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Digital Gesellschaft

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Ich schrei­be jetzt seit ziem­lich genau 12 Jah­ren ins Inter­net: Erst über Kino­fil­me, dann über Musik, dann über alles mög­li­che und das Ver­sa­gen von Jour­na­lis­ten. Mit der Zeit habe ich mir ange­wöhnt, schon im Moment des Erle­bens im Kopf Blog­ein­trä­ge zu For­mu­lie­ren. Das ist sehr läs­tig, weil ich Rock­kon­zer­te zum Bei­spiel nicht mehr als schö­ne Ereig­nis­se wahr­neh­me, son­dern haupt­säch­lich als Vor­la­gen für Tex­te, die in den aller­meis­ten Fäl­len dann doch nie geschrie­ben wer­den.

Face­book hat alles noch schlim­mer gemacht, denn plötz­lich ist – um es mit Hei­ner Mül­ler zu sagen – alles Mate­ri­al: Das leid­lich lus­ti­ge Erleb­nis im Super­markt, der mit­ge­hör­te Dia­log in der Stra­ßen­bahn oder die Fest­stel­lung, dass ich seit eini­gen Mona­ten offen­bar zu doof bin, mir die Schnür­sen­kel so zuzu­bin­den, dass sie nicht unter­wegs auf­ge­hen. Alles kann ich schnell ins Smart­phone tip­pen oder mir bis zuhau­se mer­ken und es dann in die Halb­öf­fent­lich­keit von Face­book kübeln. Und dann ist es ja offi­zi­ell mit­ge­teilt, wes­we­gen ich die Epi­so­den nicht mehr behal­ten muss, um sie in fröh­li­cher Run­de Freun­den oder Ver­wand­ten zu berich­ten. Ich habe gespro­chen, wie der Indi­an­der sagt, und obwohl das Inter­net ja an sich nicht ver­gisst, sind die gan­zen mehr oder weni­ger unter­halt­sa­men Erleb­nis­se, die gan­zen mehr oder weni­ger geist­rei­chen Gedan­ken anschlie­ßend eini­ger­ma­ßen weg und für Tage­buch, etwa­ige Enkel und geplan­te Roma­ne und Dreh­bü­cher irgend­wie nicht mehr ver­füg­bar. Dar­un­ter lei­det auch die­ses Blog.

Blöd ist aber auch die Sche­re im Kopf, die irgend­wann unwei­ger­lich auf­taucht, sobald man begrif­fen hat, dass das, was man da ins Inter­net schreibt, auch von irgend­je­man­dem gele­sen wird. Es ist einer­seits schön, von wild­frem­den Men­schen im öffent­li­chen Raum ange­spro­chen zu wer­den, weil ihnen das eige­ne Blog gefällt (und man selbst so unvor­sich­tig war, die eige­ne Fres­se auch dann und wann in eine Video­ka­me­ra zu hal­ten und somit gesichts­be­kannt ist), aber es ist ande­rer­seits auch ein biss­chen beun­ru­hi­gend, wenn Leu­te, deren Namen man nicht kennt (auch, weil man in dem Moment, da sie ihn genannt haben, wie­der unauf­merk­sam war), einem erzäh­len, wie schön sie die­sen oder jenen Text jetzt gefun­den hät­ten.

Schlim­mer ist nur noch das pri­va­te Umfeld. Ich war in den ver­gan­ge­nen Mona­ten auf meh­re­ren Hoch­zei­ten ein­ge­la­den. Meh­re­re Arti­kel über das Zusam­men­sein von Mann und Frau, über die offen­sicht­li­che Unmög­lich­keit von unpein­li­chen Ein­la­dungs­kar­ten, über die Ein­rich­tung von Woh­nun­gen und über die Mensch­heit im All­ge­mei­nen schwir­ren seit­dem aus­zugs­wei­se durch mein Ober­stüb­chen und har­ren ihrer Nie­der­schrift – doch ich traue mich nicht. Schrie­be ich iden­ti­fi­zier­bar (und für weni­ge Men­schen iden­ti­fi­zier­bar wäre ja schon schlimm genug), wären die Gast­ge­ber aus guten Grün­den belei­digt: „Erst frisst er sich auf unse­re Kos­ten durch den Abend und dann gei­ßelt er unse­re Ein­la­dungs­kar­te.“ Schrie­be ich sehr all­ge­mein, wären womög­lich hin­ter­her die fal­schen Men­schen ange­fres­sen: „Erst frisst er sich auf unse­re Kos­ten durch den Abend und dann gei­ßelt er unse­re Ein­la­dungs­kar­te, von der er vor­her noch gesagt hat, er fän­de sie über­ra­schend unpein­lich.“ Die Arti­kel wer­den also wei­ter auf sich war­ten las­sen.

Über­haupt ist das ja ein inter­es­san­tes Phä­no­men, das frü­her allen­falls Men­schen betraf, die Autoren oder Musi­kan­ten in ihrem Bekann­ten­kreis hat­ten: Alles, was wir heu­te sagen, tun oder nicht tun, könn­te schon mor­gen in irgend­ei­nem Blog­ein­trag oder wenigs­tens in irgend­ei­nem Face­book-Post auf­tau­chen und min­des­tens die 200 engs­ten Freun­de wüss­ten, wer gemeint ist. Dro­gen wer­den seit Erfin­dung von Han­dy­ka­me­ras daher sowie­so von nie­man­dem mehr kon­su­miert und Sex fin­det aus­schließ­lich im Dun­keln statt (das ist auch bes­ser fürs Selbst­be­wusst­sein, steht in jeder zwei­ten Frau­en­zeit­schrift).

Doch wie kam ich drauf? Rich­tig: Ich hat­te heu­te ein leid­lich lus­ti­ges Erleb­nis in der S‑Bahn, das ich im Face­book irgend­wie nicht rich­tig hät­te aus­brei­ten kön­nen (im Twit­ter hät­te ich mit dem Bericht nicht mal begin­nen kön­nen, weil ich es für nach­ge­ra­de unmög­lich hal­te, mei­ne Gedan­ken in 140 Zei­chen zu packen – sonst wäre ich schließ­lich Pro­fi­fuß­bal­ler gewor­den).

Ich stieg also in die S‑Bahn ein und da saß eine schwer blut­ver­schmier­te Per­son.
„Herr Ober, da sitzt eine schwer blut­ver­schmier­te Per­son“, hät­te ich also ins Face­book geschrie­ben, nur um dann zu ergän­zen, dass die Per­son aber offen­bar etwas mit Rol­len­spie­len oder ähn­li­chem zu tun hat­te, jeden­falls sehr ordent­lich geschminkt war. Even­tu­ell hät­te ich noch die Fra­ge an mich selbst hin­zu­ge­fügt, war­um ich in der S‑Bahn eigent­lich nach dem Ober rufe, das ist ja schließ­lich kein Restau­rant.

Im Nach­hin­ein betrach­tet wäre die­se Geschich­te viel­leicht sogar für Twit­ter zu sinn­los gewe­sen.

Des­we­gen schnell noch eine ande­re Geschich­te, die ich auch nicht bei Face­book gepos­tet habe: Ges­tern in der Buch­hand­lung, ein Tisch „Lesen Sie die­se Best­sel­ler im Ori­gi­nal“. Dar­auf: Die „Millennium“-Trilogie von Stieg Lars­son auf Spa­nisch.

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Jugend schreibt

Vor eini­gen Jah­ren woll­te ich schon ein­mal über die Arbeits­be­din­gun­gen von Schü­ler- und Jugend­re­por­tern bei Lokal­zei­tun­gen schrei­ben. Aus­lö­ser war damals ein … nun ja: unfass­bar schlech­ter Arti­kel, den ich über die „Eins­li­ve Kro­ne“ gele­sen hat­te. Ich hät­te dar­über geschrie­ben, dass die hoff­nungs­vol­len Jüngst-Jour­na­lis­ten als beson­ders preis­wer­te Arbeits­skla­ven miss­braucht wer­den, dass ihre Arti­kel unre­di­giert (oder ohne wei­te­re Erklä­run­gen redi­giert) ver­öf­fent­licht wer­den und sie so aus ihren mög­li­chen Feh­lern nie wür­den ler­nen kön­nen. Dann stell­te ich fest, dass der unfass­bar schlech­te Arti­kel von einer „WAZ“-Redakteurin geschrie­ben wor­den war, und ver­gaß das The­ma erst mal.

Dann sind wir beim BILD­blog auf den Fall einer Jugend­re­por­te­rin beim Köl­ner „Express“ gesto­ßen, die es geschafft hat­te, Online- und Print-Redak­ti­on Arti­kel unter­zu­ju­beln, die aus Pres­se­mit­tei­lun­gen und Agen­tur­mel­dun­gen abge­schrie­ben waren. Die Fahr­ge­stell­num­mer Hand­lungs­or­te hat­te die Autorin ins Ein­zugs­ge­biet der Zei­tung ver­legt.

Ein sol­ches Ver­hal­ten ist zwei­fel­los völ­lig unjour­na­lis­tisch. Aber so ein Text muss ja theo­re­tisch auch erst mal an einer Redak­ti­on vor­bei, bevor er ver­öf­fent­licht wird. Dass „fact che­cking“ in den meis­ten deut­schen Redak­tio­nen ein Fremd­wort ist, ist klar (es ist ja auch eins), aber nach gewis­sen Erfah­run­gen der letz­ten Jah­re soll­te man als End­re­dak­teur doch zumin­dest ein­mal kurz den Namen von angeb­li­chen Zitat­ge­bern goo­geln. Bei der „Express“-Reporterin hät­te in zwei der drei Fäl­le das ers­te Such­ergeb­nis die tat­säch­li­che Wir­kungs­stät­te der ent­spre­chen­den Per­so­nen ver­ra­ten und damit wei­te­re Fra­gen auf­wer­fen müs­sen.

Der ers­te Zei­tungs­ar­ti­kel, in dem mein Name in der Autoren­zei­le stand, erschien im Mai 1997 in der Dins­la­ke­ner Lokal­aus­ga­be der „Neu­en Rhein Zei­tung“ (die damals glau­be ich noch „Neue Ruhr Zei­tung“ hieß). Im Zuge eines „Zei­tung in der Schule“-Projekts hat­ten wir mit der gan­zen Klas­se den Hun­de­übungs­platz der Poli­zei in Wesel besucht und Repor­ta­gen dar­über geschrie­ben. Aus drei die­ser Repor­ta­gen ver­schnit­ten die Redak­teu­re dann einen neu­en Arti­kel, den sie druck­ten. Was aus­ge­rech­net an unse­ren Tex­ten so gut gewe­sen sein soll, haben wir nie erfah­ren.

Fünf­ein­halb Jah­re spä­ter fing ich als frei­er Repor­ter für die Dins­la­ke­ner Lokal­aus­ga­be der „Rhei­ni­schen Post“ an. Vor mei­nem ers­ten Ter­min gab man mir eine Map­pe mit, in der alles stand, was man als jun­ger Jour­na­list zu beach­ten hat­te. Ich weiß nicht mehr, was drin stand, aber „nicht abschrei­ben!“ stand womög­lich irgend­wo dabei. Der Rest war lear­ning by doing – oder genau­er: lear­ning by rea­ding what has beco­me of your own texts.

Mein ers­ter Text wur­de kom­plett im Wort­laut ver­öf­fent­licht, was sicher nicht an des­sen Qua­li­tät lag. In ande­ren Tex­ten kor­ri­gier­te die Redak­ti­on die unge­wöhn­li­chen Namen der Prot­ago­nis­ten zur gän­gi­gen und damit fal­schen Schreib­wei­se oder sorg­ten dafür, dass sich die Jugend­li­chen bei einem Rock­fes­ti­val die „Dröh­nung am Frei­tag­abend schme­cken“ lie­ßen. Bei der Zei­tungs­lek­tü­re mei­ner Repor­ta­ge über einen Schwimm­meis­ter im städ­ti­schen Frei­bad erfuhr ich, dass die Blon­di­nen bei „Bay­watch“ nicht „drall“, son­dern „hübsch“ sind. Für Über­schrif­ten galt damals, was auch heu­te noch für jede Lokal­re­dak­ti­on gilt: Haupt­sa­che, sie sind nichts­sa­gend und auf kei­nen Fall gram­ma­tisch kor­rekt oder gar kna­ckig.

Rück­mel­dun­gen gab es kaum, aber das mag auch dar­an lie­gen, dass ich als Kul­tur­re­por­ter die Arti­kel meist noch am Abend in die Redak­ti­on mail­te und nur sel­ten mit den Kol­le­gen vor den völ­lig ver­al­te­ten Redak­ti­ons­com­pu­tern saß. Aber auch wenn ich da war, gab es nicht vie­le Gesprä­che über mei­ne Tex­te.

Das alles hilft den jun­gen Repor­tern (und den Zei­tun­gen) nicht wei­ter. Natür­lich ist es toll, schon in jun­gen Jah­ren gro­ße Arti­kel für die Zei­tung schrei­ben zu dür­fen, aber zu opti­mie­ren gibt es eigent­lich immer was. Zwar muss man anneh­men, dass den aller­meis­ten Lesern die Qua­li­tät von Zei­tungs­tex­ten eher egal ist, aber wer für 12 bis 20 Cent pro Zei­le vor­her noch stun­den­lang in Schal­ter­hal­len Kunst­wer­ke aus Sim­bab­wi­schen Ser­pen­tin­stein begu­cken oder sich auf einem kal­ten Super­markt­park­platz mit Renault-Bast­lern über Tuning unter­hal­ten muss­te, der hat als Drein­ga­be wenigs­tens ein biss­chen kon­struk­ti­ve Kri­tik ver­dient.

Ange­sichts der chro­ni­schen Unter­be­set­zung vie­ler Lokal­re­dak­ti­on mag es fast wie ein Wunsch­traum klin­gen, aber irgend­je­mand soll­te eigent­lich noch mal vor Ver­öf­fent­li­chung über jeden Text drü­ber­gu­cken – beson­ders über die von Berufs­an­fän­gern, die noch nicht mal theo­re­tisch mit jour­na­lis­ti­scher Ethik in Kon­takt gekom­men sind.

Die Geschich­te mit den umge­sie­del­ten Agen­tur­mel­dun­gen ist da noch ver­gleichs­wei­se unge­fähr­lich. Da gab es etwa den Fall einer Jugend­re­por­te­rin, die ein Inter­view gemacht hat­te mit einem Mäd­chen, das in einer sozia­len Ein­rich­tung lebt. Dabei ging es auch um die Vor­ge­schich­te, war­um sie aus ihrem klei­nen Hei­mat­dorf in die­se Ein­rich­tung in der nächs­ten grö­ße­ren Stadt gekom­men war. Der Arti­kel erschien schließ­lich mit vol­ler Namens­nen­nung des Mäd­chens, das anschlie­ßend tage­lang in der Angst leb­te, einer ihrer Ver­wand­ten könn­te die­se Geschich­te lesen. Zum Glück schien sich nie­mand aus ihrer Fami­lie wei­ter für den Jugend­re­por­ter­teil zu inter­es­sie­ren.

Ich hal­te es nach wie vor für eine gute Idee, als Jour­na­list die sprich­wört­li­che Lokal-Schu­le von Kanin­chen­züch­ter­ver­ein und Sei­den­ma­le­rei­aus­stel­lung durch­lau­fen zu haben. Damit kann man auch gar nicht früh genug anfan­gen (unver­ges­sen die Ger­ma­nis­tik-Stu­den­ten im ers­ten Semes­ter, die ger­ne „was mit Medi­en“ machen woll­ten, aber noch nie irgend­ei­nen Text geschrie­ben hat­ten). Aber die­se hoff­nungs­vol­len jun­gen Leu­te, sol­len irgend­wann, wenn sich die gan­zen früh­ver­greis­ten Schreib­be­am­ten aus den Redak­ti­on zurück­ge­zo­gen haben wer­den, ja auch mal an vor­ders­ter Front ste­hen. Und da kann es nicht scha­den, sich von Anfang an um sie zu küm­mern.

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Leben Unterwegs

Vandalen auf der Durchreise

Gera­de im Regio­nal­ex­press die viel­leicht bes­te Durch­sa­ge ever gehört:

Ver­ehr­te Fahr­gäs­te, wir wis­sen selbst, dass das heu­te alles etwas beschei­den ist, aber lei­der hat­ten wir heu­te auf dem Weg von Aachen nach Hamm eine Schul­klas­se im Wagen 3, die die Sit­ze auf­ge­schlitzt und mit Flüs­sig­keit über­gos­sen hat. Wir muss­te den Wagen des­we­gen lei­der abschlie­ßen.

Der Rest der Durch­sa­ge ging im Geläch­ter der Fahr­gäs­te unter.

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Musik

Und dann kam Polli

Vor vie­len Jah­ren schrieb ich in einer der Rezen­sio­nen, die ich damals in Fließ­band­ar­beit für ein Online-Musik­ma­ga­zin anfer­tig­te, über das völ­lig okaye Debüt­al­bum von Jona Stein­bach den fol­gen­den, weder klu­gen noch schö­nen Satz:

Viel­leicht schafft man es irgend­wann, eine CD mal nicht als Mani­fest einer geschei­ter­ten Gene­ra­ti­on, son­dern ein­fach nur als Ton­trä­ger zu begrei­fen.

Als ein gutes Jahr spä­ter das Zweit­werk des Köl­ners erschien, stand auf der dazu­ge­hö­ri­gen Pres­se­info das fol­gen­de, angeb­li­che Zitat:

Das Mani­fest einer geschei­ter­ten Gene­ra­ti­on.

Spä­tes­tens da wuss­te ich: Die­se, auch „Wasch­zet­tel“ genann­ten, Pres­se­infos sind das Schlimms­te, was das Musik­busi­ness zu bie­ten hat. (Und das Musik­busi­ness hat immer­hin Prof. Die­ter Gor­ny zu bie­ten.)

Selbst Sät­ze, die einem unter nor­ma­len Umstän­den nicht wei­ter auf­fal­len wür­den, wir­ken in Pres­se­infos dumm und gestelzt. Und dann gibt es ja noch die gan­ze Kli­schee-Grüt­ze von wegen „in kei­ne Schub­la­de pas­sen“, „rei­fer gewor­den“ und „ihr bis­her bes­tes Album“. Wenn man Glück hat (ja, wirk­lich: Glück) steht da wenigs­tens noch eine Lat­te von Künst­lern, die angeb­lich so ähn­lich klin­gen, und man kann schon vor dem Hören abschät­zen, ob man sich das jetzt wirk­lich antun will.

Wenn ich selbst Pres­se­tex­te ver­fas­sen soll­te (zum Bei­spiel, damit Dins­la­ke­ner Lokal­re­dak­tio­nen aus­führ­li­che Ankün­di­gun­gen von Kon­zer­ten abdru­cken konn­ten, in die sie kei­ne Sekun­de eige­ner Arbeit inves­tie­ren muss­ten), dann ging das nur mit sehr viel Über­win­dung und unter Selbst­hass und Schmer­zen.

Den­noch über­win­de ich mich etwa ein­mal im Jahr und hacke eine Pres­se­info in die Tas­ten – wenn man anschlie­ßend eine hal­be Stun­de heiß duscht, geht’s meis­tens wie­der. Die zu lob­prei­sen­den Künst­ler müs­sen aber a) Freun­de von mir sein und b) Musik machen, die mir wirk­lich, wirk­lich gefällt. Bei­des war im Fall von Poly­a­na Fel­bel gege­ben und so schrieb ich die Pres­se­info, um alle Pres­se­infos zu been­den.

Poly­a­na Fel­bel, das sind Poly­a­na Fel­bel und Taka Cha­nai­wa aus Köln („einer Stadt, die man nicht gera­de mit den Wei­ten des nord­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nents oder den Wäl­dern Skan­di­na­vi­ens ver­bin­det“, wie es in der Pres­se­info fak­tisch eini­ger­ma­ßen kor­rekt heißt) und ges­tern haben sie dort ihr ers­tes offi­zi­el­les Kon­zert gespielt. Rund 50 Men­schen hat­ten sich im Thea­ter der „Wohn­ge­mein­schaft“ (ein etwas bemüht im urba­nen Retro-Chic gehal­te­nes Etwas mit Knei­pe, Hos­tel und Büh­ne) ver­sam­melt und den Raum damit auf mucke­li­ge 30° Cel­si­us auf­ge­heizt. Eini­ge kamen gar ver­klei­det, was sich aller­dings mit der Rhein­län­dern offen­bar inne­woh­nen­den, ansons­ten aber völ­lig unver­ständ­li­chen Affi­ni­tät zu Schnaps­zahl-Daten erklä­ren lässt.

Das Vor­pro­gramm bestritt ein auf­stre­ben­der Singer/​Songwriter und Zoll­be­am­ten-Bespa­ßer aus Bochum, dann ging es rich­tig los: Pol­li und Taka eröff­ne­ten mit einem Cover von Cold­plays „Green Eyes“ und es dau­er­te unge­fähr zehn Sekun­den, bis sich Gän­se­haut und Sprach­lo­sig­keit Raum bra­chen. Mit jedem wei­te­ren Stück – neben eini­gen Eige­nen auch Neu­in­ter­pre­ta­tio­nen von „The Blower’s Daugh­ter“ (Dami­en Rice), „Use Some­bo­dy“ (Kings Of Leon) und „Kids“ (MGMT) – wuchs die Begeis­te­rung und am Ende des Abends war ein Jeder, ob Männ­lein oder Weib­lein, ein biss­chen in Pol­li ver­liebt.

Das ist aber auch tol­le Musik, die­ser Folk, den die bei­den da machen: Einer­seits fili­gran wie ein letz­tes, ver­trock­ne­tes Blatt im Herbst­wind, ande­rer­seits mit einer unge­heu­ren Kraft und Stimm­ge­walt vor­ge­tra­gen. Ver­glei­che mit Kath­le­en Edwards, Lori McKen­na oder Hem klop­fen an und müs­sen nicht gescheut wer­den (um eine in der Pres­se­info unbe­nutz­te Phra­se doch noch zu ver­bra­ten). Es ist ein­fach toll zu sehen, wie zwei jun­ge Men­schen mit Spaß und Ernst­haf­tig­keit Musik machen und damit einen voll gepack­ten Raum zum Schwei­gen und Schwel­gen brin­gen.

Für die nun dräu­en­den dunk­len Aben­de sei­en Ihnen Poly­a­na Fel­bel daher schwers­tens ans Herz gelegt. Hör­pro­ben gibt es auf einer obsku­ren klei­nen Inter­net­sei­te namens MySpace und hier:

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Leben

Out Of Time

Ich war vor­hin mit Tom­my Fin­ke beim Zoll­amt Bochum, um die gemein­sam bestell­ten Son­der­edi­tio­nen des neu­en Ben-Folds-Albums abzu­ho­len. Schon beim Betre­ten des Gebäu­des merk­ten wir, dass etwas nicht stimm­te: Die Zeit, die ja bekannt­lich rela­tiv ist, begann, sich gen Unend­lich­keit zu deh­nen. Alles. Wur­de. Lang­sa­mer.

Ein Mann, der auf­grund sei­nes Arbeits­plat­zes wohl als Zoll­be­am­ter inter­pre­tiert wer­den darf, schlurf­te zu uns her­an und beweg­te sei­nen Mund. Wer ganz auf­merk­sam war, konn­te Lau­te erken­nen, die das mensch­li­che Gehirn, in der­lei Auf­ga­ben geschult, zu ein­zel­nen Wor­ten und gan­zen Sät­zen zusam­men­set­zen konn­te. Ich reich­te ihm das Anschrei­ben, das mich dar­über in Kennt­nis gesetzt hat­te, dass die von mir bestell­ten Ton­trä­ger in jenem klei­nen Haus kurz vor dem Rand der Erd­schei­be abzu­ho­len sei­en, und der Mann ver­schwand in einem Raum, in dem ver­mut­lich meh­re­re Ton­nen Elfen­bein, Koka­in und Anthrax-Viren seit vie­len, vie­len Jah­ren ihrer Abho­lung har­ren.

Ich dreht mich zu Tom­my – eine Bewe­gung, die für die Men­schen in die­ser Zeit­bla­se wie der Flü­gel­schlag eines Koli­bris gewirkt haben muss – um „Hier sieht’s genau­so aus, wie ich es mir vor­ge­stellt habe“ zu sagen, doch da hat­te Tom­my schon „Hier sieht’s genau­so aus, wie ich es mir vor­ge­stellt habe“ gesagt. An der Pinn­wand hin­gen foto­ko­pier­te Hin­wei­se aus einer Zeit, als die Olym­pia ES 200 gera­de frisch auf den Markt gekom­men war, auf einem Schreib­tisch stand ein Wim­pel des FC Schal­ke 04, auf den Fens­ter­bän­ken: Büro­be­gleit­grün.

Der Zoll­be­am­te kehr­te mit einem Paket zurück, das uns sag­te, dass es eine gute Idee gewe­sen war, mit dem Bul­li vor­bei­zu­kom­men. Umständ­lich hol­te er ein Tep­pich­mes­ser, mit dem ich das Paket öff­nen durf­te. „Tep­pich­mes­ser“, dach­te ich, „haben damit nicht die Atten­tä­ter des 11. Sept…“ Wei­ter kam ich nicht: In der unfass­bar ruhi­gen Atmo­sphä­re des Zoll­amts war mein Gehirn ein­fach ein­ge­schla­fen.

Eine Putz­frau wir­bel­te um uns her­um in einem Tem­po, in dem ich für mei­ne eige­ne Woh­nung zwar zwei Tage bräuch­te, das in die­sem Hau­se aber als hek­tisch emp­fun­den wer­den muss­te. „Sie machen ja alles nass“, sag­te der Zoll­be­am­te, wobei sein mono­to­ner Ton­fall offen ließ, ob es sich dabei um einen Vor­wurf oder nur um eine Fest­stel­lung han­del­te. Er bat uns in einen Neben­raum und riet uns, auf dem feuch­ten Unter­grund vor­sich­tig zu gehen – nicht aus­zu­ma­len, wenn sich einer von uns auf die Fres­se gelegt hät­te.

Wäh­rend ich eini­ge Zet­tel unter­schrei­ben muss­te, durch­brach Tom­my die Gra­bes­stil­le mit einem Small­talk­ver­such:

Fin­ke: „Das ist aber ganz schön ruhig hier bei Ihnen …“
Zoll­be­am­ter: „Das täuscht.“
Fin­ke: „Ah. Vor Weih­nach­ten ist wahr­schein­lich am meis­ten los, ne?“
Zoll­be­am­ter: „Seit eBay. Seit­dem ist hier die Höl­le los. Frü­her war’s ruhig.“

Tom­my und ich sahen uns an und sogleich wie­der weg. Jetzt bit­te nicht los­brül­len vor Geläch­ter. Ruhig blei­ben! Kein Pro­blem an einem Ort, gegen den in einem Zen-Tem­pel ein Tru­bel wie in der Grand Cen­tral Sta­ti­on herrscht. Ich bezahl­te die Mehr­wert­steu­er und bekam mein Wech­sel­geld wie­der, kurz bevor es auf­grund der nor­ma­len Infla­ti­ons­ent­wick­lung völ­lig wert­los gewor­den war. Wir durf­ten gehen.

„Dann wün­sche ich Ihnen noch einen geruh­sa­men Arbeits­tag“, sag­te Tom­my zu unse­rem Sach­be­ar­bei­ter und rief zum Abschied ein auf­mun­tern­des „Gehen Sie ver­ant­wor­tungs­voll mit unse­ren Steu­er­gel­dern um!“ in das fas­sungs­lo­se Groß­raum­bü­ro. Ein Mann blick­te kaum merk­lich von sei­nem Com­pu­ter­bild­schirm auf und hob miss­bil­li­gend die Augen­braue.

Die­ser Text ist eine Ergän­zung zu mei­ner “Ämter”-Trilogie (bestehend aus dem Sing­spiel “Kreis­wehr­ersatz­amt”, dem klas­si­schen Dra­ma “Finanz­amt” und dem absur­den Frag­ment “Arbeits­amt”).

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Leben Unterwegs

Broder und ich

Ich hat­te mir ehr­lich gesagt gar kei­ne gro­ßen Gedan­ken gemacht. Mei­ne Freun­de hat­ten mich gewarnt und mir wert­vol­le Tipps gege­ben. Man kön­ne ja stän­dig im Fern­se­hen sehen, wie das endet. Dabei soll­te ich doch nur mit Hen­ryk M. Bro­der dis­ku­tie­ren.

Die Frei­schrei­ber, der Berufs­ver­band frei­er Jour­na­lis­ten, hat­ten mich zu ihrem Kon­gress ein­ge­la­den und weil ich es immer lus­tig fin­de, wenn sich Jour­na­lis­ten aus­ge­rech­net von mir etwas erzäh­len las­sen wol­len, und der Kon­gress in Ham­burg statt­fand, habe ich zuge­sagt.

Neben Hen­ryk M. Bro­der und mir saßen noch der frü­he­re Polit­be­ra­ter und heu­ti­ge Blog­ger Micha­el Spreng und die frü­he­re „Bunte“-Chefredakteurin und heu­ti­ge Blog­ge­rin Bea­te Wede­kind auf dem Podi­um, das im Wort­sin­ne kei­nes war, weil wir genau­so hoch saßen wie die Zuhö­rer. In unse­rer Mit­te saß Gabi Bau­er, die die Dis­kus­si­on mode­rie­ren soll­te und ers­tes diplo­ma­ti­sches Talent prä­sen­tier­te, als sie Bro­der und mir die jeweils äuße­ren Plät­ze in unse­rer klei­nen Sitz­grup­pe zuteil­te.

Vor Beginn der Dis­kus­si­on führ­te ich ein biss­chen Small­talk mit den Frau­en Bau­er und Wedek­eind und Herrn Spreng, der übri­gens rie­sen­groß ist. Hen­ryk M. Bro­der gab ich nur kurz die Hand, aber er ist so klein, wie er im Fern­se­hen immer aus­sieht und trägt ein Her­ren­hand­täsch­chen bei sich. Die Raum­tem­pe­ra­tur sinkt aller­dings nicht, wenn er neben einem steht, und es wird auch nicht plötz­lich dun­kel.

The­ma der Dis­kus­si­on soll­te Leser­be­tei­li­gung in allen For­men sein und wir vier soll­ten ver­schie­de­ne Posi­tio­nen ein­neh­men. Ich erzähl­te also, wie wich­tig die Leser­hin­wei­se unse­rer Leser beim BILD­blog sind und hör­te, wie ich die glei­chen Bei­spie­le abspul­te wie bei ähn­li­chen Ver­an­stal­tun­gen, zu denen ich gele­gent­lich ein­ge­la­den wer­de. Es ist mir schlei­er­haft, wie Schau­spie­ler, Musi­ker und Poli­ti­ker Inter­view­ma­ra­thons und Talk­show-Tou­ren über­ste­hen kön­nen, ohne vom Wahn­sinn oder vom Selbst­hass auf­ge­fres­sen zu wer­den. „Wir haben bei Cof­fee And TV mit acht Autoren ange­fan­gen, was den Vor­teil hat­te, dass jeder Text schon mal min­des­tens sie­ben Leser hat­te …“ Siche­rer Lacher. Letzt­lich sind wir alle klei­ne Mario Barths.

Hen­ryk M. Bro­der ist noch ein biss­chen mehr Mario Barth, nur dass sei­ne tod­si­che­ren Lacher nicht „Schu­he“ hei­ßen, son­dern „Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger“ — die Reak­tio­nen sind aller­dings auch kein hys­te­ri­sches Geki­cher, son­dern so ein dump­fes „Hoho­ho“. Bro­der aber war am Sams­tag nicht in Form: Sein Geät­ze wirk­te halb­her­zig, sei­ne Pole­mik von sich selbst gelang­weilt, er brauch­te gan­ze 25 Minu­ten, bis er bei Hit­ler ange­kom­men war. Twit­ter und Face­book fän­de er schreck­lich, erklär­te Bro­der, ohne eines von bei­dem mit einem KZ zu ver­glei­chen, und irri­tier­te damit Bea­te Wede­kind, die sich sicher war, bei Face­book mit ihm befreun­det zu sein. „Das bin ich nicht!“, mach­te Bro­der deut­lich und stif­te­te damit all­ge­mei­ne Hei­ter­keit.

Es war eine ange­neh­me Gesprächs­at­mo­sphä­re, in der jeder jedem irgend­wann mal bei­pflich­ten oder müde den Kopf schüt­teln muss­te. Jeder konn­te ein bis zwei gro­ße Lacher lan­den. Gabi Bau­er lei­te­te die Run­de char­mant und inter­es­siert und nahm sich Zeit für jeden. Kurz­um: Als ARD-Talk­show wären wir ein völ­li­ges Desas­ter gewe­sen. Allein der Erkennt­nis­ge­winn war ver­gleich­bar nied­rig. Wenn wir noch Zeit gehabt hät­ten, ein Fazit zu zie­hen, hät­te es ver­mut­lich lau­ten müs­sen: Ja, Leser sind die Höl­le — und das Größ­te, was wir haben. Das kann ja nun wirk­lich jeder Sport­ler oder Künst­ler über die eige­nen Fans sagen, jeder Poli­ti­ker über die Wäh­ler und alle Eltern über ihre Kin­der.

Ent­spre­chend rat­los war ich, als mich ein jun­ger Mann anschlie­ßend instän­dig bat, ihm doch mit­zu­tei­len, was ich aus der Ver­an­stal­tung denn nun mit­näh­me. Gabi Bau­er, Bea­te Wede­kind und Micha­el Spreng lesen jeden Tag etwa vier Tages­zei­tun­gen, was ich erstaun­lich fin­de, Bea­te Wede­kind ver­bringt viel Zeit in Face­book, was Micha­el Spreng erstaun­lich fin­det, und Gabi Bau­er sieht sich unter dem Namen einer Freun­din bei Face­book um, was nun wirk­lich alle erstaun­lich fan­den. Hen­ryk M. Bro­der hat­te schlecht zu Mit­tag geges­sen.

Mein Blut­druck bekam an die­sem Tag aber doch noch Gele­gen­heit, besorg­nis­er­re­gend zu stei­gen. Aber da stan­den wir alle um das iPho­ne von Jens Wein­reich her­um und guck­ten auf die Bun­des­li­ga-Ergeb­nis­se.

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Musik Unterwegs

Camp Indie Rock

- von Tom­my Fin­ke -

DONNERSTAG
Groß­zü­gi­ger­wei­se habe ich mich als Fah­rer ange­bo­ten und neh­me mei­nen Teil der Rei­se­grup­pe Hald­ern 2010 vom Bahn­hof Bochum aus mit.

Wäh­rend Rosa und Marie bei­de vor­ne Platz neh­men, neh­me auch ich vor­ne Platz. Die Vor­zü­ge eines Band­au­tos: 3 Sit­ze in der ers­ten Rei­he. Marie hat ein iPad ein­ge­packt, ich muss dar­über ein wenig lachen, bin aber eigent­lich nei­disch. Ihr Ziel beim Hald­ern ist medi­en­tech­ni­scher Natur: Sie hat einen der begehr­ten Foto­päs­se. Mit Rosa war ich 2008 schon mal auf dem Hald­ern. Und ich freue mich, dass sie dies­mal wie­der dabei ist! Die Fähig­keit, sich über Tage fast aus­schließ­lich von Rot­wein und Musik zu ernäh­ren, macht Rosa zu einer per­fek­ten Feti­val­be­su­che­rin. Und zu einem medi­zi­ni­schen Wun­der.

Unser Zelt­platz ist, ein­mal ange­kom­men, leicht abschüs­sig, dafür haben wir aber in alle Rich­tun­gen net­te Nach­barn. Wir ver­zwei­feln an Maries Zelt, aber der Hin­weis, man kön­ne zumin­dest mal ver­su­chen, alle Stan­gen mit der glei­chen Num­mer inein­an­der zu ste­cken, ist aus­schlag­ge­bend. Inzwi­schen ist auch Chris­toph mit Sophie ange­reist.

Ich spie­le den Rea­lis­ten und öff­ne das ers­te Dosen­bier. Das ist hier schließ­lich kein Kin­der­ge­burts­tag und wir haben schon deut­lich nach 16 Uhr. Alle wol­len wir zwar Seabear im Spie­gel­zelt sehen, aber die Schlan­ge ist schon um 18 Uhr so lang, dass wir uns ent­schlie­ßen, noch­mal kurz zurück zum Zelt­platz zu gehen und, nun­ja, vor­zuglü­hen. Ich stol­pe­re an Foto-Ger­rit vor­bei, mei­ne ein­zi­ge fes­te Hald­ern-Freund­schaft. Ger­rit ist berühmt gewor­den mit einer Aus­stel­lung über die Fotos der Schu­he der Stars: „Dancing Shoes“.

Ger­rit macht den Vor­schlag, mich am nächs­ten Tag zu foto­gra­fie­ren, aber wie jedes Jahr krie­gen wir es über­haupt nicht hin, uns zu einer fes­ten Uhr­zeit irgend­wo zu tref­fen, obwohl wir uns die nächs­ten 3 Tage immer wie­der begeg­nen. Ganz so schlimm ist das dann aber doch nicht nicht, Ger­rit hat­te in Zusam­men­hang mit der Foto­ses­si­on das Wort „nackt“ gebraucht. Ich hof­fe, das liegt an sei­nem letz­ten groß­ar­ti­gen Pro­jekt, ein Herz geformt aus nack­ten Fes­ti­val­be­su­chern beim Melt.

Wir ande­ren gehen zurück zum Zelt­platz, den wir für heu­te dann nicht mehr ver­las­sen, denn auch spä­ter berich­ten unse­re Spio­ne von undurch­dring­li­chen Men­schen­mas­sen an und ums Spie­gel­zelt. Uns ist das egal, die Chris­tophsche Ein­kaufs­wut beschert uns Grill­gut und Gin-Tonic. Zusätz­lich ist Nacht der Stern­schnup­pen und so gucken wir alle stun­den­lang in den Him­mel. Irgend­wel­che leicht zu begeis­tern­den Leu­te rufen bei jeder Stern­schnup­pe „Oh!“ und „Ah!“, wir blei­ben still, weil wir das nicht für Feu­er­werk hal­ten, son­dern für etwas Grö­ße­res. Ich bin gerührt, weil ich jede Stern­schnup­pe zwei­mal sehe.

Aus einem nahen Zelt dringt ein schwä­beln­des Stöh­nen. Das Prin­zip „Wenn ich sie nicht sehe, dann hören sie mich auch nicht“, hat wie­der nicht funk­tio­niert.

Haldern Pop 2010

FREITAG
Am nächs­ten Mor­gen habe ich einen Geschmack im Mund, der Tote umbrin­gen könn­te. Ich neh­me mir vor, die­sen Abend drin­gend die Zäh­ne zu put­zen, bevor ich ins Zelt stei­ge. Marie ist schon wach und macht Kaf­fee.

Heu­te ist der Tag, an dem wir min­des­tens Del­phic und Mum­ford & Sons sehen müs­sen. Außer­dem gibt es auf dem Pro­gramm heu­te ein Fra­ge­zei­chen und es ging das Gerücht rum, dass es sich um Bel­le & Sebas­ti­an han­deln könn­te. Aber nein, es kommt anders, und zwar in Form von: Phil­ipp Poi­sel. Die Leu­te: nicht begeis­tert. Was für ein unan­ge­mes­se­ner Ersatz für die gedank­lich schon gebuch­ten Bel­le & Sebas­ti­an. Da hät­te ja gleich ich spie­len kön­nen. Selbst­re­fle­xi­on, mei­ne Damen und Her­ren.

Ein paar hun­dert Meter wei­ter hat­te ich ges­tern schon Tei­le der Fog Jog­gers und Oh, Napo­le­on getrof­fen. Ja, mei­ne Damen und Her­ren, hier cam­pen die klei­nen Künst­ler noch selbst. Ich beschlie­ße, noch­mal rüber­zu­ge­hen und hal­lo zu sagen. Sophie schließt sich mir an, da auch sie dort jeman­den („Fre­de­rik!!!“) kennt. Jan von den Fog Jog­gers hat mein Album dabei, er mag es. Dass ich die Fog Jog­gers EP so rich­tig groß­ar­tig fin­de, behal­te ich für mich, damit es ihm nicht zu Kopf steigt. Sophie hat inzwi­schen Fre­de­rik am Ran­de der Jog­gers-Grup­pe aus­fin­dig gemacht. Er liegt auf dem Boden mit einem T‑Shirt über sei­nem Kopf, ver­ka­tert und apa­thisch. Ein­mal auf­ge­wacht, stellt er sich als sym­pa­thi­scher Kerl her­aus, lacht über wirk­lich jeden mei­ner bekann­ter­ma­ßen schlech­ten Wit­ze. Ich über­le­ge, ihn zu adop­tie­ren oder zumin­dest anzu­stel­len.

Sophies Freun­din Lisa reist auch noch an und hat ein Sagro­tan-Arse­nal ein­ge­packt, das man­che Klo­frau nei­disch machen dürf­te. Dass Sie Ihren Hund Treu nicht mit­neh­men durf­te, fin­det sie doof. Außer­dem wirkt sie augen­schein­lich etwas irri­tiert, wie die Leu­te hier so leben. Der Grund dafür ist schnell gefun­den: Es ist, mit 28 Jah­ren, ihr aller­ers­tes Fes­ti­val.

Die arme Lisa! Wir beschlie­ßen, Ihr alles wich­ti­ge über das Hald­ern Pop bei­zu­brin­gen und gehen zusam­men zum berühm­ten See zum Schwim­men. Ich selbst war da zwar bis­her auch noch nie drin, ist aber auch erst mein vier­tes Hald­ern. Dass jedoch Chris­toph nach knapp 10 Jah­ren Hald­ern noch nie in dem See schwim­men war, fin­de ich bemer­kens­wert. Immer­hin ist der See umsonst, die Duschen kos­ten Geld. Sie ver­ste­hen? Eben.

Björn und Fre­de­rik schwim­men nicht nur, sie haben auch Bier mit­ge­bracht. Für Im-See-trin­ken. Ich habe aus Fuß-Auf­schlitzungs­angst mei­ne Gum­mi­stie­fel an. Beim Schwim­men. Zur Bade­ho­se sieht das schei­ße aus, aber das hier ist ja kein Mode­wett­be­werb.

Wir machen uns den Spaß und gucken uns Phil­ipp Poi­sel an. Nun ja. Das Fra­ge­zei­chen bleibt eines. Mir fällt auf, dass der Key­boar­der, der übri­gens schwä­belt, nicht rich­tig zu hören ist. Scha­de. Ich bin da etwas alt­mo­disch: Ich mag mei­ne Instru­men­te hör­bar. Ansons­ten schwankt der Auf­tritt irgend­wo zwi­schen Xavier Naidoo und Madsen. Zumin­dest nicht mei­ne bevor­zug­ten musi­ka­li­schen Eck­punk­te.

Wäh­rend Phil­ipp noch vor sich hin poi­selt, besu­chen wir das Spie­gel­zelt, und irgend­wie pas­siert das Unglück: Die Zeit ist zu schnell ver­gan­gen! Als wir auf die Uhr sehen und zur Haupt­büh­ne hech­ten, spie­len Del­phic gera­de ihr letz­tes Lied. Ich bei­ße mir in den Arsch, denn was ich sehe und höre ist die groß­ar­tigs­te Indie-Elec­t­ro-Explo­si­on seit Lan­gem. Da könnt Ihr Euch mal alle umgu­cken, Ihr Zoot Women. Ich bin trotz­dem hin und weg, das hat mir wirk­lich gut gefal­len. Del­phic. Scheiß Name, gei­ler Sound.

Dies­mal sind wir schlau­er und blei­ben an der Haupt­büh­ne. Denn es folgt die Band der Stun­de: Mum­ford & Sons, lie­be­voll in Man­fred & Söh­ne umge­ti­telt von … nun­ja. Muss ich zur Band noch was sagen? Ich mag die wech­seln­den Instru­men­te, von der Sei­te sehe ich nicht genau, wer wann singt. Spä­ter sagt man mir, der Sän­ger hät­te auch getrom­melt. Ich muss an Phil Coll­ins den­ken, erschie­ße mich aber inner­lich dafür. Was für eine Band! Die­se fol­ki­ge Melan­cho­lie, die­se hol­zi­ge Eupho­rie. Gän­se­haut, Trä­nen in mei­nen Augen. Und zack: vor­bei.

Als Bei­rut fol­gen ver­su­che ich, einen akus­ti­schen Fil­ter in mei­nem Kopf zu for­men, der aus Bei­rut wie­der Mum­ford & Sons macht. Gelingt mir nicht, aber Bei­rut sind auch klas­se. Viel­leicht etwas undank­bar, die armen hin­ter die­ser Kra­cher­band auf die Büh­ne zu schi­cken.

Aber abge­se­hen davon: ein wirk­lich aus­ge­las­se­ner Frei­tag auf dem Hald­ern Pop. Für mich per­sön­lich noch von der Tat­sa­che ver­edelt, dass ich auf dem Boden 20 „Pop­ta­ler“ fin­de, die Hald­er­ner Wäh­rung für die Geträn­ke. Wenn man den Pfand für sich selbst abzieht (und den scheiß Becher nicht ver­liert), kann man gut und ger­ne 9 Bier dafür ein­tau­schen. Hur­ra.

Haldern Pop 2010

SAMSTAG
Dies­mal gehen wir eher auf das Gelän­de, weil wir ger­ne Por­tu­gal. The Man sehen möch­ten. Schaf­fen wir sogar. Tol­le Band, sind an die­sem Tag aber sehr Riff-las­tig. Ich selbst has­se ja Riffs, weil ich so ein schlech­ter Gitar­rist bin und mir beim zuhö­ren immer die Noten in den Kopf flie­gen und mich dar­an erin­nern, dass ich üben soll­te. Mach ich viel­leicht mal. Der Auf­tritt macht auf jeden Fall Spaß und Sophie hat Sei­fen­bla­sen­zeugs dabei, wel­ches wir ein­set­zen. Und – oh natur­be­las­se­nes Hald­ern Pop – eine majes­tä­ti­sche Libel­le lässt sich neben der Bass­box nie­der, wäh­rend ein Secu­ri­ty-Mit­ar­bei­ter die Unter­sei­te sei­ner Arme in die Son­ne hält. Nicht aus Freu­de am Bräu­nen, son­dern aus gesund­heit­li­chen Grün­den: Die Ober­sei­te sieht schon genieß­bar aus. Mög­li­cher­wei­se hat der Geruch die Libel­le ange­lockt.

Sophie und ich schaf­fen bei Ever­y­thing Ever­y­thing im Spie­gel­zelt wie­der nur das letz­te Lied. Aber auch die­se Band schafft es, mich mit dem letz­ten Lied kom­plett zu über­zeu­gen. Das Del­phic-Phä­no­men. Scheiß Name, gei­le Band. Ich ärge­re mich, dass ich nie das letz­te Lied von Ost­zo­nen­sup­pen­wür­fel­ma­chen­krebs gese­hen habe.

Irgend­wann dann The Low Anthem im Spie­gel­zelt. Ich habe inzwi­schen einen toten Punkt erreicht und fin­de, dass die Band klingt wie das Simon & Gar­fun­kel Album, das ich manch­mal im Auto höre. Ich schla­fe im Ste­hen ein. Das wirkt repekt­los, soll aber die Band nicht schmä­lern. Coun­try­es­quer Folk. Oder sowas. Naja, ich brau­che fri­sche Luft und hän­ge drau­ßen rum. Hier und da wie­der bekann­te Gesich­ter: Sven, ein Foto­graf aus Bochum, Ger­rit natür­lich („Tom­my, spä­ter aber Fotos, ne?“), Manu­el von den Wed­ges. Ein biss­chen wie ein klei­nes Dorf. Hier soll­te man kei­ne Dumm­hei­ten machen, da weiß jeder gleich Bescheid. Und dann tuscheln die Nach­barn.

Efter­klang wer­den mir als Sigur-Rós-Ver­schnitt schmack­haft gemacht, ent­täu­schen aber in die­ser Hin­sicht gewal­tig. Das ist das Pro­blem mit gro­ßer Erwar­tungs­hal­tung: Mit die­ser Band wer­de ich heu­te nicht mehr warm. Ich nut­ze mei­ne letz­ten Fund-Pop­ta­ler und gebe eine Run­de. Chris­toph hat von sei­ner Oma 50 Euro Taschen­geld mit­be­kom­men!!! Obwohl das einen tie­fen Ein­griff in die adul­te Selbst­ver­sor­gungs­pflicht dar­stellt. Er weiß um sei­nen Stel­len­wert als Grup­pen­be­treu­er und kauft davon Pop­ta­ler. Als ihm klar wird, dass er davon weder Essen noch sonst­was, son­dern nur Bier und Wein kau­fen kann, ist es bereits zu spät. Der Pop­ta­ler ist wie das Spiel­geld in Dis­ney­land, er regt zum Kon­sum an.

Und dann end­lich irgend­wann: The Natio­nal. Erst den­ke ich, dass da irgend­was Inter­pol-ähn­li­ches auf mich zukommt, aber schnell wird klar, dass die­se Band kom­ple­xer ist. Irgend­wie muss ich zwar die gan­ze Zeit an Depe­che Mode den­ken, wor­an der Gesang sei­nen Anteil hat, aber das wür­de der gan­zen Sache nicht gerecht. Denn The Natio­nal klin­gen tat­säch­lich sehr eigen und inter­es­sant, rocken außer­dem wie Höl­le und haben eine unglaub­lich stim­mungs­vol­le Light­show. Marie regt sich spä­ter dar­über auf, weil ihr das natür­lich die bes­ten Fotos ver­saut: Immer irgend­ein scheiß Licht in der Kame­ra­lin­se. Mir ist das egal, ich muss ja nur gucken und glot­zen. Wahr­schein­lich star­re ich inzwi­schen schon, wenn ich trin­ke wer­de ich immer zum Star­rer, da ich ver­ges­se zu blin­zeln. Bei die­ser Band soll­te man die Augen sowie so nicht schlie­ßen, nicht mal für eine Nano­se­kun­de.

Inzwi­schen sind die letz­ten Pop­ta­ler bestim­mungs­ge­mäß ver­braucht und eine gewis­se Fes­ti­val­me­lan­cho­lie macht sich breit: Wir haben die letz­te Band auf der Haupt­büh­ne gese­hen. Jetzt ins Spie­gel­zelt? Undenk­bar. Der har­te Kern unse­rer Rei­se­grup­pe, Chris­toph, Rosa, Sophie, Marie und ich, geht zum Zelt­platz und lässt den Abend gebüh­rend aus­klin­gen: Wir sin­gen 90er Jah­re Plas­tik­pophits von East 17 und Take That. Weil wir uns näm­lich nicht zu fein sind, zu erken­nen, dass das in der Retro­spek­ti­ve auch schö­ne Musik sein kann. Und dann packt Sophie ihr Han­dy aus und spielt die Musik ab, die mich danach nicht mehr los­ge­las­sen hat, mas­si­ver als eine der Bands von den Büh­nen: Oh, Napo­le­on. Iro­nie des Schick­sals. Vor zwei Tagen noch am Zelt­platz gese­hen und trotz­dem vor­her gar nicht rein­ge­hört. Man sagt ja oft „Die Band kenn‘ ich!“ und meint „…vom Namen.“ Ich auf jeden Fall: begeis­tert und ver­stört, weil die doch noch so jung sind und die Sän­ge­rin da Sachen raus­haut wie ein alter Hase

Der nächs­te Mor­gen bringt den ers­ten grau­en Tag. Ist aber auch egal, weil wir jetzt packen und heim­wärts fah­ren. Ich den­ke dar­über nach, den her­aus­ra­gen­den Son­nen­schein der Hald­er­ner Tage als gutes Omen zu deu­ten, dann fällt mir aber ein, dass ich an so einen Hokus Pokus nicht glau­be. Manch­mal, ganz sel­ten, stim­men eben alle umge­ben­den Fak­to­ren so über­ein, dass für ein paar Tage alles per­fekt ist.


Tom­my Fin­ke ist 29 Jah­re alt, Musi­ker und lebt in Bochum. Im Febru­ar ist sein Album „Poet der Affen /​ Poet of the Apes“ erschie­nen.

Für Cof­fee And TV hat er das Hald­ern Pop 2010 besucht und sei­ne Ein­drü­cke von Zelt­platz, See und Fes­ti­val auf­ge­schrie­ben. Die Namen der Mit­rei­sen­den wur­den dafür geän­dert.

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Leben Fernsehen Rundfunk

Im Fernsehen

Das sind mehr Rän­der als Augen, die ich da sehe. Es sind mei­ne Rän­der, da im Spie­gel, was mir an jedem ande­ren Tag reich­lich egal wäre, heu­te aber nicht. Heu­te bin ich in einer Fern­seh­sen­dung zu Gast und woll­te dabei ungern aus­se­hen wie Vat­ter Hein per­sön­lich.

Seit ich im Janu­ar „Chef“ vom BILD­blog gewor­den bin, kamen immer wie­der Inter­view-Anfra­gen von ver­schie­dens­ten Medi­en und wenn man sol­che Auf­merk­sam­keit nicht gewohnt ist, kei­ne Sekre­tä­rin hat, aber gut erzo­gen ist, sagt man erst jedem Anru­fer zu und anschlie­ßend immer wie­der das Glei­che. Am Sym­pa­thischs­ten waren meist die Gesprä­che mit den Cam­pus­ra­di­os, aber ab dem fünf­ten Inter­view wuss­te ich, dass ich nie einen Hol­ly­wood-Film dre­hen wür­de – bei den inter­na­tio­na­len Inter­view-Mara­tho­nen wür­de ich mich irgend­wann selbst ver­let­zen, weil ich mich selbst viel zu oft das­sel­be sagen gehört hät­te.

Aber Fern­se­hen, das woll­te ich dann doch mal mit­ma­chen. Zumal die Anfra­ge von einem die­ser ARD-Digi­tal­sen­der kam, die auch nicht viel mehr Zuschau­er haben als Dins­la­ken Ein­woh­ner. „Da kann man ja erst mal üben, bevor man irgend­wann unvor­be­rei­tet bei Gott­schalk auf der Couch sitzt“, dach­te ich und fuhr nach Köln.

Das heißt: Bis ich nach Köln fah­ren durf­te, muss­te ich erst mal einen Fra­ge­bo­gen mit sen­sa­tio­nell unbe­ant­wort­ba­ren Fra­gen („Haben Sie ein Lieb­lings­buch?“, „Wie wür­den Sie sich beschrei­ben?“) beant­wor­ten, auf des­sen Grund­la­ge dann eine Redak­teu­rin ein ein­stün­di­ges tele­fo­ni­sches Vor­ge­spräch mit mir führ­te, aus dem dann die Fra­gen für das eigent­li­che Inter­view kon­den­siert wur­den.

Man macht sich als Zuschau­er ja kei­ne Gedan­ken, wie viel Auf­wand dahin­ter steckt, ein paar reden­de Köp­fe auf die hei­mi­sche Matt­schei­be zu pro­ji­zie­ren. Also von dem gan­zen tech­ni­schen Kram inklu­si­ve Erfin­dung der Braun’schen Röh­re und den Rund­funk­wel­len mal ab.

Stilleben in einer WDR-Garderobe.

Und jetzt sit­ze ich hier in der Gar­de­ro­be im (geschätzt) vier­ten Unter­ge­schoss des Film­hau­ses des West­deut­schen Rund­funks in Köln, sehe aus wie Man­ny Cala­ve­ra und wer­de von einer Gar­de­ro­bie­re gefragt, ob ich „das“ (mei­nen roten Kapu­zen-Swea­ter) anlas­sen wol­le.

„Ich hät­te auch noch ein Hemd“, fan­ge ich vor­sich­tig an, „aber ich weiß nicht, ob das nicht zu klein­ge­mus­tert ist.“

Das hat­te man mir näm­lich gesagt, mehr­fach: Kein Grün, kein Gelb, nicht zu viel Weiß und um Him­mels Wil­len bit­te nicht klein­ge­mus­tert. Die net­te Gar­de­ro­bie­re (nett sind sie über­haupt alle hier unten, obwohl sie hier ohne Tages­licht und fri­sche Luft arbei­ten müs­sen und man es durch­aus ver­stün­de, wenn sie sich des­halb von Blut ernähr­ten) geht mal fra­gen und weil mein Hemd nicht zu klein­ka­riert ist, geht sie es gleich auch noch auf­bü­geln. Das letz­te Mal, als irgend­ei­nes mei­ner Hem­den auf­ge­bü­gelt wur­de, leb­te ich noch bei mei­nen Eltern.

Dann darf ich in die Mas­ke und die ist natür­lich bit­ter nötig: „Es tut mir sehr leid, aber mei­ne Augen­rin­ge sind heu­te noch tie­fer als sonst“, begin­ne ich ent­schul­di­gend, „dabei war ich ges­tern extra früh im Bett.“
„Krie­gen wir hin“, sagt die net­te Mas­ken­bild­ne­rin und beginnt mit umfang­rei­che­ren Stu­cka­ti­ons­ar­bei­ten, wie man sie von der Decken­sa­nie­rung Ber­li­ner Alt­bau­ten aus der Grün­der­zeit kennt.

Neben mir sitzt Anja Back­haus, die Mode­ra­to­rin der Sen­dung, die mit ihrer Mas­ke schon durch ist, und betreibt Small Talk. Wir spre­chen über den öffent­li­chen Per­so­nen­nah­ver­kehr, Wup­per­tal und den dro­hen­den Abriss des Köl­ner Schau­spiel­hau­ses. Bloß nichts aus dem Inter­view vor­weg­neh­men, damit der Talk­gast spä­ter nicht gleich im ers­ten Satz irgend­was mit „wie gesagt“ ant­wor­tet.

Nach ein paar Minu­ten guckt mich ein fri­scher jun­ger Mann aus dem Spie­gel an und ich über­le­ge kurz, wie lan­ge ich wohl üben müss­te, bis ich es sel­ber hin­krieg­te, mich so zu schmin­ken. So für jeden Tag. Mei­ne Haa­re darf ich, wie jeden Tag, selbst ver­strub­beln, was ich sehr gewis­sen­haft und lan­ge tue, bis es so aus­sieht, als hät­te ich exakt nichts dar­an getan. „Eitel­keit ist eine der sie­ben Tod­sün­den“, höre ich mei­ne katho­li­sche Groß­mutter sagen, dre­he mich um, sehe aber nie­man­den.

Dann geht es ins Stu­dio, wo Anja und ich in sty­li­schen Lounge-Ses­seln Platz neh­men, in denen man ganz phan­tas­tisch lie­gen kann. Nur auf­recht sit­zen geht schlecht, wäre aber im Ide­al­fall wich­tig. Wir haben viel Zeit, um die Posi­tio­nie­rung unse­rer Bei­ne aus­zu­tes­ten, denn zunächst ein­mal müs­sen wir rich­tig ein­ge­leuch­tet wer­den. Wäh­rend wir unse­re Bei­ne mal links, mal rechts anein­an­der vor­bei­schie­ben und dabei ver­su­chen, weder ver­krampft zu wir­ken noch uns die Hüf­ten aus­zu­ku­geln, wer­den über unse­ren Köp­fen vie­le Schein­wer­fer ein­ge­schal­tet, von denen jeder ein­zel­ne aus­reicht, um eine Tief­kühl­piz­za auf­zu­ba­cken. Ich ver­su­che, nicht nach oben zu star­ren, aber sonst sind da nur eine rie­si­ge grü­ne Wand und drei Kame­ras, in die ich auch nicht gucken soll­te. Wenigs­tens kann man sei­ne Hän­de bequem so auf den Ses­seln plat­zie­ren, dass ich nicht Gefahr lau­fe, die gan­ze Zeit über wüst zu ges­ti­ku­lie­ren, wie ich das sonst tue, wenn ich rede.

Anja redet hin und wie­der mit dem Regis­seur, den ich aber nicht hören kann, weil er sich in einem Knopf in Anjas Ohr ver­steckt hat. Als er über die Stu­dio-Laut­spre­cher spricht, sagt er „Vor­war­nung fürs Stu­dio“ und das klingt ein biss­chen nach Rake­ten­start.

Beim ers­ten Ver­such stimmt etwas mit Anjas Anmo­de­ra­ti­on nicht, beim zwei­ten läuft irgend­was ande­res schief, aber da habe ich die ers­te Fra­ge schon beant­wor­tet. Jetzt also noch mal, wobei ich so tun muss, als wür­de ich die Fra­ge zum ers­ten Mal hören und beant­wor­ten. Aber wozu war ich in der Unter­stu­fen-Thea­ter-AG mei­nes Gym­na­si­ums?

Dies­mal klappt alles und wir befin­den uns plötz­lich mit­ten in einem Gespräch. Ich gucke Anja kon­zen­triert an (was für sie ziem­lich sicher beun­ru­hi­gend wir­ken muss), wäh­rend ich die Fra­gen beant­wor­te, die stel­len­wei­se ech­tes Nach­den­ken erfor­dern. Da zeigt sich dann auch der Sinn und Nut­zen des Vor­ge­sprächs: Man­che Fra­gen spie­len gezielt auf eine Ant­wort an, die ich der Redak­teu­rin vor drei Tagen am Tele­fon gege­ben habe und jetzt idea­ler­wei­se wie­der­ho­len soll­te, wenn ich mich noch an sie erin­nern wür­de.

Dass das hier eine Auf­zeich­nung sein wür­de ist klar, aber wir pro­du­zie­ren vor für in drei Wochen. Bezug­nah­men zum Zeit­ge­sche­hen gilt es also eher zu ver­mei­den – ein biss­chen schwie­rig, wenn man über Medi­en spre­chen soll. Die Fra­ge „Was war in den letz­ten Wochen beson­ders krass in den Medi­en?“, beant­wor­te ich ele­gant mit einem Ver­weis auf einen BILD­blog-Ein­trag von ges­tern. Also: „vor ein paar Wochen“. Hol­ly­wood, ich kom­me!

Der Talk ist schnell vor­bei, aber zwölf­ein­halb Minu­ten sind mehr, als einem als ein­zel­ner Gast in der „NDR Talk­show“ zuste­hen. Ich bin also ganz zufrie­den mit dem, was wir alles abge­han­delt haben. Es wird noch ein Extra-Clip fürs Inter­net gedreht, den wir vier Mal wie­der­ho­len, weil immer irgend­was schief läuft. Dann darf ich gehen.

In der (Nein: mei­ner) Gar­de­ro­be packe ich has­tig zusam­men und ver­ges­se dabei prompt die unan­ge­bro­che­ne Packung Kek­se, die dort für mich bereit­stand. Dabei hat man doch so sel­ten Gele­gen­heit, sich sei­ne Rund­funk­ge­büh­ren der­art direkt zurück­zu­ho­len.

Als ich in den Köl­ner Nie­sel­re­gen tre­te, bin ich noch geschminkt, aber wie­der allei­ne. Nie­mand um mich, der fragt, ob ich zufrie­den bin, ob ich irgend­was brau­che, ob alles in Ord­nung ist. Nie­mand, der mir freund­lich zunickt. Die ers­ten Minu­ten ist das – nach gera­de mal zwei­ein­halb Stun­den im Fern­seh­stu­dio – ziem­lich irri­tie­rend. „Hol­ly­wood- oder Rock­stars wür­den jetzt Dro­gen neh­men“, den­ke ich und gehe statt­des­sen Freun­de besu­chen.

EINS­WEI­TER­ge­fragt
Frei­tag, 16. April 2010
Um 20.01 Uhr auf Eins Fes­ti­val

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Musik Unterwegs

Tag 4: Marburg

Die­ser Ein­trag ist Teil 5 von bis­her 9 in der Serie Das Simon den Hart­blog

Diens­tag, 6. April 2010

Ein­zel­zim­mer

Ich hab es geahnt, mir war es ges­tern schon völ­lig klar. Ich wache in Wies­ba­den auf der ges­tern erwähn­ten Couch im Back­stage auf. Das ist mir vor einem Jahr schon ein­mal pas­siert, als ich mit den Kili­ans hier war. Nach der Show haben wir uns damals flei­ßig an besag­tem Kühl­schrank bedient und sind auf der Couch ver­sackt. Als auch der letz­te Kilia­ner den Weg zu sei­nem Bett gefun­den hat­te, bin ich ein­fach im Sit­zen nach links gekippt und hab mich der besof­fe­nen Müdig­keit hin­ge­ge­ben.

Ges­tern dage­gen habe ich dann doch den Weg zum Bett ange­tre­ten. Hier erwar­ten mich U‑Boot-arti­ge Drei­fach-Stock­bet­ten und geschlos­se­ne Fens­ter auf ziem­lich weni­gen Qua­drat­me­tern. Scheint mir kei­ne gute Mischung gegen Kater am Mor­gen zu sein. Plötz­lich erstrahlt die Couch im Back­stage in völ­lig neu­em Glanz, zumal der Back­stage jetzt ja irgend­wie ein Ein­zel­zim­mer ist. Immer­hin war ich dies­mal cle­ver genug, an Decke und Kis­sen zu den­ken…

Eine Stu­den­ten­stadt wie Mar­burg in den Semes­ter­fe­ri­en auf Tour­nee zu berei­sen gehört nicht zu den bes­ten Ideen, den­noch ist das KFZ ganz gut gefüllt. Der deut­lich frü­her als in den ande­ren Städ­ten ange­setz­te Kon­zert­start sorgt für Ver­wir­rung. Dass wir schon um halb elf Fei­er­abend haben dann für noch grö­ße­re. Aber wir sind erfreut, sowohl über das viel­leicht von den Oster­ta­gen äußerst ent­spann­te Publi­kum, als auch über die uns bevor­ste­hen­den acht Stun­den Schlaf. Es bleibt aber genug Zeit, trotz eisi­ger Tem­pe­ra­tu­ren mit An Hor­se zusam­men auf der Ter­ras­se des Hotel Bel­le­vue den Abend aus­klin­gen zu las­sen. Lei­der müs­sen An Hor­se wegen ihres Visums für die USA noch einen Aus­flug zur Bot­schaft nach Frank­furt machen. Ich wuss­te nicht, dass Kate auch Fuck sagen kann, und dann gleich so oft hin­ter­ein­an­der.

Traumhafter Ausblick vom Hotel Bellevue.
Traum­haf­ter Aus­blick vom Hotel Bel­le­vue.

Dabei hät­te sie sich tags­über fast ein Platz­wun­de ein­ge­han­delt: Ich glau­be, es pas­siert wäh­rend Simons Sound­check, als Kate im Back­stage bei­na­he von einem Stein erschla­gen wird. Der Back­stage liegt schräg unter­halb der Büh­ne und aus der Decke löst sich durch die Bass­vi­bra­tio­nen ein Stein in Grö­ße eines Tisch­ten­nis­balls und ver­fehlt Kate nur um Zen­ti­me­ter. Soll­te dies ein heim­lich geplan­ter Anschlag von Simon den Har­tog und Band oder gar ein nie­der­träch­ti­ger Plan des Sound­manns gewe­sen sein, dann müs­sen alle aber noch kräf­tig üben. Zum Bei­spiel heu­te Abend beim Heim­spiel im Zakk in Düs­sel­dorf.

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Tag 2: Erlangen

Die­ser Ein­trag ist Teil 3 von bis­her 9 in der Serie Das Simon den Hart­blog

Sonn­tag, 4. April 2010

Von Löwen und Pfer­den

“Du freust dich doch jetzt nicht wirk­lich über den Wecker“ murrt mein Zim­mer­nach­bar Chris­ti­an ungläu­big-fas­sungs­los durch unser Kreuz­fahrt­schiff­ka­bi­nen­zim­mer. Er ist der Tour­ma­na­ger und nicht erfreut, das war­me Bett ver­las­sen zu müs­sen. Je wacher ich wer­de, des­to kla­rer wird mir, dass wir nicht auf einer Kreuz­fahrt sind. Obwohl, irgend­wie ja doch ein biss­chen…

Aber ich freu mich über den Wecker, denn der bedeu­tet Früh­stück. Hotel­früh­stück, so lieb­los es meis­tens auch ist, bringt in vie­len Hotels eine in mei­nem Pri­vat­le­ben nicht gekann­te Aus­wahl an Cerea­li­en, fri­schem, schon mund­ge­recht geschnit­te­nem Obst, diver­sen Säf­ten, ver­schie­de­nen Brot­sor­ten und schon fer­tig gerühr­tem Rühr­ei.

Der­art für den Tag gestärkt, wer­den wir im Tour­bus Zeu­ge einer gera­de­zu unglaub­li­chen Radio­sen­dung.

Aus dem Rock’n’Roll-Himmel wer­den angeb­li­che Kon­zer­te ver­stor­be­ner Stars der letz­ten 50 Jah­re über­tra­gen. An sich eine ganz net­te Idee, aller­dings hapert es deut­lich an der Umset­zung. Als der Mode­ra­tor behaup­tet, er säße auf einer Wol­ke – “Huhu, viel­leicht kön­nen Sie mich von da unten sehen“ – wird nach diver­sen Lach­at­ta­cken klar, dass wir bei der Sen­der­wahl alles rich­tig gemacht haben. Groß­ar­tig auch, dass nahe­zu unter die kom­plet­te Sen­dung Sta­di­on­ap­plaus gelegt wird, um die gran­dio­se Live-Atmo­sphä­re des Events her­vor­zu­he­ben. Hoch erfreut sind alle, als die Doors live aus dem Rock’n’Roll Him­mel noch ein­mal “Light my fire“ spie­len. Denn “Die neue 107,7“, ein Stutt­gar­ter Pri­vat­ra­dio, ist sich nicht zu scha­de, die Ver­si­on inclu­si­ve zehn­mi­nü­ti­gem Orgels­o­lo zu sen­den. Das erlebt man ja heut­zu­ta­ge im Radio eher sel­ten. Gro­ßes Lob an Stutt­gart, und wei­ter geht’s.

An Horse live in Erlangen.
An Hor­se live in Erlan­gen.

Heu­te an Tag zwei der Kreuz­fahrt wird das Tour­le­ben schon rou­ti­nier­ter. Jeder weiß jetzt, wo auf der Büh­ne was zu ste­hen hat, und auch die­je­ni­gen Musi­ker in der Band, die nicht stän­dig auf den Büh­nen die­ser Welt zu sehen sind, kön­nen sich dank schwin­den­der Ner­vo­si­tät hun­dert­pro­zen­tig auf das Kon­zert ein­las­sen.

Spä­tes­tens über­mor­gen sind die “Neu­en“ aber auch so abge­wichs­te Voll­pro­fis im Tour­nee­busi­ness wie die alten Hasen. Das geht schnell!

Geschickt tren­nen wir wie Löwen auf der Jagd nach der Show Damon und Kate von “An Hor­se” von­ein­an­der. Da Kate sich schon früh auf den Weg ins Hotel macht, bleibt Damon allei­ne und von den 7 den Har­to­gern umzin­gelt zurück. Ob ihm aber unse­re 7‑stimmige Back­stage-Ver­si­on von “Aux Champs Ely­sées” wirk­lich gefal­len hat, wer­den wir wahr­schein­lich nie erfah­ren.

Viel­leicht frag ich ihn heu­te, beim Kon­zert im Schlacht­hof in Wies­ba­den. Hier waren Simon und ein paar von uns schon eini­ge Male und haben uns immer sehr wohl gefühlt. Gefähr­lich ist jeder Besuch im Schlacht­hof aber jedes Mal, da zwi­schen der Büh­ne und unse­ren Bet­ten nur ein Kühl­schrank und ein paar gemüt­li­che Sofas ste­hen…

Ein neuer Song wird einstudiert.
Ein neu­er Song wird ein­stu­diert.
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Tag 1: Stuttgart

Die­ser Ein­trag ist Teil 2 von bis­her 9 in der Serie Das Simon den Hart­blog

Sams­tag, 3. April 2010

“Das ist unser ers­tes Kon­zert“

Nach meh­re­ren Jah­ren des Ton­tech­ni­ker­da­seins ken­ne ich sie alle:
Ich ken­ne jede Aus­re­de und jede faden­schei­ni­ge Erklä­rung, war­um die Band aus­ge­rech­net die­ses Mal lei­der, lei­der nicht pünkt­lich am Auf­tritts­ort erschei­nen konn­te. Da hört man Geschich­ten von Stau, Pan­ne, ja sogar Geburts­hil­fe.

Inter­es­sant ist, dass wirk­lich jede ein­zel­ne Band, mit der ich je unter­wegs war, am Tele­fon gelo­gen hat, wenn sie ein biss­chen mehr oder weni­ger zu spät los­ge­fah­ren war. Die wah­ren Grün­de des Zuspät­kom­mens sind in den sel­tens­ten Fäl­len aber Stau, Pan­ne oder Geburts­hil­fe, und der geneig­te Leser möge sich an die­ser Stel­le sel­ber aus­ma­len, was statt­des­sen in Fra­ge kommt. Als Ton­tech­ni­ker ist man ein biß­chen wie die Tape­te: Man kriegt alles mit, aber schweigt stil­le. Zudem habe auch ich schon oft gelo­gen, auch wenn ich genau wuss­te, dass es kei­ne Chan­ce gibt, es noch halb­wegs pünkt­lich zu schaf­fen. Ist bes­ser für alle Betei­lig­ten.

Ges­tern war es aller­dings über­haupt nicht nötig, krea­ti­ve Aus­re­den zu erfin­den. Wir waren so was von über­pünkt­lich in Stutt­gart, das habe ich noch nie erlebt. Das könn­te even­tu­ell auch eine Men­ge damit zu tun haben, dass ich Simon den Har­tog auch noch nie habe sagen hören: „Das ist unser ers­tes Kon­zert!“

Es heißt ja immer, wer gut ist, müss­te nicht pro­ben. Simon den Har­tog und Band haben trotz­dem ein­ge Wochen in einem Köl­ner Pro­be­raum ver­bracht, und das hat sich deut­lich aus­ge­zahlt, wie sich in Stutt­gart zeig­te:

Das etwa eine Stun­de dau­ern­de Kon­zert wirk­te näm­lich zu kei­ner Zeit wie eine Pre­mie­re. Sehr auf­fäl­lig war aber, wenn auch völ­lig klar, dass kei­ner der über hun­dert Gäs­te mit­ge­sun­gen hat.

Die Gele­gen­heit zum Mit­sin­gen ergab sich aber den­noch, nur etwas spä­ter: Zum 23. Geburts­tag des Bas­sis­ten Nobert Domi­nic wur­de ein kur­zes Hap­py-Bir­th­day ange­stimmt. Wo soll­te denn auch jemand, der auf den Büh­nen der Welt zu Hau­se ist, auch sonst in sei­nen Geburts­tag rein­fei­ern, wenn nicht im „Kel­ler“ in Stutt­gart?

Eben­falls Pre­mie­re ges­tern: Das ers­te Deutsch­land­kon­zert von An Hor­se! Die Aus­tra­li­er beglei­ten uns die kom­plet­ten acht Tage der Tour als Vor­band und stel­len ihre gera­de erschie­ne­ne CD vor. Sehr net­te, freund­li­che Men­schen, die über die Jah­re im inter­na­tio­na­len Musik­busi­ness die Kunst des Small­talks auf eine mir bis­her völ­lig unbe­kann­te, ja gera­de­zu fas­zi­nie­ren­de Art erlernt haben. Zum Small­talk hat man auf einer Tour näm­lich vieeeel Zeit. Denn es ist ja so: Die meis­te Zeit des Tages besteht aus War­ten. War­ten auf das Ankom­men am Auf­tritts­ort, Auf­bau­en, War­ten auf den Sound­check, War­ten auf den Auf­tritt. Da kann man über die Jah­re ziem­lich gut ler­nen, wie man sich an The­ken über Nich­tig­kei­ten unter­hält, ohne sich irgend­et­was zu sagen, das die Anstren­gun­gen, die man ohne­hin schon auf sich nimmt, ver­stärkt.

Nun aber An Hor­se: Vie­le Small­talk­meis­ter habe ich getrof­fen, tau­sen­de The­ken­ge­sprä­che geführt, aber die bei­den sind inter­na­tio­na­le Cham­pi­ons. Das bleibt wahr­schein­lich nicht aus, wenn man über die Jah­re so vie­le Men­schen ken­nen lernt wie die bei­den, und das auch noch auf unter­schied­li­chen Kon­ti­nen­ten! Aber wir wer­den in den nächs­ten Tagen schon noch dahin­ter kom­men, wer und wie die bei­den eigent­lich wirk­lich sind. Acht Tage auf engs­tem Raum hal­ten auch inter­na­tio­na­le Cham­pi­ons nicht im Small Talk aus, da bin ich sicher.

Heu­te ist immer noch der 4.4. und natür­lich fei­ern wir noch wei­ter­hin Domi­nics Geburts­tag – beim Kon­zert im E‑Werk in Erlan­gen. Wäre schön, euch dort zu sehen …

Ent­span­nung nach der Show: Das rau­chen­de Geburts­tags­kind
Auch in Hotel­zim­mern kann man sich wie auf Kreuz­fahrt­schif­fen füh­len.
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Rundfunk Literatur Radio

Pop revisited

von Katha­ri­na Schliebs und Lukas Hein­ser

Eins­li­ve jeden­falls, die „Jugend­wel­le“ des West­deut­schen Rund­funks, fei­er­te am Frei­tag ihren 15. Geburts­tag.

Wir ver­brach­ten den gan­zen Nach­mit­tag in einer Köln-Ehren­fel­der Woh­nung, lie­ßen uns beko­chen und hör­ten dabei Eins­li­ve. Zumin­dest letz­te­res gehört zu den Din­gen, die Men­schen in unse­rem Alter sonst eher ver­mei­den. Doch dies­mal war es etwas ande­res: Wir hör­ten regel­recht gebannt zu und ver­an­stal­te­ten ein pri­va­tes Pop­quiz, denn gefei­ert wur­de mit einem eigent­lich nur bril­lant zu nen­nen­den Sen­de-Mara­thon, in dem zwi­schen 6 und 21 Uhr jede Stun­de einem ande­ren Jahr gewid­met war. Los ging es mit dem Jahr 2009 und dann immer wei­ter vor­wärts in die Ver­gan­gen­heit.

So saßen wir zu dritt vor dem Radio und hör­ten die Jah­re 1998, 1997, 1996, 1995 und wur­den dabei immer alber­ner und über­tra­fen und gegen­sei­tig mit Nerd­wis­sen aus 100 Jah­ren Pop­mu­sik. Dabei sind per­sön­li­che Musik­hör-Bio­gra­fien natür­lich irgend­wann stark abwei­chend zu dem, was im Radio an Musik läuft. Den­noch darf man nicht unter­schät­zen, wie viel Radio man dann aber doch gehört hat und wie vie­le Lie­der man kennt, auch wenn man sie eigent­lich schlimm oder belang­los fin­det (Wer um alles in der Welt kann ernst­haft auf die Idee kom­men, ein so völ­lig ega­les Lied wie „Got ‚Til It’s Gone“ von Janet Jack­son irgend­wie gut zu fin­den oder sogar die Sin­gle zu kau­fen? Ein Rie­sen­hit den­noch!), und wie vie­le Erin­ne­run­gen ver­bun­den sind mit die­sen Radio­pop­songs und den Radio­co­me­dys. Und sogar mit den Bet­ten, Drops und Jin­gles! Nie­mals hät­te man „Eins­li­ve macht hörig“ raus­schmei­ßen dür­fen.

Exkurs „Nerd­wis­sen über Eins­li­ve“: Frü­her kam direkt nach den Nach­rich­ten eine Begrü­ßung. Mit dem Relaunch 2007 lief nach den Nach­rich­ten erst ein Lied und dann sag­te der Mode­ra­tor Hal­lo. Sogar die­sen Relaunch hat Eins­li­ve für eini­ge Stun­den zurück­ge­nom­men und die Mode­ra­to­ren haben wie­der direkt nach den Nach­rich­ten eine Begrü­ßung gespro­chen! Mit dem Ori­gi­nal-Bett von frü­her! Und wenn das nie­man­dem sonst auf der gan­zen Welt auf­ge­fal­len sein soll­te: In der Ehren­fel­der Küche wur­de es bemerkt. Und beju­belt. Exkurs Ende.

Je näher der Rück­blick dem Grün­dungs­jahr 1995 kam, des­to deut­li­cher wur­de die Rol­le, die Eins Live bei der eige­nen Ado­les­zenz gespielt hat­te: Nahe­zu jeden Song konn­ten wir noch mit­sin­gen – nicht bei jedem kann­te man Titel und Inter­pret, aber wir hat­ten alles unzäh­li­ge Male gehört. Damals tat­säch­lich noch aus­schließ­lich über Radio, denn wir hat­ten ja nichts. Die Ziel­grup­pe, die jetzt zuhau­se vor dem Web­stream saß und damals noch gar nicht gebo­ren war, wird in 15 Jah­ren kaum so vie­le gemein­sa­me Erin­ne­run­gen an ein Medi­um ihrer Jugend haben.

Wir fühl­ten uns natür­lich alt und spra­chen dar­über, dass das Kon­ser­va­ti­ve manch­mal auch sei­ne guten Sei­ten habe, der Gast­ge­ber brach­te Bier – und das war der Moment, in dem wir ent­deck­ten, dass die „Beck’s“-Flaschen neue Eti­ket­ten haben. Unse­re Reak­ti­on dar­auf darf man ruhig hys­te­risch nen­nen.

Was ja auch nur in einer Medi­en­me­tro­po­le wie Köln geht: Den Beginn einer lan­des­weit aus­ge­strahl­ten Sen­dung am hei­mi­schen Radio ver­fol­gen und eine Stun­de spä­ter selbst in der Sen­dung sit­zen und applau­die­ren. Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war zu Gast in der Sen­dung „Klub­bing“ und das pass­te irgend­wie ganz wun­der­bar zur Pop­kul­tur-Nost­al­gie an die­sem Kar­frei­tag: Stuck­rad-Bar­re ver­kör­pert die spä­ten 1990er Jah­re fast noch bes­ser als Eins Live. Aber wäh­rend der Sen­der mit sei­nem immer pro­fil­är­me­ren Pro­gramm gera­de die größ­te Hörer­schaft sei­ner Geschich­te fei­ert, hat es der Lite­rat mit sei­nem durch­aus famo­sen neu­en Buch „Auch Deut­sche unter den Opfern“ nicht mehr auf die sicht­ba­ren Plät­ze irgend­wel­cher Best­sell­ler-Charts geschafft. In gro­ßen Buch­hand­lun­gen lie­gen zwar genug Exem­pla­re von „Axolotl Road­kill“ aus, um damit die gan­ze Ober­stu­fe eines Gym­na­si­ums zu ver­sor­gen, aber den neu­en Stuck­rad-Bar­re müss­te man bestel­len. Wenn einem das jemand vor zehn Jah­ren erzählt hät­te, als man am Tag der Ver­öf­fent­li­chung von „Black­box“ klei­ne Buch­lä­den in Dins­la­ken und Göt­tin­gen gestürmt hat …

Wenigs­tens sei­ne Lesun­gen (zuletzt ger­ne mit Chris­ti­an Ulmen) sind immer noch aus­ver­kauft. Und auch hier im drit­ten Stock über dem nächt­li­chen Media­park ist der Eins­li­ve Salon gut besucht. Außen an der Tür hängt immer noch ein Schild, das den Raum als „Kult­kom­plex­ca­fé“ bezeich­net, die­ser selt­sam absur­de Name, der in sei­ner Eigen­ar­tig­keit unbe­dingt erhal­tens­wert gewe­sen wäre, denn „Salon“ ist ja nun doch, mit Ver­laub, immer noch das, wo man zum Haa­re­schnei­den hin­geht.

Das ers­te Gespräch, das Sabi­ne Hein­rich mit Stuck­rad-Bar­re noch ohne Publi­kum im Stu­dio führ­te, ließ zwar nicht das Schlimms­te, aber doch Ungu­tes befürch­ten: Nach einem etwas umständ­li­chen „Sie oder Du“-Einstieg waren die bei­den unge­fähr eine Minu­te beim sehr uner­gie­bi­gen The­ma „Oster­mär­sche“ hän­gen geblie­ben, wobei Stuck­rads Ant­wor­ten zuse­hends knap­per und generv­ter klan­gen.

Doch dann steht sie vor einem und man ist sofort ver­zau­bert: Sabi­ne Hein­rich hört sich bes­ser an und sieht bes­ser aus als im Fern­se­hen, wie sie da auf der Büh­ne des Eins­li­ve Salons steht und dem Publi­kum erklärt, dass es die Han­dys nach der Lesung ger­ne wie­der anstel­len darf. Eins ihrer Hosen­bei­ne ist aus den Stie­feln gerutscht und hängt jetzt über dem Schuh, sie trägt ein wei­ßes T‑Shirt und einen Pfer­de­schwanz, und wenn sie so die Echo-Ver­lei­hung mode­riert hät­te, dann wäre das mit Rob­bie Wil­liams viel­leicht was gewor­den.

Jetzt aber betritt erst mal Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re die Büh­ne. Er sitzt nicht ein­fach schon da rum wie vie­le ande­re Autoren vor ihm, er braucht den Auf­tritt – und wenn es nur einer durch eine ganz nor­ma­le Zim­mer­tür ist. Hat er nicht frü­her sei­ne Lesun­gen auch mit „Let Me Enter­tain You“ eröff­net?

Benjamin von Stuckrad-Barre

DJ Lar­se legt irgend­wel­che Elek­tro-Musik auf, dann wird abwech­selnd gele­sen und getalkt, wobei sich zwei Din­ge abzeich­nen: Stuck­rad-Bar­re ist ein sehr guter Autor, aber ein noch bes­se­rer Per­for­mer, und Sabi­ne Hein­rich ist zwar eine wahn­sin­nig char­man­te Mode­ra­to­rin, aber eben auch eine eher nur mit­tel­gu­te Inter­viewe­rin.

Es ist ein denk­bar ungüns­ti­ge Kon­stel­la­ti­on: Eine auf­ge­reg­te Fra­ge­stel­le­rin trifft auf einen Talk­gast, der kei­ner­lei Bereit­schaft zeigt, die etwas unglück­lich for­mu­lier­ten Fra­gen wohl­wol­lend auf­zu­neh­men. „Was ist denn ein Sit­ten­ge­mäl­de?“ – „Naja ich mein das ist ein ganz schö­nes deut­sches Kom­po­si­tum. Sit­ten-Gemäl­de. Das ist ja … Heiz-Kör­per. Was ist ein Heiz­kör­per?“ – „Ich hab noch nie so ein Wort benutzt! Sit­ten­ge­mäl­de!“ – „Du bist zuviel mit Mat­thi­as Opden­hö­vel zusam­men.“

Es läuft nicht. Im Salon ist es heiß, sti­ckig, und sehr, sehr voll. Man könn­te jetzt die eige­ne Hand abna­gen (oder die des Sitz­nach­barn). Mag gar nicht auf­hö­ren, den Dia­log zwi­schen Sabi­ne Hein­rich und BvSB wie­der­zu­ge­ben, man kann ein­fach nicht weg­hö­ren.

Sabi­ne Hein­rich sagt: „Hör mal, in dei­nem Buch war mal die Rede von Müs­li mit Brom­bee­ren.“
BvSB: „Ja, das ist sai­son­ab­hän­gig. Nä?“
Hein­rich: „Pflückst du die sel­ber in dei­nem eige­nen Gar­ten?“
BvSB: „Im Super­markt.“
Hein­rich: „Eige­ner Bio­gar­ten.“
BvSB: „GARTEN?!? Nein, nein. Gär­ten gilt es wirk­lich zu ver­mei­den. Das ist ja der Anfang vom Ende.“
Hein­rich: „Du hast ja auch kei­ne Küche, hast du gesagt.“
BvSB: „Aber das mit dem Gar­ten stimmt! Ja, nee, nein. Gär­ten.“

Es geht so wei­ter. Frau Hein­rich frag­te, wie Herr von Stuck­rad-Bar­re lebt, wie er wohnt, was er von Möbeln hält, ob er denn sel­ber kocht (Ant­wort: „Nein!“). Er kann sich offen­sicht­lich nicht ent­schei­den, ob er Frau Hein­rich jetzt wirk­lich per­ma­nent auf­lau­fen las­sen soll oder nicht und schwankt dann zwi­schen abso­lu­ter Sabo­ta­ge des Gesprächs und mit­lei­di­gem Nach­ge­ben.

Und man will ja Sabi­ne Hein­rich nett fin­den! Und ein biss­chen Mit­leid mit ihr haben, weil Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re sich so bockig zeigt! Aber dann sagt sie Sachen, da ist man froh, dass ihr Gesprächs­part­ner ent­spre­chend reagiert:

„Ich hab dich bei Jörg Tha­de­usz in der Sen­dung gehört, als Pod­cast, lie­be Grü­ße an den Jörg, und der hat dich gefragt, -“
„Jetzt wird’s aber ein biss­chen pri­vat, oder?“, unter­bricht Stuck­rad-Bar­re erneut, zurecht, leicht amü­siert.
„Es kann ja sein, dass Jörg die­se Sen­dung beim Lau­fen hört“, gibt Frau Hein­rich tap­fer zu beden­ken.
„Na dann aber auch schö­ne Grü­ße. Lie­ber Jörg, es war schön mit dir in Leip­zig.“ Zu Frau Hein­rich, ver­schwö­re­ri­scher Unter­ton: „Mein­ze der hört das?“ – „Bestimmt!“ – „Jörg? Sol­len wir in Bochum zusam­men lesen oder in Dort­mund?“

Und jetzt raten Sie, wer im Publi­kum an die­ser Stel­le nicht an sich hal­ten kann und laut „Bochum!“ ruft. Stuck­rad-Bar­re wen­det sich dar­auf­hin dem Publi­kum zu und will das aus­dis­ku­tie­ren, aber da wirft sich Frau Hein­rich dazwi­schen: „Darf ich jetzt bit­te mal mei­ne Fra­ge durch­brin­gen?!“ Sie darf. Aber sie hät­te es auch las­sen kön­nen.

Irgend­wann liest Stuck­rad-Bar­re Aus­schnit­te aus dem längs­ten Text des Buches, in dem er von der Ent­ste­hung der letz­ten Udo-Lin­den­berg-Plat­te berich­tet. Was bei der Lesung nur am Ran­de anklingt: Es ist einer der per­sön­lichs­ten und inten­sivs­ten Tex­te, den der Autor je ver­öf­fent­licht hat. Kommt Lin­den­berg zu Wort, par­odiert Stuck­rad den typi­schen Ton­fall des Musi­kers, was sehr, sehr pein­lich wir­ken könn­te (steht nicht irgend­wo im Früh­werk des Pop­li­te­ra­ten, dass Lin­den­berg an Par­odis­ten-Schu­len in der ers­ten Stun­de auf dem Lehr­plan stün­de?), hier aber magi­scher­wei­se funk­tio­niert. Als Sabi­ne Hein­rich im inzwi­schen legen­dä­ren Ange­la-Mer­kel-Inter­view die Rol­le der Kanz­le­rin liest, ist sie aller­dings ihrer­seits so klug, auf jed­we­den Par­odie-Ver­such zu ver­zich­ten.

Um Mit­ter­nacht ist die Sen­dung vor­bei, Kar­frei­tag und das Tanz­ver­bot. Es ist wie­der 2010 und Eins­li­ve klingt auch wie­der so. Alle sind wie­der so alt, wie sie sich füh­len, und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re signiert Bücher.

Pod­cast der Sen­dung her­un­ter­la­den