür­ger, Ihrer Wäh­ler, for­dert, wäre den meis­ten Betrof­fe­nen noch total egal gewe­sen. Doch plötz­lich wür­de der Mann alle noch mal über­ra­schen und mun­ter her­umer­zäh­len, er hiel­te es ja nur noch für eine Fra­ge der Zeit, bis mal ein Ter­ro­rist daher­kom­me und eine Atom­bom­be zün­de.1

Fast zeit­gleich wür­de sich Ihr Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter hin­stel­len und einen Vor­schlag der Vor­gän­ger­re­gie­rung, den das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt für ver­fas­sungs­wid­rig erklärt hät­te, wie­der her­vor­ho­len und öffent­lich ankün­di­gen, im Zwei­fels­fal­le auf Ver­fas­sung und Gericht zu schei­ßen und auf ent­führ­te Flug­zeu­ge zu schie­ßen. In den „Tages­the­men“ wür­de er auf die Fra­ge, ob sein Vor­stoß über­haupt mit Ihnen abge­spro­chen sei, ant­wor­ten, er und der Bun­des­in­nen­mi­nis­ter sei­en die bes­ten Bud­dies über­haupt und die Fra­ge ansons­ten unbe­ant­wor­tet las­sen. Poli­ti­ker diver­ser ande­rer Par­tei­en und die Bun­des­luft­waf­fe wür­den sich gegen sei­nen Vor­schlag weh­ren und in Deutsch­land herrsch­te eine Auf­ruhr, als habe gera­de jemand Hit­lers Fami­li­en­po­li­tik gelobt oder Kunst als „ent­ar­tet“ bezeich­net.

Was wür­den Sie, der Sie ja Ange­la Mer­kel wären, jetzt tun?

1 Dass Schäub­le meint, wir soll­ten uns „die ver­blei­ben­de Zeit“ nicht auch noch „ver­der­ben, weil wir uns vor­her schon in eine Welt­un­ter­gangs­stim­mung ver­set­zen“, anstatt end­lich mal das zu tun, was er die gan­ze Zeit vor­gibt zu wol­len, näm­lich die Sicher­heit der Bür­ger zu schüt­zen, ist eigent­lich einen eige­nen Wut­an­fall wert.

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„Ich habe gelacht, als meine Regierung verspottet wurde“

Es gibt sicher vie­le Grün­de, poli­ti­sches Kaba­rett doof zu fin­den (und weil man bei sol­chen Sät­zen wenigs­tens einen Grund nen­nen soll­te, sag ich mal: „Schei­ben­wi­scher“). Es gibt aber auch poli­ti­sches Kaba­rett, dem ich mich frei­wil­lig aus­set­ze. Heu­te Abend habe ich mir z.B. zum vier­ten Mal Vol­ker Pis­pers ange­se­hen – zum drit­ten Mal mit sei­nem Best-Of-Pro­gramm „Bis neu­lich“, mit dem er seit fünf Jah­ren tourt. Und obwohl ich knapp die Hälf­te des Pro­gramms hät­te mit­spre­chen kön­nen, habe ich mich herr­lich amü­siert. Das ver­zwei­fel­te Mit­schrei­ben und Rezi­tie­ren der böses­ten Sprü­che und bes­ten Poin­ten über­las­se ich eben­so den Repor­tern der Lokal­zei­tun­gen wie die For­mu­lie­run­gen „bit­ter­bö­se“, „schwar­zer Humor“ und „Lachen im Hal­se ste­cken­blei­ben“.

Direkt zu Beginn des Abends, der inklu­si­ve einer halb­stün­di­gen Pau­se übri­gens fast vier Stun­den dau­er­te, bezeich­ne­te Pis­pers das Kaba­rett als moder­nen Ablass­han­del, der es den Zuschau­er ermög­li­che, bequem gegen das Sys­tem zu sein, in dem er lebt. Und so durf­te das über­ra­schend hete­ro­ge­ne Publi­kum (ich möch­te trotz­dem wet­ten: 25% Leh­rer) über Ange­la Mer­kel, Geor­ge W. Bush, Wolf­gang Schäub­le, Franz Mün­te­fe­ring und wie­sie­al­le­hei­ßen lachen, obwohl das, was die­se Poli­ti­ker so anrich­ten, sel­ten zum Lachen ist. Ent­spre­chend hoch war der Anteil der „Hohoho„s, also der Lacher, die man sich als poli­tisch kor­rek­ter Mensch ja eigent­lich gar nicht erlau­ben dürf­te.

An Vol­ker Pis­pers gefällt mir beson­ders gut, dass er sich nicht mit kin­di­schen Par­odien, Kos­tü­mie­run­gen oder Auf­füh­run­gen auf­hält (s. „Schei­ben­wi­scher“), son­dern den Zuschau­ern haupt­säch­lich Fak­ten um die Ohren haut. Natür­lich sorgt er dafür, dass dabei Poin­ten ent­ste­hen, aber das, was er da auf der Büh­ne erzählt, lässt sich auch in den seriö­ses­ten Zei­tun­gen nach­le­sen – nach Pis­pers Aus­sa­gen sei­ne ein­zi­gen Quel­len. Wie er Auf­klä­rung und Unter­hal­tung gleich­zei­tig lie­fert, das ist fast schon ein biss­chen mit der „Dai­ly Show“ ver­gleich­bar.

Die Idee, dass Kaba­rett die Welt ver­än­dern könn­te, wäre gänz­lich absurd. Das Publi­kum hat gutes Geld bezahlt, sich köst­lich unter­hal­ten gefühlt, mal laut­hals über die eige­ne und ander­erleuts Regie­rung gelacht und sich am Ende viel­leicht sogar ein paar Fak­ten und For­mu­lie­run­gen gemerkt. Aber wird man Nach­barn, Freun­de oder die obli­ga­to­ri­schen Stamm­tisch­brü­der zurecht­wei­sen, wenn die­se die Poli­tik eines Wolf­gang Schäub­le (ach, ein Zitat muss ich jetzt doch mal brin­gen: „Atten­tats­op­fer und Roll­stuhl­tä­ter“) gut­hei­ßen? Wird auch nur einer, nach­dem er sich einen Abend lang über Poli­ti­ker schlapp­ge­lacht hat, selbst in die Poli­tik gehen und etwas ändern wol­len?

Aber dar­um geht es ja gar nicht: Mis­sio­nie­rung ist sicher nicht Ziel des Kaba­retts, denn die, die hin­ge­hen, wis­sen ja eh zumeist, wie der Hase läuft, und die, die man wach­rüt­teln müss­te, die inter­es­siert das alles kein biss­chen. Trotz­dem reden die Leh­rer hin­ter­her bei einem Glas Rot­wein (und: ja, ich wünsch­te, das wäre ein­fach nur so ein halt­lo­ses Kli­schee, aber es ist natür­lich schmerz­haft wahr) über das, was sie da gehört haben. Sie sind für einen Abend mal pas­siv enga­giert gewe­sen und erzäh­len sich selbst noch ein­mal, dass bei­spiels­wei­se die Chan­ce, in Deutsch­land an Ärz­te­pfusch zu ster­ben, unend­lich höher ist als die, hier Opfer eines ter­ro­ris­ti­schen Anschlags zu wer­den. Das ist doch schon mal ein Anfang.

Und wo ich gera­de dabei bin: Das Fan­tas­ti­val, in des­sen Rah­men ich die­sen Kaba­rett­abend besu­chen durf­te, läuft noch zwei Wochen in Dins­la­ken. Kar­ten für das Kon­zert der Kili­ans kann man noch bis Mitt­woch bei uns gewin­nen.

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Acht- und Sachgeschichten

Ich glaub, ich ver­bring die nächs­ten Tage aus­schließ­lich mit Phoe­nix-Gucken. Das Pro­gramm, das die aus Hei­li­gen­damm sen­den, muss man sich so vor­stel­len, wie wenn ARD und ZDF letz­tes Jahr rund um die Uhr von der Fuß­ball-WM berich­tet hät­ten, aber die Kame­ras nach den Natio­nal­hym­nen hät­ten abschal­ten müs­sen.

Dafür gibt es die gan­ze Zeit Gesprä­che mit Exper­ten, die man sonst nie ken­nen­ge­lernt hät­te – vor­hin zum Bei­spiel mit dem Kli­ma­for­scher Mojib Latif. Zwi­schen­durch wird an die Front geschal­tet, wo Anwoh­ner vor­ge­stellt wer­den, die die Demons­tran­ten mit Kaf­fee ver­sor­gen, dann wer­den direkt hin­ter dem Mode­ra­tor Green­peace-Boo­te auf­ge­bracht. Wann bekommt man schon Welt­po­li­tik, Lokal­kollorit und Action gleich­zei­tig gebo­ten?

Ich hät­te mir aller­dings gewünscht, dass bei den Über­tra­gun­gen auch Lip­pen­le­ser zur Ver­fü­gung ste­hen. Zu gern hät­te ich erfah­ren, wor­über Nico­las Sar­ko­zy, Tony Blair, Wla­di­mir Putin und Geor­ge W. Bush mit Ange­la Mer­kel gescherzt haben. Über­haupt: Von Bush gab es heu­te Mor­gen eine sehr schö­ne Sze­ne, wie er mal wie­der die Bun­des­kanz­le­rin anflir­te­te.

Ich könn­te mir die­ses Geplän­kel stun­den­lang angu­cken. Und solan­ge die Staats- und Regie­rungs­chefs sich beneh­men wie Teen­ager auf Klas­sen­fahrt, kön­nen sie auch kei­ne poli­ti­schen Fehl­ent­schei­dun­gen tref­fen.