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Leben

Forever Young

Ergänzend zu meiner Alte-Fotos-Digitalisier-Aktion fand ich heute dieses Bild in meiner Mailbox:

Lukas Heinser (veraltet)

Es zeigt mich vor 16, 17 Jahren, kommt von Tim Schneider, mit dem ich einige Jahre zur Grundschule gegangen bin, und erreicht mich zu einer Zeit, in der ich verstärkt darüber nachdenke, dass ich so jung auch nicht mehr bin.

Fußballnationalspieler und Rockstars sind bereits jünger als ich und neulich fragte ich mich, wie man sich wohl fühlt, wenn auch erst mal die Sprecher der “Tagesschau” der eigenen Generation angehören – von Bundesministern ganz zu schweigen. Im vergangenen Jahr wurde in meinem Freundeskreis das erste Kind geboren und im Heimaturlaub hört man immer regelmäßiger von Altersgenossen, die Nachwuchs erwarten oder den Bund der Ehe einzugehen gedenken. ((Kürzlich hörte ich gar über Umwege, ich selbst habe bereits vor einigen Jahren heiraten wollen. Das fand ich sehr interessant, weil mir die Nachricht zum einen völlig neu war und sie zum anderen aus einer Richtung kam, die für mich beim besten Willen nicht mit Sinn zu füllen war.)) Einige sind auch schon mit dem Studium fertig und müssen jetzt richtig arbeiten.

Mütter wissen so etwas ja immer sofort und ganz genau, was zu Sätzen führt wie:

Ich hab’ die [Mutter eines Bekannten] getroffen, die hat gesagt, der … Wie hieß denn dieser Pole in Eurer Stufe? Jedenfalls wird der jetzt Vater und der … Dings, der Sohn von diesem … Ach, wer war das denn, da aus Eurer Parallelklasse? Also, der ist schwul und sie meinte [Name eines früheren Mitschülers] vielleicht auch, weil der noch nie ‘ne Freundin hatte.

Danach braucht man fünf Minuten, um die eigenen Gedanken zu sortieren und sich zu einem “Aha” hinreißen zu lassen, das auch aufrichtig desinteressiert klingen soll und nicht so gespielt desinteressiert wie die “Aha”s, die man äußert, wenn man von Dritten über die neuesten Männerbekanntschaften ehemaliger Schwärme unterrichtet wird. Ich bin mir sicher, dass es die DDR heute noch gäbe, wenn man nur mehr Mütter als informelle Stasi-Mitarbeiter hätte gewinnen können.

Während ich diese Zeilen tippe, lausche ich einer CD, die ich mir vor über zehn Jahren zum ersten Mal auf Kassette überspielt habe ((Pet Shop Boys – Bilingual.)), und ich muss mir etwas Mühe geben, die Schrift auf meinem alten Röhrenmonitor zu fokussieren. Meine Brille liegt zwar zwei Meter neben mir, aber ich weigere mich immer noch, sie außerhalb des Autos zu tragen. Oder außerhalb eines Kinos. Oder eines Hörsaals.

Meine Brille bekam ich vor etwa neun Jahren, weil ich Probleme mit den Augen hatte. ((Dieser Satz erscheint mir beim Korrekturlesen einigermaßen banal und überflüssig, aber irgendwo muss die Information, dass ich vor neun Jahren eine Brille bekam, ja hin.)) Ich suchte mir ein ähnliches Modell wie es Roberto Benigni bei der damals wenige Tage zurückliegenden Oscarverleihung getragen hatte, aus. Etwa ein Jahr lang trug ich die Brille in jeder wachen Minute, dann dachte ich mir, dass ich auch ohne ganz gut sehen und möglicherweise besser aussehen würde. Im Zivildienst bekam ich ein weiteres Exemplar, das mir zu weiten Teilen von Bundesbehörden bezahlt wurde, bei dem ich mich aber stilistisch so stark vergriff, dass ich die alte Brille weiter bevorzugte.

Zum Beginn meines Studiums trug ich die Brille, weil ich in den riesigen Bochumer Hörsälen sonst die Tafeln und Overhead-Projektionen nicht sehen konnte. Dann fand ich, dass ich damit zu sehr nach Germanistik-Student und nach Musikjournalist aussähe – zwei Eindrücke, die ich unbedingt vermeiden wollte. Lange kam ich ganz ohne Brille aus, die einzigen Sichtbeeinträchtigungen entstanden durch meine Frisur. Doch in der letzten Zeit wurde es immer schwieriger, selbst größere Schilder zu entziffern, und als ich letzte Woche bei einer Max-Goldt-Lesung im Bochumer Schauspielhaus dachte, Herr Goldt habe nicht geringe Ähnlichkeiten mit Hugh Laurie, wusste ich Bescheid.

Wie bin ich jetzt hierhin gekommen? Ach, nicht mal das weiß ich mehr. Ich werde echt alt.

PS: Passend zur Überschrift: Die meiner Meinung nach beste Version von Alphavilles “Forver Young” – die von Youth Group.

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Leben

Scheitern als Chance

Da schreibe ich gestern noch über die Musikindustrie und die tolle Idee, zahlenden Kunden funktionslose “Tonträger” zu verkaufen, und was mache ich quasi zeitgleich? Gehe zu Saturn und kaufe an einer idiotischen SB-Kasse eine CD mit Kopierschutz.

Das allerdings fiel mir erst auf, als ich die CD zum Anhören in den heimischen Computer schob: iTunes wollte die Scheibe in keinem der beiden Laufwerke wiedergeben und nicht mal Windows konnte das Ding erkennen. Das ist für ein Endanwender-Produkt neuer Rekord, bisher kannte ich derartigen Digitalmüll nur als Rezensionsexemplare für die schwerkriminellen Musikjournalisten. Das Kopierschutz-Logo war übrigens erstaunlich gut getarnt, die CD “The Singles” von Basement Jaxx aus dem Jahr 2005 (was den Kopierschutz im Nachhinein erklärt). Da an eine gemeinsame Zukunft aus naheliegenden Gründen nicht zu denken war, schleppte ich die CD zurück zu Saturn.

An der Infotheke im Erdgeschoss musste ich nur drei Minuten warten, dann füllte die (wirklich freundliche) Dame einen “Mitbringschein” aus, kopierte meinen Kassenbon von gestern und schickte mich an die Information der CD-Abteilung im zweiten Stock.

Die dortige Information, an der ich zunächst vorsprach, war die falsche, man schickte mich zu einer weiteren am anderen Ende des Gebäudes. Dort trug ich mein Anliegen ein drittes Mal vor:

Ich: “Guten Tag, ich habe gestern diese CD gekauft. Da ist ein Kopierschutz drauf und ich kann sie nicht hören!”
Typ: “Auf dem Computer …”
Ich: “Äh, ja.”
Typ: “Das steht da aber auch drauf, nicht?”
Ich: “Oh Gott, Sie wollen doch auch nicht, dass ich hinterher im Blog so Sachen wie ‘meine Halsschlagader schwoll an’ oder ‘dürfte ich bitte Ihren Vorgesetzten sprechen’ schreiben muss, oder? Ich habe ein paar Dutzend CDs zuhause, auf denen Kopierschutzlogos drauf sind. Bisher konnte ich jede einzelne davon hören – und auf einigen war noch nicht mal wirklich ein Kopierschutz drauf.”
Typ: (murmelt unverständlich)

Im Folgenden wurde ich gebeten, meinen Namen und meine Anschrift zu nennen. Ich war natürlich viel zu verwirrt, irgendwelchen Blödsinn zu erzählen, und wusste auch nicht, ob mir das Geld nicht vielleicht bar per Post zugestellt werden sollte. Wurde es aber nicht: Es wurde ein weiteres Blatt Papier bedruckt (der Laden muss eine beeindruckende Öko-Bilanz haben) und mir mit den Worten “Damit gehen Sie jetzt wieder zur Kasse und kriegen Ihr Geld!”, in die Hand gedrückt wurde.

Noch einmal kurz zum Mitschreiben: Um einen Tonträger umzutauschen, der die Töne zwar tragen mag, aber nicht mehr hergeben will, musste ich bei drei Personen (vier, wenn man die falsche Info-Theke mitzählt, was ich gerne mache, denn die war ja nicht mein Fehler) auf zwei Etagen vorsprechen und bekam nach nur einer Viertelstunde meine 8,99 Euro zurück.

Und jetzt will ich keine Argumente für die CD mehr hören. Die Zukunft gehört der MP3!

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Leben

Quatsch mit Automatensauce

Speaking of Zukunftsvisionen und Angestellte einsparen: Bei “Saturn” in Bochum gibt es sogenannte SB-Kassen, bei denen ich meine Ware selbst Scannen darf. Auch gebe ich mein Geld einem plappernden Automaten und nicht einer unfreundlichen Kassiererin in die Hand.

Allein: Die Automaten sind tierisch langsam, störungsanfällig und brauchen pro Gerät einen eigenen Mitarbeiter, der aufpasst, dass der Kunde alles richtig macht, und bei Fehlern eingreift.

Sind sicher wahnsinnig ökonomisch, die Teile.

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Politik Gesellschaft

Die volkstümliche Schlägerparade

Bis vor drei Wochen gab es in Deutschland ausschließlich nette, kluge Jugendliche, die zwar vielleicht ab und zu mal Amokläufe an ihren Schulen planten, aber das waren ja die Killerspiele schuld. Seit Ende Dezember reicht es nicht, dass die Jugendlichen in der U-Bahn nicht mehr für ältere Mitmenschen aufstehen, sie treten diese jetzt auch noch zusammen. Plötzlich gibt es in Deutschland Jugendgewalt – so viel, dass die “Bild”-“Zeitung” ihr eine eigene Serie (Teil 1, Teil 2, Teil 3, …) widmet. Bei “Bild” sind allerdings immer die Ausländer schuld.

Mit dem Thema Jugendkriminalität ist es wie mit jedem Thema, das jahrelang totgeschwiegen wurde: Plötzlich ist es aus heiterem Wahlkampf-Himmel in den Medien und alle haben ganz töfte Erklärungen dafür und Mittel dagegen. In diesem konkreten Fall führen sich die Politiker auf wie Eltern, die ihre Kinder die ganze Zeit vernachlässigt haben und dann plötzlich, als sie die nicht mehr ganz so lieben Kleinen auf der Polizeiwache abholen mussten, “Warum tust Du uns das an?” brüllen und dem Blag erstmal eine langen. Nur, dass “Vernachlässigung” in der Politik eben nicht “keine gemeinsamen Ausflüge in den Zoo” und “das Kind alleine vor dem RTL-II-Nachtprogramm hocken lassen” heißt, sondern “Zuschüsse für die Jugendarbeit streichen” und “desaströseste Bildungspolitik betreiben”.

Ich halte wenig von Generationen-Etikettierung, ein gemeinsamer Geburtsjahrgang sagt zunächst einmal gar nichts aus. Auch wenn Philipp Lahm und ich im Abstand von sechs Wochen auf die Welt gekommen und wir beide mit “Duck Tales”, Kinder-Cola und “Kevin allein zuhaus” aufgewachsen sind, wäre der sympathische kleine Nationalspieler doch nicht unbedingt unter den ersten einhundert Leuten, die mir einfielen, wenn ich mir ähnliche Personen aufsagen sollte. ((Meine Fußballerkarriere endete zum Beispiel nach einem einmaligen Probetraining in der D-Jugend.)) Es gibt in jeder Altersgruppe (und bei jeder Passfarbe, Ethnizität, sexuellen Orientierung, Körperform, Haarlänge und Schuhgröße) sympathische Personen und Arschlöcher. Möglicherweise war zum Beispiel die Chance, in einer Studenten-WG an Mitbewohner zu geraten, die sich nicht an den Putzplan halten und ihre Brötchenkrümel nicht aus dem Spülstein entfernen, vor vierzig Jahren bedeutend höher als heute, und auch wenn Schlunzigkeit kein Gewaltverbrechen ist, so ist doch beides sehr unschön für die Betroffenen.

Doch ich schweife ab: Das Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. mit seinem vielzitierten und fast zu Tode interviewten Direktor Prof. Dr. Christian Pfeiffer hat im vergangenen Jahr eine Studie zum Thema “Gewalttätigkeit bei deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen” veröffentlicht.

Auf Seite 4 gibt es einen recht schlüssig erscheinenden Erklärungsversuch, warum gerade bestimmte Bevölkerungsgruppen eher zu Gewalt neigen als andere:

Besondere Relevanz für eine erhöhte Gewalttätigkeit von Nichtdeutschen scheint aktuellen Studien zufolge bestimmten, mit Gewalt assoziierten Männlichkeitsvorstellungen zuzukommen. Diesen hängen in erster Linie türkische, aber auch russische Jugendliche an (vgl. Enzmann/Brettfeld/Wetzels 2004, Strasser/Zdun 2005). Die Männlichkeitsvorstellungen resultieren aus einem Ehrkonzept, das sich unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen herausgebildet hat. […] Der Mann als Familienvorstand muss Stärke demonstrieren, um eventuelle Angreifer bereits im Vorhinein abzuschrecken.

Laienhaft verstanden und überspitzt gesagt: Eva Hermans Ruf nach der Rückkehr ins Patriarchat würde auf lange Sicht dazu führen, dass wir wieder mehr prügelnde Jungs hätten, weil die archaischen Männlichkeitsbildern anhängen und den dicken Larry markieren würden. Oder anders: In Oberbayern werden nur deshalb keine Leute in U-Bahnen zusammengeschlagen, weil es dort keine U-Bahnen gibt.

Noch spannender ist aber wohl der auf Seite 5 ausgeführte Ansatz, wonach der vermeintlich hohe Anteil an kriminellen Ausländern auch ein Wahrnehmungsproblem ist:

Die etikettierungstheoretische Erklärung sieht den Grund für eine höhere Kriminalitätsbelastung dabei nicht allein auf Seiten der Migranten, sondern sie bezieht das Verhalten der Einheimischen mit ein. So konnte u.a. gezeigt werden, dass die Kriminalisierungswahrscheinlichkeit (d.h. die Registrierung als Tatverdächtiger) bei Ausländern im Vergleich zu den Deutschen doppelt bis dreimal so hoch ist (Albrecht 2001; Mansel/Albrecht 2003). Zudem existieren Befunde, die belegen, dass straffällig gewordene Ausländer einer zunehmend härteren Sanktionspraxis ausgesetzt sind (vgl. Pfeiffer et al. 2005, S. 77ff). Abweichung, so die daraus ableitbare These, ist nicht nur deshalb unter den ethnischen Minderheiten verbreiteter, weil diese tatsächlich öfter ein entsprechendes Verhalten zeigen, sondern weil die autochthone Bevölkerung bzw. ihre Strafverfolgungsorgane die Abweichung von Migranten anders wahrnimmt und auf sie besonders sensibel reagiert.

Und wer einmal im Gefängnis sitzt, lernt dort die falschen Leute kennen, findet keinen Job mehr und befindet sich mittendrin in einer Abwärtsspirale. Der “kriminelle Ausländer” ist also zum Teil eine selbst erfüllende Prophezeihung: Wie oft liest man in der Presse von jungen Türken, Griechen oder Albanern, die gewalttätig geworden sind, und wie selten von jungen Deutschen? Bei Deutschen lässt man in Deutschland die Staatsbürgerschaft einfach weg und der Leser nimmt die Nationalität nur wahr, wenn es sich Ausländer handelt. Die Situation ist vergleichbar mit den schlecht geparkten Autos auf dem Seitenstreifen, die Sie auch nur wahrnehmen, wenn eine Frau aussteigt.

Als ich vor anderthalb Jahren für drei Monate in San Francisco weilte (wo ich mich übrigens stets sehr sicher fühlte – auch, weil ich keine lokalen Zeitungen las), wurde ich eines Tages auf dem Fußweg in die Innenstadt von einem jungen Mann angerempelt. Es war nicht sonderlich brutal, der Mann wollte nur offenbar genau dort lang gehen, wo ich stand. So etwas passiert einem in deutschen Fußgängerzonen nahezu täglich. Der junge Mann aber war von schwarzer Hautfarbe und aus dem Fernsehen glauben wir zu wissen: Schwarze begehen viel mehr Verbrechen als Weiße. Ich als aufgeschlossener, rationaler Mensch musste mein Hirn zwingen, diesen Vorfall nicht als symptomatisch abzutun: Nach gröbsten statistischen Schätzungen wurde ich im Jahr 2006 etwa 42 Mal angerempelt. In 95% der Fälle waren es unfreundliche Rentner in grauen Stoffjacken, herrische Frauen mit mürrischem Gesichtsausdruck und dicke ungezogene Kinder in Deutschland. Aber das war Alltag – und in diesem einen Fall passte der Rempler aufgrund seiner Hautfarbe in ein diffuses Täterprofil, dass ich im Hinterkopf hatte. Ich war von mir selbst schockiert.

In San Francisco wurde ich noch ein weiteres Mal angerempelt: Als ich an Halloween auf der Straße stand, lief eine Gruppe Jugendlicher an mir vorbei. Jeder einzelne verpasste mir einen Schultercheck, bis ich schließlich auf den Gehweg flog. ((Ich beeindruckte die Festgemeinde, indem ich bei dem Sturz keinen einzigen Tropfen Bier aus meiner Dose verschüttete. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich mich als Deutscher fühlte.)) Ihre genaue Ethnizität konnte ich nicht erkennen, aber schwarz waren sie nicht. Meine amerikanischen Freunde waren entsetzt und versicherten mir teils am Rande der Tränen, dass so etwas in dieser Gegend sonst nie vorkäme. Ich sagte, ich sei in Dinslaken aufgewachsen, da sei man schlimmeres gewohnt.

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Leben Unterwegs

Die lustigste Geschichte

Unter allen Menschen, die ich mal persönlich getroffen habe, dürfte es etwa drei bis vier geben, denen ich diese Geschichte noch nicht erzählt habe. Da mein bester Freund kürzlich meinte, man müsse sich mit mir ja gar nicht mehr unterhalten, wenn man dieses Blog nur aufmerksam genug lese, gehe ich also davon aus, diese Geschichte nun zum letzten Mal erzählen zu müssen:

Vor sieben Jahren, als ich noch in Dinslaken zur Schule ging, fuhren mein anderer bester Freund und ich zu einem Konzert von Tom Liwa im Bahnhof Langendreer. Diese Information ist eigentlich nur von minderer Bedeutung für den weiteren Verlauf der Geschichte, könnte andererseits auch eine wichtige Erklärung für ihre Pointe sein.

Wenn ich es mir recht überlege, wird die Geschichte die Erwartungshaltungen an sie, die ich bisher aufgebaut habe, vermutlich nicht erfüllen können, aber ich fahre einfach mal fort: Nach dem Konzert mussten wir, damals beide noch minderjährig und ohne Führerschein, also mit der S-Bahn zurückfahren. Wir stiegen in Langendreer ein, die S-Bahn ruckelte los in die Dunkelheit, als plötzlich ein Mann mittleren Alters entsetzt aufsprang.

“Ist das hier die S-Bahn Richtung Düsseldorf?”, rief er panisch in die Bahn.
“Ja, ja”, bestätigten wir.
“Oh, dann ist gut”, antwortete er und atmete tief durch. “Dann hab’ ich mich nur falschrum hingesetzt!”

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Leben

Der Vulkan in meinem Pappbecher

Als das Konzept des coffee to go in Deutschland ganz neu war, mag der eine oder andere tatsächlich davon ausgegangen sein, dass das beworbene Produkt “Coffee Togo” hieße. Wer heute vorsätzlich vom “Coffee Togo” spricht, muss sich vorwerfen lassen, über den gleichen Humor zu verfügen, wie Menschen, die “zum Bleistift” sagen. Der Kaffee für zum Gehen ist mittlerweile bekannt und gesellschaftlich voll akzeptiert.

Sie sind aber auch zu praktisch, diese Heißgetränke zum Mitnehmen. Gestern ging ich zum Beispiel zu dem hippen Café im Eingangsbereich der Bochumer Uni-Bibliothek und bestellte mir eine hot chocolate. Dort verwendet man nämlich Kakao von Ghirardelli, den ich im vergangenen Jahr nach langwieriger Recherche zum weltbesten Kakao ernannt habe. Ob ich noch Sahne drauf wollte, fragte die Bedienung. Hell yeah, ich wollte. Und stellte erst nach Empfang des Pappbechers fest, dass der Berg Sahne auf meinem Becher die Montage des Schnabeltassenplastikdeckels unmöglich machen würde.

Da musste ich jetzt durch, also versuchte ich, einen ersten Schluck zu nehmen, während ich Richtung Institutsgebäude ging. Ich nahm einen Mund voll Sahne, tunkte meine Nasenspitze in Schokoladensirup1 und hatte den Becher schließlich so weit geneigt, dass mir einige Schlücke kochenden Stahls Kakao in den Mund schossen. Zunge und Gaumen waren sofort taub und fühlen sich seitdem an, als würde man einen vollgeaschten Teppichboden ablecken.2 Diese ersten Schlücke hatten nun eine Schneise in den bisher undurchdringlichen Sahneberg geschlagen und der Kapillareffekt ermöglichte es meiner glühend heißen Schokolade nun, wie Lava nach oben zu brodeln. Mit diesem Vulkan in meinem Pappbecher ging ich in den Hörsaal.

Dort stand ich vor dem nächsten Problem: Auf den leicht geneigten Schreibflächen war an ein Abstellen des immer noch beinahe randvollen Bechers nicht zu denken. Also hielt ich das Gefäß, um das ich klugerweise noch eine Hitzeschild-Banderole gezogen hatte, mit der einen Hand fest, während ich versuchte, mich mit der anderen Hand aus meiner Jacke zu schälen, ohne dabei den laufenden MP3-Player (Rihanna) fallen zu lassen. Schließlich schaffte ich es auch noch, mich irgendwie auf den Klappsitz zu setzen und der Vorlesung über die Literatur und Politik von 1965 bis 1975 zu folgen.

1 Ein Umstand, den ich natürlich erst Stunden später vor dem heimischen Spiegel bemerkte.
2 Sprachliches Bild, kein Erfahrungswert.

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Unterwegs

Mein Berlin

Weil ich ja eh schon mal mit der Videokamera in Berlin war und in den vergangenen Jahren touristisch schon wirklich alles abgeklappert hatte, was da war, habe ich mir diesmal gedacht: Sei doch ein bisschen altruistisch und gib deinen Lesern, die vielleicht noch nie in Berlin waren, vielleicht nächste Woche hinwollen, auch etwas mit.

Herausgekommen ist ein kleiner Film, der völlig unprätentiös “Mein Berlin” heißt und den man sich bei YouTube ansehen kann. Oder gleich hier:

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Leben

Zeit ist nicht auf ihrer Seite

Ich habe das Wochenende bei der Familie in Dinslaken verbracht. Als mich meine Geschwister zum Bahnhof brachten, fiel mir auf, dass die große Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz noch auf Sommerzeit stand. Nun hat man in Bahnhofsnähe in der Regel eine diffuse Ahnung, welche Stunde die richtige sein müsste – wichtiger wäre da, dass die Uhr vor dem Bahnhof und die am Gleis möglichst synchron gehen, damit man beispielsweise bei der Parkplatzsuche weiß, ob man sich beeilen sollte. Natürlich trifft auch das nicht zu.

Da fiel mir auch wieder ein, dass schon die letzte Zeitumstellung im Frühjahr, die ja auch kein spontan aufgetretenes Ereignis war, in Dinslaken verspätet vonstatten gegangen war. Etwa drei oder vier Wochen stand sie noch auf Winterzeit, bis ich eines Freitags am Bahnhof ankam und mich sehr wunderte: Entweder hatte sich spontan ein Loch im Raum-Zeit-Kontinuum gebildet, oder ich war tatsächlich vor meiner Abfahrt aus Bochum in Dinslaken angekommen. Dann fiel mir auf: Die Uhren waren in die falsche Richtung umgestellt worden und gingen nun zwei Stunden nach.

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Leben

Die Schere im Kopf

Wenn der Herbst durch das Ruhrgebiet streift wie ein zauseliger Wandersmann und die Bäume in Waldorfschul-mäßige Farben taucht, dann spüre ich meinen Hang zur Sozialromantik.

Die Tage ging ich zur U-Bahn-Station, vorbei an den Vorgärten der Doppelhäuser, und sah Hausfrauen, die vom Einkaufen kamen; Rentner, die in ihrer Einfahrt Laub zusammenkehrten, wohl wissend, dass ihre Arbeit schon wieder vergessen sein würde, wenn sie den Rechen in den Werkzeugschuppen stellen würden. Ich sah eine alte Frau, die aus ihrem offenen Wohnzimmerfenster, hinter dem die Tagesgardinen im Aufwind der Heizung flatterten, ein Verlängerungskabel in den Vorgarten geworfen hatte, an das sie nun den Elektromäher ihres Gatten anschloss, um den letzten Rasenschnitt der Saison vorzunehmen – penibel genau bis zu der ansonsten unsichtbaren Grundstücksgrenze, an der auch die Fassade des Doppelhauses von Schiefervertäfelung in dunkelgrünen Rauhputz überging. Die Frau grüßte wortlos und für das menschliche Auge kaum sichtbar den Postboten, der auf der anderen Straßenseite Briefe austrug, vermutlich Anschreiben der Bundesknappschaft, Postkarten der Enkel aus den Herbstferien und vielleicht die eine oder andere Todesanzeige.

Es roch nach nassem Laub, frisch gemähtem Rasen und Kohlrouladen, als sich die Sonne in einem solchen Winkel durch eine schon kahle Baumkrone brach, dass jeder Maler diesseits von Monet kopfschüttelnd von seiner Staffelei zurückgetreten wäre und gewartet hätte, bis es alles ein bisschen weniger kitschig aussieht. Ich ging an der nahe gelegenen Grundschule vorbei und war beinahe froh, kein fröhlich gluckerndes Kinderlachen zu vernehmen, weil mir das in diesem Moment wohl den Rest gegeben hätte und ich vollends davon überzeugt gewesen wäre, in der 3Sat-Variante der “Truman Show” mitzuspielen. Nein, die Kinder saßen, wie es sich gehört, in der Schule auf ihren kleinen Stühlchen, auf denen sich ihre Eltern beim Elternabend immer so komisch zusammenfalten müssen, an ihren kleinen Tischchen und malten hoffentlich Bilder von herbstlichen Straßenzügen oder bastelten aus Kastanien und Zahnstochern kleine Männchen, die immer wieder umfallen würden.

Und so ging ich selig lächelnd meines Wegs, trat nicht in die Hundescheiße und fragte mich: “Warum zum Henker solltest Du das jetzt bloggen?”

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Leben

Ständiges Auf und Ab

Ich habe meinen defekten Rechner heute Mittag zu Fuß zur U-Bahn und von dort aus zum nächstgelegenen PC-Händler geschleppt. Am Montag werde man sich das Teil mal ansehen und mich dann anrufen, erklärte mir der freundliche Herr hinter der Theke. Ich bin gespannt.

Und jetzt sitze ich hier in der Uni-Bibliothek an beinahe brandneuen Computern, die über jede nur vorstellbare Software verfügen, und sichte die digitale Welt. Aus dem Fenster, vor dem “mein” Computer steht, hat man einen wunderbaren Ausblick über den Campus und ins Lottental1, dahin wo das Ruhrgebiet ins Bergische Land (I suppose) übergeht. Um mich herum lesen angehende Juristen angeregt ihre anderthalbtausen Seiten dicken Fachbücher, es ist – bis auf das hirnerweichende Rauschen der Leuchtstoffröhren – still und beinahe denke ich nicht mehr an meinen Computerärger.

Aber leider sitzen vor diesem Fenster automatische Jalousien, die hochfahren, wenn es sich bewölkt, und herunter, wenn die Sonne rauskommt. Und bei dem Wetter, was hier im Moment vorherrscht, tun sie das alle verdammten fünf Minuten!

1 Ja, das musste ich bei Google Maps nachgucken.

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Film Digital Leben

Wie ich einmal Filmgeschichte schrieb

Immer wieder werde ich von Menschen (manchmal wildfremden) gefragt: “Sag mal Lukas, wieso hast Du eigentlich einen Eintrag in der Internet Movie Database?”

Okay, das ist gelogen. Genaugenommen bin ich noch nie gefragt worden, warum ich eigentlich einen Eintrag in der IMDb habe. Aber ich erzähl die Geschichte einfach trotzdem mal:

Die Vorgeschichte
Im Frühsommer 1999 sollten wir im Deutschunterricht der damals zehnten Klasse “etwas kreatives” machen. Und da einige Freunde und ich im Frühjahr für unsere sehr moderne Verfilmung (manche würden sie “avantgardistisch” nennen – oder “krank”) von E.T.A. Hoffmanns “Das Fräulein von Scuderi” eine Eins bekommen hatten, dachten wir uns: “Klar, wir drehen wieder einen Film!”

Im Zuge des damals vorherrschenden Millennium-Hypes (und weil der Deutschlandstart von “Matrix” kurz bevor stand) entwickelten wir eine Geschichte, in der der Teufel auf die Erde kommt, um die Apokalypse einzuleiten. Mit meinem besten Freund schrieb ich das Drehbuch zu “Doomsday 99” und als wir alle aus dem Sommerurlaub zurück waren, stürzten wir uns in die Dreharbeiten, die alles in allem etwa sechs Wochen verschlangen.

Mit dem harten Kern von acht Leuten drehten wir in so ziemlich allen Wohnhäusern, derer wir habhaft wurden, in verlassenen Industrieruinen (wofür wir über Zäune klettern und unter halbverschlossenen Toren drunterherrollen mussten) und in Autos, hinter deren Fenstern grüne Tischdecken gespannt waren (keiner von uns hatte damals einen Führerschein und bei “Cityexpress” fuhr der Zug schließlich auch nicht wirklich).

Ich fungierte als Regisseur, Kameramann, Drehbuchautor und Produzent in Personalunion, was hauptsächlich bedeutete, dass ich meine Freunde und jüngeren Geschwister herumkommandierte, anschrie und manchmal mit Sachen bewarf. Anschließend schnitt ich den Film auf dem Videoschnittgerät meines Großvaters, dem heute weitgehend unbekannten “Casablanca”, wo ich auch das grüne Tischtuch durch Landschaftsaufnahmen ersetzte, die ich aus dem fahrenden Auto meines Vaters heraus getätigt hatte.

Die überaus spektakulären Ergebnisse (wie wir fanden) sahen in etwa so aus:

Green Screen beim Dreh von “Doomsday” (vorher/nachher)

Im September – wir gingen längst in die elfte Klasse – zeigten wir den fertigen Film endlich im Deutschunterricht. Und obwohl er blutrünstig, gewalttätig und zu einem nicht geringen Maße Frauenverachtend war (keine weibliche Person blieb länger als fünf Minuten am Leben – allerdings auch kaum eine männliche), bekamen wir dafür eine Eins bei “Sonstige Mitarbeit” aufgeschrieben. Der Film wurde im kleinen Soziotop eines Dinslakener Gymnasiums das, was man wohl als “Kult” bezeichnet. Oder als “Trash”. Oder als “so schlecht, dass es schon fast wieder gut ist”.

Der Eintrag
Weil wir so ungeheuer stolz auf unseren Film waren, wollten wir natürlich auch, dass er angemessen gewürdigt wird. Ein Eintrag in der IMDb erschien uns also das Mindeste.

Ich machte mich schlau und stellte fest, dass man die Datenbank mit einem einfachen Datenstring füttern konnte. Also schrieb ich die Mitwirkenden unserer letzten drei Filme (“Jesus – Back for God” von den Tagen religiöser Orientierung im Januar, “E.T.A. Hoffmann’s Das Fräulein von Scuderi” aus dem Frühjahr und “Doomsday 99” eben) in eine E-Mail und schickte das Ganze ab.

Nach einigen Wochen erhielt ich die Antwort, dass unsere Filme abgelehnt worden seien. In der amerikanischen Entsprechung von “da könnte ja jeder kommen” hieß es, die Filme müssten mindestens auf einem anerkannten Filmfestival gelaufen sein.

Ein paar Wochen später stellte ich fest, dass mein bester Freund Benjamin, der bei unserem “Jesus”-Film Regie geführt hatte, plötzlich als Regisseur des TV-Zweiteilers “Jesus” geführt wurde. Dieser Eintrag war nach wenigen Tagen wieder verschwunden.

Wieder ein paar Wochen später stellte ich fest, dass der Datensatz der “Doomsday”-Produzenten1 offenbar als einziger durchgekommen war und überlebt hatte – in den Credits des mir bis heute völlig unbekannten B-Movies “Doomsday Man”.

Die Folgen
Wir waren gleichermaßen enttäuscht wie erheitert über das, was die IMDb da so geboten hatte. Aber wir vergaßen das alles, als im Dezember 1999 ein Film anlief, der Handlung, Szenen und sogar einzelne Einstellungen aus “Doomsday” geklaut zu haben schien: “End Of Days” mit Arnold Schwarzenegger. Dann sahen wir ein, dass die Dreharbeiten dazu schon vor längerer Zeit stattgefunden haben mussten, und beide Filme jetzt nicht sooooo originell waren. Da war uns auch “End Of Days” egal – wie der Film übrigens jedem egal sein sollte.

Mit den Jahren stellten wir fest, dass offenbar ziemlich viele Filmdatenbanken ihre Datensätze mit denen der IMDb … nun ja: abgleichen – und so stehen wir heute nicht nur dort, sondern auch hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier.

Und weil Sie diese kleine, feine, aber doch irgendwie unspektakuläre Geschichte bis zum Schluss durchgelesen haben, sollen Sie dafür mit einem kleinen Schmankerl belohnt werden. Es sind – natürlich – die besten Szenen aus “Doomsday”:

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1 Wir hatten in der Zwischenzeit erkannt, dass “Doomsday 99” doch ein zeitlich zu begrenzt verwertbarer Titel sein würde.