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Jan Böhmermanns Twitterwochen

Jan Böh­mer­mann hat sei­ne fern­seh­freie Zeit genutzt, um ein Buch zu ver­öf­fent­li­chen, das er über elf Jah­re geschrie­ben hat – näm­lich in Form von Bei­trä­gen auf dem Kurz­nach­rich­ten­dienst Twit­ter. Ich ver­su­che eigent­lich, Böh­mer­mann und Twit­ter in mei­nem Leben mög­lichst wenig Raum zu geben, aber in den letz­ten Tagen konn­te man kaum einen toten Fisch wer­fen, ohne irgend­ei­nen Arti­kel oder ein Inter­view zum Buch zu tref­fen.

Ver­gan­ge­nen Don­ners­tag mach­te Böh­mer­mann – natür­lich auf Twit­ter – publik, dass die „Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung“ (für die ich in der Ver­gan­gen­heit eine Hand­voll Tex­te geschrie­ben habe) ein mit ihm geführ­tes und druck­fer­ti­ges Inter­view kurz­fris­tig aus dem Blatt genom­men habe; laut Böh­mer­mann auf „per­sön­li­che Anwei­sung“ von FAZ-Her­aus­ge­ber Jür­gen Kau­be.

Der Tweet mach­te die Run­de, die Empö­rung war groß, auch ich habe Böh­mer­manns „offe­nen Brief“ an Kau­be ret­weetet – und mich am nächs­ten Mor­gen geär­gert, dass ich mich da wie­der im ers­ten emo­tio­na­len Moment vor einen PR-Kar­ren habe span­nen las­sen. Böh­mer­mann hat­te geschrie­ben: „Sowas habe ich wirk­lich noch nie erlebt“, aber nach ein biss­chen Nach­den­ken fiel mir ein, dass ich selbst vor acht Jah­ren im BILD­blog über einen Fall geschrie­ben hat­te, der zumin­dest ein Stück weit ver­gleich­bar war: Diet­her Dehm, Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter der Lin­ken und als Musi­ker unter ande­rem am Text von Klaus Lages Hit „1000 und 1 Nacht (Zoom!)“ betei­ligt, hat­te damals ein neu­es Album her­aus­ge­bracht, über das sogar Bild.de einen län­ge­ren, durch­aus wohl­wol­len­den Text ver­öf­fent­licht hat­te. Der Text blieb nicht lan­ge online.

Mög­li­cher­wei­se hat­te Eri­ka Stein­bach, damals noch CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te, etwas damit zu tun, denn sie hat­te sich öffent­lich­keits­wirk­sam auf Twit­ter über die „Elo­ge“ auf Dehm beklagt. Diet­her Dehm, der in der Zwi­schen­zeit durch eine unan­ge­neh­me Nähe zu Ver­schwö­rungs­freaks wie Ken Jeb­sen auf­fäl­lig gewor­den ist, hat­te mir damals am Tele­fon erzählt, ihm sei­en Namen „aus den Frak­ti­ons­spit­zen der drei Par­tei­en“ CDU, SPD und FDP zu Ohren gekom­men, die am Wochen­en­de in der „Bild“-Redaktion „vor­stel­lig gewor­den“ sein sol­len, um sich über die posi­ti­ve Bericht­erstat­tung über ihn und sei­ne neue CD zu beschwe­ren. „Bild“ woll­te damals, wie so oft, nicht auf unse­re Fra­gen ant­wor­ten.

Doch zurück zu Jan Böh­mer­mann und sei­nem Twit­ter-Buch, das ich nicht gele­sen habe und auch nicht lesen möch­te, weil ich Böh­mer­manns Auf­tre­ten – gera­de auf Twit­ter – wahn­sin­nig anstren­gend fin­de. Nichts gegen ein biss­chen Wider­sprüch­lich­keit bei einer öffent­li­chen Per­so­na, aber die­ses Oszil­lie­ren zwi­schen Ober­stu­fen-Sar­kas­mus, ernst­haf­ter Empö­rung über gesell­schaft­li­che Miss­stän­de und nur not­dürf­tig iro­nisch gebro­che­ner Eitel­keit ist mir ein biss­chen zu viel.

Eine Freun­din hat mir aber einen Aus­schnitt aus dem Buch geschickt – aus eini­ger­ma­ßen nahe­lie­gen­den Grün­den:

USFO (Unser Star für Oslo): Ich bin für die Dunkelhaarige (Lena Meyer-Landrut).

Das Ding ist: Das ist Quatsch.

Der „Witz“ an die­sem Tweet war ja, dass im Fina­le von „Unser Star für Oslo“, dem deut­schen Vor­ent­scheid für den Euro­vi­si­on Song Con­test 2010, zwei dun­kel­haa­ri­ge Frau­en gegen­ein­an­der antra­ten: Lena Mey­er-Land­rut, die die Sen­dung und schließ­lich auch den ESC in Oslo gewann, und Jen­ni­fer Braun, deren Song „I Care For You“ anschlie­ßend noch ein biss­chen Radio-Air­play abbe­kam (und bei dem ich mir wirk­lich nicht sicher bin, ob ich ihn jemals wie­der­erkannt hät­te).

Natür­lich kann es sein, dass Jan Böh­mer­mann, als er den Tweet für sein Buch aus­wähl­te und mit Anmer­kun­gen ver­sah, sich ein­fach nicht mehr dar­an erin­ner­te, dass an jenem Abend zwei dun­kel­haa­ri­ge Frau­en auf der TV-Büh­ne gestan­den hat­ten und sein Tweet also durch­aus in jenem Moment auch eine Spur von Humor ent­hal­ten hat­te. Das wäre aller­dings ein bemer­kens­wer­ter Zufall, wenn man sich das durch­aus ange­spann­te Ver­hält­nis zwi­schen ihm und Lena Mey­er-Land­rut vor Augen hält.

Und dann war da ja noch mei­ne ganz per­sön­li­che Twit­ter-Begeg­nung mit Jan Böh­mer­mann:

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Musik

Zum Schreien

Ich habe den Moment noch rela­tiv genau vor Augen: Vor über 20 Jah­ren (es muss im Früh­jahr 1995 oder ’96 gewe­sen sein) ging ich in San Fran­cis­co eine Stra­ße ent­lang und hat­te ein Lied im Kopf, das ich zuvor bei „Hit Clip“, der legen­dä­ren Musik­vi­deo­show im WDR Fern­se­hen, gehört hat­te. Eigent­lich hat­te ich nur einen Teil des Refrains im Kopf und der hat­te fol­gen­den Text: „Scream and shout, shout and let it out“. Den Inter­pre­ten wuss­te ich nicht und auch den Song, irgends­o­ein zeit­ge­nös­si­sches Euro­dance-Din­gen hat­te ich schon weit­ge­hend ver­ges­sen. Auch die­se Zei­le soll­te als­bald wie­der aus mei­nem Kopf ver­schwin­den.

Bis sie irgend­wann, Jahr­zehn­te spä­ter, wie­der da war. „Kein Pro­blem“, dach­te ich, „kann man ja alles goo­geln!“ Allein: Die­se Zei­le führ­te zu kei­nem Ergeb­nis. Die Isley Brot­hers waren es nicht, die rie­fen zwar, dreh­ten (sich) aber dazu und schrie­en nicht. will.i.am von den schreck­li­chen Black Eyed Peas und Brit­ney „Bitch“ Spears rie­fen und schrie­en zwar (und woll­ten gar alles raus­las­sen), hat­ten den von mir gesuch­ten Song aber weder geco­vert noch gesam­plet. Oasis hat­ten zwar (zu einer Zeit, als sie nicht nur noch gran­dio­se Songs schrie­ben, son­dern die­se sogar als B‑Seiten ver­öf­fent­lich­ten) davon gesun­gen, alles laut her­aus­zu­ru­fen, aber die such­te ich natür­lich eben­so wenig wie die Shout Out Louds.

Das war vor eini­gen Jah­ren. Die Text­zei­le kam immer mal wie­der in mei­nem Gehirn vor­bei und ver­lang­te von mir, dass ich im Inter­net nach ihrer Hei­mat such­te, aber die­se blieb unauf­find­bar und „Scream and shout, shout and let it out“ wur­de bald zur Eri­ka Stein­bach mei­ner per­sön­li­chen Pop­kul­tur­rät­sel. (Klar: Neun­zehn­hun­dert­was­mit­neun­zich hat­te sich noch nicht jede Plat­ten­fir­ma, die sich auf die schnel­le Ver­mark­tung von Auto­scoo­ter­mu­sik spe­zia­li­siert hat­te, die Mühe gemacht, ihre – oft­mals ja auch nicht beson­ders tief­ge­hen­den – Tex­te ins damals noch sehr jun­ge WWW zu stel­len. Aber die­ses Wis­sen half mir ja auch nicht.)

Und dann, letz­te Woche: Auf Spo­ti­fy erfuhr ich, dass Alex Chris­ten­sen (Platz 20 beim ESC 2009) sei­nen alten Pro­jekt­na­men U96 (benannt nach dem U‑Boot aus dem Film, des­sen Klaus-Dol­din­ger-Titel­mu­sik er wei­land zu einem sehr erfolg­rei­chen Tech­nostamp­fer umge­baut hat­te) wie­der aus­ge­gra­ben hat­te, um mit dem ehe­ma­li­gen Kraft­werk-Schlag­zeu­ger Wolf­gang Flür eine Art Kraft­werk-Tri­bu­te-Sin­gle auf­zu­neh­men, die zwar „Zukunfts­mu­sik“ heißt, aber natür­lich das Gegen­teil des­sen ist.

Plötz­lich war alles wie­der da: „Club Bizar­re“, 2 Unli­mi­t­ed – und auch die­se ver­damm­te Lied­zei­le. Also wie­der: bei Goog­le ein­ge­ben, vor­ab schon resi­gnie­ren und …

Doch da: ein Such­ergeb­nis!

Google-Suchergebnis

War­um steht denn da „2011“? Das hät­te ich doch in den letz­ten Jah­ren … Egal: schnell nach „the free shout“ gesucht und, end­lich, nach all den Jah­ren und Jahr­zehn­ten, hat­te ich den Rest vom Puz­zle gefun­den!

Gut: Ich muss das Lied jetzt auch kein drit­tes Mal hören!

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Gesellschaft

Weihnachten 2017

Letz­ten Sonn­tag haben mein Sohn und ich an einer Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le einen viel­leicht neun­jäh­ri­gen Jun­gen getrof­fen. Er sag­te, die Bahn kom­me bald, ihm sei auch schon kalt.
„Mach doch die Jacke zu“, schlug ich in väter­li­chem Ton­fall vor.
„Geht nicht“, sag­te der Jun­ge. „Ich hab den Arm gebro­chen!“
Dann erst sah ich, dass er den rech­ten Arm nur halb im Ärmel ste­cken hat­te.
Das sei beim Fuß­ball­spie­len pas­siert, erzähl­te der Jun­ge. Mitt­woch sei er unter­sucht wor­den, Don­ners­tag dann die Ope­ra­ti­on unter Voll­nar­ko­se. Die Schrau­ben müss­ten da jetzt lan­ge drin blei­ben, er dür­fe nicht mehr Fuß­ball spie­len und wahr­schein­lich kön­ne er nie wie­der ins Tor.
Aber heu­te kön­ne er zu sei­nen Eltern fah­ren, das sei schön, weil er ja sonst in einer Wohn­grup­pe woh­ne. Und von Weih­nach­ten bis Neu­jahr dür­fe er dann sogar bei sei­nen Eltern blei­ben, er müs­se aber am 1. Janu­ar wie­der zurück in die Wohn­grup­pe, das fin­de er doof, weil doch danach eh noch kei­ne Schu­le sei.

Als wir an der drit­ten Hal­te­stel­le aus­stei­gen muss­ten, wünsch­te er uns einen schö­nen Tag, ein fro­hes Weih­nachts­fest und sag­te, wir wür­den uns ja jetzt bestimmt öfter sehen.

Ich möch­te das dies­jäh­ri­ge Weih­nachts­fest die­sem Jun­gen und all den ande­ren Tiny Tims und Char­lie Browns da drau­ßen wid­men.

Ihnen, lie­be Lese­rin­nen und Leser, und Ihren Lie­ben wün­sche ich ein fro­hes und besinn­li­ches Weih­nachts­fest!

Und wenn Sie noch ein biss­chen Musik für die Fei­er­ta­ge brau­chen, hät­te ich da mal was vor­be­rei­tet:

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Musik

Nevermind Gonna Give You Up

Wir hat­ten Rick Ast­ley letz­tes Jahr im „ARD Mor­gen­ma­ga­zin“ zu Gast – am Mor­gen nach dem schreck­li­chen Anschlag in Niz­za. Wir dach­ten „Acht­zi­ger-Schnul­zen­sän­ger“, „Inter­net-Pun­ching­bag“, aber über­ra­schen­der­wei­se war 1. sein neu­er Song super und 2. er genau der rich­ti­ge Gast, um so eine doo­fe, trau­ri­ge Drei­ein­halb-Stun­den-Sen­dung zu über­ste­hen.

Hier ist er also am Wochen­en­de in Japan mit den Foo Figh­ters, wie er – natür­lich – „Never Gon­na Give You Up“ singt, das erstaun­li­cher­wei­se wie ein Nir­va­na-Song klingt:

[via Spin]

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Kultur Musik Gesellschaft

Re: Elbphilharmonie

Ich war Anfang die­ser Woche beruf­lich in Ham­burg und habe mir ein paar Stun­den Zeit genom­men, um ganz doof tou­ris­tisch an den Lan­dungs­brü­cken aus­zu­stei­gen und zu Fuß bis zum Haupt­bahn­hof zurück zu lat­schen. Es war tro­cken (ich habe in Ber­lin übri­gens bedeu­tend mehr Regen und schlech­tes Wet­ter erlebt als in Ham­burg) und schön und ich war schon nach weni­gen Metern wie­der schwer ver­liebt in die­se Stadt.

Ich mag Was­ser unge­heu­er ger­ne (zu mei­nen Lieb­lings­or­ten in Bochum gehört des­halb auch vor allem der Kem­n­ader See, das ein­zi­ge halb­wegs ernst­zu­neh­men­de Was­ser im Stadt­ge­biet) und man kann die Lan­dungs­brü­cken ja völ­lig zurecht als gru­se­li­gen Tou­ris­ten­nepp mit homöo­pa­thi­schen Antei­len von See­fah­rer­ro­man­tik, also mit­hin als deut­schen Pier 39, abtun und man kann die gan­zen Auf­hüb­schun­gen und Leucht­turm­pro­jek­te und die gan­ze Gen­tri­fi­zie­rung kri­ti­sie­ren, aber das hat mich in dem Moment nicht inter­es­siert: Ich konn­te die Frei­heit der gro­ßen, wei­ten Welt ein­at­men.

Ich bin dann wei­ter­ge­gan­gen Rich­tung Spei­cher­stadt, wo ich fest­stell­te, dass die Elb­phil­har­mo­nie nicht nur fer­tig ist (kurz nach dem Bochu­mer Musik­zen­trum, aber immer­hin), son­dern man da bereits zum Gucken rein­kann — und zwar sofort und kos­ten­los.

Elbphilharmonie Hamburg (Foto: Lukas Heinser)

Es fol­gen mei­ne Gedan­ken in Echt­zeit:

„Urgs, die Elb­phil­har­mo­nie! Völ­lig über­teu­er­ter Protz­bau für die han­sea­ti­sche Eli­te. Brauch ich nicht! Das Musik­zen­trum ist eh viel coo­ler und über­haupt, bla­bla­bla, Hafen­stra­ße, Punk, puber­tä­res Ich­will­d­anicht­rein!“
„… sagt der Voll­idi­ot, der in New York war und weder aufs Empire Sta­te Buil­ding, noch aufs Rocke­fel­ler Cen­ter woll­te, weil die Schlan­gen zu lang waren oder das umge­rech­net zwei CDs gekos­tet hät­te und zehn Jah­re spä­ter kannst Du immer noch allen erzäh­len, dass Du in New York warst, aber es nur aus Stra­ßen­hö­he gese­hen hast!“
„Okay, ich geh da jetzt rein! Dann kann ich’s ja auch viel bes­ser begrün­det doof fin­den!“

Was soll ich sagen: Ich hab’s ver­sucht, aber das, was ich gese­hen habe, ist wirk­lich, wirk­lich beein­dru­ckend. Jedes ein­zel­ne Detail ist völ­lig unnö­tig kom­pli­ziert (Eine Roll­trep­pe, deren Stei­gungs­grad zwi­schen­durch vari­iert! Rie­si­ge, geschwun­ge­ne Glas­schei­ben, die in einem Dreh­tür­me­cha­nis­mus an einer unebe­nen Decke ver­an­kert sind!), es ist wie Math Rock mit Tex­ten von Adal­bert Stif­ter. Fuck yeah, Her­zog & de Meu­ron!

Elbphilharmonie Hamburg (Foto: Lukas Heinser)

Alles, wirk­lich alles, ist eine knal­li­ge Ant­wort auf die Fra­gen der Leser­brief­schrei­ber, der „Mario Barth deckt auf“-Zuschauer und des Bun­des der Steu­er­zah­ler, ob „wir“ „das“ „jetzt“ „wirk­lich“ „brau­chen“: „Nein, brau­chen wir nicht. Wir brauch­ten auch kei­nen Köl­ner Dom, kei­ne Alte Oper, kein Bran­den­bur­ger Tor und kein Neu­schwan­stein. Und jetzt lasst mich end­lich mit Eurem klein­geis­ti­gen Vor­gar­ten­den­ken in Frie­den! Ich bin ein Bau­denk­mal für die Ewig­keit!“

Wenn man auf den Kai­spei­cher A einen rie­si­gen, von Jeff Koons gestal­te­ten Mit­tel­fin­ger mon­tiert hät­te, wäre die Bot­schaft ver­gleich­bar gewe­sen, aber die Akus­tik und der prak­ti­sche Nut­zen deut­lich gerin­ger. Die Ästhe­tik sowie­so.

Da stand ich jetzt in 37 Metern Höhe auf der „Pla­za“ (Gut, an dem Namen hät­te man noch arbei­ten kön­nen, damit er wei­ni­ger nach Food Court im Ein­kaufs­zen­trum klingt!), genoss die phan­tas­ti­sche Aus­sicht und die gute Stim­mung unter den Leu­ten, die, so nahm ich ein­fach mal an, je zur Hälf­te Tou­ris­ten und Ein­hei­mi­sche waren. „Es ist ein­fach die schöns­te Stadt der Welt“, sag­te ein Mann leicht seuf­zend zu sei­ner Beglei­te­rin und für eine Sekun­de hat­te ich San Fran­cis­co, Wien, Ams­ter­dam und Stock­holm ver­ges­sen und dach­te: „Jau!“

Elbphilharmonie Hamburg (Foto: Lukas Heinser)

Im Okto­ber war ich bei der Eröff­nung des Anne­lie­se Brost Musik­fo­rum Ruhr in Bochum (das übri­gens auch ganz toll gewor­den ist, aber auf einem völ­lig ande­ren Level) und es war eine sehr ähn­li­che Atmo­sphä­re: Wenn so ein Bau­werk erst­mal fer­tig ist, inter­es­sie­ren die Kos­ten (egal, ob jetzt 15 oder … äh: 866?!?! Okay: 866 Mil­lio­nen Euro. Hui!) nur noch die Unter­su­chungs­aus­schüs­se, die Haus­halts­prü­fer und die Jour­na­lis­ten. Die Men­schen freu­en sich über das neue Wahr­zei­chen, über die Kul­tur und – im Fall von Bochum sicher­lich stär­ker als im Fall von Ham­burg – über die über­re­gio­na­le Auf­merk­sam­keit und selbst die meis­ten Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­ker und Kri­ti­ker sind, wenn’s erst mal toll gewor­den ist, immer schon dafür gewe­sen.

Die­ser Text erschien ursprüng­lich in mei­nem News­let­ter „Post vom Ein­hein­ser“, für den man sich hier anmel­den kann.

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Leben Politik Gesellschaft

Little Brother Is Watching You

Ich sit­ze gera­de im Café, um zu arbei­ten. (Dafür trin­ke ich mei­nen Kaf­fee dann in mei­nem Arbeits­zim­mer.) Ich habe also mei­nen Lap­top auf­ge­klappt und lese gera­de die­sen „Süddeutsche“-Artikel über Sahra Wagen­knechts Rede in der gest­ri­gen Gene­ral­de­bat­te des Bun­des­tags.

Und jetzt steht Wagen­knecht im Hohen Haus und sagt an die Bun­des­re­gie­rung gerich­tet: „Offen­bar hat ja selbst noch ein Donald Trump wirt­schafts­po­li­tisch mehr drauf als Sie.“

Alles klar, den­ke ich, und tei­le den Arti­kel mit dem Satz „Eine von Ange­la Mer­kels wich­tigs­ten Wahl­kämp­fe­rin­nen heißt Sahra Wagen­knecht“ bei Face­book.

Minu­ten spä­ter geht ein jun­ger Mann auf dem Weg zum Aus­gang an mir vor­bei und sagt: „Gute Rede!“
„Hmmmm“, fra­ge ich, weil ich mich – ganz ego­zen­tri­scher Medi­en­fuz­zi – gar nicht erin­nern kann, in letz­ter Zeit irgend­wel­che Reden gehal­ten oder geschrie­ben zu haben.
„Die Rede von Sahra Wagen­knecht ges­tern. Die hast Du doch gera­de gelik­ed, oder?“
Ich erklä­re, dass ich die Rede eher kri­ti­siert hät­te, und Poli­ti­ker, die Donald Trump lob­ten, jetzt eher nicht so ernst neh­men kön­ne.
„Sie hat ja nur gesagt, dass er eine bes­se­re Wirt­schafts­po­li­tik hat, und das stimmt, fin­de ich!“, sagt der jun­ge Mann und ich mer­ke, dass sei­ne Beglei­te­rin ihn schon sanft Rich­tung Tür schiebt.
„Nee“, ent­geg­ne ich und den­ke, dass ich bei Online-Dis­kus­sio­nen echt schlag­fer­ti­ger bin als im real life.
„Find ich schon“, sagt er und schiebt nach: „Und ich bin ein Lin­ker!“

In die­sem Moment fällt mir ein, dass gera­de jemand in mei­nem Rücken Mar­tin Schulz als „Ver­bre­cher“ und „Wich­ser“ bezeich­net hat­te, und jetzt weiß ich auch, wer das war.
Die Beglei­te­rin schafft es, den Mann durch die Tür zu bug­sie­ren, wir tau­schen noch has­tig freund­li­che Ver­ab­schie­dungs­wor­te aus, dann sehe ich, wie sie ihn mit die­ser Mischung aus Zunei­gung, Erfah­rung und Resi­gna­ti­on, wie sie nur in sehr lang­jäh­ri­gen Bezie­hun­gen vor­kommt, an die Hand nimmt.

„Komisch“, den­ke ich und wid­me mich vor­sich­tig wie­der mei­nem Lap­top. „Frü­her waren die Lin­ken doch gegen Über­wa­chung!“

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Digital Leben

Feedbackschleife

Ich mag Whats­App nicht – ich kann noch nicht mal genau sagen, war­um. Viel­leicht ist es das Design, viel­leicht der Hin­weis­ton, viel­leicht auch der Umstand, dass es jah­re­lang kei­ne Mög­lich­keit gab, die Funk­tio­nen der App auf einem rich­ti­gen Com­pu­ter zu nut­zen. Jeden­falls fand ich Whats­App schon doof, bevor die App ((Nach­dem ich jetzt vier Mal „App“ geschrie­ben habe, hal­te ich es auch für mög­lich, dass ich Whats­App des­halb doof fin­de, weil ich den Begriff „App“ so super-doof fin­de.)) neue AGBs ver­öf­fent­licht hat, die for­dern, dass man nicht nur die Daten aller Kon­tak­te auf sei­nem Tele­fon mit der Whats­App-Mut­ter Face­book teilt, son­dern man auch noch erklä­ren soll, dass man die Geneh­mi­gung hat, die­se Daten wei­ter­zu­ge­ben – was eine lus­ti­ge, gro­ße Abmahn­wel­le aus­lö­sen könn­te.

Mal davon ab, dass ich E‑Mail immer noch für das sinn­volls­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­um hal­te (so man denn rudi­men­tär in der Lage ist, die­ses ver­nünf­tig zu nut­zen), war ich aber auch immer ein gro­ßer Fan von ICQ. In den Blü­te­zei­ten von BILD­blog, Oslog und co haben Ste­fan Nig­ge­mei­er und ich ver­mut­lich Tau­sen­de von Stun­den über ICQ kom­mu­ni­ziert und dabei zahl­rei­che Stern­stun­den des Humors pro­du­ziert.

Ich kann mich aber seit län­ge­rem nicht mehr bei ICQ ein­log­gen, weil alle poten­ti­el­len Pass­wör­ter, die ich jemals ver­wen­det habe, nicht funk­tio­nie­ren und auch die „Pass­wort zurücksetzen“-Funktion auf der ICQ-Web­site für mei­nen Account aus irgend­wel­chen Grün­den nicht zur Ver­fü­gung steht.

Ich schrieb also im April die­ses Jah­res eine E‑Mail an den ICQ-Sup­port mit der Bit­te um Hil­fe:

Hal­lo, lie­be Men­schen,

ich habe seit ca. 1998 ein ICQ-Kon­to (Nr. XXX), das ich in den letz­ten Jah­ren nicht benutzt habe. Weil Face­book, Whats­App und co alle schreck­lich sind, woll­te ich mein Kon­to reak­ti­vie­ren, aber alle Pass­wör­ter, die ich womög­lich mal ver­wen­det habe, pas­sen nicht mehr. Auch ein Zurück­set­zen des Pass­worts klappt aus irgend­wel­chen obsku­ren Grün­den nicht. Könnt Ihr mir viel­leicht hel­fen?

Vie­len Dank und bes­te Grü­ße,
Lukas Hein­ser

Die Ant­wort aus dem Hau­se mail.ru, zu dem ICQ seit 2010 gehört, kam erstaun­lich schnell – und war erstaun­lich umfang­reich:

Hal­lo,
Vie­len Dank, dass Du uns kon­tak­tiert hast!
Wir benö­ti­gen so viel wie mög­lich Infor­ma­tio­nen, um sicher­zu­stel­len, dass das Kon­to auch dir gehört:
1. Geschätz­tes Datum der Regis­trie­rung
2. Die dem Kon­to ver­knüpf­te E‑Mail-Adres­se
3. Die mit dem Kon­to ver­knüpf­te Tele­fon­num­mer
4. Falls Du eine Sicher­heits­fra­ge hat­test, wel­che und wie lau­tet die Ant­wort?
5. Geschätz­tes Datum, an dem Du das Pro­blem her­aus­ge­fun­den hast
6. Bit­te geben Sie die ICQ-Num­mern Kon­tak­te in Ihrer Kon­takt­lis­te waren
7. IP-Adres­sen, von denen Sie Zugriff auf das Netz­werk in den letz­ten Jah­ren.
8. Han­dy-Modell und das Betriebs­sys­tem , auf dem Sie die Anwen­dung instal­lie­ren.
Die kom­plet­ten Infor­ma­tio­nen erlau­ben uns, den Zugriff auf Dein Kon­to wie­der­her­zu­stel­len.
Mit freund­li­chen Grü­ßen,
Dein ICQ-Sup­port-Team
Bit­te zitie­re bei einer Ant­wort die gesam­te Unter­hal­tung.

Ich tat mein Mög­lichs­tes, um wenigs­tens einen Teil die­ser Fra­gen zu beant­wor­ten. Da ich mich mit der ICQ-App, die auf mei­nem anti­quier­ten iPod Touch instal­liert ist, sogar noch ein­log­gen kann (Pass­wort her­aus­fin­den oder ändern geht lei­der nicht), war es mir sogar mög­lich, die ICQ-Num­mern von Men­schen her­aus­zu­fin­den, mit denen ich vor vie­len Jah­ren via ICQ kom­mu­ni­ziert hat­te.

Ich bekam eine Ant­wort, die mich in nicht mehr ganz so ver­ständ­li­chem Deutsch dar­um bat, Kon­takt mit den Inha­bern die­ser ICQ-Num­mern auf­zu­neh­men, damit die­se unter Anga­be einer Berichts­num­mer Kon­takt mit ICQ/mail.ru auf­neh­men, um zu bestä­ti­gen, dass ich ich bin. Mit zwei die­ser Men­schen war ich zum Glück immer noch befreun­det und konn­te sie so bit­ten, sich an ICQ zu wen­den, was sie auch taten.

Die nächs­ten vier Mona­te hör­te ich: nichts. Als dann die Nach­richt von den neu­en Whats­App-AGBs kam, fiel mir wie­der ein, dass ich ja mei­nen ICQ-Account reak­ti­vie­ren woll­te, und hak­te noch mal nach:

Guten Tag!

Im April hat­te ich ver­sucht, mei­nen ICQ-Account zu reak­ti­vie­ren. Ist dies inzwi­schen irgend­wie mög­lich?

Bes­te Grü­ße,
Lukas Hein­ser

Ich bekam die­se Ant­wort:

Hal­lo,

Bit­te geben Sie Ihre gül­ti­ge Han­dy-Num­mer, die nicht an ICQ-Account ver­bun­den ist.
Die­se Zahl wer­den wir auf Ihr Kon­to legen.

Da ich ver­mu­te­te, dass die Nach­fra­ge mei­ner Han­dy­num­mer galt, schick­te ich die­se als Ant­wort.

Dar­auf­hin schrieb mir ICQ:

Hal­lo,

Über­prü­fen Sie die Rich­tig­keit Tele­fon­num­mer ein­zu­ge­ben.

Ich inter­pre­tier­te das als Auf­for­de­rung, mich auf der ICQ-Web­site mit mei­ner Han­dy­num­mer ein­zu­log­gen, schei­ter­te bei dem Ver­such aber kläg­lich:

Hel­lo,

I just tried to log­in with my pho­ne num­ber (+49 XXX) but I got log­ged into the account num­ber XXX and not mine (XXX).

Als Ant­wort bekam ich:

Hal­lo,

Die­se Tele­fon­num­mer +49 XXX ist ungül­tig. Es bleibt noch eine Zif­fer ein­zu­ge­ben.

Das war … merk­wür­dig, denn mein Han­dy­num­mer besteht seit lan­ger, lan­ger Zeit aus einer vier­stel­li­gen Vor­wahl und einer sie­ben­stel­li­gen Durch­wahl. Noch glaub­te ich des­halb an eine lös­ba­re Auf­ga­be:

Hal­lo,

die­se Num­mer ist seit 15 Jah­ren mei­ne Tele­fon­num­mer, Sie kön­nen ger­ne anru­fen.

Ich weiß nicht, ob sie die Num­mer mit oder ohne 0 nach der Län­der­ken­nung (+49) brau­chen, also ist es ent­we­der

0XXX

oder +49XXX.

Vie­len Dank!

Das sah der Cus­to­mer Sup­port bei ICQ aber anders:

Hal­lo,

Wir kön­nen die­se Tele­fon­num­mer nicht anhän­gen, es fehlt eine Zif­fer.

Mit freund­li­chen Grü­ßen,
Dein ICQ-Sup­port-Team
Bit­te zitie­re bei einer Ant­wort die gesam­te Unter­hal­tung.

Ich gebe zu, dass ich lang­sam genervt war, als ich am Frei­tag ant­wor­te­te:

Hal­lo,

ich ver­ste­he nicht, wo das Pro­blem liegt: 0XX-XXX ist mei­ne Tele­fon­num­mer. Mehr Zif­fern gibt es nicht. Wenn Ihr Sys­tem die­se gül­ti­ge Tele­fon­num­mer nicht aner­kennt, stimmt etwas mit Ihrem Sys­tem nicht.

Vie­le Grü­ße,
Lukas Hein­ser

Nun kam gera­de eine E‑Mail aus Russ­land, die uns über­ra­schend vier Mona­te zurück­warf:

Hal­lo,
Lei­der ohne Bestä­ti­gung Ihrer Kon­tak­te, kön­nen wir Ihnen nicht hel­fen.

Ich wer­de es aber wei­ter ver­su­chen. Viel­leicht schaf­fen die es ja, mei­nen Account zu reak­ti­vie­ren, solan­ge ICQ noch min­des­tens einen wei­te­ren Nut­zer hat!

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Musik

Eine Liebe zur Musik, eine Liebe zu den Tönen

Ich hab’s ver­passt: Am Sonn­tag jähr­te sich zum zehn­ten Mal das Tom­te-Kon­zert im Düs­sel­dor­fer Zakk, weni­ge Tage vor Ver­öf­fent­li­chung der „Buch­sta­ben über der Stadt“. Ich war zum Inter­view mit Thees Uhl­mann ver­ab­re­det und ent­spre­chend früh da, war aber trotz­dem etwas erstaunt, als mich der Künst­ler dann höchst­selbst auf dem Han­dy anrief und zum Gespräch bat.

Als er die Tür zum Back­stage­raum öff­ne­te, trug er einen Blink-182-Kapu­zen­pull­over, hat­te ein Rot­wein­glas in der Hand und grins­te mich an. Es war unser zwei­tes Inter­view, wovon er aber ver­mut­lich nichts wuss­te. Ich hat­te das Album schon seit Anfang des Jah­res und war schwer begeis­tert, muss­te aber erst noch was ande­res los­wer­den:
„Hi, ist Simon nicht da? Ich hät­te hier ein Demo für ihn. Sind Bekann­te von mir, die machen so Strokes-mäßi­gen Indie­rock.“

Und Thees sag­te so was wie: „Zeig mal hier“, guck­te auf die Track­list und sag­te tri­um­phie­rend: „Gott sei Dank, sie sin­gen Eng­lisch!“ Dann leg­te er die CD in sei­nen Lap­top und drück­te auf Play. Zu den ers­ten Tak­ten von „At All“ sang er „Ein Volk steht wie­der auf …“, weil der Beat was von kett­cars „Dei­che“ hat. Er skipp­te sich durch die sechs Songs und sag­te die gol­de­nen Wor­te: „Wenn ich die mor­gen noch geil fin­de, wenn ich wie­der nüch­tern bin, dann sign ich die!“ Dann erst konn­te ich mein Inter­view begin­nen.

Als Ger­ne Poets, der Mana­ger, wäh­rend des Inter­views kurz vor­bei­schau­te, erklär­te ihm Thees im Über­schwung, er habe gera­de ein Demo gehört und wer­de eine neue Band beim Grand Hotel van Cleef unter Ver­trag neh­men. Ger­ne dach­te ver­mut­lich das glei­che wie ich: „Ja, klar. Laber­la­ber!“ Acht Wochen spä­ter stand ich im E‑Werk in Erlan­gen und sah die Kili­ans im Vor­pro­gramm von Tom­te spie­len.

Seit­dem ist viel pas­siert: Die Bands gibt es nicht mehr, eini­ge von uns sind Väter gewor­den, die meis­ten Leu­te habe ich seit Jah­ren nicht gese­hen. Aber die­se vier Tage, die ich mit Tom­te und den Kili­ans auf Tour war, als wir in Stutt­gart im Copy Shop hun­der­te von CD-Book­lets nach­dru­cken las­sen muss­ten und auf allen ver­füg­ba­ren Lap­tops die­se EP gebrannt haben (teil­wei­se am Merch­stand: „Hi, ich hät­te ger­ne die CD von der Vor­grup­pe!“ — „Ja, klei­nen Moment, gleich ist wie­der eine fer­tig!“), als ich die Songs von Tom­te Abend für Abend gehört habe, als sich mein Leben wie „Almost Famous“ anfühl­te und wir für eine kur­ze Zeit über­zeugt davon waren, dass es im Leben nichts wich­ti­ge­res, bedeut­sa­me­res und grö­ße­res geben kön­ne als Rock­mu­sik, das alles wird für immer blei­ben. Auf einem Platz in mei­nem Herz steht Dein Name an der Wand und ich will, dass Du es erfährst.

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Gesellschaft

Wie das Brötchen vor der Schlange

Ver­gan­ge­ne Woche fei­er­te die Gur­ken­ver­ord­nung der EU ihren 25. Geburts­tag. Es war ein trau­ri­ges Fest, denn die Ver­ord­nung weilt inzwi­schen nicht mehr unter uns. Den­noch ist sie zum Sym­bol gewor­den für den Regu­lie­rungs­wahn der Euro­päi­schen Uni­on – und schuld dar­an, dass Jour­na­lis­ten und Bür­ger der EU wirk­lich jeden Unfug zutrau­en.

Gesetz­lich gänz­lich unge­re­gelt ist aller­dings eine der größ­ten All­tags­gei­ßeln der Zivi­li­sa­ti­on: die War­te­schlan­ge. Man kennt sie in der Super­markt-Vari­an­te aus dem Klein­kunst-Dau­er­bren­ner „Die ande­re Schlan­ge ist immer schnel­ler“, als Num­mern­re­vue aus dem Bür­ger­bü­ro und – in ihrer wil­des­ten und unüber­sicht­lichs­ten Form – aus der Bäcke­rei.

Der deut­sche Durch­schnitts­bür­ger hat pani­sche Angst davor, über­gan­gen zu wer­den. Des­halb bil­det er am Bahn­steig eine im Prin­zip mensch­li­che, aber meist eher an Zom­bies gemah­nen­de Wand vor sich öff­nen­den Zug­tü­ren – die Bahn könn­te ja sonst ohne ihn los­fah­ren. Des­halb bleibt er in der U‑Bahn ste­hen, sobald er ein­ge­stie­gen ist – wenn er wei­ter durch­gin­ge und den gan­zen Wag­gon aus­nut­zen wür­de, könn­te er ja an sei­ner Ziel­hal­te­stel­le unter Umstän­den nicht recht­zei­tig aus­stei­gen. Jeder ist sich selbst der Nächs­te, nur die Stärks­ten über­le­ben.

Wäh­rend das Kli­schee besagt, dass Bri­ten sogar an jeder Bus­hal­te­stel­le in Reih und Glied war­ten, las­sen sich Deut­sche, wie­wohl stets zur Polo­nai­se bereit, meist nur unter Ein­satz von Waf­fen, min­des­tens aber von Gurt­pfos­ten, zum kor­rek­ten Schlan­ge­ste­hen zwin­gen.

Als die Deut­sche Post vor eini­gen Jah­ren das ein­zig sinn­vol­le War­te­sys­tem, die zen­tra­le War­te­schlan­ge, ein­führ­te, ver­glich die „Süd­deut­sche Zei­tung“ die­se mit dem „Prin­zip Wurst­the­ke“. Das mag zutref­fen, solan­ge es genau eine Bedie­nung hin­ter die­ser Wurst­the­ke gibt. Sind es aber zwei oder mehr, ist das Cha­os vor­pro­gram­miert – womit wir wie­der in der Bäcke­rei wären.

Hin­ter der The­ke ste­hen drei, vier, an Sonn­tag­mor­gen viel­leicht sogar fünf Ver­käu­fe­rin­nen. Theo­re­tisch neben­ein­an­der, prak­tisch wuseln sie zwi­schen Mohn­bröt­chen, Crois­sants und Mehr­korn­bro­ten umher wie Amei­sen in ihrem Bau – wie Amei­sen wis­sen sie aber auch genau, was sie tun und wo sie hin­müs­sen. Womit sie sich grund­le­gend von ihren Kun­den unter­schei­den.

Die ste­hen auf der ande­ren Sei­te der The­ke und ver­su­chen, sich an den Posi­tio­nen der auf­ge­stell­ten Kas­sen oder den Ver­käu­fe­rin­nen zu ori­en­tie­ren, und bil­den dabei drei, vier, fünf (die Anzahl kann auch schon mal die der Ver­käu­fe­rin­nen über­stei­gen) Mikro­schlan­gen, die sich aber nicht im rech­ten Win­kel zur The­ke posi­tio­nie­ren (das ist zumeist schon archi­tek­to­nisch aus­ge­schlos­sen), son­dern par­al­lel dazu. Dadurch bleibt für alle Betei­lig­ten – war­ten­de Kun­den, Ver­käu­fe­rin­nen, neu ein­tre­ten­de Kun­den, evtl. zu Hil­fe eilen­de UN-Blau­hel­me – völ­lig unklar, wie vie­le Schlan­gen es gibt, und wer in wel­cher steht. Das Ergeb­nis: Neid, Miss­gunst, Zwie­tracht.

Wie oft habe ich es als Kind erlebt, dass ich beim sams­täg­li­chen Bröt­chen­kauf schlicht über­gan­gen wur­de. Ich konn­te ja noch nicht mal über die The­ke schau­en und dann waren da auch noch all die­se alten Men­schen, die sich ein­fach vor­ge­drän­gelt haben! Und wie froh ich war, als die Bäcke­rei in unse­rem nie­der­län­di­schen Urlaubs­ort eine Num­mern­aus­ga­be ein­führ­te! Da konn­te man abschät­zen, wie lan­ge man noch war­ten muss, bis man auch wirk­lich bedient wird – und in der Zwi­schen­zeit schon mal einen hal­ben Tag an den Strand gehen oder eine mitt­le­re Fahr­rad­tour unter­neh­men.

Auch heu­te sind es häu­fig noch Rent­ner, die glau­ben, schon „dran“ zu sein. Man kann ihnen da aller­dings nur schwer­lich Vor­wür­fe machen: Die Lage ist ja meis­tens fast so unüber­sicht­lich wie in Syri­en und nach eini­gen Jah­ren, in denen man dau­ernd über­gan­gen wur­de, gewöhnt man sich an, auf die leicht pani­sche Fra­ge der Ver­käu­fe­rin­nen, wer der Nächs­te sei, mit „Ich!“ zu ant­wor­ten. Sind wir nicht alle ein biss­chen FDP?

Es ist daher erstaun­lich, dass die Grü­nen, die doch sonst alles regu­lie­ren wol­len, in ihrem Wahl­pro­gramm dem Kon­flikt­herd in jeder Nach­bar­schaft kei­ne ein­zi­ge Zei­le wid­men. Eine Par­tei, die sich für eine sinn­vol­le Orga­ni­sa­ti­on von Bäcke­rei-War­te­schlan­gen stark macht, hät­te durch­aus mei­ne Sym­pa­thien.

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Leben

Shut Up And Take My Money

Ver­gan­ge­ne Woche war ich dienst­lich in Ham­burg. Zwecks Zer­streu­ung auf dem Rück­weg kauf­te ich mir in der dor­ti­gen Bahn­hofs­buch­hand­lung die aktu­el­le „Spex“-Ausgabe. Die kos­tet 5,50 Euro, ich hat­te es nicht „pas­send“ und reich­te dem Ver­käu­fer einen Zehn-Euro-Schein und einen Euro. Zurück bekam ich: 50 Cent.

„Ent­schul­di­gung, ich hat­te Ihnen elf Euro gege­ben“, sag­te ich. Kann ja mal pas­sie­ren.
„Nein, das waren sechs!“, ant­wor­te­te der Mann bestimmt.
„Ja, nee. Es war ein roter Schein. Ich hat­te kei­nen Fün­fer mehr – sonst hät­te ich den ja auch gege­ben!“
Doch der Ver­käu­fer beharr­te dar­auf, ich hät­te ihm einen Fünf-Euro-Schein gereicht. Ich blieb auch bei mei­ner Mei­nung.

Das sei aber alles gar kein Pro­blem, sag­te der Mann, ich sol­le ein­fach am nächs­ten Tag sei­nen Chef anru­fen, der kön­ne dann fest­stel­len, ob zu viel Geld in der Kas­se gewe­sen sei. Ein Abschlag sei jetzt näm­lich nicht mög­lich (und wäre auch zeit­lich kaum noch drin gewie­sen). Schlecht gelaunt und gruß­los ver­ließ ich also den Laden, schimpf­te lei­se auf Ham­burg und die Mensch­heit als sol­che, und setz­te mich in einen IC, dem gleich drei kom­plet­te Wagen fehl­ten und des­sen Steck­do­se mein fast lee­res iPho­ne nicht auf­la­den woll­te. Ohne Musik und Inter­net trat ich also die Heim­fahrt an und war dabei in einer Stim­mung wie Uli Hoe­neß nach einer 0:5‑Heimspielniederlage gegen den VfL Osna­brück.

Am nächs­ten Tag hielt ich noch mal kurz Rück­spra­che mit mei­ner Wür­de, ob ich ernst­haft wegen fünf Euro in die­sem Geschäft anru­fen soll­te. Doch mein Gerech­tig­keits­sinn und mei­ne inne­re Oma („Wer den Pfen­nig nicht ehrt, …“) gewan­nen die Über­hand und so wähl­te ich eine Ham­bur­ger Num­mer und trug mein Anlie­gen in den nächs­ten acht Minu­ten zwei, drei Mal vor. Auf offen­bar sehr ver­schlun­ge­nen Wegen wur­de der Appa­rat mit mir am Ende mehr­fach durch das gesam­te Geschäft getra­gen, zur Che­fin hin und wie­der zurück.

Ob es da Unre­gel­mä­ßig­kei­ten gebe, kön­ne sie erst am Mon­tag sagen, erklär­te mir die Che­fin. Man wer­de mich aber auf alle Fäl­le zurück­ru­fen. Ich dach­te wäh­rend­des­sen: „No ja, wenn der Mann sich ein ein­zi­ges Mal in die ande­re Rich­tung ver­tut, ist eh alles hin­fäl­lig.“
Eine Mit­ar­bei­te­rin nahm mei­ne Daten auf, wobei sich mei­ne Hoff­nung auf ein posi­ti­ves Ende voll­ends zer­schlug:
„Wie hei­ßen Sie?“
„Hein­ser. Hein­rich, Emil, Ida, Nordp…“
„Hein­rich, ja?“
„Nein, Hein­ser. Das schreibt man Hein­rich, Em…“
„Ja, was denn nun? Hein­rich oder Hein­ser?“
Ich war in einem Acht­zi­ger-Jah­re-Sketch mit Die­ter Hal­ler­vor­den, Harald Juhn­ke und Eddi Are­nt gelan­det – oder wahl­wei­se in einer durch­schnitt­li­chen deut­schen Unter­hal­tungs­sen­dung des Jah­res 2012.

Am Mon­tag klin­gel­te mein Tele­fon nicht. Am Diens­tag auch nicht, eben­so wenig am Mitt­woch oder den fol­gen­den Tagen. Eine Poin­te hat die Geschich­te nicht, wes­we­gen ich sie wohl auch nicht noch mal erzäh­len wer­de.

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Leben

Wie schön es hier ist, seitdem es verschneit ist

Vor­hin flo­gen zwei gro­ße Grup­pen Zug­vö­gel in beein­dru­cken­dem For­ma­ti­ons­flug an mei­nem Wohn­zim­mer­fens­ter vor­bei, wes­we­gen ich (nur zwei­ein­halb Jah­re Bio­lo­gie-Unter­richt in der Schu­le) erst mal in der Wiki­pe­dia nach­se­hen muss­te, war­um sie das über­haupt tun. Dabei fiel mir auf, dass „Schwarm­ver­hal­ten“ auch den leicht trot­te­li­gen Habi­tus bezeich­nen könn­te, den Men­schen an den Tag legen, wenn sie sich in der Gegen­wart eines ande­ren Men­schen befin­den, in den sie heim­lich (bzw. zumeist unheim­lich) ver­liebt sind, wobei mei­ne Freun­de mir schon mehr­fach gesagt haben, dass nie­mand außer mir und der „Bra­vo“ ein love inte­rest als „Schwarm“ bezeich­nen wür­de. Dann fühl­te ich mich mal wie­der alt und leicht trot­te­lig, wuss­te aber immer noch nicht, war­um die blö­den Vögel so flie­gen, wie sie flie­gen.

Ich mag den Win­ter. Nicht die grau­en Novem­ber­ta­ge, an denen es nie rich­tig hell wird, aber die kla­ren mit klir­ren­der Käl­te und Schnee. Wenn der ers­te Schnee fällt, füh­le ich mich noch mehr wie ein Fünf­jäh­ri­ger als sowie­so schon, und hole sofort mei­ne Win­ter­stie­fel her­vor. Es sind so ähn­li­che Schu­he, wie Jay‑Z sie ger­ne trägt, nur dass ich sie schon seit mehr als 20 Jah­ren tra­ge – natür­lich nicht immer das sel­be Modell, denn als Kind hät­te ich in mei­nen aktu­el­len Schu­hen Höh­len bau­en kön­nen. Das aktu­el­le Paar habe ich jetzt seit zehn Jah­ren, was aber gar nicht so lang ist, wenn man bedenkt, wie viel Schnee wir im Ruhr­ge­biet so durch­schnitt­lich haben. Ich wür­de tip­pen, in den zehn Jah­ren kamen die Schu­he auf etwa andert­halb kana­di­sche Win­ter Ein­satz­zeit.

Das bes­te ist immer, die Schu­he zum ers­ten Mal anzu­zie­hen: Sie sind im Ver­gleich zu mei­nen Füßen und sons­ti­gen Schu­hen so gro­tesk groß, dass ich erst mal über­all gegen­lau­fe. Das ist eigent­lich nicht schlimm, weil die Schu­he auch sehr sta­bil sind, aber trotz­dem nicht unge­fähr­lich: Beim Trep­pen­stei­gen hal­te ich mich sicher­heits­hal­ber am Gelän­der fest, weil die Schu­he kaum auf eine Stu­fe pas­sen und ich auch per­ma­nent Angst haben muss, zu stol­pern. Die ers­ten Meter auf der Stra­ße sind dann auch immer gewöh­nungs­be­dürf­tig, weil die Schu­he so hohe Absät­ze haben, dass ich damit ger­ne an Bür­ger­stei­gen hän­gen blei­be. Ste­hen ist auch lus­tig, weil ich mit mei­nen Füßen meist leicht nach außen wip­pe. Wegen der hohen Absät­ze pas­siert es im Win­ter oft, dass ich an einer Super­markt­kas­se ste­he und mir bei­de Füße gleich­zei­tig ver­knack­se.

Noch schö­ner als Schnee ist natür­lich Schnee mit Musik. Wenn ich durch die Stadt gehe und die Zufalls­wie­der­ga­be mei­nes iPho­nes schickt mir „So Long, Asto­ria“ von den Ata­ris (ers­te Zei­le: „It was the first snow of the sea­son“), „The River“ von Joni Mit­chell oder den „Ally McBeal“-Titelsong „Sear­chin‘ My Soul“ von Von­da She­pard, läch­le ich leicht debil vor mich hin. Über­haupt hat „Ally McBe­al“ mit den offen­bar stän­dig ver­schnei­ten Stra­ßen Bos­tons bei mir noch grö­ße­re Ver­hee­run­gen im Roman­tik­zen­trum ange­rich­tet als „Dawson’s Creek“ und „My So-Cal­led Life“ zusam­men.

Seit ich in einer eige­nen Woh­nung woh­ne, wird die­se im Dezem­ber auch fest­lich geschmückt: Ich hän­ge Lich­ter­ket­ten in die Fens­ter (nach nur zwei Sai­sons war die ers­te schon dau­er­haft kaputt und ein Fall für die Müll­hal­de) und stel­le im Wohn­zim­mer einen etwa hüft­ho­hen Tan­nen­baum auf. Die­sen kau­fe ich nun schon im drit­ten Jahr und damit tra­di­tio­nell in einem Bau­markt, drei Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­len ent­fernt. Das Schlim­me ist dabei nicht der Trans­port eines Baums in der Stra­ßen­bahn (da sind die Bochu­mer gene­rell sehr hilfs­be­reit und kom­mu­ni­ka­tiv), son­dern der Weg vom Bau­markt zur Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le, den ich jedes Jahr aufs Neue unter­schät­ze. Aber klar: geht alles, man wächst mit sei­nen Her­aus­for­de­run­gen, ein biss­chen Schwit­zen in der dicken Win­ter­ja­cke stärkt die Abwehr­kräf­te.

Wes­sen Leben arm an Action und Span­nungs­mo­men­ten ist, dem kann ich nur emp­feh­len, ein­fach mal einen Tan­nen­baum zum gro­ben Abtrock­nen in der eige­nen Dusche zu plat­zie­ren. Zumin­dest wenn man ein ähn­lich gutes Kurz­zeit­ge­dächt­nis hat wie ich, gibt es jedes Mal ein gro­ßes Hal­lo, wenn man die Toi­let­te benut­zen möch­te und da plötz­lich ein Baum im Bad steht. Das hilft auch gegen nied­ri­gen Blut­druck, wobei der beim Auf­stel­len von Tan­nen­bäu­men eh nicht unten bleibt.

Ich kau­fe mei­nen Baum immer ein­ge­topft mit beschnit­te­nen Wur­zeln, weil ich mir immer noch 30 Jah­re zu jung vor­kom­me, um einen Christ­baum­stän­der zu erwer­ben. Außer­dem bil­de ich mir ein, dass er in der Erde nicht so schnell zu nadeln beginnt. Die Anzahl der Nadeln, die er auf dem Weg von der Haus­tür über das Bad ins Wohn­zim­mer ver­liert, ist den­noch beacht­lich. Man soll­te sich anschlie­ßend nicht zu scha­de sein, ein­mal gründ­lich durch­zu­sau­gen – zumin­dest, wenn man anschlie­ßend noch bar­fuß durch sei­ne Woh­nung spa­zie­ren möch­te. Tan­nen­na­deln sind zwar eigent­lich sehr flach, haben aber einen natür­li­chen Über­le­bens­wil­len, der sie zwingt, sich auch in den aus­weg­lo­ses­ten Situa­tio­nen noch der­ge­stalt senk­recht auf­zu­rich­ten, dass sie im mensch­li­chen Fuß maxi­ma­len Scha­den anrich­ten kön­nen. In den Ent­wick­lungs­la­bors von Lego wer­den Tan­nen­na­deln des­halb ganz beson­ders aus­gie­big stu­diert.

Steht der grün­ge­klei­de­te Win­ter­gast dann erst mal an sei­nem Platz (die Fra­ge, ob er nicht „schief steht“, ver­bie­tet sich bei ein­ge­topf­ten Bäu­men zum Glück – man kann eh nix ändern), kommt die elf­te Pla­ge aus dem elf­ten Kreis der Höl­le: die Lich­ter­ket­te. Gan­ze Klein­kunst­a­ben­de wer­den im Spät­herbst und Früh­win­ter mit der Beschrei­bung des­sen beschrit­ten, was der Mensch (auch in eman­zi­pier­ten Haus­hal­ten zumeist: der Mann) denkt, fühlt, oder prä­zi­ser: hasst, wäh­rend er ver­sucht, 16 unter­ein­an­der ver­bun­de­ne Leucht­ele­men­te an einen kak­tus­ähn­li­chen Baum zu klem­men, ohne sich in dem Kabel zu ver­hed­dern. Es geht nicht. Eine gerech­te Ver­tei­lung der Ker­zen über den gan­zen Baum ist nicht mög­lich, am Ende sieht es immer aus wie ein Satel­li­ten­bild von Aus­tra­li­en bei Nacht. Das Kabel ist immer da, wo es nicht sein soll, und letzt­lich soll­te man schon dem Herr­gott dan­ken, wenn man nicht den gan­zen Baum zu Boden reißt.

Es gibt in dem Weih­nachts­klas­si­ker „Schö­ne Besche­rung“ die schö­ne Sze­ne, in der Clark Gris­wold zu sei­nem Vater sagt: „Alles, was ich über Weih­nachts­au­ßen­be­leuch­tung weiß, habe ich von Dir gelernt, Dad!“ Die­ser eine Satz sagt mehr über die Psy­che von Män­nern aus, als die Lebens­wer­ke von Ali­ce Schwar­zer und Mario Barth zusam­men. Wer Män­ner ver­ste­hen will, soll­te hier anfan­gen und auf­hö­ren.

Ist die Lich­ter­ket­te aber end­lich in Betrieb (und der Baum hof­fent­lich eich­hörn­chen­frei), geht alles ganz schnell: Das Gebim­mel (zwei Christ­baum­ku­geln und drei sons­ti­ge Hän­ger) ist in einem klei­nen Baum wie mei­nem schnell ver­staut und wenn end­lich auch die Krip­pe steht, heißt es inne­zu­hal­ten und zu genie­ßen. Der Geruch von Tan­nen­grün ist (neben dem von frisch bear­bei­te­tem Holz und dem von Meer) ver­mut­lich der schöns­te auf der Welt, die größ­te Kind­heits­er­in­ne­rung sowie­so. Er ist der Proust’sche Instant-Remin­der an die Weih­nachts­ta­ge der Kind­heit, als ich irgend­wann kurz nach Son­nen­auf­gang aus dem Bett hüpf­te und ins Wohn­zim­mer rann­te, um mit mei­nen neu­en Spiel­sa­chen zu spie­len. Bar­fuß saßen mei­ne Geschwis­ter und ich unter dem fest­lich geschmück­ten Baum, des­sen schon ver­lo­re­ne Nadeln gemein­sam mit dem Hoch­flor­tep­pich eine letz­te, unhei­li­ge Alli­anz ein­ge­gan­gen waren (s.o.), und wid­me­ten uns inten­siv unse­ren Lego-Flug­hä­fen und Play­mo­bil-Rit­ter­bur­gen, die wir natür­lich direkt nach der Besche­rung hat­ten auf­bau­en müs­sen („Du bist doch schon so müde, willst Du das nicht lie­ber mor­gen machen?“ – „NEIN!“).

Die­se kind­li­che, unschul­di­ge Begeis­te­rung, die noch nichts ahnt von abbre­chen­den und ver­lo­ren gehen­den Plas­tik­tei­len, von kost­spie­li­gen Zube­hör­sets und viel bes­se­ren neu­en Ver­sio­nen, glimmt im Erwach­se­nen­le­ben manch­mal noch auf, wenn ein noch jung­fräu­li­cher Lap­top oder ein flamm­neu­es Smart­phone behut­sam aus sei­ner Ver­pa­ckung genom­men wird. Doch dann gilt man schnell als kom­plett bescheu­ert – nicht ganz zu Unrecht, wenn man die Ent­pa­ckungs­ze­re­mo­nie gleich­zei­tig auch noch auf Video auf­ge­nom­men und ins Inter­net gestellt hat. Ich hof­fe, dass das „Unboxing“ von Weih­nachts­ge­schen­ken, die­ser ganz inti­me Glücks­mo­ment eines Kin­der­le­bens, nie­mals online ver­wurs­tet wird.

Bis vor ein paar Jah­ren haben mei­ne Geschwis­ter in der Advents­zeit auch immer noch geba­cken. Die­ses hei­me­li­ge Gefühl völ­li­gen Grö­ßen­wahns, wenn man ein Kilo­gramm Scho­ko­la­de und 800 Gramm But­ter im Was­ser­bad zum Schmel­zen bringt! Aber ers­tens sah die Küche unse­rer Eltern danach jedes Mal aus, als habe es ein Mas­sa­ker bei Wil­ly Won­ka gege­ben, und zwei­tens ist irgend­wann jeman­dem auf­ge­fal­len, dass irgend­wer den gan­zen Scheiß ja hin­ter­her auch essen muss. Ich habe bei der Reno­vie­rung mei­ner Woh­nung vor drei Jah­ren die däm­men­de Wir­kung von Scho­ko­la­den-Brow­nies sehr zu schät­zen gelernt.

Die blö­den Vögel sind lan­ge weg. Ich lie­ge neben mei­nem Tan­nen­baum und ver­su­che so unauf­fäl­lig an ihm zu rie­chen, wie man im Vor­bei­ge­hen an sei­nem Schwarm zu rie­chen ver­sucht. Mei­ne Füße tun fast nicht mehr weh. Es ist Advent.

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Das Amt

Die aus­ge­klü­gel­te deut­sche Büro­kra­tie ist sicher nur erfun­den wor­den, damit Kolum­nis­ten und Kaba­ret­tis­ten sich dar­über auf­re­gen und Leh­rer mit Adolf-Sau­er­land-Bär­ten und Leder­wes­ten „ja, genau“ rufen kön­nen.

Anders gesagt: Ich brauch­te einen neu­en Rei­se­pass. Im Mai geht’s nach Aser­bai­dschan und der alte Pass ist im ver­gan­ge­nen Juli abge­lau­fen. Außer­dem brau­che ich einen Ort, wo ich mei­ne weit­ge­hend unge­nutz­te „Miles & More“-Karte der Luft­han­sa depo­nie­ren kann, und da hat sich der Rei­se­pass in der Ver­gan­gen­heit als guter Platz erwie­sen. Braucht man ja dann eh bei­des zusam­men.

Über Wochen habe ich mich aus zwei Grün­den um die­ses Vor­ha­ben gedrückt: Ers­tens mei­ne Abnei­gung gegen­über War­te­räu­men aller Art, zwei­tens das Pass­fo­to. „Viel­leicht doch erst zum Fri­seur“, habe ich gedacht, aber da hät­te ich unter Umstän­den wie­der war­ten müs­sen, also hab ich es gar nicht erst ver­sucht und ein­fach auf einen Good Hair Day gewar­tet. Die Son­ne schien, das Radio hat­te mich am Mor­gen mal nicht mit Nickel­back begrüßt, die Haa­re taten nach dem Duschen unge­fähr das, was ich von ihnen erwar­tet hät­te, kurz­um: Es war die Gele­gen­heit, die ver­damm­ten Fotos machen zu las­sen und den Rei­se­pass in Angriff zu neh­men.

Tat­säch­lich gelang es den Mit­ar­bei­tern im ört­li­chen Foto­gra­fie­fach­ge­schäft, ein bio­me­tri­sches Bild von mir anzu­fer­ti­gen, auf dem ich aus­nahms­wei­se nicht wie ein soeben fest­ge­nom­me­ner Seri­en­kil­ler oder Jour­na­list aus­se­he. Im Zwei­fels­fall könn­te ich die über­zäh­li­gen Pass­bil­der sogar mei­nen Groß­el­tern zu Weih­nach­ten schen­ken, wenn mir mal wie­der nichts ein­fällt. Im Prin­zip ist das aber eh egal, denn das schlimms­te Foto, das jemals von mir ange­fer­tigt wur­de, ziert eh mei­nen Füh­rer­schein, der nie erneu­ert wer­den muss.

Dann ging ich ins Rat­haus zum Bür­ger­bü­ro, zog eine Num­mer und längst ver­dräng­te Erin­ne­run­gen stie­gen in mir wie­der auf. Dar­an, wie ich vor acht Jah­ren bei mei­nem Umzug nach Bochum gefühl­te vier Stun­den hat­te war­ten müs­sen. Oder dar­an, wie ich bei der Bean­tra­gung eines neu­en Per­so­nal­aus­wei­ses nach ein­stün­di­ger War­te­zeit dar­über infor­miert wur­de, dass mein Pass­fo­to nicht den Anfor­de­run­gen ent­spre­chen wür­de. ((Ich ging am nächs­ten Tag ein­fach in eine Zweig­stel­le des Bür­ger­bü­ros, wo das sel­be Foto anstands­los akzep­tiert wur­de.)) Doch dies­mal war ich vor­be­rei­tet: Ich hat­te Buch und Kopf­hö­rer dabei und mich vor­her infor­miert, wo ich mich fuß­läu­fig mit Lebens­mit­teln, Geträn­ken und Bett­de­cken ver­sor­gen könn­te.

Ich has­se, wie gesagt, War­te­räu­me aller Art. Dabei ist es weit­ge­hend egal, ob am Ende der War­te­zeit eine zahn­ärzt­li­che Behand­lung, ein Lang­stre­cken­flug oder der Ver­such ansteht, einen Rei­se­pass zu bean­tra­gen. Beim War­ten den­ke ich die gan­ze Zeit dar­an, wie schön ich zur glei­chen Zeit zuhau­se vor mei­nem Com­pu­ter oder Fern­se­her (oder bei­dem) hocken und mei­ne Zeit nach eige­nem Ermes­sen ver­schwen­den könn­te. Außer­dem habe ich tief in mir eine laten­te Angst vor dem deut­schen Büro­kra­tie­ap­pa­rat. Ich male mir immer aus, dass ich beim letz­ten Umzug irgend­ein For­mu­lar falsch aus­ge­füllt haben könn­te und jetzt offi­zi­ell als tot gel­te, wobei auch noch eine mir unbe­kann­te Per­son Wit­wen­ren­te bezieht, weil die ihr For­mu­lar eben­falls nicht kor­rekt aus­ge­füllt hat­te und die Dame vom Amt dann noch irgend­was durch­ein­an­der­ge­bracht hat.

„Es war­ten 15 Per­so­nen vor Ihnen“, hat­te mich der Zet­tel mit mei­ner Num­mer drauf („Auf kei­nen Fall ver­lie­ren!“) infor­miert. Nach zwan­zig Minu­ten waren davon fünf auf­ge­ru­fen wor­den und ich such­te schon mal unauf­fäl­lig nach dem geeig­nets­ten Schlaf­platz in die­sem War­te­raum, der den Charme eines unter­ir­di­schen Eis­ca­fés ver­sprüh­te, des­sen Ein­rich­ter als ein­zi­ge Anwei­sung erhal­ten hat­ten, dass die Möbel auch bei einem even­tu­el­len Ein­satz als Schlag­waf­fe nicht kaputt­ge­hen und dar­über hin­aus leicht abzu­kär­chern sein soll­ten. Auf einem Flach­bild­schirm wur­den die Num­mern ange­zeigt und die Tische, an die man sich zu bege­ben hat­te, auf einem Flach­bild­schirm dane­ben lie­fen Bil­der vom schöns­ten Ort Bochums, dem West­park. Damit der Drang, sofort raus­zu­ren­nen, nicht zu groß wur­de, hat­te man die Auf­nah­men aber sicher­heits­hal­ber im Win­ter ange­fer­tigt, als die Bäu­me noch kahl waren. Gera­de als die Zufalls­wie­der­ga­be mei­nes Han­dys „Fickt das Sys­tem“ von Die Ster­ne spiel­te, leuch­te­te mei­ne Num­mer auf und ich mach­te mich unter Zuhil­fe­nah­me all mei­ner Jac­ques-Tati-Imi­ta­ti­ons­küns­te auf die Suche nach Tisch 6.

Ich trug der Sach­be­ar­bei­te­rin mein Anlie­gen vor und wäh­rend sie die nöti­gen Unter­la­gen aus­druck­te, stell­te ich wie­der mal fest, was für ein zyni­sches, men­schen­ver­ach­ten­des Kon­zept die­sen Bür­ger­bü­ros, die Ende der 1990er Jah­re über­all aus dem Boden gestampft wur­den, doch zugrun­de liegt: Wäh­rend ich in der Apo­the­ke mit Mar­kie­run­gen auf dem Boden auf­ge­for­dert wer­de, Dis­kre­ti­on zu wah­ren, sitzt hier in die­sem völ­lig offe­nen Bür­ger­bü­ro zwei Meter neben mir ein Mann, der sich in einer von Franz Kaf­ka höchselbst erson­ne­nen Logik­schlei­fe befin­det, und alle Umsit­zen­den krie­gen jedes Wort mit. Dass er sei­nen bean­trag­ten Per­so­nal­aus­weis nicht bezah­len kann, weil er kein Kon­to hat, aber kein Kon­to eröff­nen kann, weil er kei­nen gül­ti­gen Per­so­nal­aus­weis besitzt. Der dicke Sach­be­ar­bei­ter sag­te, er kön­ne da auch nichts machen, der Mann wur­de lau­ter und ver­ließ irgend­wann unter mit­tel­lau­tem Flu­chen das Bür­ger­bü­ro. Mei­ne Sach­be­ar­bei­te­rin warf mir einen viel­sa­gen­den Blick zu und ich schick­te spon­tan ein Stoß­ge­bet zum Lie­ben Gott, dass ich bit­te nie­mals eine Arbeits­agen­tur von innen sehen möge.

Dann muss­te ich For­mu­la­re aus­fül­len, wofür es unter ande­rem not­wen­dig war, dass ich mich erin­ner­te, ob ich den Streit­kräf­ten eines ande­ren Lan­des gedient hat­te. Da ich mir sicher war, den Dschun­gel-Ein­satz mit der Frem­den­le­gi­on nur geträumt zu haben, kreuz­te ich „Nein“ an. Dann muss­te ich auf einem Aus­druck unter­schrei­ben: „Sie kön­nen das gan­ze Feld nut­zen, aber nicht in den schwar­zen Bereich rein­schrei­ben!“ Zum Glück kann man das For­mu­lar offen­bar mehr­fach aus­dru­cken.

An einer Stel­le muss­te ich kurz auf mei­nem Han­dy nach­se­hen, ob wir tat­säch­lich das Jahr 2012 hat­ten, denn ich wur­de Zeu­ge eines beein­dru­cken­den Bei­spiels für die soge­nann­te Medi­en­kon­ver­genz: Die Sach­be­ar­bei­te­rin nahm das Foto, das der Mann vom Foto­la­den (nen­nen wir ihn Herrn Ärmel) zuvor mit einer Digi­tal­ka­me­ra von mir gemacht und auf Foto­pa­pier aus­ge­druckt hat­te, kleb­te es auf das Blatt Papier, auf dem ich gera­de unter­schrie­ben hat­te, und leg­te die­ses Blatt auf einen Scan­ner. Nach einer hal­ben Minu­te war mein Foto im Sys­tem, die Frau knib­bel­te es wie­der von dem Papier ab und gab es mir zurück. Ich hat­te 13 Euro für vier Fotos bezahlt, von denen ich nur eines brauch­te, und das auch nur für eine hal­be Minu­te.

Erstaun­li­cher­wei­se hol­te sie dann aber kein Stem­pel­kis­sen her­vor, um die Abdrü­cke mei­ner Zei­ge­fin­ger erst auf einem Blatt Papier zu neh­men und dann ein­zu­scan­nen – Nein! – zu ihrem Arbeits­platz gehört (wie zu mut­maß­lich allen ande­ren Arbeits­plät­zen in die­sem rie­si­gen Raum) ein Fin­ger­ab­druck­scan­ner, mit dem sie die Lini­en auf mei­nen Fin­ger­kup­pen direkt in ihr Sys­tem über­tra­gen konn­te. Die Abdrü­cke wür­den weder bei ihr noch in der Bun­des­dru­cke­rei dau­er­haft gespei­chert, spul­te sie die Daten­schutz­er­klä­rung ab, sie wür­den ledig­lich auf einem Chip im Pass gespei­chert. Ich nick­te und ver­zich­te­te auf den Scherz, dass ich mei­nen Pass als ers­tes in die Mikro­wel­le legen wür­de.

Es ging ans Zah­len und ich war froh, mir vor­ab auf der Inter­net­sei­te der Stadt Bochum die Preis­lis­te ange­schaut zu haben. ((Wie auch immer ich die gefun­den haben mag.)) 59 Euro kos­tet so ein Rei­se­pass für zehn Jah­re, dafür bekommt man in Oslo zum Bei­spiel ein Eis. In etwa drei Wochen muss ich wie­der hin und mei­nen Pass abho­len. Dafür muss ich dann „eine Sie­ben­hun­der­ter-Num­mer“ zie­hen, mit denen man direkt zur Abhol­stel­le vor darf.