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Unterwegs Gesellschaft

Als man damals nach Hamburg kam

Ich wünschte wirklich, es würde nicht stimmen, aber natürlich musste sich die „Du und wieviel von Deinen Freunden“ von kettcar in meinem Sony-Discman drehen, als ich heute vor 20 Jahren mit der U3 vom Hauptbahnhof nach St. Pauli fuhr und über den Spielbudenplatz ging. Mit meiner damaligen Freundin hatte ich mich auf den Weg nach Hamburg gemacht; die erste gemeinsame Reise, ein Besuch bei Internetfreunden, vor allem aber natürlich im Mythos Hamburg.

Das Grand Hotel van Cleef und seine Acts, Bands wie Tocotronic und Die Sterne und „Absolute Giganten“ — die Stadt und vor allem die Gegend um St. Pauli, Karolinenviertel und Sternschanze waren durch die Popkultur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit so aufgeladen, dass sie zumindest für uns eigentlich schon den gleichen touristischen Stellenwert hatten wie Michel, Fischmarkt und Landungsbrücken (die natürlich gleich doppelt): hingehen, Foto machen, abhaken, dort gewesen sein. Ich war gerade erst auf dem Sprung von Dinslaken nach Bochum, aber so, wie diese coolen Menschen in Cordhosen und Trainingsjacken mit einem Stadtnamen-Schriftzug drauf, die die entscheidenden paar Jahre älter waren als ich mit 20 und irgendwas „Kreatives“ machten, so wollte ich auch einmal sein und leben: Platten kaufen bei Zardoz, abends einfach vor die Tür gehen und ein Konzert besuchen; Miles in der Tanzhalle St. Pauli, Ash im Logo, mit der Bierflasche in der Hand vorm Molotow stehen.

Wenn ich die Fotos von damals betrachte, sehe ich vor allem, was nicht mehr da ist: die Esso-Hochhäuser und die Tankstelle davor, der Astra-Turm, der Kaispeicher A ohne Elbphilharmonie drauf — ich war, wie bei meinem ersten Berlin-Besuch 1995, rechtzeitig dagewesen, um heute nostalgisch zu sein. Dabei sind die wahren Opfer natürlich die, die da jahrzehntelang gewohnt haben. Die Gentrifizierung ist über Hamburg hinweggerauscht, alles ist voll mit Bio-Supermärkten, Lastenrädern, Cafés und alternden Hipstern, die jetzt Eltern sind und aussehen wie ich und meine peer group hier in Bochum — nur, dass wir viel weniger Miete zahlen. Wir sind alle Teil des Problems; die Investoren folgen den Kreativen wie Geier; am Ende wollen wir alle eine lichtdurchflutete Altbauscheiße. Aber sowas wie die Hafen City, das haben wir doch nie gewollt!

2009 hatte ich überlegt, nach Hamburg zu ziehen, aber es war mir damals schon zu teuer. Ich liebe die Stadt noch immer: das Licht, die Luft an der Elbe, das Schanzenviertel, trotz all der Gentrifizierung, und der schönste Regiolekt, den das Deutsche zu bieten hat. In meiner DNA bin ich zu zwei Achteln Hamburger und ich bilde mir ein, dass sich das bemerkbar macht (die zwei Achtel Aachener Revier spüre ich nullkommanull). Einige der besten Menschen, die ich kenne, leben in Hamburg. Falls ich Bochum jemals verlasse, dann nur für Hamburg, Wien oder San Francisco. I’d like to thank the academy (academy, academy).

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Unterwegs

Via con me

Mein Großvater war nach einem ärztlichen Behandlungsfehler und einer Nahtoderfahrung immer noch nicht aus dem Krankenhaus entlassen, weswegen die zwei Plätze einer seit langem geplanten Pilgerreise in der Karwoche an meinen Vater und mich fielen. Am 7. April 2001 flogen wir von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino, am nächsten Morgen standen wir auf dem Petersplatz, um einer der letzten Palmsonntagsmessen von Papst Johannes Paul II. beizuwohnen. Ich bin das Kind einer Mischehe: evangelisch getauft und konfirmiert, aber durch meinen väterliche Linie auch immer wieder in der katholischen Kirche gewesen, natürlich nie bei der Kommunion. Aus einer merkwürdigen Laune heraus, die exakt zu gleichen Teilen aus Respekt (es gibt ja wirklich mindestens 2000 Dinge, die man an der Katholischen Kirche kritisieren kann, aber: Show können sie!) und Trotz (genau der Papst, dem die Jugendlichen aus Mexiko, Kroatien und Argentinien um uns herum zujubelten, würde neben vielen anderen Dingen niemals erlauben, dass ich als Protestant dieses Sakrament empfange) bestand, beschloss ich an jenem Morgen: Wenn ich jemals zur Kommunion gehe, dann jetzt und hier!

Untergebracht war unsere Reisegruppe in einem Gästehaus auf einem Hügel westlich des Vatikans. Die einzigen anderen Menschen unter 40 waren zwei Geschwister, die ungefähr in meinem Alter waren und mit ihren Großeltern reisten. Weil dies keine Nancy-Meyers-Komödie war, sondern mein Leben, entspann sich weder mit dem Mädchen noch mit dem Jungen eine wie auch immer geartete Romanze.

Der Reiseleiter, ein Dr. Frenger, war Theologe und Kunsthistoriker, sah aus wie die Zeichentrickversion von Inspektor Clouseau und litt sichtlich unter dem Desinteresse der leicht trutschigen Mutter-Tochter-Gespanne, die den Großteil unserer Reisegruppe ausmachten. Weil wir das eher deutsch-rustikal geprägte Mittagessen, zu dem die Gruppe jeden Tag zur Herberge zurückgekarrt wurde, lieber zugunsten eigener Erkundungen und lokaler Küche ausfallen lassen wollten, erkannte er in uns alsbald Verbündete, denen er sich anvertrauen konnte: „Wissen Sie, die meisten Menschen hätten es gerne, wenn man ihnen sagt: ‚Das ist das Kolosseum, das ist alt, das ist eine Ruine und das ist berühmt. Darin waren die wilden Tiere, die Gladiatorenkämpfe und die Christenverfolgung. Gehen Sie mal rum und sehen sich das an. Dahinten gibt es Toiletten und dort ein Café!‘“ Mein Vater revanchierte sich mit der Anekdote, wie er gemeinsam mit einem Freund auf einer Studienreise im Jahr 1981 das damals in Reparatur befindliche Reiterstandbild Marc Aurels auf dem Kapitolsplatz nachgestellt habe, was den beiden ein wenig Ärger mit den Carabinieri, aber auch eine gewisse Popularität in den Fotoalben japanischer Touristen eingebracht hätte.

Ich hatte mir ein kleines Reclamheft mit englischsprachigen Gedichten als Reiselektüre mitgenommen und kam mir, wenn ich abends in der Außengastronomie einer Trattoria, zwischendurch am Rotwein nippend, darin blätterte vor wie Patti Smith, Oscar Wilde oder Christian Kracht. An einem Abend ließen wir uns von einem 70-jährigen Kellner, der einst in Remscheid gearbeitet hatte, wortreich in ein Restaurant quatschen, das die Legende, wonach man in Italien „einfach überall phantastisch“ essen könne, eindrucksvoll Lügen strafte, gleichzeitig aber die neue Grundregel aufstellte, in Zukunft jede Gaststätte sofort wieder zu verlassen, in der deutschsprachige Speisekarten vorgehalten werden.

Ich weiß nicht, wie viele Kilometer wir jeden Tag abgerissen haben, und ich weiß ehrlich gesagt auch nicht mehr, was wir an diesen Tagen alles gesehen haben. Irgendwann fangen sehr alte Bauwerke und Plätze, so bedeutsam sie auch sein mögen, an, einander zu gleichen. Überall gab es viele freilaufende Katzen, Eisdielen und fliegende Händler, die laminierte „Dragonball“-Motive, Kolosseen aus Gips und Bronzeimmitatsfiguren feilboten, denen Feuer aus dem Intimbereich steigen konnte. Ich stand an der Stelle, an der Aldo Moro ermordet im Kofferraum eines roten Renault 4 aufgefunden worden war, und sah den weltschlechtesten Elvis-Imitator, einen Amerikaner in einem „Bowling is not a crime“-T-Shirt, Pantomimen, Straßenmaler und natürlich eine Indiotruppe, die den alten Italoschlager „El Cóndor Pasa“ über die Piazza Navona blies. Ich machte also zum ersten Mal eine Erfahrung, die sich im weiteren Verlauf meines Lebens in New York, London und Amsterdam bestätigen sollte: Man kann sich solchen medial und kulturell überbelichteten Orten nicht nähern, ohne sich heillos zwischen den mitgebrachten Erwartungen und den vor Ort festinstallierten Klischees zu verheddern; man muss das dann einfach annehmen und sich seine eigene Erinnerungen prägen. Ich war bis heute nicht in Paris.

Natürlich hatte ich mir extra für die Reise ein Mixtape aufgenommen, das außer Morcheebas „Rome Wasn’t Built In A Day“ nicht viel Bezug zur ewigen Stadt hatte. Dafür muss ich seitdem bei „Overload“ von den Sugababes immer daran denken, wie wir bei der Besichtigung der Caracalla-Thermen in einen charmanten Landregen gerieten. Am dritten Abend saß am Nebentisch der Hamburger Regisseur Fatih Akin und berichtete seinem italienischen Begleiter auf Englisch von seinem nächsten Filmprojekt — ich kam mir als 17-jähriger Kino-Fan wahnsinnig investigativ vor, hatte nur leider damals keinen Kanal, auf dem ich diesen brandheißen Gossip hätte teilen können. Als sich Akin eine Zigarette anzündete und erst dann nach einem Aschenbecher umschaute, sah ich meine Chance gekommen, stellte ihm hektisch ein Exemplar von einem anderen Nebentisch vor die Nase und verwickelte ihn so in ein sehr herzliches, kurzes Gespräch, in dessen Verlauf er mich zu den Dreharbeiten einlud. Ich habe erst sehr viel später verstanden, dass ich ihm in diesem Moment vielleicht wenigstens meine Kontaktdaten hätte aufschreiben sollen. Schließlich wurde „Solino“ nämlich zu weiten Teilen in Duisburg und damit quasi in der Nachbarschaft gedreht.

An Gründonnerstag, also kurz bevor es mit den Feierlichkeiten so richtig losging, verließen wir die Stadt. In besonderer Erinnerung blieb mir noch, dass der Wirt in dem kleinen Bistro, wo wir die letzte Cola tranken, sowohl das Glas als auch die Zitronenscheibe kurz unter fließendem Wasser abspülte. Warum auch immer. Den Ostersegen des Papstes holten wir uns dann wieder vor dem heimischen Fernseher ab — da gilt er ja auch, wenn man’s live guckt, sagt meine Oma.

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Leben Unterwegs

Another Decade Under The Influence: 2018

Dieser Eintrag ist Teil 9 von bisher 10 in der Serie Another Decade Under The Influence

2018. Die Beerdigung meines Großvaters artet zu einem fröhlichen Besäufnis aus („Hätte ihm gefallen!“). Dienstreise nach Hamburg: Nach all den Jahren zum ersten Mal im alten Elbtunnel und in der Thai Oase. Wir legen uns einen eigenen Gemüsegarten an. Wichtig rumstehen beim Grimme Preis. Ein neues iPhone nach sechs Jahren. So viele Ausflüge mit der Straßenbahn und dem Laufrad. Viel Zeit mit meiner Oma in Dinslaken, viel Zeit im Garten. Kann sein, dass das Ende bevorsteht / Leb’ mein Leben wie Anthony Bourdain. Michalis Pantelouris holt mich zum JWD und ich darf nach über zehn Jahren mal wieder Musikjournalismus machen! ESC in Lissabon: Nach all den Desastern der letzten Jahre singt uns Michael Schulte auf Platz 4! Die erste Lucky & Fred Liveshow — zurück auf den Brettern, die die Welt bedeuten! Fuck it all / We killed it tonight. Endlich Tipp-Kick und Minigolf spielen mit dem Kind. Schweden schafft es bis ins WM-Viertelfinale, der größte Triumph seit 24 Jahren. Der erste richtige Kindergeburtstag. Eine Woche Berlin mit dem Kind, allen fahrenden U-Bahn-Linien und den ganzen guten Leuten, die ich in dieser Stadt so kenne. But if you crash and nobody sees / Just remember there will always be / A room for you in my house in the trees. Ein Ausflug nach Arnhem. Immer wieder kettcar und Backstage-Bier. Ananas ernten in Herne, Halloween im Tierpark. I’m just curious, is it serious? Mit U- und Straßenbahnen zur Martinikirmes nach Dinslaken (Recherche für meine große Ruhrpott-Reportage). People love, people leave, people let down / People show up, roll up, people grow up. Das Kind und ich basteln gemeinsam Weihnachtskarten, die das Kind dann unterschreibt. „Last Christmas“ singen mit Frau Ado und den Goldkanten, „Schöne Bescherung“ gucken im Freundeskreis. Silvester mit dem Kind und Kinderfeuerwerk.

Ein Jahr, das eigentlich viel besser war, als es sich in dem Moment anfühlte. Ein Jahr, in dem ich so viele Dinge wieder gemacht habe, die ich seit Jahren nicht mehr gemacht hatte — und die so viel Bock gemacht haben! (Mein einziger Ratschlag fürs Leben: Macht mehr von den Dingen, die Euch glücklich machen!) Und das Jahr, in dem ich nach dem ESC in Lissabon geblieben bin, um mit dem Kind und seiner Mama noch ein paar Tage Urlaub zu machen. Nicht „wie eine richtige Familie“, sondern als richtige Familie! It’s not the song, it is the singin’.

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Musik Unterwegs

Luki Waits

Ich hab das Gefühl, ich hab das alles schon tausendmal erzählt:

Wie ich 1999, als ich Ben Folds Five gerade für mich entdeckt hatte, nicht zur “Rolling Stone Roadshow” gefahren bin, weil ich dachte, die Band würde schon demnächst mal wieder nach Deutschland kommen. Und wie sich die Band dann ein Jahr später aufgelöst hatte.

Wie im Jahr 2001 das erste (offizielle) Soloalbum von Ben Folds erschien und ich das Releasedate schon Monate vorher groß im Kalender markiert hatte: den 11. September.

Wie ich an einer Online-Petition teilnahm, die Ben Folds mit seinen damaligen Begleitmusikern im Jahr 2005 endlich wieder nach Deutschland brachte.

Wie Ben Folds Five im September 2008 tatsächlich ein einzelnes Reunion-Konzert spielten, das blöderweise in Chapel Hill, NC stattfand. Und wie sie dann im vergangenen Jahr doch noch ankündigten, wieder zusammen ein Album aufzunehmen und auf Tour zu gehen.

“The Sound Of The Life Of The Mind” ist tatsächlich ein sehr gutes Album geworden, nicht nur gemessen an meinen (zugegebenermaßen sehr niedrigen) Erwartungen und meinem Fandom, sondern einfach ein sehr gutes Album. Im Sommer waren die ersten Festival-Auftritte der wiedervereinten Band auf YouTube zu sehen, dann kamen die Tour-Termine raus — auf denen Deutschland fehlte. Aber nach 13 Jahren Warten haben Ländergrenzen, Kosten und abwegige Ideen völlig ihre Bedeutung verloren, so dass ich mir nur noch Begleitung suchen musste und dann Flug nach, Hostel in und Konzerttickets für Manchester gebucht habe.

Ben Folds Five im O2 Apollo Manchester

Manchester ist keine Stadt, die einen mit Schönheit überwältigt. Mit Hässlichkeit allerdings auch nicht. Je mehr ich in Deutschland und der Welt rumkomme, desto mehr verschwimmen all dieses Städte sowieso vor meinem geistigen Auge zu einer bzw. zweien — einer deutschen und einer internationalen. In der internationalen gibt es dann Läden wie HMV und Waterstone’s und in ihren Supermärkten kann man HP Sauce und Schokolade von Cadbury kaufen und was braucht der Mensch eigentlich mehr?

Außerdem waren wir ja eh primär aus einem Grunde in der Stadt. Ich war in den Tagen vor dem Konzert nicht aufgeregt, es war nicht so wie als Teenager, als ich Tage vorher nur noch die CDs der auftretenden Bands gehört habe und mit Herzklopfen in den Zug gestiegen bin, selbst wenn es zum Konzert von Slut nach Dortmund ging. Aber in der Nacht vor dem Konzert habe ich dann doch von zwei Ben-Folds-Five-Songs geträumt. So was war mir noch nie passiert.

Viel zu früh standen wir letztlich vor den noch verschlossenen Toren des O2 Apollo, das sich große Mühe gegeben hatte, die tatsächlichen Zeitpunkte für Einlass und Konzertbeginn geheim zu halten. Eine weitere Stunde fiel der Vorband und Umbaupause zum Opfer: Ich habe vor Ben Folds’ Solokonzerten bisher immer nur Acts gesehen, die bestenfalls okay waren, häufig auch sehr speziell. Aber so anstrengend wie Bitter Ruin war tatsächlich noch keiner von ihnen gewesen. Aber was sind 25 Minuten Gekreische gegen 13 Jahre?

Gut. Diese verdammten 13 Jahre bedeuteten natürlich auch, dass ich mir vorher schon sicher sein konnte, dass das Konzert meine Erwartungen nicht würde erfüllen können. Also: Meine Erwartungen von damals. Heute hatte ich ja irgendwie keine mehr. Als Ben Folds, Robert Sledge und Darren Jessee die Bühne betraten, war das dann auch kein “Endlich!”-Moment mehr. Es war einfach der Beginn eines Konzertes. Aber eines guten.

Ben Folds Five im O2 Apollo Manchester

Die Setlist war klug zusammengestellt, die Band definitiv in Spiellaune. In einzelnen Momenten drohten Songs rhythmisch aus dem Leim zu gehen, obwohl die drei eigentlich Top-Musiker sind, aber die Harmoniegesänge waren in jedem Moment grandios und zählten sicher zu Besten, was es in dem Bereich seit Ende der Sechziger gegeben hat. ((Vergessen Sie Mumford & Sons, vergessen Sie Fleet Foxes!)) Neue Songs (gleich sieben) wechselten sich mit alten Hits ab, aus Folds’ Solophase gab es nur “Landed” zu hören, bei dem sich Bassist Robert Sledge und Schlagzeuger Darren Jessee etwas zurückhaltend zeigten.

Als ich dann “Brick” zum ersten Mal in meinem Leben live hörte, stellte sich tatsächlich ein kleiner Gänsehautmoment ein. So ein gestrichener Kontrabass wirkt quasi direkt auf die kleinen Härchen auf den Armen und im Nacken und das vermutlich schönste Lied, das je über eine Abtreibung geschrieben wurde, tut natürlich sein Übriges. Beinahe erwartbar improvisierten die Drei spontan den Song “Rock This Bitch In Manchester”, dessen Text so bescheuert war, dass sogar Folds beim Singen lachen musste. Und die Bläser-Passage aus “Army” können aufmerksame Konzertbesucher inzwischen natürlich im Schlaf mitsingen.

Nach 113.976 Stunden des Wartens und ziemlich exakt zwei Stunden Konzert war dann Schluss — für Ben-Folds-Verhältnisse etwas früh, aber – hey! – auch das ist England. Dann eben kein “Magic”, kein “Philosophy”, “Don’t Change Your Plans”, “Eddie Walker”, “Lullabye” oder “Away When You Were Here”, der beste Song des neuen Albums. Es war ein wirklich tolles Konzert, aber wirklich besonders hat es sich für mich dann leider doch nicht angefühlt. So ist das also, wenn man sich die Spielzeugeisenbahn zum 50. Geburtstag endlich selbst kauft.

Am nächsten Tag zeigte sich dann wieder einmal, wie nutzlos das Internet sein kann: Während wir in Manchester via Facebook-Timeline ausführlich darüber informiert wurden, dass die Zeitschrift “Brigitte” irgendetwas über Skateboards geschrieben hatte, ((Leute, jetzt mal im Ernst: Get. A. Fucking. Life.)) war irgendwie völlig an uns vorbeigegangen, dass Ben Folds am Mittwoch seine einzige Fotoausstellung während der gesamten Tour eröffnet hatte. In Manchester. Mit Band. In einer Galerie, zwei Blocks vom Hostel entfernt.

Story of my life.

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Unterwegs Digital

Ich will Dich treffen, wo es am schönsten war

New York, NY

Facebook macht mein Internet kaputt. Wann immer mir etwas halbwegs besonderes widerfährt oder ich etwas tolles entdecke, poste ich das bei Facebook und dann ist gut. Deswegen verwaist dieses Blog langsam aber sicher und wird nur noch befüllt, wenn sich bei mir genug negative Energie angesammelt hat. Das ist nicht gut.

Markus Herrmann alias Herm, der uns zum Beispiel das Oslog und das Duslog so schön tapeziert hat, war letzte Woche in New York. Er hat ungefähr alles, was er dort erlebt hat (dachte ich zunächst, waren aber nur zehn Prozent dessen), bei Facebook geteilt, sich hinterher aber auch noch die Mühe gemacht, das ausführlicher im Blog zu beschreiben.

Er war in zahlreichen Fernsehstudios, bei Google, an jeder denkbaren Touristenattraktion und hat Mark Hoppus, Conan O’Brien und Elmo aus der Sesamstraße getroffen. Ihm sind die unglaublichsten Dinge passiert und man sieht beim Lesen förmlich, wie er da mit großen Augen durch die Gegend tappst.

Womöglich finde ich das alles besonders toll, weil ich Herms Begeisterung für Popkultur und die USA teile (letzteres ein bisschen eingeschränkt, aber – love them or hate them – irgendwie kann man sich dem ja nicht entziehen) und ich fast auf den Tag genau fünf Jahre vor ihm in New York war und vieles ganz ähnlich erlebt habe.

In jedem Fall wäre es viel zu schade, wieder nur auf den “Gefällt mir”-Button zu klicken. Deswegen seien Ihnen die Einträge aus New York ausdrücklich auch hier im Blog empfohlen:

Herm in New York

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Leben Unterwegs

Vandalen auf der Durchreise

Gerade im Regionalexpress die vielleicht beste Durchsage ever gehört:

Verehrte Fahrgäste, wir wissen selbst, dass das heute alles etwas bescheiden ist, aber leider hatten wir heute auf dem Weg von Aachen nach Hamm eine Schulklasse im Wagen 3, die die Sitze aufgeschlitzt und mit Flüssigkeit übergossen hat. Wir musste den Wagen deswegen leider abschließen.

Der Rest der Durchsage ging im Gelächter der Fahrgäste unter.

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Leben Unterwegs

Broder und ich

Ich hatte mir ehrlich gesagt gar keine großen Gedanken gemacht. Meine Freunde hatten mich gewarnt und mir wertvolle Tipps gegeben. Man könne ja ständig im Fernsehen sehen, wie das endet. Dabei sollte ich doch nur mit Henryk M. Broder diskutieren.

Die Freischreiber, der Berufsverband freier Journalisten, hatten mich zu ihrem Kongress eingeladen und weil ich es immer lustig finde, wenn sich Journalisten ausgerechnet von mir etwas erzählen lassen wollen, und der Kongress in Hamburg stattfand, habe ich zugesagt.

Neben Henryk M. Broder und mir saßen noch der frühere Politberater und heutige Blogger Michael Spreng und die frühere “Bunte”-Chefredakteurin und heutige Bloggerin Beate Wedekind auf dem Podium, das im Wortsinne keines war, weil wir genauso hoch saßen wie die Zuhörer. In unserer Mitte saß Gabi Bauer, die die Diskussion moderieren sollte und erstes diplomatisches Talent präsentierte, als sie Broder und mir die jeweils äußeren Plätze in unserer kleinen Sitzgruppe zuteilte.

Vor Beginn der Diskussion führte ich ein bisschen Smalltalk mit den Frauen Bauer und Wedekeind und Herrn Spreng, der übrigens riesengroß ist. Henryk M. Broder gab ich nur kurz die Hand, aber er ist so klein, wie er im Fernsehen immer aussieht und trägt ein Herrenhandtäschchen bei sich. Die Raumtemperatur sinkt allerdings nicht, wenn er neben einem steht, und es wird auch nicht plötzlich dunkel.

Thema der Diskussion sollte Leserbeteiligung in allen Formen sein und wir vier sollten verschiedene Positionen einnehmen. Ich erzählte also, wie wichtig die Leserhinweise unserer Leser beim BILDblog sind und hörte, wie ich die gleichen Beispiele abspulte wie bei ähnlichen Veranstaltungen, zu denen ich gelegentlich eingeladen werde. Es ist mir schleierhaft, wie Schauspieler, Musiker und Politiker Interviewmarathons und Talkshow-Touren überstehen können, ohne vom Wahnsinn oder vom Selbsthass aufgefressen zu werden. “Wir haben bei Coffee And TV mit acht Autoren angefangen, was den Vorteil hatte, dass jeder Text schon mal mindestens sieben Leser hatte …” Sicherer Lacher. Letztlich sind wir alle kleine Mario Barths.

Henryk M. Broder ist noch ein bisschen mehr Mario Barth, nur dass seine todsicheren Lacher nicht “Schuhe” heißen, sondern “Konzentrationslager” — die Reaktionen sind allerdings auch kein hysterisches Gekicher, sondern so ein dumpfes “Hohoho”. Broder aber war am Samstag nicht in Form: Sein Geätze wirkte halbherzig, seine Polemik von sich selbst gelangweilt, er brauchte ganze 25 Minuten, bis er bei Hitler angekommen war. Twitter und Facebook fände er schrecklich, erklärte Broder, ohne eines von beidem mit einem KZ zu vergleichen, und irritierte damit Beate Wedekind, die sich sicher war, bei Facebook mit ihm befreundet zu sein. “Das bin ich nicht!”, machte Broder deutlich und stiftete damit allgemeine Heiterkeit.

Es war eine angenehme Gesprächsatmosphäre, in der jeder jedem irgendwann mal beipflichten oder müde den Kopf schütteln musste. Jeder konnte ein bis zwei große Lacher landen. Gabi Bauer leitete die Runde charmant und interessiert und nahm sich Zeit für jeden. Kurzum: Als ARD-Talkshow wären wir ein völliges Desaster gewesen. Allein der Erkenntnisgewinn war vergleichbar niedrig. Wenn wir noch Zeit gehabt hätten, ein Fazit zu ziehen, hätte es vermutlich lauten müssen: Ja, Leser sind die Hölle — und das Größte, was wir haben. Das kann ja nun wirklich jeder Sportler oder Künstler über die eigenen Fans sagen, jeder Politiker über die Wähler und alle Eltern über ihre Kinder.

Entsprechend ratlos war ich, als mich ein junger Mann anschließend inständig bat, ihm doch mitzuteilen, was ich aus der Veranstaltung denn nun mitnähme. Gabi Bauer, Beate Wedekind und Michael Spreng lesen jeden Tag etwa vier Tageszeitungen, was ich erstaunlich finde, Beate Wedekind verbringt viel Zeit in Facebook, was Michael Spreng erstaunlich findet, und Gabi Bauer sieht sich unter dem Namen einer Freundin bei Facebook um, was nun wirklich alle erstaunlich fanden. Henryk M. Broder hatte schlecht zu Mittag gegessen.

Mein Blutdruck bekam an diesem Tag aber doch noch Gelegenheit, besorgniserregend zu steigen. Aber da standen wir alle um das iPhone von Jens Weinreich herum und guckten auf die Bundesliga-Ergebnisse.

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Musik Unterwegs

Camp Indie Rock

– von Tommy Finke –

DONNERSTAG
Großzügigerweise habe ich mich als Fahrer angeboten und nehme meinen Teil der Reisegruppe Haldern 2010 vom Bahnhof Bochum aus mit.

Während Rosa und Marie beide vorne Platz nehmen, nehme auch ich vorne Platz. Die Vorzüge eines Bandautos: 3 Sitze in der ersten Reihe. Marie hat ein iPad eingepackt, ich muss darüber ein wenig lachen, bin aber eigentlich neidisch. Ihr Ziel beim Haldern ist medientechnischer Natur: Sie hat einen der begehrten Fotopässe. Mit Rosa war ich 2008 schon mal auf dem Haldern. Und ich freue mich, dass sie diesmal wieder dabei ist! Die Fähigkeit, sich über Tage fast ausschließlich von Rotwein und Musik zu ernähren, macht Rosa zu einer perfekten Fetivalbesucherin. Und zu einem medizinischen Wunder.

Unser Zeltplatz ist, einmal angekommen, leicht abschüssig, dafür haben wir aber in alle Richtungen nette Nachbarn. Wir verzweifeln an Maries Zelt, aber der Hinweis, man könne zumindest mal versuchen, alle Stangen mit der gleichen Nummer ineinander zu stecken, ist ausschlaggebend. Inzwischen ist auch Christoph mit Sophie angereist.

Ich spiele den Realisten und öffne das erste Dosenbier. Das ist hier schließlich kein Kindergeburtstag und wir haben schon deutlich nach 16 Uhr. Alle wollen wir zwar Seabear im Spiegelzelt sehen, aber die Schlange ist schon um 18 Uhr so lang, dass wir uns entschließen, nochmal kurz zurück zum Zeltplatz zu gehen und, nunja, vorzuglühen. Ich stolpere an Foto-Gerrit vorbei, meine einzige feste Haldern-Freundschaft. Gerrit ist berühmt geworden mit einer Ausstellung über die Fotos der Schuhe der Stars: “Dancing Shoes”.

Gerrit macht den Vorschlag, mich am nächsten Tag zu fotografieren, aber wie jedes Jahr kriegen wir es überhaupt nicht hin, uns zu einer festen Uhrzeit irgendwo zu treffen, obwohl wir uns die nächsten 3 Tage immer wieder begegnen. Ganz so schlimm ist das dann aber doch nicht nicht, Gerrit hatte in Zusammenhang mit der Fotosession das Wort “nackt” gebraucht. Ich hoffe, das liegt an seinem letzten großartigen Projekt, ein Herz geformt aus nackten Festivalbesuchern beim Melt.

Wir anderen gehen zurück zum Zeltplatz, den wir für heute dann nicht mehr verlassen, denn auch später berichten unsere Spione von undurchdringlichen Menschenmassen an und ums Spiegelzelt. Uns ist das egal, die Christophsche Einkaufswut beschert uns Grillgut und Gin-Tonic. Zusätzlich ist Nacht der Sternschnuppen und so gucken wir alle stundenlang in den Himmel. Irgendwelche leicht zu begeisternden Leute rufen bei jeder Sternschnuppe “Oh!” und “Ah!”, wir bleiben still, weil wir das nicht für Feuerwerk halten, sondern für etwas Größeres. Ich bin gerührt, weil ich jede Sternschnuppe zweimal sehe.

Aus einem nahen Zelt dringt ein schwäbelndes Stöhnen. Das Prinzip “Wenn ich sie nicht sehe, dann hören sie mich auch nicht”, hat wieder nicht funktioniert.

Haldern Pop 2010

FREITAG
Am nächsten Morgen habe ich einen Geschmack im Mund, der Tote umbringen könnte. Ich nehme mir vor, diesen Abend dringend die Zähne zu putzen, bevor ich ins Zelt steige. Marie ist schon wach und macht Kaffee.

Heute ist der Tag, an dem wir mindestens Delphic und Mumford & Sons sehen müssen. Außerdem gibt es auf dem Programm heute ein Fragezeichen und es ging das Gerücht rum, dass es sich um Belle & Sebastian handeln könnte. Aber nein, es kommt anders, und zwar in Form von: Philipp Poisel. Die Leute: nicht begeistert. Was für ein unangemessener Ersatz für die gedanklich schon gebuchten Belle & Sebastian. Da hätte ja gleich ich spielen können. Selbstreflexion, meine Damen und Herren.

Ein paar hundert Meter weiter hatte ich gestern schon Teile der Fog Joggers und Oh, Napoleon getroffen. Ja, meine Damen und Herren, hier campen die kleinen Künstler noch selbst. Ich beschließe, nochmal rüberzugehen und hallo zu sagen. Sophie schließt sich mir an, da auch sie dort jemanden (“Frederik!!!”) kennt. Jan von den Fog Joggers hat mein Album dabei, er mag es. Dass ich die Fog Joggers EP so richtig großartig finde, behalte ich für mich, damit es ihm nicht zu Kopf steigt. Sophie hat inzwischen Frederik am Rande der Joggers-Gruppe ausfindig gemacht. Er liegt auf dem Boden mit einem T-Shirt über seinem Kopf, verkatert und apathisch. Einmal aufgewacht, stellt er sich als sympathischer Kerl heraus, lacht über wirklich jeden meiner bekanntermaßen schlechten Witze. Ich überlege, ihn zu adoptieren oder zumindest anzustellen.

Sophies Freundin Lisa reist auch noch an und hat ein Sagrotan-Arsenal eingepackt, das manche Klofrau neidisch machen dürfte. Dass Sie Ihren Hund Treu nicht mitnehmen durfte, findet sie doof. Außerdem wirkt sie augenscheinlich etwas irritiert, wie die Leute hier so leben. Der Grund dafür ist schnell gefunden: Es ist, mit 28 Jahren, ihr allererstes Festival.

Die arme Lisa! Wir beschließen, Ihr alles wichtige über das Haldern Pop beizubringen und gehen zusammen zum berühmten See zum Schwimmen. Ich selbst war da zwar bisher auch noch nie drin, ist aber auch erst mein viertes Haldern. Dass jedoch Christoph nach knapp 10 Jahren Haldern noch nie in dem See schwimmen war, finde ich bemerkenswert. Immerhin ist der See umsonst, die Duschen kosten Geld. Sie verstehen? Eben.

Björn und Frederik schwimmen nicht nur, sie haben auch Bier mitgebracht. Für Im-See-trinken. Ich habe aus Fuß-Aufschlitzungsangst meine Gummistiefel an. Beim Schwimmen. Zur Badehose sieht das scheiße aus, aber das hier ist ja kein Modewettbewerb.

Wir machen uns den Spaß und gucken uns Philipp Poisel an. Nun ja. Das Fragezeichen bleibt eines. Mir fällt auf, dass der Keyboarder, der übrigens schwäbelt, nicht richtig zu hören ist. Schade. Ich bin da etwas altmodisch: Ich mag meine Instrumente hörbar. Ansonsten schwankt der Auftritt irgendwo zwischen Xavier Naidoo und Madsen. Zumindest nicht meine bevorzugten musikalischen Eckpunkte.

Während Philipp noch vor sich hin poiselt, besuchen wir das Spiegelzelt, und irgendwie passiert das Unglück: Die Zeit ist zu schnell vergangen! Als wir auf die Uhr sehen und zur Hauptbühne hechten, spielen Delphic gerade ihr letztes Lied. Ich beiße mir in den Arsch, denn was ich sehe und höre ist die großartigste Indie-Electro-Explosion seit Langem. Da könnt Ihr Euch mal alle umgucken, Ihr Zoot Women. Ich bin trotzdem hin und weg, das hat mir wirklich gut gefallen. Delphic. Scheiß Name, geiler Sound.

Diesmal sind wir schlauer und bleiben an der Hauptbühne. Denn es folgt die Band der Stunde: Mumford & Sons, liebevoll in Manfred & Söhne umgetitelt von … nunja. Muss ich zur Band noch was sagen? Ich mag die wechselnden Instrumente, von der Seite sehe ich nicht genau, wer wann singt. Später sagt man mir, der Sänger hätte auch getrommelt. Ich muss an Phil Collins denken, erschieße mich aber innerlich dafür. Was für eine Band! Diese folkige Melancholie, diese holzige Euphorie. Gänsehaut, Tränen in meinen Augen. Und zack: vorbei.

Als Beirut folgen versuche ich, einen akustischen Filter in meinem Kopf zu formen, der aus Beirut wieder Mumford & Sons macht. Gelingt mir nicht, aber Beirut sind auch klasse. Vielleicht etwas undankbar, die armen hinter dieser Kracherband auf die Bühne zu schicken.

Aber abgesehen davon: ein wirklich ausgelassener Freitag auf dem Haldern Pop. Für mich persönlich noch von der Tatsache veredelt, dass ich auf dem Boden 20 “Poptaler” finde, die Halderner Währung für die Getränke. Wenn man den Pfand für sich selbst abzieht (und den scheiß Becher nicht verliert), kann man gut und gerne 9 Bier dafür eintauschen. Hurra.

Haldern Pop 2010

SAMSTAG
Diesmal gehen wir eher auf das Gelände, weil wir gerne Portugal. The Man sehen möchten. Schaffen wir sogar. Tolle Band, sind an diesem Tag aber sehr Riff-lastig. Ich selbst hasse ja Riffs, weil ich so ein schlechter Gitarrist bin und mir beim zuhören immer die Noten in den Kopf fliegen und mich daran erinnern, dass ich üben sollte. Mach ich vielleicht mal. Der Auftritt macht auf jeden Fall Spaß und Sophie hat Seifenblasenzeugs dabei, welches wir einsetzen. Und – oh naturbelassenes Haldern Pop – eine majestätische Libelle lässt sich neben der Bassbox nieder, während ein Security-Mitarbeiter die Unterseite seiner Arme in die Sonne hält. Nicht aus Freude am Bräunen, sondern aus gesundheitlichen Gründen: Die Oberseite sieht schon genießbar aus. Möglicherweise hat der Geruch die Libelle angelockt.

Sophie und ich schaffen bei Everything Everything im Spiegelzelt wieder nur das letzte Lied. Aber auch diese Band schafft es, mich mit dem letzten Lied komplett zu überzeugen. Das Delphic-Phänomen. Scheiß Name, geile Band. Ich ärgere mich, dass ich nie das letzte Lied von Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs gesehen habe.

Irgendwann dann The Low Anthem im Spiegelzelt. Ich habe inzwischen einen toten Punkt erreicht und finde, dass die Band klingt wie das Simon & Garfunkel Album, das ich manchmal im Auto höre. Ich schlafe im Stehen ein. Das wirkt repektlos, soll aber die Band nicht schmälern. Countryesquer Folk. Oder sowas. Naja, ich brauche frische Luft und hänge draußen rum. Hier und da wieder bekannte Gesichter: Sven, ein Fotograf aus Bochum, Gerrit natürlich (“Tommy, später aber Fotos, ne?”), Manuel von den Wedges. Ein bisschen wie ein kleines Dorf. Hier sollte man keine Dummheiten machen, da weiß jeder gleich Bescheid. Und dann tuscheln die Nachbarn.

Efterklang werden mir als Sigur-Rós-Verschnitt schmackhaft gemacht, enttäuschen aber in dieser Hinsicht gewaltig. Das ist das Problem mit großer Erwartungshaltung: Mit dieser Band werde ich heute nicht mehr warm. Ich nutze meine letzten Fund-Poptaler und gebe eine Runde. Christoph hat von seiner Oma 50 Euro Taschengeld mitbekommen!!! Obwohl das einen tiefen Eingriff in die adulte Selbstversorgungspflicht darstellt. Er weiß um seinen Stellenwert als Gruppenbetreuer und kauft davon Poptaler. Als ihm klar wird, dass er davon weder Essen noch sonstwas, sondern nur Bier und Wein kaufen kann, ist es bereits zu spät. Der Poptaler ist wie das Spielgeld in Disneyland, er regt zum Konsum an.

Und dann endlich irgendwann: The National. Erst denke ich, dass da irgendwas Interpol-ähnliches auf mich zukommt, aber schnell wird klar, dass diese Band komplexer ist. Irgendwie muss ich zwar die ganze Zeit an Depeche Mode denken, woran der Gesang seinen Anteil hat, aber das würde der ganzen Sache nicht gerecht. Denn The National klingen tatsächlich sehr eigen und interessant, rocken außerdem wie Hölle und haben eine unglaublich stimmungsvolle Lightshow. Marie regt sich später darüber auf, weil ihr das natürlich die besten Fotos versaut: Immer irgendein scheiß Licht in der Kameralinse. Mir ist das egal, ich muss ja nur gucken und glotzen. Wahrscheinlich starre ich inzwischen schon, wenn ich trinke werde ich immer zum Starrer, da ich vergesse zu blinzeln. Bei dieser Band sollte man die Augen sowie so nicht schließen, nicht mal für eine Nanosekunde.

Inzwischen sind die letzten Poptaler bestimmungsgemäß verbraucht und eine gewisse Festivalmelancholie macht sich breit: Wir haben die letzte Band auf der Hauptbühne gesehen. Jetzt ins Spiegelzelt? Undenkbar. Der harte Kern unserer Reisegruppe, Christoph, Rosa, Sophie, Marie und ich, geht zum Zeltplatz und lässt den Abend gebührend ausklingen: Wir singen 90er Jahre Plastikpophits von East 17 und Take That. Weil wir uns nämlich nicht zu fein sind, zu erkennen, dass das in der Retrospektive auch schöne Musik sein kann. Und dann packt Sophie ihr Handy aus und spielt die Musik ab, die mich danach nicht mehr losgelassen hat, massiver als eine der Bands von den Bühnen: Oh, Napoleon. Ironie des Schicksals. Vor zwei Tagen noch am Zeltplatz gesehen und trotzdem vorher gar nicht reingehört. Man sagt ja oft “Die Band kenn’ ich!” und meint “…vom Namen.” Ich auf jeden Fall: begeistert und verstört, weil die doch noch so jung sind und die Sängerin da Sachen raushaut wie ein alter Hase

Der nächste Morgen bringt den ersten grauen Tag. Ist aber auch egal, weil wir jetzt packen und heimwärts fahren. Ich denke darüber nach, den herausragenden Sonnenschein der Halderner Tage als gutes Omen zu deuten, dann fällt mir aber ein, dass ich an so einen Hokus Pokus nicht glaube. Manchmal, ganz selten, stimmen eben alle umgebenden Faktoren so überein, dass für ein paar Tage alles perfekt ist.


Tommy Finke ist 29 Jahre alt, Musiker und lebt in Bochum. Im Februar ist sein Album “Poet der Affen / Poet of the Apes” erschienen.

Für Coffee And TV hat er das Haldern Pop 2010 besucht und seine Eindrücke von Zeltplatz, See und Festival aufgeschrieben. Die Namen der Mitreisenden wurden dafür geändert.

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Musik Unterwegs

Haldern Pop 2010 – A place to come home to

“That will literally blow your mind” sagte Fyfe Dangerfield während seines Auftritts im Spiegelzelt am Donnerstag, als er sich an sein Keyboard setzte. Wie viel Wahrheit in diesem Satz vor allem im Bezug auf die Erlebnisse des Festivalwochenendes stecken würde, konnte ich noch gar nicht ahnen.

Seit 2001 in regelmäßigen Abständen beim Haldern Pop Festival gewesen gab es in jedem Lineup mindestens vier Bands, die ich unbedingt sehen wollte, doch in diesem Jahr war es anders: Ich kannte vielleicht 50% der gebuchten Acts, lediglich zwei standen auf meiner “unbedingt angucken!”-Liste. Trotzdem kein Grund, nicht hinzufahren – in Haldern stimmt eben das Gesamtpaket, selbst wenn das Wetter schlecht ist. Und am Ende hat man einige neue Bands auf seiner Favoritenliste, die da vorher nicht gestanden haben. Dies war auch in diesem Jahr so.

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Musik Unterwegs

Tag 8: Halle

Dieser Eintrag ist Teil 9 von bisher 9 in der Serie Das Simon den Hartblog

Fotogen

Das war’s. Tour vorbei. Das Abschlusskonzert wurde gestern im Objekt 5 in Halle gegeben, ein wirklich fotogener Club. Fotogen waren hier auch wieder die Bands, die trotz, oder vielleicht erst gerade durch den in Berlin davongetragenen Gehirnzellenverlust noch einmal brillante Shows lieferten.

So sollte die Bühne eines Musik-Clubs aussehen.
So sollte die Bühne eines Musik-Clubs aussehen.

Als ich Simon nach der Show frage, ob er mit der Tour zufrieden sei, antwortet er “Oh ja, sehr.“

Vor dem Radiointerview wirken alle äußerst nervös...
Vor dem Radiointerview wirken alle äußerst nervös...
Christian reagiert auf mein ihm zugerufenes HEY.
Christian reagiert auf mein ihm zugerufenes HEY.
Ideal Standard.
Ideal Standard.

Ob alle glücklich und zufrieden sind, zeigt sich an der Bereitschaft noch eine Woche dranzuhängen. Deshalb bin ich hoch erfreut, gestern Abend ziemlich häufig “Och, ich könnte noch ein paar Tage…“ gehört zu haben. An Horse kommen im Juni für ihre eigene Club-Tour nach Deutschland und alle freuen sich auf ein Wiedersehen. Ich habe den Eindruck, die Pferde sind ein wenig überrascht, wie herzlich und gastfreundlich sie überall empfangen wurden.

An Horse.
An Horse.

Ich aber frage mich, worüber schreibe ich morgen. Ich hatte mir schon überlegt mir einfach weitere Konzerte von Simon auszudenken und einen imaginären Blog weiterzuführen. Für euch stellt sich jetzt natürlich die Frage, ob die Konzerte in Berlin und Halle überhaupt stattgefunden haben…

Auch für uns ist nach dem Spiel vor dem Spiel. Simon den Hartog und Band geben ihr nächstes Konzert am 14. Mai in der Werkstatt in Köln.

Simon den Hartog und Band.
Simon den Hartog und Band.

Meine Badewanne schreit meinen Namen lauter denn je. Ich werde ihre Rufe erhören und im heißen Schaum von der nächsten Tournee träumen.

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Musik Unterwegs

Tag 6: Osnabrück

Dieser Eintrag ist Teil 7 von bisher 9 in der Serie Das Simon den Hartblog

Kleine Freiheit

Wir überqueren gerade die ehemalige Deutsch-Deutsche Grenze. Auch wenn die Grenze seit über 20 Jahren nicht mehr existiert, wirkt die Grenzstation der Transitstrecke immer noch gruselig. Man hat die ganze Zeit das Gefühl etwas Verbotenes zu tun und gleich dabei erwischt zu werden. Aus der Grenzstation
einen schicken grauen Rasthof zu machen hat auch nicht viel geholfen.

Gestern waren wir in Osnabrück in der kleinen Freiheit, ein liebevoll eingerichteter Club mitten im industriellen Nirgendwo. Die traumhafte Strandbar des Clubs und tonnenweise Sand können bei 4 Grad aber nicht von unseren dicken Jacken ablenken.

Sekunden vor ihrem Auftritt hätte ich Kate und Damon von An Horse fast im Backstage-Raum eingesperrt. Eigentlich hab ich sie sogar eingesperrt, wurde bei meiner niederträchtigen Sabotage aber zum Glück von einem wachsamen Mitarbeiter erwischt.

Einmal Schlagzeuger, immer Schlagzeuger...
Einmal Schlagzeuger, immer Schlagzeuger...

In Osnabrück passiert es dann endlich, das erste Simon den Hartog und Band Konzert mit der von uns seit Tagen erwarteten Abstemplung und Schubladeneinsortierung. “Die Kilians klingen wie die Strokes und Simon den Hartog klingt wie die Strokes in langsam.“ Und dieser Aussage kann ich nur recht geben, immer wenn ich Lipstick Jungle höre, – zur eigenen Meinungsbildung zu hören auf Simons Seite – muss ich sofort an die Strokes denken, nur eben irgendwie in langsam.

Christoph und Dominic freuen sich auf eine weitere endlose Stunde im Bus.
Christoph und Dominic freuen sich auf eine weitere endlose Stunde im Bus.

Noch 170 Kilometer bis Berlin, Hotelzimmer wurden abbestellt, Partyprogrammplanungen in Auftrag gegeben. Es ist Wochenende und wir mögen Berlin, hoffentlich mag Berlin uns auch. Wenn nicht, kriechen wir heimlich ins Doppelzimmer von An Horse und werden wie treue Fifis am Fußende ihres Bettes
unseren Rock’n’Rausch auschlafen…

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Musik Unterwegs

Tag 5: Düsseldorf

Dieser Eintrag ist Teil 6 von bisher 9 in der Serie Das Simon den Hartblog

Mittwoch, 7. April 2010

Heimspiel

Wir sitzen im sonnigen Biergarten und unser Tourmanager runzelt die Stirn, man sieht Zahnräder in seinem Kopf mahlen und er starrt auf den Bildschirm seines Laptops, als wäre es das Aufgabenblatt einer Mathe-Klassenarbeit. Der Grund: Die Gästeliste ist zu lang. Kein Wunder, denn heute ist Heimspiel. Keiner von uns wohnt in Düsseldorf, doch Düsseldorf ist diejenige Stadt dieser Tour, die unseren Heimatstädten am nächsten liegt. Deshalb wird es auch nicht lange dauern, bis es hier von Freunden von uns und Bandkumpanen anderer Musikformationen Simon den Hartogs wimmelt. Da wirkt die Band direkt viel nervöser, denn heute gilt es zu glänzen, sonst muß man sich die nächsten fünf Jahre auf jeder dritten Party den Schwank über das legendäre Düsseldorfer Konzert anhören, über von der Bühne fallende Sänger, vom Hocker fallende Schlagzeuger, aus der Rolle fallenden Bassisten, Tastenheinis und Gitarristen. Die waren wieder mal alle zu besoffen, heißt es dann wieder, und meistens stimmt das ja auch. Aber besoffen oder nüchtern, gestern wurde geglänzt, keiner fiel von irgendwas oder gar aus der Rolle.

Sonnige Band im sonnigen Düsseldorf.
Sonnige Band im sonnigen Düsseldorf.

Schön, wenn man seinen Liebsten mal zeigen kann, was man den Rest der Woche über eigentlich so treibt.
Deshalb ist das Heimspiel für den Soundmann auch etwas ganz besonderes. In der Heimat wird der Soundmann nämlich auch von hübschen Mädels umringt, als wäre er der Sänger und das Mischpult seine Bühne.

So kam es dann auch, dass ich angeschwipste Mädchen mit 300 PS zurück nach Köln kutschieren durfte. Böse Zungen behaupten, ich wäre der passivste Autofahrer der Welt und wahrscheinlich haben sie recht. Anders kann ich mir die “drück drauf“- und “gib doch mal Gas”-Sprüche meiner Hochgeschwindigkeitsbeifahrerinnen nicht erklären.

Natürlich hab ich mal wieder den größten aller Tourfehler begangen: Beim Verlassen der Wohnung das Bett abgezogen, aber nicht frisch bezogen. Natürlich ist das letzte was man nach fünf anstregenden Tour-Tagen machen möchte, sein Bett beziehen. Dann ist stundenlanges Rumgammeln vorprogrammiert, bis die Müdigkeit die Faulheit besiegt.

Auch wenn morgen der Beginn der Rückrunde besonders hart wird, da ich mein geliebtes Bett, meine Kaffeemaschine und meine Badewanne nach diesem kurzen Intermezzo wieder zurücklassen muss, freue ich mich sehr auf die restlichen drei Shows. Zunächst geht es nach Osnabrück in die kleine Freiheit. Übrigens für den Schlagzeuger Christoph das nächste Heimspiel, der war hier nämlich aufm Gymmi…

Der Soundmann. Nicht im Bild: Hübsche Mädchen.
Der Soundmann. Nicht im Bild: Hübsche Mädchen.