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Liebling, ich bin gegen Deutschland

Es ist inzwischen ein paar Jahre her, dass die Münsteraner Band muff potter. einen Song veröffentlichte, in dem sie – vorsichtig ausgedrückt – Kritik übte an einem merkwürdigen neuen deutschen Nationalstolz:

Neue Stimmen und neue Lieder
verkünden: Wir sind wieder wer!
Und wer sind eigentlich wir?
Und ich frag mich: Was zum Teufel wollt eigentlich Ihr?

Der Song heißt “Punkt 9”, ((Benannt nach Punkt 9 auf der Liste der Tourbusregeln der Band: “Klappe halten!”)) klingt “als ob Refused ABBA covern” ((Schlagzeuger Brami, der Mann hat Recht!)) und das bemerkenswerteste daran ist: er erschien schon im Herbst 2005, also fast ein Jahr, bevor “die Welt zu Gast bei Freunden” war und sich Deutschland im “Sommermärchen” “schwarz-rot-geil” ((“Bild”, natürlich.)) fand.

Deutsche Flagge

Ich erinnere mich noch gut, wie ich am Mittag des 9. Juni 2006 mit der Bahn von Bochum nach Dinslaken fuhr und in Duisburg an einer Häuserfront vorbeikam, die voller deutscher Flaggen hing, und dachte: “Holla! Goebbels wäre stolz!” ((Ja, mir war auch damals schon klar, dass Joseph Goebbels über schwarz-rot-goldene Beflaggung vermutlich eher erbost gewesen wäre, aber die kleine Transferleistung können wir schon gemeinsam erbringen, ne?)) Rund fünf Stunden später saß ich bei Schulfreunden im elterlichen Wohnzimmer, Philipp Lahm schoss das 1:0 gegen Costa Rica und für vier Wochen war ich bereit, dem Narrativ eines neuen, “positiven” oder “unverkrampften” Patriotismus zu glauben.

muff potter. bezogen sich damals aber nicht (nur) auf Fußballfans, sondern z.B. auf die Medienkampagne “Du bist Deutschland”, an die sich heute außer ein paar Agenturnasen vermutlich niemand mehr erinnert und die eine “Initialzündung einer Bewegung für mehr Zuversicht und Eigeninitiative in Deutschland” sein sollte — also ein Remix von Roman Herzogs “Ruck”-Rede vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Agenda 2010.

Den Startpunkt für diese “neue deutsche Zeitrechnung” verorteten Sänger/Gitarrist Nagel und Schlagzeuger Brami in ihrem Text “Neunzehnvierundfünzig in Bern” und tatsächlich war “Das Wunder von Bern” 2003 in einem erfolgreichen Kinofilm von Sönke Wortmann noch einmal für die nachfolgenden Generationen aufbereitet worden.

Wenn man “Punkt 9” heute hört, hat man ein bisschen das Gefühl, dass das Lied seiner Zeit nicht nur im Bezug auf den “Party-Patriotismus” voraus war, sondern auch, was Politik angeht:

Mit warmen Visionen von Identität
und der Reflexion auf Nulldiät
wird Geschichte vertauscht, verdreht und umgekehrt
Hysterisch, wer sich da beschwert

“Ja, gab’s denn damals schon die AfD?”, möchte man fragen — und übersieht dabei, dass ein Alexander Gauland damals schon seit über 30 Jahren in der CDU war und in der Union auch Leute wie Peter Gauweiler, Roland Koch, Horst Seehofer, Friedrich Merz und Erika Steinbach zu Verhaltensauffälligkeiten neigten. Merz zum Beispiel hatte im Jahr 2000 mit dem Begriff der “deutschen Leitkultur” für ein großes Hallo in der damals noch jungen Berliner Republik gesorgt. Und der Schriftsteller Martin Walser hatte 1998 in seiner Paulskirchenrede eine “Instrumentalisierung unserer Schande” beklagt und diese als “Moralkeule” bezeichnet und somit eine Blaupause geschaffen für alle noch zu haltenden Reden von Björn Höcke und Alexander Gauland.

Das alles war, nach der Einschränkung des Asylrechts und zahlreichen, mitunter tödlichen Brandanschlägen auf Asylbewerber*innen und Migrant*innen Anfang der 1990er Jahre, ((Übrigens auch in Hünxe und damit ganz in meiner Nähe.)) also das Klima, in dem “Punkt 9” entstand. ((Darüber hinaus hatten die Mitglieder des sogenannten “Nationalsozialistischen Untergrunds” bis zur Veröffentlichung des Songs schon sieben Morde begangen, die aber erst sechs Jahre später als rechtsextrem motiviert eingestuft werden sollten.))

Und es war auch nicht der erste Song zum Thema.

Schon im Oktober 1990 – und damit gerade mal drei Monate nach dem deutschen Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft und drei Wochen nach der formellen Wiedervereinigung – erschien das Album “X für ’e U” (“Ein X für ein U”) der Kölner Band BAP, dessen Opener “Denn mer sinn widder wer” (“Denn wir sind wieder wer”) in hochdeutscher Übersetzung so beginnt:

Wo man hinschaut, nur noch Deutschland,
So penetrant, wie ich es noch nicht kannte,
Als gäbe es sonst nichts mehr, als gäbe es sonst nichts mehr.

Der Song entwickelte zusätzliche und besondere Bedeutung beim Konzert auf dem Kölner Chlodwigplatz, auf dem am 9. November 1992 100.000 Menschen unter dem Motto “Arsch huh, Zäng ussenander” (“Arsch hoch, Zähne auseinander”) gegen Rassismus und Neonazis demonstrierten. ((Die man damals übrigens noch gut erkennen konnte: “Mit deutscher Reichsfahne und mit Bomberjacke”.)) BAP-Sänger Wolfgang Niedecken beschreibt bei diesem Auftritt die Entstehungsgeschichte des Songs, als nach dem deutschen WM-Sieg “die ersten Hirnis mit der Reichskriegsflagge rumfuhren und meinten, sie könnten ihr Süppchen mitkochen”. Diese Formulierung ist – vielleicht ganz bewusst, vielleicht eher aus Versehen – ziemlich gut, weil sie zunächst einmal zwischen Fußball-Anhängern und Neonazis unterscheidet und dann aber doch einen, wenn auch eher parasitären, Zusammenhang zwischen beidem herstellt.

Ich hatte “Denn mer sinn widder wer” wieder im Kopf, als wir nach dem Endspiel der WM 2002, bei dem Deutschland gegen Brasilien verloren hatte, mit unseren Fahrrädern nach Hause fuhren und in der Innenstadt von Dinslaken Menschen mit Deutschlandfahnen rumliefen, von denen einige tatsächlich riefen: “Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!” Es fühlte sich nach Jahren einer gefühlten Entspannung der Lage an wie ein Schlag in die Magengrube — und war im Nachhinein ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.

Während der WM 2010 stand im Bochumer Bermudadreieck ein fast schon Karikaturenhafter Mann mit einer schwarz-weiß-roten Flagge, als wäre es das Normalste der Welt. Die von uns informierte Polizei konnte nichts machen: Die Flagge des Kaiserreiches ist nicht verboten.

Tatsächlich sehen nicht wenige Experten einen mehr oder weniger großen Zusammenhang zwischen dem seit 12 Jahren regelmäßig ausbrechenden “Party-Patriotismus” und dem Aufkommen neuer nationalistischer Strömungen wie der AfD.

Wenn also die Weltmeistertitel von 1954 und 1990 wahlweise Ausgangspunkte oder zumindest Marker eines veränderten deutschen Selbstverständnisses waren: Baby, what did you expect, 2014? ((Bonusfrage: Wie fucking gut muss es Deutschland 1974 trotz vorheriger Ölkrise gegangen sein, dass der WM-Sieg vergleichsweise folgenlos blieb?)) Drei Monate später “spazierte” die Pegida-Bewegung zum ersten Mal durch Dresden. ((Andererseits gibt es diese nationalistischen Tendenzen aktuell fast überall in Europa. Italien, Ungarn und Österreich sind bei der WM gar nicht dabei, Polen und Deutschland haben ihre Auftaktspiele verloren.))

Den Übergang von vermeintlich harmloser Fußballbegeisterung hin zu Permanenznationalismus kann man in einem kleinen Sticker sehen: 2006, als das “Sommermärchen” langsam zu Ende ging, brachte “Bild” einen Aufkleber in Umlauf, der verkündete: “Schwarz rot geil — Wir machen weiter!”. Im Blatt schrieb die Redaktion dazu: “Lassen Sie sich die gute Stimmung nicht verderben, zeigen Sie weiter Flagge!”

Mal davon ab, dass die Deutschland-Besoffenheit von “Bild” schon während der WM alles andere als entspannt und unverkrampft gewesen war (BILDblog berichtete mehrfach), konnte ab hier keiner mehr behaupten, dass es “nur” um Fußball und die Farben einer Mannschaft ging.

Das passende Lied zur aktuellen Lage kommt von kettcar und heißt “Mannschaftsaufstellung”:

Wir bilden eine Mauer, machen alle Räume dicht
Mit einem Populisten, der durch die Abwehr bricht
Ein Stammtischphilosoph am rechten Außenfeld
Die Doppelsechs, die alles Fremde ins Abseits stellt

kettcar-Sänger Marcus Wiebusch hatte Fußball bei seiner früheren Band …But Alive schon öfter als Bildspender benutzt — allerdings im Bezug auf gescheiterte Beziehungen (“Entlassen (Vor der Winterpause)”) und Freundschaften (“Erinnert sich jemand an Kalle ‘del Haye?”). Der Text zu “Mannschaftsaufstellung” stammt vom Bassisten Reimer Bustorff.

Der Refrain kommt dann auf den Punkt:

Und als wir gemeinsam vor dem Radio saßen
Die Aufstellung hörten, unser Abendbrot aßen
Nahmst du meine Hand und sagtest:
“Liebling, ich bin gegen Deutschland”

Der Irrsinn ist nur inzwischen so weit fortgeschritten, dass es angesichts der “Bild”-Kampagne gegen Mesut Özil und der “Ankündigung” der AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel, die deutsche Mannschaft nicht unterstützen zu wollen, inzwischen beinahe eine linke, subversive Position ist, für das deutsche Team zu sein — so wie man angesichts der “Merkel muss weg!”-Rufe aus der ganz rechten Ecke bei der letzten Bundestagswahl ja trotz aller Kritik irgendwie für Angela Merkel sein musste.

Die Musik zum Turnier ist natürlich wieder die übliche Erbauungslyrik mit “Viva La Vida”-Chören, die man leider kaum besser zusammenfassen kann als mit “Menschen Leben Tanzen Welt”. 2018 heißt der Max Giesiniger unter den Andreas Bouranis dieser Welt Adel Tawil und singt in “Flutlicht”:

Im Wind wehen unsere Fahnen, über ein Meer aus unsern Farben
Auf diesen Moment warten wir schon so lang
Wir singen eure Namen, uns’re Lieder soll’n euch tragen
Wir stehen hinter euch wie ein zwölfter Mann

(“Fahnen” waren bei muff potter. und BAP noch Symbole des Bösen, hier sind sie ganz banal Fahnen. Immerhin sind sie nicht hoch.)

Lieder, die mal irgendwie Stellung beziehen, darf man von den aktuellen Popbarden nicht erwarten, da muss man ja schon froh sein, wenn sich mal jemand dergestalt äußert, dass er keine AfD-Anhänger unter seinen Fans haben will. Aber gut: Was will man von Leuten erwarten, die ein Lied singen über den anstrengenden Alltag einer alleinerziehenden Mutter, das dann in der Sentenz “Wenn sie tanzt ist sie woanders” gipfelt? Tanz den Hartz!

Das war Anfang der 1990er Jahre noch anders. Die Prinzen, damals eine der erfolgreichsten deutschen Bands überhaupt, sangen 1992 in ihrem Lied “Bombe”:

Schmierst Du an die Wand eine hohle
Naziparole,
Dann möchte ich …
Wenn Du einen “Kanacke” nennst,
Weil Du seine Sprache nicht kennst,
Dann möchte ich …
Willst Du allen in die Fresse hau’n
Und bist im Kopf schon ganz braun,
Dann möchte ich …
Wenn Du Dir den Schädel rasierst
Und im Gleichschritt marschierst,
Dann möchte ich …

Dieses “Möchten” wird im Refrain so aufgelöst:

Dann möchte ich ‘ne Bombe sein
Und einfach explodieren,
Wenn alle Leute “Hilfe schreien,
Dann würde was passieren.
Manchmal möchte ich zerplatzen und laut knallen
Und alles, was nicht stimmt, würde auseinander fallen.

Im Song gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Dinge, wegen derer das Lyrische Ich gerne “explodieren” würde (“Wenn manche Eltern sich trauen, ihre Kinder zu hauen”, “Wenn Jan das Essen nicht schmeckt und er schmeißt es weg”), die manchmal fast rührend naiv erscheinen. ((Im Fall von “Ruf ich nachts bei Dir an und Du gehst nicht ran” müsste man heute auch mindestens eine #MeToo-Augenbraue heben.)) Jede Menge Minimalpositionen, mit denen man heute als “mutig” oder “kontrovers” gelten würde. Und wenn jemand angeben würde, einen Liedtext gut zu finden, in dem explodiert wird und alles auseinander fällt, müsste er/sie damit rechnen, von Julian Reichelt öffentlich angegriffen zu werden.

Ein weiteres Beispiel für Mainstream-Antifaschismus: Udo Lindenberg mit seinem Song “Panik Panther”, ebenfalls von 1992.

Die Zeiten werden härter,
wir können keinem trauen.
Erst gestern haben so Zombies
schon wieder brutal draufgehauen.
Total blind im Rassenwahn,
zünden sie nachts Häuser an.
Aber wir klären hier in unserer Stadt,
dass kein Skin was zu sagen hat.

Das Lied zählt jetzt weder musikalisch noch textlich zu Lindenbergs bedeutendsten Werken, war aber damals Single und Titeltrack des Albums.

In meiner Kindheit war es gesellschaftlicher Konsens, gegen “rechts” zu sein. Die Nazis waren klarer zu erkennen, zu beschreiben und zu karikieren ((“Glatzen” bei Lindenberg, “Bomberjacke” bei BAP.)) und die Gefahr war vielleicht greifbarer, weil noch groß in den Medien berichtet wurde, wenn mal wieder Häuser brannten. Ich erinnere mich noch gut an diese Nachrichten, die man als Kind natürlich überhaupt nicht einordnen kann, ((Okay: Wie soll man das als Erwachsener?)) und an die Ängste, die ich damals hatte. Der “rationale” Beruhigungsversuch “Bei uns im Haus wohnen keine Ausländer” ist ja nicht wirklich ein Trost, sondern im Rückblick schlichtweg Zynismus.

Heute sitzen Politiker*innen, die sich nicht scheuen, bewusst auf NaziVokabular zurückzugreifen, nicht nur in vielen Parlamenten, sondern sogar in vielen Regierungen. Die diesjährige Fußball-WM, die wegen ihres Austragungsortes schon politisch genug wäre, ist für die Medien nicht mehr nur Eskapismus, Bild- und Identifikationsspender, sondern sie wird direkt mit der von der CSU ausgelösten und am Kochen gehaltenen Regierungskrise verknüpft: “Bild” montiert im Rahmen der inoffiziellen Kampagne “Schade: Immer noch kein Bürgerkrieg” die Maximal-Kritik an Mesut Özil neben die Trump’schen Lügen einer gestiegenen Kriminalitätsrate in Deutschland und suggeriert damit, Nationalelf und Politik seien das gleiche. Wenn Deutschland in der Vorrunde ausscheidet, ist auch die Kanzlerschaft Angela Merkels vorbei.

Das alles macht keinen Spaß mehr. Nicht an Fußball, schon gar nicht an Politik. Aber wenn’s mal so richtig scheiße ist, ist wenigstens noch die Musik da.

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Politik Gesellschaft

Wir müssen reden!

Vier Tage sind seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten vergangen und ich habe seitdem viele Texte gelesen, warum das überraschend oder nicht überraschend war, dass die Demokraten daran schuld seien oder die weißen Männer, dass vielleicht alles gar nicht so schlimm wird oder vielleicht alles noch schlimmer, dass wir mit den AfD-Wählern reden müssen oder ihnen zuhören, dass wir Verständnis für sie zeigen sollen oder klare Kante. Kurzum: Das linksliberale Lager, in dem ich mich bewege, ist mindestens genauso gespalten wie die Gesellschaft selbst. Der Motor hat gerattert, diverse Warnlampen sind angegangen, es kam Qualm aus der Motorhaube und die Tankanzeige leuchtete und jetzt stehen wir vor einem liegengebliebenen Auto und diskutieren darüber, ob wir vielleicht Luft in die Reifen hätten packen sollen.

Manchmal wird jetzt darauf hingewiesen, dass nicht alle Trump-Wähler Rassisten und/oder Sexisten seien, was sicherlich richtig ist. Aber sie sammeln sich hinter einem Mann, der mit rassistischen Ressentiments nur so um sich geworfen hat und bei dem alles dafür spricht, dass er Frauen als Objekte betrachtet, mit denen er machen kann, was er will. Und das wirft ja dann doch Fragen auf. Nicht jeder, der einen rassistischen oder sexistischen Witz macht, ist deshalb automatisch Rassist oder Sexist, aber es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, auf den rassistischen bzw. sexistischen Hintergrund des Witzes aufmerksam zu machen und zu verstehen zu geben, dass wir so etwas nicht akzeptieren. Wer das nicht verstehen will und munter weiter macht, erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass er tatsächlich Rassist bzw. Sexist ist, deutlich.

Ich glaube, dass es einigermaßen müßig ist, sich öffentlich mit Chefpropagandisten wie Udo Ulfkotte oder namhaften AfD-Politikern zu bekämpfen (und es schmerzt mich wirklich, eine Formulierung wie “namhafte AfD-Politiker” zu verwenden). Die wird man auf keinen Fall überzeugen können und deren Anhänger reagieren mit Ablehnung, wenn man ihre Helden mit dem schweren Gerät in die Mangel nimmt, das für Volksverhetzer, Lügner und Populisten notwendig ist.

Aber wir können mit den “normalen Menschen” reden. (Einschub: Diese Formulierung klingt immer so, als seien aufgeklärte, fortschrittliche Linke und Liberale keine normalen Menschen und als ob es irgendeinen natürlichen Interessenkonflikt zwischen der Arbeiterklasse und intellektueller orientierten Großstädtern gäbe. Meine Freunde und ich sind erst mal genauso normal wie Bauern im Allgäu, Automechaniker in Sachsen-Anhalt oder Werftarbeiter in Niedersachsen. Wenn jemand anfängt, anderen Menschen Rechte abzusprechen, schwenkt er aus dem Bereich der Normalität aus. Einschub Ende.) Nicht, indem wir versuchen, ihnen die gesamte Welt zu erklären, sondern indem wir ihnen von anderen Menschen erzählen, die genauso normal sind und sich im aktuellen politischen Klima ernsthafte Sorgen um ihr Leben und das ihrer Kinder machen. Wir müssen Fakten auswendig lernen, Zahlen kennen und von Menschen aus unserem Umfeld berichten. Wenn wir die Aufstellungen aller Bundesligavereine, die Sieger des Eurovision Song Contest seit 1956 und die Zitate aus allen Filmen von Monty Python und Loriot kennen, kann es ja nicht so schwer sein, sich ein paar zusätzliche Informationen draufzuschaffen.

Ich habe als direkte, erste persönliche Konsequenz aus Donald Trumps Wahlerfolg angefangen, online mit Menschen zu diskutieren. Nicht, sie beschimpfen, sondern ihnen meinen Standpunkt zu erklären und zu versuchen, ihren Standpunkt zu verstehen. Ich habe dabei zahlreiche Beschimpfungen in mein Wohnzimmer gebrüllt, nur um zwei, drei Kommentare später festzustellen, dass wir inhaltlich gar nicht so weit auseinanderliegen. Zum Beispiel beim Thema “Political Correctness”, die früher “Anstand” hieß und die für viele Menschen, auch solche, die weit davon entfernt sind, AfD zu wählen auf merkwürdige Art ein rotes Tuch darstellt. Ich verstehe nicht, warum Menschen sich so schwer damit tun, auf Begriffe zu verzichten, durch die sich andere Menschen verletzt oder ausgegrenzt fühlen. Es bricht einem doch kein Zacken aus der Krone, wenn in einem Behördenschreibern “Bürger*Innen” steht oder man zu einer Backware, die sowieso schon alles andere als gesund und natürlich ist, jetzt “Schaumkuss” sagen soll, obwohl man jahrelang ein anderes Wort gebraucht hat.

Das heißt: Aus sprachwissenschaftlicher Sicht habe ich da sogar ein gewisses Verständnis. Bücher über Grammatik und Rechtschreibung waren anfangs deskriptiv, irgendwelche Leute haben also alle paar Jahre oder Jahrzehnte aufgeschrieben, wie die Menschen gerade so gesprochen und geschrieben haben. Der “Duden”, wie wir ihn seit unserer Schulzeit kennen, fungierte aber schon als Unterscheidung zwischen “richtig” und “falsch” (es ist halt auch einfacher, wenn man weiß, wovon der andere schreibt). Dann kam die sogenannte Rechtschreibreform und ein Gremium hatte plötzlich ganz viele neue Vorschläge für Schreibweisen, die sich aber nicht an dem orientierten, wie die Leute schrieben (denn die schrieben ja so, wie es bisher im Duden stand), sondern die manchmal verständliche, manchmal falsch abgeleitete neue Vorschläge waren. Nicht nur, dass (Achtung, Achtung: das “dass” ist ein schönes Beispiel!) die Leute plötzlich anders schreiben sollten ohne zu wissen warum, die Zeitungen hielten sich nicht daran, in den Schulen gab es ein Hin und Her im Lehrplan und letztlich weiß seit 20 Jahren ungefähr niemand mehr, was “richtig” und was “falsch” ist. Sprache ist aber etwas, was uns Menschen ganz nahe ist, die wir alle benutzen. Selbst Menschen, die von Geburt an nicht hören können, nutzen sehr häufig eine Gebärdensprache — weswegen sie – Hallo, Political Correctness! – auch nicht “taubstumm” sind, sondern “gehörlos”. Wir alle benutzen Sprache, überall auf der Welt. Sprache wird von mehr Menschen genutzt als Autos, es können mehr Menschen sprechen als schwimmen, wir nutzen Sprache, um uns gegenseitig bei Facebook anzuschreien, aber auch, um unseren Liebsten mitzuteilen, was wir für sie empfinden. Wenn da jemand an unseren Wortschatz heranmöchte, ist das irritierend, vielleicht sogar erschreckend und wenn man dann noch zufällig mal irgendwas über George Orwells “1984” gelesen hat, ist der Schrei, hier sei die “Sprachpolizei” am Werk, nicht mehr weit.

Vor 30 Jahren war es total normal, in öffentlichen Gebäuden, Gaststätten, sogar in Zügen und Flugzeugen zu rauchen. Jeder einzelne Raucher konnte die Luft für hundert Menschen um ihn herum verpesten und deren Gesundheit gefährden. Inzwischen gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass Rauchverbote in öffentlichen Gebäuden, Zügen und Flugzeugen in Ordnung sind (bei Gaststätten ist das schwieriger und meine eigene Position zu dem Thema könnte drei weitere Blog-Einträge füllen, denen ich mich gerne widmen will, wenn wir wieder Zeit für die etwas weniger drängenden Probleme haben), dass man eher nicht raucht, wenn Kinder in der Nähe sind und dass Rauchen generell nicht so doll für die Gesundheit ist. Diese Rauchverbote kamen natürlich auch auf Druck von Bürgerinitiativen zustande, die Politik musste sie aber von oben herab durchsetzen — gegen den erklärten Willen der mächtigen Tabaklobby. Ein “Lasst uns doch einfach alle mal aufhören, in der Straßenbahn zu rauchen” hätte keinen Erfolg gehabt. Diese Rauchverbote sind für alle besser, aber sie zwingen Raucher dazu, vor die Tür zu gehen oder stundenlange Bahn- und Flugreisen ohne Nikotinzufuhr durchzustehen, was tatsächlich wahnsinnig anstrengend sein kann.

“Bürger*Innen”, “Schaumkuss” und “gehörlos” tun niemandem weh. Niemand bekommt deswegen Schmacht. Ja, es kann sogar jeder, der diese Begriffe nicht mag, vollkommen legal andere benutzen. Er sollte sich nur nicht wundern, wenn er von anderen Menschen schief angeschaut wird, weil die im Laufe der Zeit eine stärkere Sensibilität dafür entwickelt haben. Denn Sprache hat auch Macht und prägt das Denken. (Das ist jetzt schwer vereinfacht ausgedrückt, aber ich habe das Gefühl, mit meinem Mansplaining hier schon genug Leserinnen und Leser verloren zu haben. Entschuldigung, aber ich versuche wirklich, das alles Schritt für Schritt verständlich zu machen und ich hab das auch mal studiert.) Ich möchte nicht, dass mein Kind in einer Welt aufwächst, wo “schwul” und “behindert” als Synonyme für “doof”, “schlecht” oder “scheiße” verwendet werden. Denn selbst wer darauf beharrt, nichts gegen Schwule und Menschen mit Behinderung zu haben, sorgt sonst dafür, dass diese Begriffe negativ konnotiert sind. Und während ich ganz gut damit leben kann, dass Vokabeln wie “geil” oder “Chip” im Laufe der Zeit ihre Bedeutung geändert bzw. mehrere Bedeutungen haben, finde ich es inakzeptabel, dass Begriffe, die eine Bevölkerungsgruppe beschreiben, in einem anderen Kontext als abwertend benutzt werden.

Meine Mutter hat sich in den 1980er Jahren mit anderen Eltern zusammengetan, um lokal gegen Umweltverschmutzung, Atomkraftwerke und den Klimawandel zu kämpfen. Es ist unfassbar, dass wir nicht nur diese Probleme noch nicht in den Griff bekommen haben, sondern wir jetzt auch noch ganz ernsthaft vor Problemen stehen, die damals schon seit Jahrzehnten überstanden schienen. Aber so ist eben jetzt die Lage, also müssen wir da ran und gleichzeitig für die völlige Gleichstellung von Frauen, der LGBTI-Community und Menschen mit Behinderung auf der einen Seite kämpfen, während wir auf der anderen Seite mit Leuten diskutieren, die die simpelsten menschenrechtlichen Errungenschaften auf den Prüfstand stellen wollen.

Wir müssen also jetzt mit den Leuten in der Kneipe reden, in der Straßenbahn, im Stadion, schlimmstenfalls sogar beim Familienkaffee. Wir dürfen nicht die Augen verdrehen und gleich “Nazi!” denken, wenn jemand etwas sagt, was nicht unserer Meinung entspricht. Wir müssen klarstellen, dass universelle Menschenrechte nicht verhandelbar sind, und in Detailfragen den Austausch suchen. Wir müssen sagen, dass wir es auch nicht gut finden, wenn muslimische Frauen gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen, es aber auch nicht vertretbar ist, sie dazu zu zwingen, keines zu tragen, wenn sie denn eins tragen wollen. Und wir müssen bei der Frage: “Und wie soll man das unterscheiden?” sagen, dass wir das jetzt auch nicht wissen, dass es aber keine Lösung sein kann, eine Volksgruppe unter Generalverdacht zu stellen. (Es aber andererseits auch nicht in Ordnung ist, alle Menschen, die ein Problem damit haben, dass Muslimas ein Kopftuch tragen, ohne weitere Diskussion als “Faschisten” zu brandmarken.)

Wir müssen diesen Leuten sagen, dass Rechtspopulisten vielleicht Probleme benennen, dann aber nur Sündenböcke präsentieren und keine Lösungsansätze, die irgendwie realistisch oder moralisch oder legal sind. Dass Schwule und Lesben endlich wirklich heiraten und eine Familie gründen wollen und dass deren Leben dadurch viel besser wird, aber das Leben keiner einzigen Hetero-Familie deswegen schlechter. Dass wir, wenn die Politik dieses langwierige Orchideenthema Gleichberechtigung endlich mal abgehakt hat (was nach meiner Einschätzung fast an einem Tag in Bundestag und Bundesrat zu schaffen sein könnte), sofort über andere Themen sprechen können. Dass “Victim Blaming” noch so ein doofes, neues Akademikerwort sein mag, dass aber auch niemand “selbst schuld” ist, wenn er oder sie Opfer eines Verbrechens wird. Dass fremde Menschen in der eigenen Heimat keine Gefahr sein müssen, sondern auch eine Chance darstellen können. Dass man niemals Menschen gegeneinander ausspielen sollte. Dass Journalisten keine “Regierungsagenda” vorantreiben, sondern manchmal höchstens ein bisschen faul und auf ihre eigene Welt fokussiert sind. Dass Experten nicht eingebildete, weltfremde Affen sind und man sich mit Zahnschmerzen, Ausschlag oder Herzinfarkt ja auch gerne in fachmännischer Obhut wüsste. Dass Claudia Roth ganz sicher nicht die Sharia einführen will. Dass die Frage, ob hier irgendein Abendland islamisiert werden könnte, bald keine Rolle mehr spielen wird, weil wir, wenn wir den Klimawandel (den es übrigens tatsächlich gibt!) nicht ganz schnell in den Griff bekommen, bald weder Abendland noch Muslime haben. Und wir müssen ihnen sagen, dass “die da oben” nicht machen, was sie wollen, sondern dass Politik wahnsinnig komplex ist.

Ich für meinen Teil kann einigermaßen damit leben, dass Politiker von meiner Lebenswirklichkeit keine Ahnung haben — ich habe ja umgekehrt auch kein Interesse an Details über Verkehrsausschüsse, Ergänzungsanträge zu Verordnungen und diesem ganzen Kram. Ich tue mich ehrlich gesagt etwas schwer damit, Politiker überhaupt gegen ihre Kritiker zu verteidigen, denn es gibt zahlreiche Dinge, die mich an der Politik aufregen (und die steuerliche Besserstellung kinderloser Ehepaare gegenüber unverheirateten Eltern ist nur das wichtigste Beispiel), und ich sehe Lobbyismus und den Einfluss von Großkonzernen mit Sorge. Ich glaube aber auch, dass die meisten Mitglieder des Bundestages schon im Großen und Ganzen ihr Bestes geben. Mit mir haben in den letzten Jahren keine Politiker gesprochen. Ich aber auch nicht mit ihnen.

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Der Staat gegen Fritz Bauer

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Ich habe mir gestern Abend “Der Staat gegen Fritz Bauer” angeschaut über den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der letztlich dafür verantwortlich war, dass die Israelis Adolf Eichmann vor Gericht stellen konnten, und der die Auschwitz-Prozesse herbeigeführt hat.

Ein guter bis sehr guter Film mit teils grandiosen Darstellern (bei Burghart Klaußner dachte ich zwischendurch immer wieder, er würde eigentlich Hans-Jochen Vogel spielen, Sebastian Blomberg ist einfach unfassbar wandlungsfähig und gut — ich erinnere da nur daran, wie er im “Baader Meinhof Komplex” Rudi Dutschke war), einem sehr soliden Drehbuch (einige Dialoge waren sehr holzschnittartig, andere durchaus fein gedrechselt) und einer erstaunlichen Liebe zum Detail in der Ausstattung. Einzig die Drehorte, die ich ständig wiedererkannt habe (die Schanzenstraße in Köln-Mülheim, für verschiedene Orte in Süddeutschland; das Feierabendhaus in Hürth, wo wir Popstars 2015​ gedreht haben, als Pariser Flughafen — auch schön im Trailer zu sehen), haben mich immer wieder etwas rausgeholt.

Ganz so John-le-Carré-mäßig wie der Trailer tut, ist der Film auch nicht: zwar gibt es einige durchaus spannende Stellen, in denen mir zum ersten Mal richtig bewusst wurde, wie Nazi-verseucht dieser Behördenapparat im Nachkriegsdeutschland war, aber es ist dann doch eher Drama als Thriller. Ein großer Nebenstrang ist die Situation, in der Homosexuelle in Deutschland durch §175 kriminalisiert wurden — und was der Film da zeigt, ist aus heutiger Sicht fast ebenso empörend wie die Altnazis in der Haupthandlung.

Mir ist mal wieder aufgefallen, dass ich über das Nachkriegsdeutschland quasi gar nichts weiß — mein Wissen endet mit Hitlers Selbstmord und setzt dann mit den Kaufhausbrandstiftungen von Baader und Ensslin langsam wieder ein. Der Alltag, in dem meine Großeltern so alt waren wie ich heute, erscheint mir ungefähr so weit weg wie Goethezeit. Es hilft aber auch, sich die Situation in diesem Land von damals vor Augen zu führen, um zu sehen, wie weit wir dann doch schon gekommen sind. Es ist, was das Verschwinden des Faschismus und die Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen angeht, noch ein weiter Weg, aber, hey: Immerhin gehen wir ihn inzwischen.

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Seinen oder nicht Seinen

Wir müssen noch mal auf die Nummer mit der gemeinsamen Werbeaktion von Tchibo und Esso unter dem Slogan “Jedem den Seinen” zurückkommen. Zwar hat sie es nicht auf die Titelseite von “Bild” geschafft, aber die mediale Aufmerksamkeit, die die “Frankfurter Rundschau” in bester “Bild”-Manier selbst generiert hatte, hat mich dann doch ein wenig überrascht.

Besonders interessant fand ich die Ansichten, mit denen sich Volker Nickel, der Sprecher des Deutschen Werberats, von der “taz” zitieren lässt:

“Offensichtlich haben alle Filter versagt, weil kein Wissen vorhanden war, dass dahinter irgendetwas anderes stecken könnte.” Er glaubt, dass die fehlgeleitete Kaffeekampagne nur ein Symptom für die gesellschaftliche Entwicklung ist. “In 40 Jahren wissen wahrscheinlich noch weniger Menschen über die Bedeutung solcher Sätze Bescheid”, sagt er. “Deswegen ist es Aufgabe der Schulen und Medien, dass die Ereignisse während des Nationalsozialismus in unseren Köpfen wach bleiben.”

Herr Nickel vertritt damit die gegenteilige Position der Meinung, die hier in den Kommentaren vorherrschte, und wünscht sich offensichtlich eine schwarze Liste der Sätze und Wörter, die seit 1945 und für alle Zeit nicht mehr verwendbar sind. (Oder, wie der große Nazi-Wörter-Experte Johannes B. Kerner sagen würde: die “nicht gehen”. Gar nicht.)

Der großartige und oft übersehene Songwriter Dan Bern hat 2002 die “Swastika EP” veröffentlicht, auf der sich auch der Song “My Little Swastika” (“Mein kleines Hakenkreuz”) befindet. Im Text heißt es unter anderem:

the chinese had it for 20,000 years
the nazis took it and made it spell tears
still has power to hurt a little bit
but now I’m decorating my house with it

Dan Bern darf das: er ist Jude (seine Begleitband heißt The International Jewish Banking Conspiracy), seine Eltern haben den Holocaust knapp überlebt. In einem Interview erklärte er ausführlich, warum er das Hakenkreuz als Symbol umdeuten will und wie dies geschehen soll.

Nun liegt Berns Position ungefähr in der Mitte zwischen “frommer Wunsch” und “etwas weltfremd” und lässt sich auch schlecht verallgemeinern: Natürlich wären die Irritationen berechtigt, die die Bundesagentur für Arbeit auslösen würde, wenn sie morgen “Arbeit macht frei” zu ihrem Slogan erwählte. Und wenn Angela Merkel einmal keine Lust mehr auf ihre ungebrochene Popularität bei den deutschen Wählern haben sollte, müsste sie nur darauf bestehen, fortan als “Führerin” angesprochen zu werden.

Der grundsätzliche Gedanke, dass man sich bestimmte Bereiche des Alltags nicht von irgendwelchen Arschlöchern wegnehmen lassen sollte, ist aber ein kluger. Wer sich ernsthaft an Worten wie “Führerschein” reibt, der bewahrt damit nicht das Andenken der Opfer, sondern der verhilft der Nazi-Bande von damals zum posthumen letzten Sieg — mal ganz davon ab, dass das Verbot oder die Selbstzensur bei bestimmten Begriffen inhaltlich sehr viel näher am Dritten Reich dran wäre als die Verwendung der Begriffe selbst.

Es ist schwer zu überbietender Zynismus, eine antike Gerechtigkeitsformel auf das Tor eines Konzentrationslagers zu schreiben — die Losung aber deshalb zum unzitierbaren bösen Wort ernennen zu wollen, ist ungefähr so dämlich, wie ein Verbot von Totenköpfen, schwarzen Ledermänteln und Pechfackeln zu fordern.

Situationen wie diese erfordern etwas, was dem deutschen Volk (hihihi) seit jeher fehlt: Fingerspitzengefühl. Es muss etwas geben zwischen dem “Schlussstrich”, den manche fordern, und der absoluten Empörung, die noch immer irgendjemand empfindet, wenn ihn ein Journalist anruft und um eine Stellungnahme zu diesem oder jenem “Nazi-Skandal” bittet, von dem der Empörte oft genug in diesem Moment zum ersten Mal hört.

Und damit sind wir wieder bei “Jedem den Seinen”: Eine seltsam altertümliche Formulierung, finden Sie nicht?

Ich finde es viel merkwürdiger als sonst etwas, dass ein solch sperriger Slogan im Jahr 2009 an Tankstellen für Kaffee werben soll. Mich würde wirklich interessieren, wie diese Kampagne ausgesehen hat, was sich die Macher dabei gedacht haben und was mit dem Spruch überhaupt gemeint war. Aber im Internet finde ich nirgends ein Foto von den Plakatmotiven, fast alle Artikel zu dem Thema sind mit dem Tor aus Buchenwald bebildert. Mir fehlt der Kontext um zu entscheiden, ob die Kampagne nun wirklich eine “nicht zu überbietende Geschmacklosigkeit” war, wie Salomon Korn sie (natürlich nur bis zur nächsten, nicht zu überbietenden Geschmacklosigkeit) nannte, ob dahinter eine originelle Idee steckte, oder ob sie einfach nur banal und doof war. Und die Freiheit, solche Urteile selbst fällen zu dürfen, hätte ich als mündiger Bürger eigentlich schon ganz gerne.

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“Mit größter Präzision”

Mahnmal in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm

Zu den ganz großen Rätseln der Menschheitsgeschichte, die einem den Glauben an Zufälle einigermaßen madig machen, zählt der 9. November. Zu dem Umstand, dass so viele wichtige Ereignisse an jenem 9.11., dem “Schicksalstag der Deutschen”, stattfanden (wobei die Ereignisse von 1923 und 1938 natürlich auf die von 1918 aufbauten), kommt auch noch hinzu, dass die amerikanische Schreibweise des 11. Septembers “9/11” lautet. Darüber haben sich überhaupt noch nicht genug Verschwörungstheoretiker Gedanken gemacht.

Anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Novemberpogrome von 1938 möchte ich Sie heute auf einen Text aufmerksam machen, den ich vor einiger Zeit im Internet gefunden habe. Yitzhak Sophoni Herz, der zu dieser Zeit Direktor des jüdischen Waisenhauses in Dinslaken war, hat ihn geschrieben.

At 9:30 A.M. the bell at the main gate rang persistently. I opened the door: about 50 men stormed into the house, many of them with their coat- or jacket-collars turned up. At first they rushed into the dining room, which fortunately was empty, and there they began their work of destruction, which was carried out with the utmost precision.

Hier errichteten 1885 die Juden unserer Stadt ein Waisenhaus. Bis zur Zerstörung durch die Naziverbrecher wurden hier jüdische Vollwaisen betreut.

Herz beschreibt darin mit erstaunlicher Sachlichkeit die Zerstörung des jüdischen Waisenhauses und der Synagoge, also von zwei Gebäuden, von denen ich nicht viel mehr weiß als dass sie dort standen, “wo jetzt die Bohlen-Passage ist” und “da, wo jetzt die Spielhalle ist”. Und er schreibt über Leute, mit denen ich noch im gleichen Supermarkt eingekauft oder in der gleichen Kirche gesessen haben kann, ohne von ihrer Geschichte zu wissen:

[T]he senior police officer, Freihahn, shouted at us: “Jews do not get protection from us! Vacate the area together with your children as quickly as possible!” Freihahn then chased us back to a side street in the direction of the backyard of the orphanage. As I was unable to hand over the key of the back gate, the policeman drew his bayonet and forced open the door. I then said to Freihahn: “The best thing is to kill me and the children, then our ordeal will be over quickly!” The officer responded to my “suggestion” merely with cynical laughter.

Der frühere Standort der Synagoge in DinslakenIch halte solche Schilderungen aus der eigenen Heimatstadt für aussagekräftiger als jede Tabelle mit abstrakten Zahlen. Man beginnt zu begreifen, was da in der Stadt los war, in der man selber 45 Jahre später lebte.

Aber auch wenn Sie noch nie in Dinslaken waren, sei Ihnen “Description of the Riot at Dinslaken” von Yitzhak Sophoni Herz dringend zur Lektüre empfohlen.

Eine gekürzte deutsche Übersetzung des Textes und weitere Augenzeugenberichte aus jener Nacht in Dinslaken finden Sie auf der Website der Städtepartnerschaft von Dinslaken mit dem israelischen Arad.

Weitere Fakten zur jüdischen Gemeinde in Dinslaken gibt es hier, einen Auszug aus einem Buch des Dinslakener Holocaust-Überlebenden Fred Spiegel können Sie hier lesen.

Das Foto ganz oben zeigt das Mahnmal für die Opfer der Pogromnacht in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm.

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Unterwegs Gesellschaft

Scheint die Sonne auch für Nazis?

Auf Demonstrationen ist es nicht groß anders als im Fußballstadion oder auf Rockkonzerten: man ist umgeben von Menschen, mit denen man ganz offensichtlich gemeinsame Interessen teilt, aber wenn man sie sich so ansieht und anhört, kann man sich beim besten Willen nicht mehr vorstellen, mit ihnen irgendetwas gemein zu haben.

Die NPD hat für heute in Bochum zu einer Demonstration gegen “Überfremdung”, “Islamisierung” und “Ausländerkriminalität” aufgerufen und die Bochumer Öffentlichkeit reagierte mit Gegenveranstaltungen. Die Hauptkundgebung, auf die ich auch hier in der Sidebar hingewiesen hatte, stand unter dem Motto “Wir sind Bochum – Nazis sind es nicht!”, was einmal mehr ein beeindruckend merkwürdiger Slogan ist. Denn zum einen sollte es ja genau darum gehen, dass gewisse rechtsextreme Positionen inzwischen mitten in der Gesellschaft angekommen und also sehr wohl auch Teil dieser Stadt sind (ob man will oder nicht), zum anderen: Was sind Nazis dann? Wanne-Eickel?

Trotzdem ging ich heute Mittag natürlich zum Dr.-Ruer-Platz, wo sich etwa 2.000 Menschen versammelt hatten. Das ist im Vergleich zu den etwa 150 marschierenden Nazis zwar beeindruckend (Redner: “Wir sind mehr wie die Gegenseite.” – Publikum: “Als!”), andererseits aber gerade mal 0,5% der Einwohner der Stadt. Aber irgendwie konnte ich, nachdem ich fünf Minuten den Rednern gelauscht hatte, nur zu gut verstehen, wenn man mit dieser Veranstaltung nichts zu tun haben wollte: Da wurde das Scheitern der Konferenz von “Pro Köln” als leuchtendes Beispiel für zivilen Widerstand dargestellt und mit keinem Wort erwähnt, dass prügelnde und Steine werfende Autonome das Bild des friedlichen Protests erheblich gestört hatten. Immerhin zu Gewaltlosigkeit wurde aufgerufen, woran sich die vielen älteren Leute und Kinder auf dem Platz vermutlich auch von sich aus gehalten hätten. Die Antifa, denen man das hinter die Löffel hätte schreiben müssen, hatte eine eigene Veranstaltung, ein paar hundert Meter weiter.

Wirklich zu viel wurde es mir dann, als ein DGB-Mann ans Mikrofon trat und losbrüllte. Bei geifernden Menschen ist es mir egal, welche Position sie vertreten und wie sie heißen: ich kann das Geschrei nicht ertragen und es ist mir völlig schleierhaft, wie sie damit überhaupt ein Publikum erreichen können. Aber vielleicht lenkt sowas einfach ab, wenn man nichts zu sagen hat (Hitler- und/oder Lafontaine-Vergleiche bitte selbst einsetzen).

Von allen Rednern blieb mir nur ein junger Musiker im Gedächtnis, dessen Ansprache über “Nazis gehören hier nicht hin!” und “Verbietet endlich die NPD!” hinausging. Er geißelte die allgemeine Islamophobie, die auch vor “Mainstreammedien” wie “‘Spiegel’, ‘Stern’ und ‘Focus'” nicht Halt mache. Dieser Hauch von inhaltlicher Auseinandersetzung kam bei den Zuhörern aber nicht so gut an wie das Gebrüll des DGB. Kurz darauf war die Kundgebung vorbei.

Beeindruckender als diese kleine Massenveranstaltung, auf denen ich mich sowieso nie besonders wohl fühle, waren die vielen Menschen, die mit Aufklebern und Buttons auf der Jacke durch die Stadt liefen und so ihre ganz eigenen Zeichen gegen die Nazis setzten. Nennen Sie mich pathetisch, aber eine alte Dame, die beim Wochenendeinkauf “No Go für Nazis” auf dem Pelzmantel kleben hat, ist ein viel stärkeres Bild als ein paar Tausend Leute mit bemalten Bettlaken und SPD-Fahnen.

Der Aufmarsch der NPD läuft zur Stunde noch. Sie ziehen vorbei an Plakaten, auf denen “Nazis haben kleine Pimmel” steht, und an Kirchen, deren Glocken Sturm läuten und so die Parolen weitgehend übertönen.

Liveticker dazu gibt es bei den Ruhrbaronen, den Ruhrnachrichten und via twitter vom Westen.