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Musik

Goodbye Trouble

Gestern war ich auf einer Trauerfeier. Und auf einem Klassentreffen. Und auf dem ersten (indoor) Konzert seit drei Jahren. Pale hatten zum One-Night-Only-Konzert ins Kölner Gloria gebeten und die Indie-Crowd, die vor 20 Jahren auf Visions-Partys Smirnoff Ice getrunken hatte, war geschlossen angetreten — mit Mützen über dem lichter werdenden Haar, ohne Trainingsjacken mit Städtenamen drauf und mit nur einem Bier in der Hand, denn man muss ja noch fahren und die Kinder werden so früh wach.

Die erste Welle der Ekstase schwappt schon hoch, als das Licht für die Vorband ausgeht. Pale hatten vage „Gäste“ und „Freunde“ angekündigt und so geht es als kollektive Selbstbestätigung durch, als wir sehen, dass es wirklich Thees Uhlmann ist, der da auf die Bühne schlurft. Doch – behold! – er ist nicht alleine, mit ihm kommt Marcus Wiebusch raus. Das macht Sinn, sind doch das letzte Pale-Album 2006 und das jetzt aber wirklich allerletzte Pale-Album 2022 beim Grand Hotel van Cleef erschienen, dem Label, das die beiden 2002 gegründet hatten und dessentwegen wir uns alle kennen und gute Musik hören. „Gebt dem Nachwuchs eine Chance“, scherzt Thees, dann spielen die beiden sechs Songs aus dem großen kettcar/Tomte/Thees-Uhlmann-Werk. Wir hätten auch 20 genommen, aber sie sind ja nur als Warm-Up hier und bringen das Gloria erfolgreich auf Betriebstemperatur. Leider auch buchstäblich.

Vor dem Pale-Konzert (Foto: Lukas Heinser)

Dann leuchtet der Pale-Schriftzug über der Bühne auf und die Band (oder das, was von ihr übrig ist) betritt unter einem der dicksten Auftrittsapplause, die ich je erlebt habe, das Scheinwerferlicht. Nach dem ersten Song sagt Sänger/Gitarrist Holger Kochs, er habe sich in den letzten Tagen eine lange Ansage ausgedacht und wieder verworfen, denn wir wüssten ja eh alle, warum wir da sind: „Für Christian!“

Christian Dang-anh war der Gitarrist von Pale, „der einzige richtige Musiker innerhalb der Band“, wie die anderen selbst sagen. 2019, zehn Jahre nach der Auflösung der Band, wurde bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert, was die Mitglieder auf die Idee brachte, wieder gemeinsam Musik zu machen. Schlagzeuger und Holgers Bruder Stephan Kochs hatte mit einer eigenen schweren Erkrankung zu kämpfen, dann kam die Pandemie und im Frühjahr 2021 ist Christian leider gestorben.

Aus diesen Sessions und Erfahrungen ist „The Night, The Dawn And What Remains“ entstanden, das wirklich allerletzte Album, dessen Songs heute Abend alle zur Aufführung kommen — neben den ganzen Hits, natürlich, wobei mir irgendwann auffällt, dass es false memory meinerseits war, zu glauben, ich hätte die Musik der Band „schon damals“ „immer viel“ gehört.

Zwischen den Songs sagt Holger so viele kluge Sachen über das Leben und die Gegenwart, die man genießen und feiern solle, dass ich mir denke, dass ich mir die alle merken werde. Jetzt könnte ich natürlich nichts mehr davon zitieren, aber das ist total egal, weil ich ja WEISS, dass er Recht hat.

Sie spielen „Man Of 20 Lives“ für Stephan, der heute nur im Publikum ist. Zu „Bigger Than Life“ werden im Hintergrund alte Videos und Bilder von Christian projiziert und ich denke mal wieder, wie so oft, über Musik: „This is my church / This is where I heal my hurts“. (Maxi Jazz von Faithless ist übrigens im Dezember auch gestorben.) Holger singt – „auch wenn’s pathetisch klingt“ – „Wake Up!“ für seine Kinder und ich stehe da inmitten einer wild zusammengewürfelten Gruppe alter Freunde und Bekannter, jetzt sind wir alle Väter, und ich muss mich gar nicht umgucken, weil ich weiß, dass wir gerade alle Tränen in den Augen haben. Das Publikum weiß auch, wann Holger Unterstützung gebrauchen kann, und umarmt ihn mit langem, frenetischen Applaus. Das Gloria ist heute ein einziger großer Liebeskreis. (Rocco Clein ist jetzt auch schon 19 Jahre tot.)

Beim Pale-Konzert (Foto: Lukas Heinser)

„Still You Feel“, eine Hymne auf die Musik, die einem Zuhause ist, nachdem man die furchtbare Heimatstadt verlassen hat, ist auf dem Album ein Duett mit Simon den Hartog von den Kilians. (Auf dem Popkultur-Altar auf dem Albumcover steht ein Mixtape namens „Hometown Mix“, dessen B-Seite mit „Dinslaken 2002“ beschriftet ist — Simons und meiner alten Heimatstadt und meinem Abi-Jahr. Ich bin mir auch nach Monaten noch nicht sicher, was das mit mir macht.) Und natürlich kommt Simon, den Holger als seine Lieblingsstimme in Deutschland bezeichnet, auch auf die Bühne im Gloria. Und er bleibt noch für einen zweiten Song: „Fight The Start“ von den Kilians. Ich habe diesen Song mindestens 30 Mal live gehört, im Publikum, beim Soundcheck, neben der Bühne — zuletzt vor neun Jahren, ein paar Leben her, und ich bin sehr froh, dass mir die ganze emotionale Bedeutung dieses Moments nicht schon gestern Abend aufgefallen ist, sondern erst jetzt. Durchatmen.

„Someday You Will Know“ („The last song of a band that already played its final show“) wird auf dem Album von einem Saxofon-Solo von Steve Norman von Spandau Ballet gekrönt — und es ist jetzt wirklich keine große Überraschung mehr, dass auch er heute Abend hier ist und mitspielt. (Tatsächlich wäre es auch nur konsequent gewesen, wenn zum abschließenden The-Jam-Cover „Town Called Malice“ Paul Weller zur Band hinzugestoßen wäre. Oder Noel Gallagher. Oder John Lennon, because why the fuck not?) Etwas überraschender ist schon, dass auch er für einen zweiten Song bleibt und wir so in den Genuss kommen, „Gold“ von Spandau Ballet auch einmal live zu hören. You’ve got the power to know you’re indestructible!

Er habe unterschätzt, wie viel 27 Songs sind, meint Holger lachend vor den letzten Zugaben, als er das Publikum bittet, gerne etwas lauter mitzusingen. Drei Stunden stehen sind auch schon ziemlich anstrengend, denke ich. Und drei Stunden Rückweg vom Club zum eigenen Bett haben sich früher auch nicht so schlimm angefühlt. Aber wer hätte gedacht, damals, als man anfing, Musik als etwas wahrzunehmen, was mehr ist als das, was im Radio zwischen den Politik-Beiträgen läuft, dass sie einem mal so viel bedeuten und einen durch schwere Zeiten (und großartige!) begleiten würde, dass sie mal zu Freundschaften führen würde und zu Abenden wie diesem?

This is how it feels when nothing can ever make you stop / This is how it feels when nothing’s wrong.

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Musik

Songs des Jahres 2019

Machen wir’s schnell: Hier sind also 25 Songs, die ich gestern Abend um 21:57:26 in exakt dieser Reihenfolge für die besten des zurückliegenden Jahres hielt!

25. Loyle Carner – Loose Ends
Ich komme ja generell deutlich besser mit britischem Hip Hop klar als mit amerikanischem (oder deutschem, hahaha), aber Loyle Carner ist wirklich besonders gut, weil sein Sound so unglaublich tight und organisch groovend ist, während er traurige Geschichten erzählt.

24. J.S. Ondara – American Dream
Über das Album hab ich schon bei meinen Alben des Jahres geschrieben, hier also der Opener. Was ist der amerikanische Traum in Zeiten, in denen man mit den USA vor allem einen wahnsinnigen Reality-TV-Star verbindet, der irgendwie zum Präsidenten wurde? Hier klingt es fast nach einem Fiebertraum:

23. Maggie Rogers – Light On
Die große Frage bei Maggie Rogers Debütalbum war natürlich: Würde sie es schaffen, nach “Alaska” weitere große Songs zu schreiben? “Light On” beantwortet diese Frage ziemlich eindeutig mit “Ja!” (Bin ich der Einzige, der im Refrain einen Hauch von “Shut Up And Dance” hört?!)

22. Better Oblivion Community Center – Dylan Thomas
Wenn Phoebe Bridgers und Conor Oberst eine Indie-Folk-Supergroup gründen, ist das alleine natürlich schon mal super. Wenn dabei auch noch solche Songs rumkommen: Umso besser!

21. Bear’s Den – Only Son Of The Falling Snow
Ich bin ja immer vergleichsweise spät mit meinen Bestenlisten: Viele Leute und Redaktionen veröffentlichen ihre bereits Anfang Dezember. Sie haben dann womöglich die Drei-Song-Ep verpasst, die Bear’s Den am Nikolaustag veröffentlicht haben — und damit diesen wundervollen Folksong!

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Leben Unterwegs

Another Decade Under The Influence: 2018

2018. Die Beerdigung meines Großvaters artet zu einem fröhlichen Besäufnis aus („Hätte ihm gefallen!“). Dienstreise nach Hamburg: Nach all den Jahren zum ersten Mal im alten Elbtunnel und in der Thai Oase. Wir legen uns einen eigenen Gemüsegarten an. Wichtig rumstehen beim Grimme Preis. Ein neues iPhone nach sechs Jahren. So viele Ausflüge mit der Straßenbahn und dem Laufrad. Viel Zeit mit meiner Oma in Dinslaken, viel Zeit im Garten. Kann sein, dass das Ende bevorsteht / Leb’ mein Leben wie Anthony Bourdain. Michalis Pantelouris holt mich zum JWD und ich darf nach über zehn Jahren mal wieder Musikjournalismus machen! ESC in Lissabon: Nach all den Desastern der letzten Jahre singt uns Michael Schulte auf Platz 4! Die erste Lucky & Fred Liveshow — zurück auf den Brettern, die die Welt bedeuten! Fuck it all / We killed it tonight. Endlich Tipp-Kick und Minigolf spielen mit dem Kind. Schweden schafft es bis ins WM-Viertelfinale, der größte Triumph seit 24 Jahren. Der erste richtige Kindergeburtstag. Eine Woche Berlin mit dem Kind, allen fahrenden U-Bahn-Linien und den ganzen guten Leuten, die ich in dieser Stadt so kenne. But if you crash and nobody sees / Just remember there will always be / A room for you in my house in the trees. Ein Ausflug nach Arnhem. Immer wieder kettcar und Backstage-Bier. Ananas ernten in Herne, Halloween im Tierpark. I’m just curious, is it serious? Mit U- und Straßenbahnen zur Martinikirmes nach Dinslaken (Recherche für meine große Ruhrpott-Reportage). People love, people leave, people let down / People show up, roll up, people grow up. Das Kind und ich basteln gemeinsam Weihnachtskarten, die das Kind dann unterschreibt. „Last Christmas“ singen mit Frau Ado und den Goldkanten, „Schöne Bescherung“ gucken im Freundeskreis. Silvester mit dem Kind und Kinderfeuerwerk.

Ein Jahr, das eigentlich viel besser war, als es sich in dem Moment anfühlte. Ein Jahr, in dem ich so viele Dinge wieder gemacht habe, die ich seit Jahren nicht mehr gemacht hatte — und die so viel Bock gemacht haben! (Mein einziger Ratschlag fürs Leben: Macht mehr von den Dingen, die Euch glücklich machen!) Und das Jahr, in dem ich nach dem ESC in Lissabon geblieben bin, um mit dem Kind und seiner Mama noch ein paar Tage Urlaub zu machen. Nicht „wie eine richtige Familie“, sondern als richtige Familie! It’s not the song, it is the singin’.

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Leben Musik

Another Decade Under The Influence: 2017

2017. Schnee! Meine Oma zieht ins Seniorenheim. Ich habe eine neue Brille, ein „New Yorker“-Abo (plus Stoffbeutel) und eine Therapeutin — jetzt noch ein Cordsakko und ich bin ein echter Ostküsten-Intellektueller! Ein neues Tattoo. Ganz viele Ausflüge mit U-Bahnen, Straßenbahnen und Zügen. Ich entwerfe und baue mein erstes ganz eigenes Möbel! The Ataris, Wanda und Soulwax live. Ostern ohne Eltern, aber mit eigenem Kaffeetrinken. Wir fallen runter wie Glitzer auf Beton / Und malen die Stadt so bunt wie wir eben sind. ESC in Kiew: Dr. Peter Urban ist zum 20. Mal dabei, ich inzwischen auch schon zum achten. Eltern-und-Kind-Turnen, ein Euphemismus für „Eltern die letzte Lebensenergie aussaugen“. Mein MacBook, treuer Begleiter seit Duslog-Tagen, raucht ab. Endlich wieder Stadtpark-Nachmittage! I want a life, that’s all I need lately / I am alive but all alone. Meine Oma verabschiedet sich für immer. I got loyalty, got royalty inside my DNA. Flugzeuge gucken in Düsseldorf. Wie die Starken die Schwachen, die Müden die Wachen / Umarmen, umarmen. Einen ganzen Tag Geburtstag feiern! Ein Familientreffen in Freiburg. kettcar sind zurück — aber sowas von! Wir gehen zur Eröffnung von neuen Stadtbahnhaltestellen und Straßenbahnlinien. Ich hab jetzt lange Haare. Plätzchenbacken und Weihnachtsmärkte. Eine Schneeballschlacht vor der eigenen Haustür. Eine Modelleisenbahn unterm Weihnachtsbaum. An Weihnachten wird klar: Das ist das letzte Mal mit unserem Opa; was keiner ahnt: 96 Stunden später ist er tot. Nobody else will be there then / Nobody else will be there. Einmal Silvester mit Raclette und Bleigießen feiern, wie so ganz normale Erwachsene.

Ein ziemlich okayes Jahr, auch wenn gleich zwei meiner Großeltern gestorben sind. Ein Jahr, das aber auch einigermaßen öde gewesen wäre, wenn meine beste Freundin mich nicht ständig vor die Tür und ins Leben geschleift hätte: zu Phil Collins, ins Stadion, auf die Cranger Kirmes, zu 15 Jahre Grand Hotel van Cleef, an meinem Geburtstag ins Phantasialand und ein Wochenende nach Holland an den Strand. Und nicht eher schlafen, bevor wir hier / Heute Nacht das Meer sehen / Spüren, wie kalt es wirklich ist.

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Gesellschaft Musik Politik Sport

Liebling, ich bin gegen Deutschland

Es ist inzwischen ein paar Jahre her, dass die Münsteraner Band muff potter. einen Song veröffentlichte, in dem sie – vorsichtig ausgedrückt – Kritik übte an einem merkwürdigen neuen deutschen Nationalstolz:

Neue Stimmen und neue Lieder
verkünden: Wir sind wieder wer!
Und wer sind eigentlich wir?
Und ich frag mich: Was zum Teufel wollt eigentlich Ihr?

Der Song heißt “Punkt 9”, ((Benannt nach Punkt 9 auf der Liste der Tourbusregeln der Band: “Klappe halten!”)) klingt “als ob Refused ABBA covern” ((Schlagzeuger Brami, der Mann hat Recht!)) und das bemerkenswerteste daran ist: er erschien schon im Herbst 2005, also fast ein Jahr, bevor “die Welt zu Gast bei Freunden” war und sich Deutschland im “Sommermärchen” “schwarz-rot-geil” ((“Bild”, natürlich.)) fand.

Deutsche Flagge

Ich erinnere mich noch gut, wie ich am Mittag des 9. Juni 2006 mit der Bahn von Bochum nach Dinslaken fuhr und in Duisburg an einer Häuserfront vorbeikam, die voller deutscher Flaggen hing, und dachte: “Holla! Goebbels wäre stolz!” ((Ja, mir war auch damals schon klar, dass Joseph Goebbels über schwarz-rot-goldene Beflaggung vermutlich eher erbost gewesen wäre, aber die kleine Transferleistung können wir schon gemeinsam erbringen, ne?)) Rund fünf Stunden später saß ich bei Schulfreunden im elterlichen Wohnzimmer, Philipp Lahm schoss das 1:0 gegen Costa Rica und für vier Wochen war ich bereit, dem Narrativ eines neuen, “positiven” oder “unverkrampften” Patriotismus zu glauben.

muff potter. bezogen sich damals aber nicht (nur) auf Fußballfans, sondern z.B. auf die Medienkampagne “Du bist Deutschland”, an die sich heute außer ein paar Agenturnasen vermutlich niemand mehr erinnert und die eine “Initialzündung einer Bewegung für mehr Zuversicht und Eigeninitiative in Deutschland” sein sollte — also ein Remix von Roman Herzogs “Ruck”-Rede vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Agenda 2010.

Den Startpunkt für diese “neue deutsche Zeitrechnung” verorteten Sänger/Gitarrist Nagel und Schlagzeuger Brami in ihrem Text “Neunzehnvierundfünzig in Bern” und tatsächlich war “Das Wunder von Bern” 2003 in einem erfolgreichen Kinofilm von Sönke Wortmann noch einmal für die nachfolgenden Generationen aufbereitet worden.

Wenn man “Punkt 9” heute hört, hat man ein bisschen das Gefühl, dass das Lied seiner Zeit nicht nur im Bezug auf den “Party-Patriotismus” voraus war, sondern auch, was Politik angeht:

Mit warmen Visionen von Identität
und der Reflexion auf Nulldiät
wird Geschichte vertauscht, verdreht und umgekehrt
Hysterisch, wer sich da beschwert

“Ja, gab’s denn damals schon die AfD?”, möchte man fragen — und übersieht dabei, dass ein Alexander Gauland damals schon seit über 30 Jahren in der CDU war und in der Union auch Leute wie Peter Gauweiler, Roland Koch, Horst Seehofer, Friedrich Merz und Erika Steinbach zu Verhaltensauffälligkeiten neigten. Merz zum Beispiel hatte im Jahr 2000 mit dem Begriff der “deutschen Leitkultur” für ein großes Hallo in der damals noch jungen Berliner Republik gesorgt. Und der Schriftsteller Martin Walser hatte 1998 in seiner Paulskirchenrede eine “Instrumentalisierung unserer Schande” beklagt und diese als “Moralkeule” bezeichnet und somit eine Blaupause geschaffen für alle noch zu haltenden Reden von Björn Höcke und Alexander Gauland.

Das alles war, nach der Einschränkung des Asylrechts und zahlreichen, mitunter tödlichen Brandanschlägen auf Asylbewerber*innen und Migrant*innen Anfang der 1990er Jahre, ((Übrigens auch in Hünxe und damit ganz in meiner Nähe.)) also das Klima, in dem “Punkt 9” entstand. ((Darüber hinaus hatten die Mitglieder des sogenannten “Nationalsozialistischen Untergrunds” bis zur Veröffentlichung des Songs schon sieben Morde begangen, die aber erst sechs Jahre später als rechtsextrem motiviert eingestuft werden sollten.))

Und es war auch nicht der erste Song zum Thema.

Schon im Oktober 1990 – und damit gerade mal drei Monate nach dem deutschen Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft und drei Wochen nach der formellen Wiedervereinigung – erschien das Album “X für ’e U” (“Ein X für ein U”) der Kölner Band BAP, dessen Opener “Denn mer sinn widder wer” (“Denn wir sind wieder wer”) in hochdeutscher Übersetzung so beginnt:

Wo man hinschaut, nur noch Deutschland,
So penetrant, wie ich es noch nicht kannte,
Als gäbe es sonst nichts mehr, als gäbe es sonst nichts mehr.

Der Song entwickelte zusätzliche und besondere Bedeutung beim Konzert auf dem Kölner Chlodwigplatz, auf dem am 9. November 1992 100.000 Menschen unter dem Motto “Arsch huh, Zäng ussenander” (“Arsch hoch, Zähne auseinander”) gegen Rassismus und Neonazis demonstrierten. ((Die man damals übrigens noch gut erkennen konnte: “Mit deutscher Reichsfahne und mit Bomberjacke”.)) BAP-Sänger Wolfgang Niedecken beschreibt bei diesem Auftritt die Entstehungsgeschichte des Songs, als nach dem deutschen WM-Sieg “die ersten Hirnis mit der Reichskriegsflagge rumfuhren und meinten, sie könnten ihr Süppchen mitkochen”. Diese Formulierung ist – vielleicht ganz bewusst, vielleicht eher aus Versehen – ziemlich gut, weil sie zunächst einmal zwischen Fußball-Anhängern und Neonazis unterscheidet und dann aber doch einen, wenn auch eher parasitären, Zusammenhang zwischen beidem herstellt.

Ich hatte “Denn mer sinn widder wer” wieder im Kopf, als wir nach dem Endspiel der WM 2002, bei dem Deutschland gegen Brasilien verloren hatte, mit unseren Fahrrädern nach Hause fuhren und in der Innenstadt von Dinslaken Menschen mit Deutschlandfahnen rumliefen, von denen einige tatsächlich riefen: “Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!” Es fühlte sich nach Jahren einer gefühlten Entspannung der Lage an wie ein Schlag in die Magengrube — und war im Nachhinein ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.

Während der WM 2010 stand im Bochumer Bermudadreieck ein fast schon Karikaturenhafter Mann mit einer schwarz-weiß-roten Flagge, als wäre es das Normalste der Welt. Die von uns informierte Polizei konnte nichts machen: Die Flagge des Kaiserreiches ist nicht verboten.

Tatsächlich sehen nicht wenige Experten einen mehr oder weniger großen Zusammenhang zwischen dem seit 12 Jahren regelmäßig ausbrechenden “Party-Patriotismus” und dem Aufkommen neuer nationalistischer Strömungen wie der AfD.

Wenn also die Weltmeistertitel von 1954 und 1990 wahlweise Ausgangspunkte oder zumindest Marker eines veränderten deutschen Selbstverständnisses waren: Baby, what did you expect, 2014? ((Bonusfrage: Wie fucking gut muss es Deutschland 1974 trotz vorheriger Ölkrise gegangen sein, dass der WM-Sieg vergleichsweise folgenlos blieb?)) Drei Monate später “spazierte” die Pegida-Bewegung zum ersten Mal durch Dresden. ((Andererseits gibt es diese nationalistischen Tendenzen aktuell fast überall in Europa. Italien, Ungarn und Österreich sind bei der WM gar nicht dabei, Polen und Deutschland haben ihre Auftaktspiele verloren.))

Den Übergang von vermeintlich harmloser Fußballbegeisterung hin zu Permanenznationalismus kann man in einem kleinen Sticker sehen: 2006, als das “Sommermärchen” langsam zu Ende ging, brachte “Bild” einen Aufkleber in Umlauf, der verkündete: “Schwarz rot geil — Wir machen weiter!”. Im Blatt schrieb die Redaktion dazu: “Lassen Sie sich die gute Stimmung nicht verderben, zeigen Sie weiter Flagge!”

Mal davon ab, dass die Deutschland-Besoffenheit von “Bild” schon während der WM alles andere als entspannt und unverkrampft gewesen war (BILDblog berichtete mehrfach), konnte ab hier keiner mehr behaupten, dass es “nur” um Fußball und die Farben einer Mannschaft ging.

Das passende Lied zur aktuellen Lage kommt von kettcar und heißt “Mannschaftsaufstellung”:

Wir bilden eine Mauer, machen alle Räume dicht
Mit einem Populisten, der durch die Abwehr bricht
Ein Stammtischphilosoph am rechten Außenfeld
Die Doppelsechs, die alles Fremde ins Abseits stellt

kettcar-Sänger Marcus Wiebusch hatte Fußball bei seiner früheren Band …But Alive schon öfter als Bildspender benutzt — allerdings im Bezug auf gescheiterte Beziehungen (“Entlassen (Vor der Winterpause)”) und Freundschaften (“Erinnert sich jemand an Kalle ‘del Haye?”). Der Text zu “Mannschaftsaufstellung” stammt vom Bassisten Reimer Bustorff.

Der Refrain kommt dann auf den Punkt:

Und als wir gemeinsam vor dem Radio saßen
Die Aufstellung hörten, unser Abendbrot aßen
Nahmst du meine Hand und sagtest:
“Liebling, ich bin gegen Deutschland”

Der Irrsinn ist nur inzwischen so weit fortgeschritten, dass es angesichts der “Bild”-Kampagne gegen Mesut Özil und der “Ankündigung” der AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel, die deutsche Mannschaft nicht unterstützen zu wollen, inzwischen beinahe eine linke, subversive Position ist, für das deutsche Team zu sein — so wie man angesichts der “Merkel muss weg!”-Rufe aus der ganz rechten Ecke bei der letzten Bundestagswahl ja trotz aller Kritik irgendwie für Angela Merkel sein musste.

Die Musik zum Turnier ist natürlich wieder die übliche Erbauungslyrik mit “Viva La Vida”-Chören, die man leider kaum besser zusammenfassen kann als mit “Menschen Leben Tanzen Welt”. 2018 heißt der Max Giesiniger unter den Andreas Bouranis dieser Welt Adel Tawil und singt in “Flutlicht”:

Im Wind wehen unsere Fahnen, über ein Meer aus unsern Farben
Auf diesen Moment warten wir schon so lang
Wir singen eure Namen, uns’re Lieder soll’n euch tragen
Wir stehen hinter euch wie ein zwölfter Mann

(“Fahnen” waren bei muff potter. und BAP noch Symbole des Bösen, hier sind sie ganz banal Fahnen. Immerhin sind sie nicht hoch.)

Lieder, die mal irgendwie Stellung beziehen, darf man von den aktuellen Popbarden nicht erwarten, da muss man ja schon froh sein, wenn sich mal jemand dergestalt äußert, dass er keine AfD-Anhänger unter seinen Fans haben will. Aber gut: Was will man von Leuten erwarten, die ein Lied singen über den anstrengenden Alltag einer alleinerziehenden Mutter, das dann in der Sentenz “Wenn sie tanzt ist sie woanders” gipfelt? Tanz den Hartz!

Das war Anfang der 1990er Jahre noch anders. Die Prinzen, damals eine der erfolgreichsten deutschen Bands überhaupt, sangen 1992 in ihrem Lied “Bombe”:

Schmierst Du an die Wand eine hohle
Naziparole,
Dann möchte ich …
Wenn Du einen “Kanacke” nennst,
Weil Du seine Sprache nicht kennst,
Dann möchte ich …
Willst Du allen in die Fresse hau’n
Und bist im Kopf schon ganz braun,
Dann möchte ich …
Wenn Du Dir den Schädel rasierst
Und im Gleichschritt marschierst,
Dann möchte ich …

Dieses “Möchten” wird im Refrain so aufgelöst:

Dann möchte ich ‘ne Bombe sein
Und einfach explodieren,
Wenn alle Leute “Hilfe schreien,
Dann würde was passieren.
Manchmal möchte ich zerplatzen und laut knallen
Und alles, was nicht stimmt, würde auseinander fallen.

Im Song gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Dinge, wegen derer das Lyrische Ich gerne “explodieren” würde (“Wenn manche Eltern sich trauen, ihre Kinder zu hauen”, “Wenn Jan das Essen nicht schmeckt und er schmeißt es weg”), die manchmal fast rührend naiv erscheinen. ((Im Fall von “Ruf ich nachts bei Dir an und Du gehst nicht ran” müsste man heute auch mindestens eine #MeToo-Augenbraue heben.)) Jede Menge Minimalpositionen, mit denen man heute als “mutig” oder “kontrovers” gelten würde. Und wenn jemand angeben würde, einen Liedtext gut zu finden, in dem explodiert wird und alles auseinander fällt, müsste er/sie damit rechnen, von Julian Reichelt öffentlich angegriffen zu werden.

Ein weiteres Beispiel für Mainstream-Antifaschismus: Udo Lindenberg mit seinem Song “Panik Panther”, ebenfalls von 1992.

Die Zeiten werden härter,
wir können keinem trauen.
Erst gestern haben so Zombies
schon wieder brutal draufgehauen.
Total blind im Rassenwahn,
zünden sie nachts Häuser an.
Aber wir klären hier in unserer Stadt,
dass kein Skin was zu sagen hat.

Das Lied zählt jetzt weder musikalisch noch textlich zu Lindenbergs bedeutendsten Werken, war aber damals Single und Titeltrack des Albums.

In meiner Kindheit war es gesellschaftlicher Konsens, gegen “rechts” zu sein. Die Nazis waren klarer zu erkennen, zu beschreiben und zu karikieren ((“Glatzen” bei Lindenberg, “Bomberjacke” bei BAP.)) und die Gefahr war vielleicht greifbarer, weil noch groß in den Medien berichtet wurde, wenn mal wieder Häuser brannten. Ich erinnere mich noch gut an diese Nachrichten, die man als Kind natürlich überhaupt nicht einordnen kann, ((Okay: Wie soll man das als Erwachsener?)) und an die Ängste, die ich damals hatte. Der “rationale” Beruhigungsversuch “Bei uns im Haus wohnen keine Ausländer” ist ja nicht wirklich ein Trost, sondern im Rückblick schlichtweg Zynismus.

Heute sitzen Politiker*innen, die sich nicht scheuen, bewusst auf NaziVokabular zurückzugreifen, nicht nur in vielen Parlamenten, sondern sogar in vielen Regierungen. Die diesjährige Fußball-WM, die wegen ihres Austragungsortes schon politisch genug wäre, ist für die Medien nicht mehr nur Eskapismus, Bild- und Identifikationsspender, sondern sie wird direkt mit der von der CSU ausgelösten und am Kochen gehaltenen Regierungskrise verknüpft: “Bild” montiert im Rahmen der inoffiziellen Kampagne “Schade: Immer noch kein Bürgerkrieg” die Maximal-Kritik an Mesut Özil neben die Trump’schen Lügen einer gestiegenen Kriminalitätsrate in Deutschland und suggeriert damit, Nationalelf und Politik seien das gleiche. Wenn Deutschland in der Vorrunde ausscheidet, ist auch die Kanzlerschaft Angela Merkels vorbei.

Das alles macht keinen Spaß mehr. Nicht an Fußball, schon gar nicht an Politik. Aber wenn’s mal so richtig scheiße ist, ist wenigstens noch die Musik da.

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Musik

Songs des Jahres 2017

Frohes Neues Jahr!

Ja, ich weiß, das ist jetzt alles ein bisschen her, aber ich war zwischendurch zum Beispiel zwei Wochen offline und auch sonst immer mal wieder verhindert.

Seit ungefähr Mitte Dezember wollte ich endlich mal wieder eine Jahresbestenliste veröffentlichen, aber das war gar nicht so einfach.

Anders als früher war die Sache nämlich viel schwieriger, weil ich die Liste anders als früher bei Spotify angelegt habe — und damit natürlich viel mehr Auswahl hatte als in iTunes. Außerdem ist diese “Dein Mix der Woche”-Funktion sehr gut und hat mir tatsächlich fast jede Woche mehrere Songs vorgeschlagen, von denen ich sonst vermutlich nie gehört hätte.

Ehrlich gesagt weiß ich deshalb über viele der Songs auch gar nicht so viel: Manchmal habe ich mir die dazugehörigen Alben angehört (manchmal auch öfter), aber nicht immer.

JEDENFALLS: Ich wollte die 93 Songs, die ich an Silvester beisammen hatte, eigentlich auf 50 eindampfen, aber das hätte jetzt noch mal fünf Wochen dauern können.

Deswegen jetzt hier: Ohne große Erklärungen, auch ohne echte Reihenfolge (na ja: die zehn ersten Songs sind schon ungefähr die zehn besten, aber man kann das auch super im Shuffle-Modus hören) — 60 Songs, die mir 2017 gut gefallen haben!

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Musik

Auf der anderen Seite

Wenn wir über deutschsprachige Musik im Jahr 2017 sprechen, können wir natürlich von den weichen Zielen, den pop culture punching bags reden wie Max Giesinger, Mark Forster oder Julia Engelmann. So, wie man US-amerikanische Musik an Shania Twain, Imagine Dragons und den Chainsmokers festmachen könnte. Wäre natürlich nur Quatsch.

Es reicht eigentlich, wenn man nur wenige Millimeter vom Mainstream abbiegt — schon hat man Künstler und Bands, die tatsächlich etwas zu sagen haben. Dieses Jahr z.B. Schrottgrenze, kettcar und Casper.

Heute haben Tocotronic den sog. ersten Vorboten ihres kommenden Albums “Die Unendlichkeit” (VÖ: 26. Januar 2018) rausgehauen:

Mal davon ab, dass ich bei dem jungen Mann in weißer Kleidung und mit langen schwarzen Haaren die ganze Zeit an Andrew W.K. denken musste: gutes Video, das die amerikanische Vorstadthölle 1:1 ins Deutsche übersetzt (so, wie es die Stadtplaner auch schon getan haben), beeindruckender Song, Haltung.

Auch schön: Auf dem aktuellen Bandfoto geht Arne Zank als Steven Spielberg und Rick McPhail als J Mascis.

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Digital Gesellschaft

Straßenbahn des Todes

Dies ist kein Abschied, denn ich war nie willkommen
Will auf und davon und nie wiederkommen
Kein Lebewohl, will euch nicht kennen
Die Stadt muss brennen

(Casper – Im Ascheregen)

Ich hab in diesem Jahr schon mehrfach Social-Media-Pausen gemacht, die “digital detox” zu nennen ich mich scheue: Als mein Sohn Kita-Ferien hatte, wenn wir mal übers Wochenende oder etwas länger weggefahren sind, hab ich Facebook und Twitter einfach ausgelassen. Zum einen, weil die iPhones-Apps im Vergleich zur richtigen Nutzung (ich bin vermutlich der einzige Mensch Mitte Dreißig, für den ein Computer mit Bildschirm, Tastatur und Browser die “richtige” Anwendung ist und ein Smartphone maximal eine hilfreiche Krücke für unterwegs, aber das ist mir – wie so vieles – egal) einfach noch unpraktischer sind (und das will schon was heißen), zum anderen, weil ich gemerkt habe, dass Social Media mir schlecht Laune macht.

Jetzt war ich übers Wochenende am Meer, hab gerade wieder den Laptop aufgeklappt, kurz in Facebook reingeguckt und schon wäre die ganze wunderbare Erholung (Strahlend blauer Himmel, knallende Sonne und 24 Grad Mitte Oktober! 17 Grad Wassertemperatur! In der Nordsee!) fast wieder weg gewesen.

Und dann traf mich die Erkenntnis und ich hatte endlich einen Vergleich bzw. eine Metapher für das gefunden, was mich an Social Media so sehr nervt, dass ich geradezu von “krank machen” sprechen würde: Es ist, als säße man in der Straßenbahn und könnte die Gedanken jedes einzelnen Menschen mithören. Da sitzt ein Mann, der gerade seinen Job verloren hat und nicht weiß, wie es weitergehen soll. Dort ist eine Frau, die gerade auf dem Weg in die Klinik ist: Ihre Mutter hat Krebs im Endstadium. Hier sitzt ein 16-jähriges Mädchen, dessen Freund, ihre erste große Liebe, gerade Schluss gemacht hat und schon mit einer anderen zusammen ist. Und da drüben ein kleiner Junge, dessen Hamster gestern gestorben ist.

Natürlich sitzen da auch welche, denen es gut geht: Eine Familie auf dem Weg in den Zoo. Ein alter Mann, der gerade seinen neugeborenen Urenkel besucht hat und sich gleich eine Dose Linsensuppe warmmachen wird, sein Leibgericht. Eine junge Frau auf dem Weg zum ersten Date — sie weiß es noch nicht, aber sie wird den Mann später heiraten und eine glückliche Familie mit ihm gründen. Doch ihre Gedanken sind nicht so laut, weil sie nicht immer nur um das eine schlechte Ding kreisen, sondern sie entspannt und glücklich in sich ruhen. Eher das Schnurren einer zufriedenen Katze — und damit unhörbar im Vergleich zu dem Geschrei einer Metallstange, die sich in einem sehr großen Getriebe verkantet hat.

Aber mehr noch: Nicht nur ich kann all diese Gedanken hören — alle können einander hören. Und die, die selbst schon völlig durch sind, schreien dann die anderen an: “Sie sind eh unfähig, völlig klar, dass Sie entlassen wurden!”, “Interessiert mich nicht mit Deiner Mutter, jeder muss mal sterben!”, “Dumme Schlampe! Was lässt Du Dich auch mit so einem Typen ein? Schlechter Männergeschmack und keinerlei Menschenkenntnis!”, “Hamster sind eh hässlich und dumm!”

Das ist kein Ort, an dem ich gerne wäre. Da möchte ich nicht mal fehlen.

Und doch setze ich mich dem regelmäßig freiwillig aus — oder glaube, es tun zu müssen. Weil ich beruflich wissen muss, “was das Netz so sagt”. Bei Facebook sieht die Wahrheit eher so aus: Journalistenkollegen berichten Journalistenkollegen, was in der Welt so Schlechtes los ist. “Normale” Menschen aus meinem Umfeld posten schon kaum noch bei Facebook. Und, klar: Es ist die Aufgabe von Journalisten, zu berichten — auch und vor allem über Schlechtes. Aber dann doch vielleicht in einem Medium? Facebook war mal als digitales Wohnzimmer gestartet, inzwischen weiß niemand mehr, was es genau sein soll/will, nur, dass es so gefährlich ist, dass es mutmaßlich durch externe Manipulation die US-Wahl mit entschieden haben könnte. Die wenigsten Dinge starten als leicht schrammelige Wohnzimmer-Couch und landen als Atombombe.

Und natürlich: Es sind extreme Zeiten. Der Brexit, die US-Wahl, der Aufstieg der AfD, jetzt die Wahl in Österreich — wenn die Offenbarung von der Redaktion des “Economist” geschrieben worden wäre, kämen darin vermutlich weniger Schafe und Siegel vor und mehr von solchen Schlagzeilen. Die letzten Tage waren geprägt von immer neuen Enthüllungen über den ehemaligen Filmproduzenten und hoffentlich angehenden Strafgefangenen Harvey Weinstein, dessen Umgangsformen gegenüber Frauen allenfalls mit denen des amtierenden US-Präsidenten zu vergleichen sind. Nach zahlreichen Frauen, die von Weinstein belästigt oder gar vergewaltigt wurden, melden sich jetzt auch viele zu Wort, die in anderen Situationen Opfer von beschissenem Verhalten widerlicher Männer geworden sind. Und, Spoiler-Alert: Es sind viele. Verdammt viele. Mutmaßlich einfach alle.

Auftritt weitere Arschlöcher: “PR-Aktion!”, “Dich würde doch eh niemand anpacken!”, “Habt Ihr doch vor vier Jahren schon gepostet, #aufschrei!” Und während man sich mit der Hoffnung retten kann, dass sich diesmal vielleicht wirklich etwas ändern könnte (einiges deutet darauf hin, dass Harvey Weinstein tatsächlich von jener Hollywood-Gesellschaft ausgeschlossen werden könnte, die sich allzulang in seinem Licht gesonnt hatte), kommen die nächsten Kommentare rein und man zweifelt daran, ob da überhaupt noch irgendwo irgendwas zu retten ist.

Nimm einen ganz normalen Typen, so wie er im Buche steht
Gib diesem Typen Anonymität
Gib ihm Publikum, das nicht weiß, wer er ist
Du kriegst das dümmste Arschloch, das man nicht vergisst

(Marcus Wiebusch – Haters Gonna Hate)

Es gibt verdiente Kollegen wie Sebastian Dalkowski, die sich wirklich die Mühe machen, denen, die sich nicht für Fakten interessieren, weiterhin Fakten entgegenzusetzen. Die all den kleinen und großen Scheiß, den die so apostrophierten Besorgten Bürger und ihre medialen Fürsprecher so von sich geben, gegenchecken — und dafür wieder nur Hass und Spott ernten. Für Menschen wie ihn haben kettcar “Den Revolver entsichern” geschrieben, den klugen Schlusssong des grandiosen neuen Albums “Ich vs. Wir”, in dem sie auch die vielleicht zentralste Frage unserer Zeit stellen: “What’s so funny about peace, love, and understanding?”

Aber selbst, wenn Sebastian ein oder zwei Menschen überzeugen sollte (was ich, so viel Optimismus ist durchaus noch da, einfach mal hoffe), muss ich jeden Morgen bei ihm lesen, welche Sau jene Leute, die Vokabeln wie “Gutmenschen” und “Banhofsklatscher” verwenden, um damit Menschen zu bezeichnen, die noch nicht ganz so viel Welthass, Pessimismus und Misanthropentum in ihren Herzen tragen wie sie selbst, jetzt wieder durchs Dorf getrieben haben. Und ich weiß, dass man es als “ignorant” und “unprofessionell” abtun kann, wenn ich all das nicht mehr hören und lesen will, aber: krank und verbittert nütze ich der Welt noch weniger. Ich hab sechs Jahre BILDblog gemacht — wenn ich heute wissen will, was in Julian Reichelts Kopf wieder schief gelaufen ist, kann ich das bei den Kollegen nachlesen, die unsere Arbeit dankenswerterweise immer noch weiterführen. Ich muss das nicht zwischen den vereinzelten Kinderfotos entfernter Bekannter in meinem Facebook-Feed haben. Das gute Leben findet inzwischen eh bei Instagram statt.

Ich wollte nie große Ansagen machen wie “Ich hab mich jetzt bei Twitter abgemeldet” — muss ja jeder selbst wissen, kann ja jeder halten, wie er/sie will, wirkt auch immer ein bisschen eitel. Nur: Facebook und Twitter haben mittlerweile eine Macht, die ihren Erfindern kaum klar ist. Sie kommen nicht mehr klar mit dem Irrsinn, der dort abgeht. Und dazu kommt noch der ganze Quatsch, dass richtige Medien ihre Inhalte dort abkippen, um wenigstens ein paar Krümel abzubekommen. Natürlich interessiert es Facebook und Twitter kein bisschen, wenn ihnen ein unbedeutender Blogger aus Bochum alle verfügbaren Mittelfinger zeigt, aber: Hey, immerhin bin ich Blogger! Immerhin hab ich hier ein Zuhause im Internet. Und wenn mir einer auf den Teppich pisst, kann ich ihn achtkantig rauswerfen.

Ich weiß, dass Teile der Welt immer schlecht waren, sind und sein werden — ich brauche nicht die tägliche Bestätigung. Wie können es uns hier so gemütlich machen, wie es in dieser Welt (die übrigens auch ganz viele wundervolle Teile hat) eben geht. Und dann hab ich ja auch noch meinen Newsletter.

Ich hab ein Kind zu erzieh’n,
Dir einen Brief zu schreiben
Und ein Fußball Team zu supporten.

(Thees Uhlmann – 17 Worte)

PS: Am Meer war es übrigens wirklich wunderschön, das kriegt kein Social Media dieser Welt kaputt!

Gestern am Strand von Scheveningen

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Musik

The music that saves you

Bei den meisten wirklich guten Freundschaften kann man sich ja noch daran erinnern, wie man sich kennengelernt hat. Einen meiner besten und langjährigsten Freunde lernte ich am ersten Schultag auf dem Gymnasium kennen, als wir uns gegenseitig aufs Maul hauen wollten.

Die Musik von Andrew McMahon lernte ich im Sommer 2003 kennen, als das Debütalbum seiner Band Something Corporate in Deutschland erschien. Wie es damals so üblich war, besorgte ich mir ein paar Songs (“Hurricane” und “If You See Jordan”, wenn ich mich richtig erinnere) in sogenannten Tauschbörsen, hörte sie einige Male, packte sie auf Mixtapes und kaufte mir ein paar Monate später dann endlich auch “Leaving Through The Window”. Der erste Song, den ich (eher zufällig) hörte, nachdem meine Eltern mich im Studentenwohnheim abgesetzt und alleine auf den Heimweg gemacht hatten, war “The Astronaut”. Sowas prägt.

Ich wusste damals nicht, wie die Bandmitglieder von Something Corporate hießen, und habe auch nicht allzu sehr auf die Texte geachtet. Als das Zweitwerk “North” (wiederum mit einiger Verspätung) in Deutschland erschien, besorgte ich mir wieder ein paar Songs, dachte aber nicht weiter an die Band. Irgendwann las ich bei visions.de, dass der Sänger an Leukämie erkrankt sei, dachte “Puh” und vergaß auch das wieder.

“North” kaufte ich mir schließlich bei Rasputin Records, als ich im Herbst 2006 für drei Monate in San Francisco lebte. Gemeinsam mit einigen anderen Alben bildete das Album den Soundtrack meines Aufenthalts. Aber richtig los ging die Geschichte erst drei Jahre später.

Im Sommer 2009 stolperte ich bei WDR 2 (of all places) über einen Song mit viel Klavier, der mir sehr gefiel. Wie sich rausstellte, war es “The Resolution” von Jack’s Mannequin von denen ich wusste, dass es die Zweitband des Something-Corporate-Sängers war. Andrew McMahon. Im Sommer und Herbst 2009 habe ich “The Glass Passenger” quasi ununterbrochen gehört. Mein Leben war damals sehr im Umbruch und die Musik begleitete mich dabei. Ich hörte auch wieder die alten Something-Corporate-Alben und achtete diesmal auch auf die Texte — und es klingt doof und nach Selbsthilfegruppe, aber da sprach jemand zu mir. Andrew McMahon sang über Mädchen, die jede Nacht mit einem anderen Typen nach hause gingen und die er retten wollte; über betrunkene Mädchen, die er (also: das Lyrische Ich, so viel Literaturstudium muss sein) geküsst hatte, obwohl er es nicht hätte tun sollen; und darüber, den Kopf über Wasser zu halten und weiter zu schwimmen, bis man den Horizont erreicht. Und ich dachte: “Krass. Ja. Kenn ich.”

Andrew McMahon war gegen die schon erwähnte Leukämie angeschwommen, er sang “I’m alive/ I don’t need a witness / To know that I survived”. Mit der Geschichte im Hinterkopf (Lyrisches Ich am Arsch!) singt man ein bisschen vorsichtiger mit, weil man sich das Ausmaß gar nicht vorstellen kann. Man bekommt aber eine Ahnung davon in dem Film “Dear Jack”, in dem Andy (ich kenne seine Musik jetzt so lange, ich nenn’ ihn einfach mal so) seine Krankengeschichte dokumentiert. Ich habe mir das nur einmal ansehen können, aber es war sehr bewegend und – entschuldigen Sie das Ekelwort – inspirierend.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich glaube, ich habe inzwischen alle Aufnahmen, an denen Andrew McMahon jemals beteiligt war. Er löste nach dem dritten Album auch Jack’s Mannequin auf und veröffentlichte dieser Tage ein neues Album, das wie sein neues Projekt heißt und damit fast wie er selbst: Andrew McMahon In The Wilderness.

Andrew McMahon (Pressefoto)

Nach den ersten Hörproben war ich skeptisch. “Cecilia And The Satellite” war eine durchaus schöne Hymne an die neugeborene Tochter, aber irgendwie klang das alles sehr poppig und damit meilenweit von zumindest Something Corporate weg. Aber das ist offensichtlich Absicht und konsequent zu Ende gedacht: “Driving Through A Dream” etwa könnte bis ins kleinste Detail der Produktion ein Song von Phil Collins sein. Als jemand, der mit Phil Collins aufgewachsen ist und seine Musik bis heute liebt, fühle ich mich dort sofort sehr zuhause.

Normalerweise ist man zwischen 15 und 20 Jahre alt, wenn man sich von Musik direkt angesprochen fühlt — ich habe kürzlich noch mal “Hinter all diesen Fenstern” von Tomte gehört und – hell, yeah! – ich weiß, wovon ich spreche. Dass ich mit 31 noch einmal ein Album auf Dauerschleife laufen lassen würde, hätte ich – gerade vor dem Hintergrund, dass ich im Moment eher wenig zum Musikhören komme – nicht gedacht. Und doch läuft “Andrew McMahon In The Wilderness” bei mir jetzt seit zweieinhalb Wochen rauf und runter. Ich kenne Andrew McMahon nicht persönlich und habe keine Ahnung, ob wir uns verstehen würden, wenn wir uns mal in einer Bar träfen, aber auf eine völlig bizarre Art, die ich sonst nur von ausgewählten deutschsprachigen Textern kenne, fühle ich mich ihm sehr verbunden — was auch damit zusammenhängen mag, dass er nur ein Jahr älter ist als ich und wir beide dieses Jahr zum ersten Mal Väter geworden sind (worauf er gleich in zwei Liedern – dem schon erwähnten “Cecilia And The Satellite” und dem etwas schwachen “See Her On The Weekend” – eingeht).

In fast jedem Song des Albums gibt es mindestens eine Zeile, die ich mir sofort tätowieren (oder zumindest rahmen) lassen würde:”Take all your troubles, put them to bed / Burn down the mission, the maps in your head” (“Canyon Moon”), “I’ve loved some girls that I barely knew / I’ve made some friends, and I’ve lost some too” (“Cecilia And The Satellite”), “You dance with your headphones on and I / Could watch you all night long / Dancing to someone else’s song” (“High Dive”), “There’s only two mistakes that I have made / It’s running from the people who could love me best / And trying to fix a world that I can’t change.” (“All Our Lives”), “Do you ever rewind to the summer you knew me?” (“Black And White Movies”), “No cash in the bank / No paid holidays / All we have is / Gas in the tank / And maps for the getaway” (“Maps For The Getaway”).

Das Gefühl von “Ich verstehe Dich” bzw. “Da ist jemand, der mich versteht” ist so stark, dass ich mich in weniger aufrichtigen Momenten fast selbst beruhigen möchte: Ist ja nur Musik. Nee, ist mehr.

Andrew McMahon In The Wilderness (Albumcover)In Zeitschriften und Blogartikeln werden wir bombardiert mit Generationsbeschreibungen, Labels und Ansprüchen, von denen wir uns gleichzeitig ganz schnell frei machen sollen. Unsere Frauen sollen Familie und Beruf nicht nur unter einen Hut kriegen, sondern das auch wollen — während sie dabei wie Hollywood-Stars und ganz natürlich ausschauen. Unsere Kinder sollen drei Fremdsprachen lernen, die verpassten Chancen von uns und unseren Eltern nachholen und sich dabei frei entfalten können. Und wir Männer sollen gleichzeitig einfühlsam, stark, sportlich und kreativ sein. Vor allem aber, immer wieder: “wir”, dieser lächerliche Fraternisierungsversuch von zehntausenden Ertrinkenden, die sich aneinander klammern. Mit Gefühlen, die irgendwelche Slam-Poetinnen in (geborgte) Worte fassen, woraufhin dann alle anderthalb Tage sehr emo sind, bis Jan Böhmermann eine Parodie darauf veröffentlicht und alle wieder total ironisch sein können.

Da höre ich lieber die Songs von Andrew McMahon.

Ich weiß nicht, wie Menschen dieses Album hören, die vorher gar nichts oder nur wenig von ihm kannten — als eher okayes Pop-Album, vermutlich. Wirklich überall sind Keyboardflächen, auf virtuoses Klavierspiel verzichtet Andy hier ebenso wie auf Gitarren. In einigen Texten verarbeitet er derart deutlich seine eigene Lebensgeschichte, dass ich den meisten Musikern raten würde: “Nimm Dich mal zurück, leg hier nicht alles offen, sei doch auch mal literarisch”. Bei manchen Leuten ertrage ich das nicht (mehr), bei Andrew McMahon aber fühle ich mich zuhause, auch wenn er über Dinge singt, die mit meinem Leben eher gar nichts zu tun haben.

In seinen Texten geht es – daran hat sich nicht viel geändert – um Weltraum, Wasser und Straßen, auf denen er unterwegs ist, also um Menschen in Isolation und in Bewegung. Das erste Jack’s-Mannequin-Album hieß ja nicht umsonst “Everything In Transit”. Bemerkenswert ist da eher, dass Marcus Wiebusch, der Sänger von kettcar, der dieses Jahr auch ein sehr, sehr tolles Soloalbum aufgenommen hat, in seinem Song “Springen” so eindeutig auf Jack’s Mannequins “Swim” Bezug nimmt, dass das eigentlich kein Zufall sein kann: “Halt den Kopf oben” singt er da (“Just keep your head above”) und benennt, wie Andy, einige Gründe, warum man weiterschwimmen sollte: “Schwimmen für die Songs, die noch geschrieben werden”. Zum Beispiel von Andrew McMahon.

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Musik

Was macht ein Klischee zum Klischee?

Ich bekomm ja irgendwie gar nichts mehr mit.

Im April, zum Record Store Day, hatte das Hamburger Traditionslabel Grand Hotel van Cleef bekanntgegeben, dass Labelgründer und kettcar-Chef Marcus Wiebusch eine Solo-EP veröffentlichen werde. (Aufmerksame Beobachter von Wiebuschs Leben ‘n’ Werk wissen natürlich, dass es sich dabei nicht um seine “erste” Solo-Veröffentlichung handelt.) Ich hab die Vinyl-Scheibe am Record Store Day nicht bekommen und das ganze dann völlig aus den Augen verloren.

Letzte Woche fiel mir dann wieder ein, dass ich die EP ja auch digital kaufen könnte — seitdem läuft “Nur einmal rächen” bei mir auf Dauerrotation:

Mal davon ab, dass das neben “Safe And Sound” die eingängigste Bläser-Hookline des Jahres sein dürfte, ist das auch textlich ein großer Wurf: Die Geschichte vom ewigen Nerd (“Nur Einmal Rächen, Digger”), der es geschafft hat und jetzt auf die – schon bei R.E.M. zitierte – George-Herbert-Sentenz setzt, wonach ein gutes Leben die beste Rache sei. Das klingt schon beim zweiten Hören nicht mehr ganz so überzeugend und genau dieses Kippeln auf dem schmalen Grat macht den Reiz dieses Liedes aus.

Das dazugehörige Album soll, wie Marcus Wiebusch im April mitteilte, “bald” erscheinen.

Schon das zweite Soloalbum veröffentlicht Thees Uhlmann, inzwischen dann wohl tatsächlich Ex-Sänger von Tomte und ein weiterer GHvC-Labelgründer. Mit dem Erstwerk “Thees Uhlmann” bin ich ja nie so recht warm geworden und es spricht vieles dafür, dass mich der Nachfolger “#2” noch kälter lassen wird.

Oder auch: noch ratloser.

Schönes Video, war sicher nicht billig, aber … puh.

Die Aussage, jemand könne “auch das Telefonbuch von Wuppertal vorsingen” ist ja eher selten wörtlich zu nehmen und auf den Wikipedia-Eintrag zum 7. März zu übertragen.

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Musik

Songs des Jahres 2012

Ich bin natürlich viel zu spät dran. Ich habe inzwischen mehrere Songs im Radio oder in Gaststätten gehört, die selbstverständlich noch auf die Liste gehört hätten, die ich aber schlichtweg vergessen habe. Und vermutlich habe ich die besten Sachen eh wieder nicht mitbekommen.

Egal.

Hier sind meine Songs des Jahres 2012:

25.The Killers – Runaways
“Battle Born”, das vierte reguläre Album der Killers, hat nicht die Übersongs wie “Hot Fuss”, es ist kein geschlossenes Meisterwerk wie “Sam’s Town”, aber auch nicht so unsortiert wie “Day & Age”. Kurzum: Es ist ein völlig okayes Album — und es hat “Runaways”, die neueste Springsteen-Hommage (Frau kennengelernt, schwanger geworden, geheiratet, Stimmung im Arsch — man kennt das) aus dem Hause Flowers. “We can’t wait till tomorrow”!

24. Calvin Harris feat. Example – We’ll Be Coming Back
Das Konzert von Example in der Kölner Essigfabrik war eines der besten und energiegeladensten, die ich 2012 besucht habe. Leider werde ich mit dem neuen Album “The Evolution Of Man” nicht richtig warm, aber diese Kollaboration mit Calvin Harris, die auf den Alben beider Künstler enthalten ist, ist schon sehr ordentlich geworden.

23. Frittenbude – Zeitmaschinen aus Müll
Ein Plädoyer für den Spaß, die Party, die Selbstzerstörung, ohne gleichzeitig gegen Spießertum und Bausparverträge zu hetzen. Die Kernaussage “Jeder Tag ist der beste Tag eines Lebens” ist vielleicht nicht sonderlich neu, aber sie rundet diesen melancholischen Carpe-Diem-Popsong wunderbar ab.

22. Santigold – Disparate Youth
Unseren jährlichen Mobilfunk-Werbesong gib uns auch heute wieder. Natürlich haben die sonnendurchfluteten Erlebnis-Bilder aus den Vodafone-Spots diesen ohnehin großen Song noch ein bisschen weiter mit Bedeutung aufgeladen, aber auch nach der Dauerbeschallung im Fernsehen (und mehr noch: im Internet) hat das Lied nichts von seiner Schönheit verloren.

21. Benjamin Gibbard feat. Aimee Mann – Bigger Than Love
Da veröffentlicht der Sänger von Death Cab For Cutie und The Postal Service das erste richtige Soloalbum unter eigenem Namen (“Former Lives”) und der beste Song ist wieder mal eine Kollaboration. Nach “Bigger Than Love” wünscht man sich, Gibbard und Mann hätten zusammen ein komplettes Album aufgenommen, so großartig harmonieren ihre beiden Stimmen und so schön ist das Ergebnis geworden.

20. The Gaslight Anthem – “45”
Ich würde sie ja gerne ignorieren, diese schrecklichen Kreationisten aus New Jersey, aber dafür machen sie leider immer noch viel zu gute Musik. “45” ist eben leider ein großartiger Opener zu einem ziemlich guten Album. Die Frage, ob man guten Künstlern nachsehen sollte, dass sie offensichtlich Idioten sind, klären wir dann eben später.

19. Kid Kopphausen – Das Leichteste der Welt
Seit dem 10. Oktober kann man Kid Kopphausen nicht mehr hören, ohne mitzudenken, dass Nils Koppruch, einer der zwei Köpfe dieser Band, starb, bevor es mit der Band richtig losgehen konnte. Hier singt nun die meiste Zeit Gisbert zu Knyphausen, der andere Kopf, und er singt so grandios Zeilen wie “Denn jeder Tag ist ein Geschenk, er ist nur scheiße verpackt”. Das ist so meilenweit weg von den Acts, die jedes Jahr den “Bundesvision Song Contest” unsicher machen, so sagenhaft gut, dass es wirklich keines Todesfalls bedurft hätte, um dieses Album noch besonderer zu machen. Aber so ist das Leben manchmal.

18. Kendrick Lamar – Swimming Pools (Drank)
Es sind so viele Lobeshymnen über Kendrick Lamar und sein Debütalbum “good kid, m.A.A.d city” erschienen, dass ich keinerlei Ambitionen habe, dem noch etwas hinzuzufügen. Es ist ein wahnsinnig kluges Album, das vielleicht nicht im eigentlichen Sinne catchy ist, an dem wir aber vermutlich auch in 20, 30 Jahren noch unsere Freude haben werden. Und “Swimming Pools (Drank)” ist der beste Song darauf. Vielleicht.

17. Leslie Clio – Told You So
Während Thees Uhlmann solo Karriere macht, hat der Rest der letzten Tomte-Besetzung umgesattelt und ist jetzt Backing Band (bzw. im Falle von Niko Potthoff auch noch Produzent) von Leslie Clio, der – großer Gott, Musikjournalisten! – “deutschen Antwort auf Adele”. “Told You So” ist clever, knackig und entspannt und gemeinsam mit der Nachfolgesingle “I Couldn’t Care Less” lässt das Großes für das im Februar erscheinende Debütalbum “Gladys” erwarten.

16. Frank Ocean – Lost
Und noch so ein Album, das völlig zu Recht auf allen Bestenlisten weit vorne gelandet ist. Ich habe länger gebraucht, um mit “Channel Orange” warm zu werden, aber es wird tatsächlich bei jedem Hören noch besser. “Lost” ist der … nun ja: eingängigste Song des Albums, der ein bisschen schüchtern vor sich hin groovt.

15. Cro – Easy
Ja, der Song hätte auch schon 2011 auf der Liste stehen können. Ja, man kann das mit der Panda-Maske albern finden. Ja, die ständige Medienpräsenz (außer in der “WAZ”) nervt ein bisschen. Aber bitte: “Easy” ist immer noch ein großartiger Song. Die Zeilen mit “AC/Deasy” und “Washington, Deasy” zählen zum Cleversten, was im deutschsprachigen Hiphop je passiert ist — wobei die Konkurrenz da jetzt auch überschaubar ist.

14. Alex Clare – Up All Night
Keine Ahnung, warum die großen Hits von Alex Clare jetzt “Too Close” und “Treading Water” sind: “Up All Night” hat doch viel mehr Energie und ist viel abwechslungsreicher. Andererseits dürften die Auswirkungen auf den Straßenverkehr auch verheerend sein, wenn so ein Lied plötzlich im Formatradio läuft. Verglichen mit dem Rest des Albums, der zwischen Soul und Dubstep schwankt, ist der Refrain von “Up All Night” nämlich ein regelrechtes Brett. Andrew W.K., mit dem Drumcomputer nachempfunden.

13. Burial – Loner
Von der Radiovariante zum Untergrundhelden: Kaum ein Künstlername passt so gut zur Musik wie der von Burial. Die Doppel-EP “Street Halo / Kindred” ist das, was Massive Attack seit Jahren nicht mehr richtig hinbekommen, und “Loner” ist mit knackigen siebeneinhalb Minuten noch das zugänglichste Stück in diesem düsteren Gewaber. Unbedingt mit Kopfhörern und geschlossenen Augen genießen!

12. The Wallflowers feat. Mick Jones – Reboot The Mission
Nach sieben Jahren Pause und zwei sehr guten Soloalben von Jakob Dylan sind die Wallflowers zurück — und klingen plötzlich nach The Clash! Und, klar, wenn sie im Text Joe Strummer erwähnen, können sie für die Gitarre und den Gesang im Refrain gleich auch noch Mick Jones verpflichten. Und ich bin so einfach gestrickt, dass ich es grandios finde!

11. Kathleen Edwards – Change The Sheets
Ich glaube, wenn ich alles zusammenzähle, ist Kathleen Edwards meine Lieblingssängerin: Diese wunderschöne Stimme, diese Stimmungsvollen Songs und die Bilder, die ihre Musik entstehen lässt! Und dann ist “Voyageur”, ihr viertes Album, auch noch von Justin Vernon von Bon Iver produziert und enthält Songs wie “Change The Sheets”! Toll!

10. Bob Mould – The Descent
Gut, Bob-Mould-Alben klingen immer gleich und viel Abwechslung gibt es auch auf “Silver Age” nicht. Aber als einzelner Song kann so etwas wunderbar funktionieren und was der Ex-Sänger von Hüsker Dü und Sugar da mit 52 aus dem Ärmel schüttelt, kriegen manche Musiker unter 30 nicht auf die Kette. Die Formel “Gitarrengeschrammel plus hymnische Chöre” ist natürlich denkbar einfach, kriegt mich aber fast immer.

09. Cloud Nothings – Stay Useless
Dieser Song ist erst ganz spät auf meiner Liste gelandet, als Stephen Thompson ihn in der Jahresbestenlistenshow von “All Songs Considered” gespielt hat und ich festgestellt habe, dass ich ihn schon das halbe Jahr über im Freibeuter gehört hatte. Natürlich auch denkbar einfach in seiner Wirkmächtigkeit, aber ich find’s gut, wenn ich weiß, was ich will, und das auch bekomme.

08. Carly Rae Jepsen – Call Me Maybe
Ich saß in Baku im Hotelzimmer, guckte russisches Musikfernsehen und sah dieses Video. Als der Song zu Ende war, zappte ich weiter und sah das Video auf dem nächsten Kanal direkt noch mal von vorn. “Komische Russen”, dachte ich, wollte den Song bei Facebook posten und stellte dann fest, dass ich bisher einen internationalen Hit verpasst hatte. “Call Me Maybe” mag mittlerweile ein ganz kleines bisschen nerven, aber es ist einer der besten Popsongs, der in diesem Jahrtausend geschrieben wurde (über die Produktion können wir uns streiten) und “Before you came into my life I missed you so bad” eine ganz rührende Zeile Teenager-Poesie. Popkulturtheoretisch spannend ist natürlich auch die Erkenntnis, dass die ganz großen Megahits (“Somebody That I Used To Know”, “Gangnam Style” und eben “Call Me Maybe”) inzwischen immer auch mit Webphänomenen einhergehen oder sogar aus ihnen entstehen.

07. Kraftklub – Songs für Liam
Noch so ein Song, den nicht mal Einslive totspielen konnte. So clever wurde Popkultur in deutschsprachigen Songtexten selten verhandelt, so wirkungsvoll wurden die Black Eyed Peas und Til Schweiger selten gedisst, so gut wurde der Wunsch, geküsst zu werden, selten begründet. Außerdem freut man sich ja über jede junge Band, die sich mal nicht von der Folkplattensammlung ihrer Eltern hat beeinflussen lassen.

06. First Aid Kit – Emmylou
… womit wir bei zwei schwedischen Teenagern wären, die maßgeblich von der Folkplattensammlung ihrer Eltern beeinflusst wurden. Ich verehre First Aid Kit, seit ich sie vor vier Jahren auf dem By:Larm in Oslo gesehen habe, und war etwas enttäuscht, dass ihr Debütalbum 2010 dann vergleichsweise egal ausfiel. Das haben sie jetzt mit “The Lion’s Roar” ausgeglichen, dem wundervollen Nachfolger. “Emmylou” wirft mit textlichen und musikalischen Referenzen nur so um sich und macht klar, dass sich Johanna und Klara Söderberg so intensiv mit der Materie beschäftigt haben, dass sie statt dieses Songs auch eine Habilitationsschrift hätten anfertigen können. Die wäre allerdings kaum so schön geworden.

05. kettcar – Rettung
Damit wäre jetzt auch nicht mehr zwingend zu rechnen gewesen, dass kettcar zehn Jahre nach ihrem grandiosen Debütalbum noch mal das beste Liebeslied veröffentlichen würden, das je geschrieben wurde. Doch, wirklich: Das muss man auch erst mal bringen, die besoffen kotzende Freundin zu besingen und mit “Guten Morgen, Liebe meines Lebens” zu schließen. “Liebe ist das was man tut”, lehrt uns Marcus Wiebusch hier ganz praktisch. Und musikalisch ist das auch eine der besten kettcar-Nummern.

04. Macklemore & Ryan Lewis – Thrift Shop
Wenn 2012 nicht ausgerechnet das erste Ben-Folds-Five-Album seit 13 Jahren erschienen und auch noch wahnsinnig gut ausgefallen wäre, wäre “The Heist” von Macklemore & Ryan Lewis mein Album des Jahres geworden. Auf der einen Seite gibt es dort unglaublich anrührende Songs wie “Same Love” und “Wing$”, auf der anderen so einen funkelnden Wahnsinn wie “Thrift Shop”, der eigentlich niemanden kalt lassen kann. Unbedingt auch das Video ansehen!

03. Japandroids – Fire’s Highway
Wie Sie gleich sehen werden, gab es 2012 für mich drei große Strömungen: Melancholische Klavierballaden, Hiphop und Garagenrockbretter. Hier der bestplatzierte Vertreter der letztgenannten Kategorie. “Celebration Rock” ist, wie Stephen Thompson bei “All Songs Considered” richtig bemerkt hat, das vielleicht am passendsten betitelte Album der Musikgeschichte: Acht Songs in 35 Minuten, ein durchgetretenes Gaspedal und Freude am eigenen Lärm. In allen anderen Bestenlisten taucht “The House That Heaven Built” auf, bei mir eben “Fire’s Highway”. Gitarrengeschrammel plus hymnische Chöre, Sie kennen das Prinzip.

02. Ben Folds Five – Away When You Were Here
Ich will ganz ehrlich sein: Ich hatte nicht damit gerechnet, dass “The Sound Of The Life Of The Mind” überhaupt ein gutes Album werden würde. 13 Jahre Warten waren einfach zu viel. Dass es letztlich ein sehr gutes Album geworden ist, liegt an Songs wie “Away When You Were Here”: Die Melodie klingt schon beim ersten Hören, als kenne man das Lied seit seiner Kindheit, und dass Ben Folds ein Lied an einen verstorbenen Vater singt, während sein eigener Vater noch lebendig und bei bester Gesundheit ist, untermauert seine Songwriter-Qualitäten. Jeder Depp kann besingen, was er fühlt oder sieht, aber mit fiktiven Geschichten derart zu Herzen zu rühren, das können nur wenige. Ben Folds kann es, natürlich.

01. Rae Morris – Don’t Go
Ich habe nicht viele TV-Serien komplett gesehen. Wenn ich es dann doch ausnahmsweise mal tue, sind die Abschlusslieder gleich mit besonderer Bedeutung aufgeladen. Das war mit Peter Gabriels “The Book Of Love” am Ende von “Scrubs” so (die Unzumutbarkeiten der neuen Folgen verschweigen wir einfach) und so war es auch mit “Don’t Go” am Ende von “Skins”. Dass auch diese Serie jetzt noch einen Appendix bekommt (der hoffentlich/mutmaßlich nicht so schlimm wird wie der von “Scrubs”), können wir an dieser Stelle getrost unterschlagen, so berührend und emotional verdichtet ist die Montage zu diesem Lied, das ich seitdem rauf und runter gehört habe — obwohl das zunächst gar nicht so einfach war. Ein schlichtes Lied einer jungen Singer/Songwriterin aus England, aber auch ein sehr schönes.

Jetzt nachhören: Meine Top 25 bei Spotify.

Und weil ich hier eh schon so viel über die Alben geschrieben habe, gibt’s deren Bestenliste diesmal unkommentiert.

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Haut es mit Edding an die Wände

Irgendwann im Herbst 2002 sagte ein Kumpel zu mir: “Ey, ich war grad auf der Visions-Party. kettcar haben gespielt, die könnten Dir auch gefallen!” Also machte ich das, was man damals so machte, ging in die Tauschbörsen und schaute, was es dort so gab.

Ich weiß nicht mehr ganz genau, welches Lied ich dann als erstes gehört habe, aber es müsste “Im Taxi weinen” oder “Genauer betrachtet” gewesen sein. Letzteres ist bis heute meine Lieblingslied von kettcar, ersteres berührte mich damals auf Anhieb, ohne dass ich gleich verstanden hätte, worum es eigentlich ging. Überhaupt hatten die Songs über frisch gescheiterte Beziehungen, Partynächte mit den besten Freunden und das Scheitern von Lebensentwürfen vergleichsweise wenig mit meiner Lebenswirklichkeit als Zivildienstleistender in einer niederrheinischen Kleinstadt zu tun — aber ich liebte sie von Anfang an.

Nach ein paar Wochen kaufte ich mir in der CD-Abteilung der Drogerie Müller in Essen dann endlich “Du und wieviel von Deinen Freunden”, das mich seitdem geprägt hat wie kaum ein anderes Album. Über Jahre waren die Texte, die ich in mein privates Blog hämmerte, und die Musik-Rezensionen, die ich im Internet veröffentlichte, voll von direkten Zitaten aus und Verweisen auf kettcar-Songs.

Na dann herzlichen Glückwunsch.
Das Geld kommt aus der Wand.
Entschuldigung, sind Sie? Wir müssen Ihnen mitteilen.
Und wer bei zehn noch steht hat recht.
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
Komm schon, Großhirn, wünsch mir Glück.
Die Summe unseres Alltags in zwei gepackten Koffern.
Dieses Bild verdient Applaus.
Der Tag an dem wir uns “We’re gonna live forever” auf die Oberschenkel tätowierten.
Solang die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende.
Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt, den Rest kriegt mein Friseur.
Ist man jetzt, wo man nicht mehr high ist, froh dass es vorbei ist?
Ich danke der Academy.
Aufstehen, atmen, anziehen und hingehen, zurückkommen, essen und einsehen zum Schluss, dass man weitermachen muss.

Von …But Alive und Rantanplan, den Vorgängerbands von kettcar, hatte ich damals natürlich schon gehört, hatte sie aber nicht genug auf dem Schirm gehabt, um von Anfang an mitzukriegen, wie Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff erst kettcar und dann, weil keine Plattenfirma der Republik das Album rausbringen wollte, gemeinsam mit Thees Uhlmann das Grand Hotel van Cleef gründeten. Aber ab Dezember 2002 war ich dabei.

Ich erinnere mich an mein erstes kettcar-Konzert im Zakk in Düsseldorf im Januar 2003, an den Tourabschluss im Index in Voerde (of all places!) und an die vielen, vielen Konzerte in kleinen Clubs, größeren Hallen und auf Festivals, die danach kamen. An die langen Monate, in denen ich gefühlt nur ein Album im Discman hatte.

Ich erinnere mich an meine erste Reise nach Hamburg und daran, wie ich am Hauptbahnhof “Du und wieviel von Deinen Freunden” einlegte und es auf der S-Bahn-Fahrt nach St. Pauli beinahe schaffte, dass “Landungsbrücken raus” an genau der richtigen Stelle lief. Dass ich damals nach Hamburg ziehen wollte, wegen “Absolute Giganten” und dieser Band.

Ich erinnere mich daran, wie ich wegen einer Verkettung von Zufällen als einer der Ersten die Promo zum zweiten Album “Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen” zugeschickt bekam, weil ich eine Presseinfo dazu schreiben sollte. Der Text wurde glücklicherweise nie veröffentlicht, weil Thees Uhlmann auch einen geschrieben hatte, der natürlich besser und näher dran war. Und ich erinnere mich daran, wie ich dann am Veröffentlichungstag bei ElPi in Bochum stand und die Special Edition des Albums nach hause schleppte.

Ich erinnere mich an die Beiträge in den “Tagesthemen”, bei “Polylux” und an die fast ganzseitige Geschichte in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”, an die vielen Konzerte, die ich zum zweiten Album besucht habe, und an das Plakat zum Album, das meine gute Freundin Martina Drignat gestaltet hatte, und das jahrelang an meiner Zimmertür im Studentenwohnheim hing (abwechselnd innen und außen).

Ich erinnere mich an “Sylt”, das dritte Album, zu dem ich erst keinen rechten Zugang fand, und das, als ich dann in die Erwachsenenwelt von Ökonomie, Abschieden und Älterwerden hineinstolperte, schon da war und auf mich wartete. Ich erinnere mich an das Konzert in Dortmund im Oktober 2009, bei dem Marcus Wiebusch Texte und Akkorde vergaß und die Band vor den Augen der Zuschauer auseinander zu fallen drohte. Sie standen auf und machten weiter.

Ich erinnere mich ans Bochum Total 2011, als kettcar ihren neuen Song “Nach Süden” spielten, über einen Mann der nach anderthalb Jahren die Krebsstation im Krankenhaus lebend verlässt. Es war auf den Tag genau der fünfte Jahrestag der Beerdigung eines sehr lieben Verwandten, der das nicht geschafft hatte, und ich stand da mit Gänsehaut und feuchten Augen und wollte die Band wie so oft umarmen.

Im Frühjahr erschien dann “Zwischen den Runden”, das vierte Album der Band. Es war, wie schon “Sylt”, anders, nicht so leicht zugänglich und weit von den Hymnen der ersten beiden Alben entfernt. Aber es beginnt mit “Rettung”, dem schönsten Liebeslied, das je geschrieben wurde:

Ende August feierte das Grand Hotel seinen zehnten Geburtstag auf der Trabrennbahn in Hamburg. kettcar spielten als letztes und ihr Auftritt war von Anfang an wie ein Klassentreffen — nur im positiven Sinne. Um mich herum standen lauter Menschen, die mit kettcar erwachsen geworden waren, und es tat gut zu sehen, dass die Band immer noch da war. Bei “Landungsbrücken raus”, an der wichtigen Stelle “2002 the year Schwachsinn broke”, ging plötzlich Pyrotechnik los und es regnete Gold. Eigentlich ein bisschen too much für diese bescheidene Band, die es nie drauf angelegt hat, im Radio gespielt zu werden, aber in diesem Moment verdammt angemessen.

kettcar waren schon kurz vor der Neuesten Deutschen Welle da gewesen, und sie sind jetzt immer noch da, wo man kaum noch das Radio einschalten kann, ohne von einem dieser neuen Schlagerheinis angenuschelt zu werden, auf die das Adjektiv zutrifft, dass kettcar damals vielleicht sogar erfunden haben: “befindlichkeitsfixiert”. Von meinen Helden von damals sind sie die letzten Verbliebenen: Tomte sind einfach nicht mehr da und Thees Uhlmann besingt tote Fische, muff potter. haben sich selbst den Stecker gezogen und Jupiter Jones, denen ich ihren späten Durchbruch ja eigentlich wirklich von Herzen gönne, spielen jetzt gemeinsam mit Anastacia und fucking Mick Hucknall (“The Voice Of Simply Red”) bei der “AIDA Night of the Proms”.

Am Freitag erschien “Du und wieviel von Deinen Freunden” in der “10 Jahre Deluxe Edition”, die man vielleicht nicht ganz zwingend braucht, wenn man eh schon alles von kettcar hat, aber die mit diesem wunderschönen Trailer daherkommt:

Am Sonntag habe ich kettcar beim Visions Westend in Dortmund wieder live gesehen, zum insgesamt 15. Mal, wenn ich richtig gezählt habe. Es war einer ihren besten Auftritte. Die Menschen, an die ich beim Hören denke, sind im Laufe der Jahre andere geworden, aber die Songs sind immer noch so gigantisch groß wie damals, als ich sie zum ersten Mal gehört habe.

I’d like to thank the academy (academy, academy).