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Literatur Sport

Einmal gemischte Gefühle, bitte!

Chris­toph Kra­mer ist mir grund­sätz­lich schon mal sym­pa­thisch, denn er hat sowohl für den VfL Bochum (2011–2013) als auch für Borus­sia Mön­chen­glad­bach (2013–2015, 2016–2024) gespielt. Das haben an nam­haf­ten Spie­lern sonst eigent­lich nur Kevin Stö­ger und Micha­el Front­zeck geschafft — und über Letz­te­ren redet in Städ­ten, in denen er mal unter Ver­trag gestan­den hat, nie­mand gern.

Außer­dem ist Chris­toph Kra­mer einer der weni­gen Fuß­ball-Exper­ten im deut­schen Fern­se­hen, die ich nicht bei jedem zwei­ten Satz schüt­teln möch­te,1 und der bis­her ein­zi­ge Mensch, der Fuß­ball­welt­meis­ter wur­de und einen Roman auf Platz 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste hat­te.

In einer Welt, in der es Sport­me­di­en erwäh­nens­wert erscheint, wenn ein Fuß­ball­pro­fi Bücher liest, gibt es natür­lich schnell ein gro­ßes Hal­lo, wenn einer ein Buch schreibt. Die Öffent­lich­keit – Sport- und Kul­tur­me­di­en in sel­te­ner Ein­tracht Braun­schweig, sowie der durch­schnitt­li­che Dul­li auf Social Media, der ja einem weit unter­durch­schnitt­li­chen Dul­li in der Eck­knei­pe ent­spricht – wit­tert ein wei­ches Ziel. So wie wir Musi­ker bei Bene­fiz-Fuß­ball­tur­nie­ren für selbst­ver­ständ­lich hal­ten, aber bei Fuß­bal­lern, die im Trai­nings­la­ger oder andern­orts zur Gitar­re grei­fen, schon mal in vor­aus­ei­len­der Fremd­scham zusam­men­zucken, soll der Herr Mil­lio­när bit­te­schön bei sei­nem Leis­tungs­druck blei­ben.2

Kra­mers Roman „Das Leben fing im Som­mer an“, jeden­falls, erschien Mit­te März und es ist nicht dem Umfang oder der Kom­ple­xi­tät des Werks geschul­det, dass ich erst jetzt mit dem Rezen­si­ons­exem­plar fer­tig gewor­den bin, son­dern allein mei­ner eige­nen Ver­plant­heit. Es ist aller­dings auch ange­mes­sen, die­ses Buch auf einer Cam­ping­de­cke in der Juni­son­ne zu lesen, trägt es den Som­mer (die Jah­res­zeit, nicht Yann — oh, bit­te!) doch schon im Titel.

Haupt­fi­gur und Erzäh­ler ist der 15-jäh­ri­ge Chris Kra­mer aus Solin­gen, der gera­de aus der Jugend­ab­tei­lung von Bay­er Lever­ku­sen geflo­gen ist, und alle, die an die­ser Stel­le fra­gen: „Häää, also ist das eine Auto­bio­gra­phie und gar kein Roman?!“, haben in den letz­ten ca. 15 Jah­ren offen­bar nicht viel vom Lite­ra­tur­be­trieb (Knaus­gård, Mey­er­hoff, Stuck­rad-Bar­re) mit­be­kom­men. Aber das ist natür­lich auch ein schö­ner Neben­ef­fekt, wenn so ein Fuß­bal­ler mal ein Buch schreibt: Dass das plötz­lich ganz vie­le Men­schen lesen, die sonst viel­leicht nur zum „Kicker“-Sonderheft zum Sai­son­be­ginn grei­fen. Da muss man als kul­tur­pes­si­mis­ti­scher Bil­dungs­bür­ger schon mal sei­ne Prio­ri­tä­ten straf­fen.

Chris spielt Fuß­ball, hängt mit sei­nen bes­ten Freun­den John­ny und Sal­vo rum, him­melt sei­ne Mit­schü­le­rin Debbie an, fühlt sich aber viel zu uncool und zu häss­lich, um sie anzu­spre­chen. Er ist also ein ganz nor­ma­ler Teen­ager in einer Zeit, in der sich jun­ge Män­ner noch nicht via Tik­Tok und Männ­lich­keits-Pod­casts radi­ka­li­siert haben, denn der Roman spielt im Som­mer 2006.

Also: Der Roman gibt vor, im „Sommermärchen“-Sommer von 2006 zu spie­len, aber nahe­zu jede Pop­kul­tur-Refe­renz ist ana­chro­nis­tisch: Songs wie „Apo­lo­gi­ze“, „The Way I Are“ und „After Tonight“ und der Film „Nachts im Muse­um“, die alle­samt erwähnt wer­den, kamen erst spä­ter raus und im Buch beginnt die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft, als in NRW schon Som­mer­fe­ri­en sind. Das lässt sich mit Schlud­rig­keit nicht erklä­ren, das muss Absicht sein, um eine klei­ne Neben­wirk­lich­keit zu erschaf­fen, die eben Roman ist und nicht Tat­sa­chen­be­richt. Was ja auch total okay ist — selbst wenn man in jedem Freund­schafts­buch „Pop­kul­tur“ und „Fak­ten che­cken“ als liebs­tes Hob­by ein­trägt.

In drei Tagen ent­spinnt sich auf einer Par­ty im Ver­eins­heim, im Frei­bad, im Kino, auf dem Hof­fest der eige­nen Eltern und in einem frem­den Auto eine Geschich­te, wie wir sie so oder so ähn­lich fast alle erlebt haben: Freund­schaf­ten, Alko­hol, die (natür­lich gro­ße und ein­zig wah­re) ers­te Lie­be, maxi­ma­le emo­tio­na­le Auf­ge­wühlt­heit und ein Aben­teu­er, das einem hin­ter­her kei­ner glau­ben wird. Da kann man jetzt ober­leh­rer­haft am Rand ste­hen und meckern, dass das aber alles ganz schön gene­risch sei, aber so ist das Leben ja nun wirk­lich meis­tens in dem Alter und nur die, die so etwas nicht erlebt haben (oder erfolg­reich ver­drängt haben, dass sie selbst mal jung waren), ste­hen hin­ter­her am Rand und meckern ober­leh­rer­haft rum.

Die Schil­de­run­gen kamen mir sogar so bekannt vor, dass ich mich irgend­wann gefragt habe, ob eigent­lich alle Jungs gleich sind oder wir nur alle die glei­chen Bücher, Fil­me und Songs kon­su­miert haben und des­halb alle die glei­chen Gedan­ken hat­ten, was Mäd­chen3 anging. Kra­mer schafft es dan­kens­wer­ter­wei­se, sei­nen Prot­ago­nis­ten aus­rei­chend reflek­tie­ren zu las­sen: „Ich hass­te es eigent­lich, so zu reden, aber alle Jungs spra­chen so über Mäd­chen.“ Stellt sich raus: Wer­den­de Män­ner hat­ten schon vor Tik­Tok und Männ­lich­keits-Pod­casts den Hang zu pro­ble­ma­ti­schem Ver­hal­ten, peer pres­su­re sei Dank.

Ich habe genug Roma­ne gele­sen und abge­bro­chen, in denen mir die Spra­che zu manie­riert erschien, die Cha­rak­te­re zu uner­träg­lich oder das gan­ze Werk zu unin­ter­es­sant. Das war hier alles nicht der Fall. Natür­lich ist es min­des­tens frag­lich, ob der Roman ver­öf­fent­licht wor­den wäre (und dann noch mit einem der­ar­ti­gen media­len Bohei) und ich ihn gele­sen hät­te, wenn der Autor nicht Chris­toph Kra­mer gehei­ßen hät­te, aber ich wür­de behaup­ten, dass ich Werk und Autor aus­rei­chend tren­nen kann, um das Buch auch so gut zu fin­den.

Klar: Kra­mer ist nicht Wolf­gang Herrn­dorf (und der Gedan­ke, dass er „Tschick“ gele­sen hat und moch­te, klopft mehr als ein­mal an) und ein Buch, das ich mit 41 lese, wird mich nicht mehr so beein­dru­cken wie es Jochen Tills „Der Jun­ge Son­nen­schein“ mit 16 oder eben „Tschick“ mit 27 tat, aber ver­gli­chen mit einem wei­te­ren Coming-of-Age-Roman, den ich mit Anfang Zwan­zig irgend­wie moch­te, vor eini­gen Jah­ren aber mit einer Mischung aus Rat­lo­sig­keit und Ableh­nung noch ein­mal gele­sen hat­te („Rock­ta­ge“ von Dana Bönisch), habe ich mich mit sei­nem Buch immer wohl gefühlt. Was viel­leicht auch dar­an liegt, dass der Haupt­cha­rak­ter im Lau­fe der Geschich­te sehr viel mehr zum Akteur wird als die Schluf­fis in vie­len ver­gleich­ba­ren Büchern und man das mit fort­ge­schrit­te­nem Alter und nach erfolg­rei­cher The­ra­pie dann doch zu schät­zen weiß.

Wenn der Schrift­stel­ler Chris­toph Kra­mer mit 15 wirk­lich schon so weit war wie sein Chris im Roman, kann man ihn jeden­falls nur beglück­wün­schen: Der weint und spricht davon, wie er sei­nen bes­ten Freund liebt („Nicht Lie­be im klas­si­schen Sin­ne. Eine ande­re, aber, glaub­te ich gera­de, viel­leicht ja die ein­zig wah­re.“). Der redet zu kei­nem Zeit­punkt davon, dass er sei­nen Crush ger­ne „ficken“, „bum­sen“, „nageln“, „vögeln“ oder sonst­wie beschla­fen möch­te (unge­fähr das ein­zi­ge, was ich aus Ben­ja­min Leberts „Cra­zy“ erin­ne­re). Der nicht so cool und abge­klärt tun will wie die ande­ren Jungs.

Trotz­dem gibt es in „Das Leben fing im Som­mer an“ die Frau bzw. das Mäd­chen als erra­ti­sches und unlo­gi­sches Wesen, die­sen John-Green-Topos. Eigent­lich müss­te man dafür die augen­rol­len­de Gesell­schafts­kri­tik­vo­ka­bel „schwie­rig“ her­vor­ho­len, wenn einem nicht genug Frau­en aus dem eige­nen Umfeld ein­fie­len, deren Ver­hal­ten zumin­dest an irgend­ei­nem Punkt erstaun­li­che Ähn­lich­keit zu dem der weib­li­chen Roman­fi­gur auf­ge­wie­sen hät­te. Aber bei kur­zem Nach­den­ken: Män­ner eben auch. Hier greift das Ave Maria für die etwas rum­pe­li­ge­ren Begeg­nun­gen inner­halb unse­rer Gene­ra­ti­on: „Ich hof­fe, da war in der Zwi­schen­zeit mal ein The­ra­pie­platz frei“.

Für mich ist die Hand­lung der meis­ten Bücher zweit­ran­gig. Ent­schei­dend ist, wie es geschrie­ben ist, und wie man sich beim Lesen fühlt.4 Und in die­sen Kate­go­rien ist das Buch mehr als ein schmut­zi­ger Sieg, denn Kra­mer hat ein Auge für Details und ein Talent für ori­gi­nel­le Ver­glei­che und For­mu­lie­run­gen. Er muss kein gro­ßes world buil­ding betrei­ben, es rei­chen ein paar gro­be Stri­che: Feld, Frei­bad, Trink­hal­le — sofort läuft der Asso­zia­ti­ons­film; wobei erst­mal unklar ist, ob man die eige­ne Jugend erin­nert oder Fil­me wie „Cra­zy“, „Schu­le“ oder „Tschick“.

Am Ende geht alles ganz schnell: Statt eines Zeit­sprungs wie am Ende von „Dawson’s Creek“, „O.C. Cali­for­nia“ oder „Har­ry Pot­ter“ gibt es drei. Eine spek­ta­ku­lä­re Kurz-vor-Schluss­poin­te5 hält das Buch noch bereit, dann sehen wir dem pen­sio­nier­ten Fuß­ball­pro­fi Chris­toph Kra­mer beim Schrei­ben zu und sol­len all das glau­ben, was er uns auf den 240 Sei­ten davor erzählt hat, obwohl der legal dis­clai­mer am Ende des Buchs natür­lich das Gegen­teil behaup­ten muss. Wer die Fra­ge, ob das, was in einem Roman steht, jetzt der Wahr­heit ent­spricht (und wie­weit), für spiel­ent­schei­dend hält, kann sich an die­sem Bei­spiel unnö­tig in Rage den­ken.

Für alle ande­ren ist eine im bes­ten Sin­ne total okaye Som­mer­lek­tü­re.

  1. Man muss da nie­man­den nament­lich her­vor­he­ben und außer­dem ist Stef­fen Freund ja nur für RTL im Euro­pa­po­kal-Ein­satz, also dort, wo kei­ner mei­ner Ver­ei­ne auf abseh­ba­re Zeit spielt. []
  2. Oder gefäl­ligst wenigs­tens gleich so einen aus­ge­wie­se­nen Trash schrei­ben wie wei­land Bodo und Bian­ca Ill­gner. []
  3. Es ist ja dann doch eine recht hete­ro­nor­ma­ti­ve Welt. []
  4. Him­mel: wie ich mich beim Lesen füh­le. Män­ner und ihre Gefüh­le, ey. []
  5. Tref­fer in der Nach­spiel­zeit, der Mann hat schließ­lich mal für Bay­er Lever­ku­sen gespielt. []
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Musik Leben Unterwegs

Surf’s Up — In memoriam Brian Wilson

Die Son­ne mach­te sich gera­de bereit, sich das Prä­fix „Abend-“ über­zu­wer­fen und, wenn auch schon tief ste­hend, den Tag wür­de­voll abzu­run­den. Am Strand wäre es sicher­lich noch mal bedeu­tend schö­ner gewe­sen (so wie es am Meer immer schö­ner ist) als am Ran­de der Bochu­mer Innen­stadt, aber da wären wir jetzt nicht so schnell hin­ge­kom­men, außer­dem war Abend­essens­zeit und als wir uns an den Tisch setz­ten, frag­te ich also mei­nen Sohn, ob er jetzt bereit sei für mein klei­nes Impuls­re­fe­rat über Bri­an Wil­son und die Beach Boys.

Eine Stun­de zuvor war die Nach­richt auf mei­nem Smart­phone ein­ge­gan­gen, dass Wil­son, einer der Pio­nie­re der Pop­mu­sik im 20. Jahr­hun­dert; einer der aller­größ­ten Künst­ler der Pop­kul­tur; ich zöge­re nicht zu sagen: einer der Göt­ter der schö­nen Küns­te, im Alter von 82 Jah­ren gestor­ben war. Die Spo­ti­fy-Play­list „This Is The Beach Boys“ hat­te also schon die Zube­rei­tung unse­res Abend­essens laut­stark unter­malt.

Strand von Scheveningen, Niederlande

Wäh­rend wir Hähn­chen­brust mit Thy­mi­an und Gnoc­chi mit Lauch – ein ange­mes­sen som­mer­li­ches Gericht – aßen, muss­te das Kind nun erdul­den, wie ich ihm von der Grün­dung der Beach Boys durch die Gebrü­der Wil­son und ihren Cou­sin berich­te­te; davon, wie Bri­an Wil­son Ein­flüs­se aus Rock ’n‘ Roll, R&B und Bar­ber­shop-Gesang auf bis­her unbe­kann­te Art kom­bi­niert und damit die moder­ne Pop­mu­sik min­des­tens mit-erfun­den hat­te; wie wir Ein­flüs­se von Beach-Boys-Kom­po­si­tio­nen auch heu­te noch in den Songs unse­rer Lieb­lings-Car­toon-Serie „Phi­ne­as & Ferb“ wie­der­fin­den könn­ten. Ich erzähl­te von Bri­an Wil­sons psy­chi­schen Pro­ble­men, sei­nem Aus­stieg aus dem Tour-Leben und den Jah­ren, die der Musi­ker qua­si nur im Bett ver­bracht hat­te — ein so absur­der und pop­kul­tu­rell bedeut­sa­mer Fakt, dass die Baren­aked Ladies ihm in den Neun­zi­gern einen gan­zen Song wid­me­ten, den Wil­son selbst, eini­ger­ma­ßen gene­sen, eini­ge Jah­re spä­ter covern soll­te.


Die Musik der Beach Boys war in mei­ner Kind­heit so all­ge­gen­wär­tig, dass ich gar nicht sagen könn­te, wo sie mir erst­mals begeg­net ist. Viel­leicht im „Babybel“-Werbespot der frü­hen 1990er Jah­re, in dem der wachs­ver­klei­de­te Mini­kä­se auf die Melo­die von „Bar­ba­ra-Ann“ (übri­gens kei­ne Wil­son-Kom­po­si­ti­on) besun­gen wur­de; viel­leicht durch die ein­ge­deutsch­ten Ver­sio­nen ihrer Hits durch eine Band namens – I kid you not – Strand­jungs, die damals im Radio lie­fen (aus „Sur­fin‘ USA“ wur­de etwa „Sur­fen auf­’m Bag­ger­see“ — übri­gens mit mei­nem heu­ti­gen „MoMa“-Kollegen Peter Groß­mann am Mikro­fon); viel­leicht durch „Koko­mo“, die­sen objek­tiv furcht­ba­ren – und Bri­an-Wil­son-frei­en – Ohr­wurm aus dem Tom-Crui­se-Film „Cock­tail“;  viel­leicht durch die maxi­mal unse­riö­se „Super Hits“-CD aus den Wild­west-Tagen der Musik­in­dus­trie, die mein Vater besaß und die sich extrem auf das Surf-las­ti­ge Früh­werk der Band fokus­sier­te. Ver­dammt: Sogar bei „Hal­lo Spen­cer“, der NDR-Ant­wort auf die „Mup­pet Show“, tauch­te eine Band auf, die Quietsch­beus hieß!

Maximal unseriöse „Super Hits“-CD der Beach Boys

Als ich dann selbst tief ein­tauch­te in die Welt der Pop­kul­tur führ­te natür­lich gar kein Weg mehr an Bri­an Wil­son und den Beach Boys vor­bei: In den Sound­tracks von „Almost Famous“, „Vanil­la Sky“ und sogar „Das Expe­ri­ment“, in den Musik­zeit­schrif­ten, die ich ver­schlang, erst recht in der Musik, die ich hör­te und lieb­te. Ben Folds Five, The Ramo­nes, Tra­vis und so vie­le ande­re Bands wür­den nicht so klin­gen, wie sie klan­gen, wenn sie nicht auf die Wilson’schen Chor-Arran­ge­ments und Har­mo­nien hät­ten zurück­grei­fen kön­nen.

Ihre Songs waren so groß und teil­wei­se syn­onym mit Lie­be, dass Neil Han­non von The Divi­ne Come­dy in sei­nem Mehr­fach-Meta-Lie­bes­lied zwei bedeu­ten­de Zuta­ten für den „Per­fect Love­song” aus­mach­te: „A divi­ne Beat­les bass­li­ne /​ And a big old Beach Boys sound“. Mir ist genau heu­te auf­ge­fal­len, dass „Remem­ber“ von Air aus­gie­big den Beach-Boys-Song „Do It Again“ sam­plet.

Man kann eigent­lich fast jeden Song aus ihrem Gesamt­werk hören – und glaubt mir, ich arbei­te seit ges­tern Abend inten­siv dar­an! – und wird immer einen ande­ren, spä­te­ren Song fin­den, der mehr oder weni­ger deut­lich dar­an erin­nert (aller­dings auch etli­che frü­he­re Songs, bei denen sich Bri­an Wil­son und sei­ne Band­mit­glie­der bedient hat­ten).

Ich hab mich immer schon min­des­tens so sehr für die Hin­ter­grün­de und Ent­ste­hungs­pro­zes­se von Pop­kul­tur inter­es­siert wie für das eigent­li­che Werk und Bri­an Wil­son ist da in den 1960er Jah­ren etwas gelun­gen, was in die­ser Form sonst eigent­lich nur die Beat­les beherrsch­ten: Die Pro­duk­ti­ons­tech­ni­ken immer zu erwei­tern und die Gren­zen des Kon­zepts „Pop­song“ per­ma­nent zu ver­schie­ben und dabei immer noch Musik zu erschaf­fen, die einen ein­fach nicht kalt­las­sen kann. Das, was bei ande­ren in unschö­nem Mucker-Voka­bu­lar wie „Rock-Oper“ oder „Kon­zept­al­bum“ gip­fel­te, waren bei ihm immer noch Pop­songs — unend­lich kom­pli­ziert, so dass sie Men­schen, die sich mit Musik­pro­duk­ti­on oder Kom­po­si­ti­on beschäf­ti­gen, noch heu­te als Anschau­ungs­ma­te­ri­al die­nen, dabei aber immer noch so ein­deu­tig Pop, dass ich von den eige­nen Groß­el­tern bis zu mei­nem damals neu­ge­bo­re­nen Sohn wider­spruchs­los alle damit beschal­len konn­te.


Jan Wie­le ist für sei­nen Wil­son-Nach­ruf bei FAZ.net auf die – viel­leicht nicht wahn­sin­nig ori­gi­nel­le, aber wich­ti­ge – Idee gekom­men, den Tod von Bri­an Wil­son (und den von Sly Stone weni­ge Tage zuvor) mit der aktu­el­len Situa­ti­on in Kali­for­ni­en zu ver­schnei­den: Dass die­se bei­den Musi­ker, „die bei­de auf ihre Wei­se für kali­for­ni­sche Träu­me stan­den“, nun aus­ge­rech­net in jenen Tagen ster­ben muss­ten, in denen Donald Trump die Natio­nal­gar­de im frei­heits­lie­ben­den „Gol­den Sta­te“ auf­mar­schie­ren und Pro­tes­te gegen sei­ne unmensch­li­che Abschie­be­po­li­tik nie­der­schla­gen lässt, muss einem schon sym­bo­lisch vor­kom­men.

Strand von Santa Cruz, CA

Kali­for­ni­en – der ein­zi­ge USA-Bun­des­staat, der bis heu­te einen eigen­stän­di­gen deut­schen Namen hat – prägt für die meis­ten von uns Aus­län­dern das Ame­ri­ka­bild wie maxi­mal noch New York City. Der Staat ist gleich­zei­tig pars pro toto für die USA und unend­lich weit weg von den red­necks im fly-over coun­try. Es ist die Geschich­te des Gold­rauschs, der Enter­tain­ment-Indus­trie, des Inter­nets in all sei­nen befrei­en­den und beun­ru­hi­gen­den Aggre­gat­for­men, die vom Paci­fic Coast High­way und die vom Strand. Die Beach Boys haben – auch wenn jetzt wie­der über­all zu lesen ist, dass ja nur Bri­ans Bru­der Den­nis, der Schlag­zeu­ger der Band, wirk­lich Sur­fer war – Kali­for­ni­en und damit die USA auf eine Art erfun­den und zur Mar­ke gemacht.

In den ers­ten Zei­len von „Fun, Fun, Fun“ – einem Song, der den Spaß der­art ernst nimmt, dass er ihn gleich drei­mal im Titel trägt – singt Mike Love „Well, she got her daddy’s car /​ And she crui­sed through the ham­bur­ger stand now“ und skiz­ziert damit – von der unend­lich genia­len Phra­sie­rung von „ham­bur­ger stand now“ mal ganz ab – das, was Men­schen, die sich nicht näher für die USA inter­es­sier­ten, über Jahr­zehn­te über die USA dach­ten: Autos und Fast Food. Wenn Du hier einen Pflock in die Erde schlägst, bil­det er eine Linie mit Geor­ge Lucas‘ „Ame­ri­can Graf­fi­ti“ und wei­ten Tei­len von Quen­ti­on Taran­ti­nos „Pulp Fic­tion“. Dass der Song im Früh­jahr 1964 erschien, zwei­ein­halb Mona­te nach der Ermor­dung von John F. Ken­ne­dy, zu einer Zeit, als der Viet­nam­krieg gera­de anfing, rich­tig unschön zu wer­den, ist Kon­text, der das Ame­ri­ka-Kli­schee per­fekt macht. Stu­die­ren­den­pro­tes­te an kali­for­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten? The Beach Boys got you cover­ed.

Mein Kali­for­ni­en-Bild ist geprägt von den Besu­chen bei mei­ner Fami­lie, die in der San Fran­cis­co Bay Area, in Nor­Cal, lebt, weit weg von den ober­fläch­li­chen Show­biz-Leu­ten in SoCal (natür­lich ist auch Kali­for­ni­en noch ein­mal in sich gespal­ten, wenn auch nicht so tief wie der Rest der USA). Ich hab’s – von einem Aus­flug nach Dis­ney­land per Flug­zeug mal ab – nie wei­ter süd­lich geschafft als Big Sur. Und gleich­zei­tig ist der Mythos Süd­ka­li­for­ni­ens natür­lich auch tief in mein Herz ein­ge­ba­cken — durch „The O.C.“, die Red Hot Chi­li Pep­pers und die Bands von Andrew McMa­hon. Der ist gera­de auf Tour­nee, um das 20. Jubi­lä­um von „Ever­y­thing In Tran­sit“ zu fei­ern, und pos­te­te ges­tern sogleich ein Insta­gram-Reel, in dem er Wil­son gedach­te und des­sen Ein­fluss auf sein eige­nes Album wür­dig­te. Soll­te ich jemals mit mei­nem vor vier Jah­ren begon­ne­nen Solo­al­bum fer­tig wer­den, wird dar­auf ein Song ent­hal­ten sein, der „Cali­for­nia Girls“ heißt, den Mythos Kali­for­ni­en fei­ert und sich im Refrain natür­lich scham­los bei den Beach Boys bedient — man kann das Wort „Cali­for­nia“ ja nur im Satz­ge­sang sin­gen.


Ich bin mir rela­tiv sicher, dass ich das Meer auch ohne die Beach Boys lie­ben wür­de (ich fah­re nach Hol­land, seit ich zwei Jah­re alt bin!), aber die Melan­cho­lie, die jeden Strand­be­such umweht, die kommt wahr­schein­lich zu einem guten Teil von der Band.

Jens Bal­zer schafft es in sei­nem Nach­ruf bei „Zeit Online“, wirk­lich jeden Win­kel von Wil­sons Schaf­fen aus­zu­leuch­ten und doch per­sön­lich und mensch­lich zu schlie­ßen. Ann Powers, die gro­ße Pop-Erklä­re­rin bei „NPR Music“, erin­nert auch noch mal aus­führ­lich an die vie­len Her­aus­for­de­run­gen und Tief­schlä­ge im Leben des Man­nes, des­sen Musik für sehr ober­fläch­li­che Beobachter*innen vor allem für „Son­ne, Strand und gute Lau­ne“ stand.

Strand von Egmond Aan Zee, Niederlande

Dabei muss man ja nicht ein­mal zu „God Only Knows“, „I Just Was­n’t Made For The­se Times“ (schon der Titel!) oder „Surf’s Up“ grei­fen: Selbst „Fun, Fun, Fun“ hat eine bedroh­lich an eine Sire­ne erin­nern­de Hin­ter­grund­me­lo­die und der gan­ze Spaß endet, wenn Vati dem über­mü­ti­gen Mäd­chen die Auto­schlüs­sel weg­nimmt. Die­se Wider­sprüch­lich­keit des Lebens wird in „God Only Knows“ beson­ders deut­lich: Die ers­te Zei­le lau­tet – für ein Lie­bes­lied eher unge­wöhn­lich – „I may not always love you“; eine Tren­nung bedeu­te zwar nicht das Ende der Welt, aber ob und wie der Spre­cher her­nach wei­ter­le­ben kön­ne, dass wis­se nur Gott allein.

Bei Bob Dylan hat­te die Ant­wort auf alle wich­ti­gen Fra­gen ein paar Jah­re zuvor schon deut­lich irdi­scher im Wind geweht.

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Musik

Songs 5/​25

Asche in Vinyl. Jaz­z/Afro­beat-Fusi­on. Indie­rock. Ame­ri­ca­na. Rob­bie Wil­liams. Das sind die 5 Songs, die Ihr im Mai 2025 gehört haben soll­tet:

Die­se und noch mehr Songs gibt’s im Cof­fee And TV-Mix­tape:

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Coffee And TV empfiehlt: Sounds Like Sugar 2025

Ver­gan­ge­nen Juni fand auf dem Gelän­de von Schloss Strün­ke­de in Her­ne das ers­te Sounds Like Sugar Fes­ti­val statt, eine zau­ber­haf­te klei­ne Ver­an­stal­tung: Ein Nach­mit­tag und Abend vol­ler span­nen­der Acts in einem male­ri­schen Burg­hof und einer klei­nen Kapel­le; man trink eher un Spritz als Dosen­bier; es gibt einen U‑Bahn-Anschluss direkt vor der Tür, so dass man kurz vor Mit­ter­nacht nach Hau­se fah­ren und im eige­nen Bett schla­fen kann. So stellt man sich mit über 35 doch das idea­le Musik­fes­ti­val vor (und das alles für weni­ger als 20 Euro Ein­tritt, was heut­zu­ta­ge ja nun wirk­lich das ist, was wir im Ruhr­ge­biet als „Schnap­per“ bezeich­nen).

Philine Sonny beim Sounds Like Sugar 2024

Bei der Pre­mie­re spiel­ten unter ande­rem Mar­ya­ka, Phi­li­ne Son­ny, Loki, Zim­mer 90 und Ätna und wir haben damals bei Insta­gram und in unse­rer Musik­sen­dung dar­über berich­tet.

Am 12. Juli steht jetzt die zwei­te Aus­ga­be des Sounds Like Sugar an, die wir ger­ne und wärms­tens emp­feh­len:

Mit Amil­li aus Bochum und Brock­hoff aus Ham­burg sind zwei Acts dabei, die wir hier in unse­rer kurz­le­bi­gen Musik­sen­dung mehr­fach gefea­tur­et haben, aber auch der Rest des Line-Ups ist viel­ver­spre­chend.

Wir wer­den da sein!

Alle Infos und Tickets unter soundslikesugar.de

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Musik

Songs 4/​25

Ein Song, bei dem ich mich immer erin­nern wer­de, wo ich ihn das ers­te Mal gehört hat; ein über­ra­schen­des Come­back; ein Song, der für und gegen schlech­te Lau­ne geeig­net ist, und mehr — das sind die 5 Songs, die Ihr im April 2025 gehört haben soll­tet:

Noch mehr Songs gibt’s wie immer auf unse­rem Cof­fee-And-TV-Mix­tape:

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PS: Ja, wir sind ein biss­chen spät dran, aber ein paar tech­ni­sche Her­aus­for­de­run­gen, Fei­er­ta­ge und die ESC-Vor­be­rei­tung sind schuld!

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Musik Leben

Wir haben die Musik

Es war im Som­mer 2000, der 12. August: Mein bes­ter Freund hat­te her­aus­ge­fun­den, dass in Rees-Hald­ern, rund 40 Kilo­me­ter von Dins­la­ken ent­fernt, ein Musik­fes­ti­val statt­fand, auf dem unter ande­rem Embrace, Soul­wax und K’s Choice auf­tre­ten wür­den — und zwar heu­te, am letz­ten Sams­tag der Som­mer­fe­ri­en! Da woll­ten wir hin, also druck­te ich bei mei­ner Mut­ter in der Stadt­bi­blio­thek eine Weg­be­schrei­bung aus und das, was wir damals noch nicht „Time­ta­ble“ nann­ten. Ich besorg­te Geträn­ke und ein paar Snacks und mein bes­ter Freund über­zeug­te sei­ne gro­ße Schwes­ter, uns dort­hin zu fah­ren und abends wie­der abzu­ho­len („Um halb Elf, an der glei­chen Stel­le!“ — klingt wie Mit­tel­al­ter, es gibt aber ver­ein­zel­te Hun­de, die damals schon leb­ten und es heu­te auch noch tun). Es soll­te mein ers­tes von zwölf Hald­ern Pop Fes­ti­vals wer­den und mich, dem but­ter­fly effect fol­gend, von Dins­la­ken nach Bochum brin­gen.

Einer der zahl­rei­chen Acts, deren Namen uns nichts sag­ten, war ein Typ mit ver­knautsch­tem Gesicht und Akus­tik­gi­tar­re. Das Pro­gramm­heft klär­te uns auf, dass es sich um Tom Liwa aus Duis­burg hand­le, bis­her bekannt als Sän­ger einer Band namens Flower­porn­oes, jetzt auf Tour mit sei­nem Solo-Debüt mit dem etwas schnul­zig klin­gen­den Titel „St. Amour“. Wir waren anfangs nicht über­zeugt, aber irgend­wie gelang es die­sem Mann, uns wäh­rend sei­nes knapp 40-minü­ti­gen Sets auf sei­ne Sei­te zu zie­hen. Die Songs waren eigen­tüm­lich inter­es­sant, sowas kann­ten wir nicht aus dem Radio und noch nicht mal von Viva II. Wir waren als Skep­ti­ker gekom­men und gin­gen als Fans.

Tom Liwa beim Haldern Pop 2000

Das war inso­fern bemer­kens­wert, als ich damals nicht nur nichts von deutsch­spra­chi­ger Musik wis­sen woll­te, son­dern mir sogar eng­lisch­spra­chi­ge Acts aus Deutsch­land suspekt waren. Ja, okay: Die Fan­tas­ti­schen Vier exis­tier­ten, aber ich hat­te gera­de erst ange­fan­gen, mich vor­sich­tig mit Toco­tro­nic und den Ster­nen zu beschäf­ti­gen; eine Rück­kehr zu Her­bert Grö­ne­mey­er oder der Mün­che­ner Frei­heit, mit denen ich auf­ge­wach­sen war, erschien noch undenk­bar.

Es ist für Men­schen, die heu­te jung sind, unvor­stell­bar und selbst für uns, die wir dabei waren, manch­mal über­ra­schend, aber: Man konn­te damals nicht ein­fach sofort jede Musik hören, die man hören woll­te. Schon gar nicht in nie­der­rhei­ni­schen Klein­städ­ten. Theo­re­tisch hät­te ich das Album noch am sel­ben Abend bei Ama­zon bestel­len kön­nen, prak­tisch hat­te ich noch nicht mal ein Giro­kon­to, von dem aus ich es hät­te bezah­len kön­nen. Es dau­er­te also bis zu den Herbst­fe­ri­en, bis ich im Media­markt in der Köl­ner Hohen Stra­ße nach die­ser „Plat­te“, wie man damals rät­sel­haf­ter­wei­se auch zu CDs sag­te, suchen konn­te.

Die ers­ten Zei­len des Albums, „Dies ist kein Brief /​ Nur eine Stra­ßen­kar­te /​Auf der ich mit dem Fin­ger ent­lang­fahr /​ Wäh­rend ich auf Ant­wort war­te“ im Song „Eski­mo“, waren auf­re­gen­der als neun Jah­re Deutsch­un­ter­richt am Gym­na­si­um. Und dann so lapi­dar dahin­ge­wor­fe­ne Zei­len wie „All mei­ne Geschwis­ter sind Ein­zel­kin­der“, „Die­se Welt ist ein selt­sa­mer Platz, an dem man immer wie­der ver­gisst, wie trau­rig man ist“, „Und jetzt sitzt Du da mit Dei­nem Streich­quar­tett und ich hab Kopf­schmer­zen vom Tele­fo­nie­ren“ — wow!

Die Tex­te haben genau jenes Mischungs­ver­hält­nis aus kon­kret und kryp­tisch, dass man sich in nahe­zu Lebens­pha­se dar­in wie­der­zu­fin­den glaubt: „Und was denkt ein Pin­gu­in /​ In sei­nem Käfig im Zoo /​ Im Herbst, wenn die Vögel zieh’n /​ In die Son­ne?“ Ja, klar: Fühl ich. Und das vor­ge­tra­gen mit die­ser leicht knar­zi­gen, aber trotz­dem sehr war­men Stim­me, die ein­fach klingt wie die eines Freun­des, den „alt“ zu nen­nen man sich ver­bie­ten wür­de, weil man doch ein Jahr­gang ist, der aber am Ende eben dann doch genau das ist. Bei „The Voice“ kommt man damit nicht weit, aber das ist ja – neben der text­li­chen Qua­li­tät – eben genau das, was Tom Liwa von heu­ti­gen wie­der­ver­wert­ba­ren Deutsch­pop­mu­si­kern unter­schei­det.

„Gib ihnen was sie wol­len“ klingt wie eine bru­ta­le, aber nicht unem­pa­thi­sche Abrech­nung mit Baby­boo­mern — aber das kann eigent­lich nicht sein, die waren doch erst Mit­te 40, als das Album erschien, und Liwa gehört selbst dazu. Also doch? Wahn­sin­nig viel pas­siert auch auf der Rück­bank irgend­wel­cher Autos — oder: Es pas­siert eben nicht, es wird immer nur ange­deu­tet, dass dort in der Ver­gan­gen­heit irgend­et­was pas­siert ist. Das ist für einen 17-Jäh­ri­gen, der sei­nen Füh­rer­schein nicht so bald machen soll­te, natür­lich wahn­sin­nig auf­re­gend!

Wie das oft so ist bei Songs, die man schon sehr lan­ge kennt: Wenn man sie nach vie­len Jah­ren wie­der hört, kann man immer noch jedes Wort mit­sin­gen — was einen aber nicht unbe­dingt näher an den Inhalt der Tex­te her­an­bringt, weil man über die­se eben gar nicht mehr nach­denkt, egal ob auf Eng­lisch oder Deutsch. Wovon han­deln also die gan­zen Lie­der? Von Men­schen und ihren Pro­ble­men; von Bezie­hun­gen, die dar­aus ent­ste­hen und dar­un­ter lei­den; von schlaf­lo­sen Näch­ten, eige­nen Unzu­läng­lich­kei­ten, Lei­den­schaf­ten und Ein­sam­kei­ten.

Das könn­te man ehr­li­cher­wei­se über wahr­schein­lich 90% aller Pop­songs sagen, aber irgend­wie war Tom Liwa hier etwas gelun­gen, was bis heu­te nur wahn­sin­nig weni­ge deutsch­spra­chi­ge Tex­ter geschafft haben: so zu for­mu­lie­ren, dass es für mich – und ich bin ja hier die ein­zi­ge Instanz, wenn es um mei­nen Geschmack geht! – nicht pein­lich, gestelzt oder aus­ge­dacht klang, son­dern wie im Gespräch daher­ge­sagt. Mar­cus Wie­busch und Rei­mer Bus­torf von kett­car und Thees Uhl­mann sind für mich die Ein­zi­gen, die mich seit Jahr­zehn­ten beglei­ten, aber ihre Qua­li­tä­ten lie­gen ein biss­chen woan­ders; Muff Pot­ter, Wir Sind Hel­den und Jupi­ter Jones haben vor rund 20 Jah­ren jeweils ein paar Alben lang zu mir gespro­chen, aber Tom Liwa ist wirk­lich ein Soli­tär: Ich wür­de auch heu­te noch nicht sagen, dass er mei­ne Lebens­wirk­lich­keit abbil­det, und die Situa­tio­nen, in denen sich sei­ne Ich-Erzäh­ler befin­den, sind in den sel­tens­ten Fäl­len erstre­bens­wert, aber es blei­ben Geschich­ten, die mich anrüh­ren und inter­es­sie­ren — etwas, was ande­ren deutsch­spra­chi­gen Acts unge­fähr nie gelingt (it’s not you, it’s me).

Tom Liwa - St. Amour (abfotografiert von Lukas Heinser)

Für einen 17-Jäh­ri­gen, der gera­de dabei war, sich die ers­ten paar Male unglück­lich zu ver­lie­ben, bot die­ses Album reich­lich Pro­jek­ti­ons­flä­che: Ein Song, der „Selt­sa­mes Mäd­chen“ hieß; Geschich­ten von offen­bar dra­ma­tisch geen­de­ten Lieb­schaf­ten; eine Erzähl­stim­me, die offen­bar schon mehr wuss­te (Tom Liwa war bei Ver­öf­fent­li­chung des Albums 38 Jah­re alt), aber uns klei­ne Hol­den Caul­fields mit­neh­men konn­te durch die­se Erwach­se­nen­welt, an deren Tür wir gera­de anklopf­ten (oder von deren Tür von uns erwar­tet wur­de, dass wir an sie anklop­fen wol­len wür­den oder müss­ten).

Unter den zwölf Tracks des Albums gibt es nicht einen schwa­chen, einer der bes­ten Songs wur­de noch nicht mal von Liwa selbst geschrie­ben: „Zuhau­se“ stammt von Flo­ri­an Gläs­sing, mit dem Tom Liwa 2002 ein gemein­sa­mes Album auf­neh­men soll­te, und auf des­sen Durch­bruch ich seit über 20 Jah­ren war­te. Nach­dem sich die­ser Song in ein Pearl-Jam-ähn­li­ches Fina­le hoch­ge­schraubt hat, erklingt plötz­lich die Stim­me von Chris­ti­an Brück­ner (oder, wie wir schon damals sag­ten: „die deut­sche Stim­me von Robert de Niro“) und rezi­tiert einen Liwa’schen Text, der „Wir haben die Musik“ heißt und cle­ver­er­wei­se eben genau auf sel­bi­ge ver­zich­tet.

Wenn es auf „St. Amour“ einen Hit gibt, dann „Für die lin­ke Spur zu lang­sam“: Ein Song, des­sen vol­les Aus­maß ich erst im Lauf der Jah­re lang­sam zu erfas­sen begann. Die ers­te Stro­phe han­delt von den Ansprü­chen an sich selbst, vom „Geschenk für die Welt“, an dem man arbei­tet. Die drit­te Stro­phe schleicht sich neben­säch­lich an, um im letz­ten Moment ihre vol­le, fast meta­phy­si­sche Wucht zu ent­fal­ten: „Und dann fahr ich ans Meer raus /​ So wie ich’s immer mach /​ Wenn ich allem ent­flieh’n will /​ Das ich nicht mehr etrag /​ Park den Bus in den Dünen /​ Und setz mich irgend­wo­hin /​ Seh raus aufs Was­ser und war­te /​ Bis ich jemand anders bin“.

Tref­fen­de­re Wor­te sind sel­ten über Män­ner geschrie­ben wor­den. Die­ses gan­ze „Born To Run“-Dingen (also: Motor­rad oder Auto neh­men und los) wird hier ein­mal kurz dekon­stru­iert: Es ist halt ein­fach immer eine ganz bana­le Flucht. Vor dem, was der Mann „nicht mehr erträgt“. Ich ken­ne kaum einen Mann, egal wel­cher Gene­ra­ti­on, auf den die­se Stro­phe nicht pas­sen wür­de: Wenn mei­nem Groß­va­ter sei­ne Fami­lie zu viel wur­de oder ihm Kon­flik­te unlös­bar erschie­nen, fuhr er ein­fach weg. Ich hab mich als Teen­ager auf mein Fahr­rad geschwun­gen und bin zum Rhein­deich gefah­ren; spä­ter, in Bochum, bin ich ins Auto gestie­gen und zum Kem­n­ader See gefah­ren. Das Meer, das mich noch heu­te beru­higt wie sonst nichts auf der Welt, war mir dann doch immer ein biss­chen zu weit weg, aber Haupt­sa­che Was­ser! Ruhe fin­den im Fluss, pan­ta rhei. Das hier ein­mal so aus­for­mu­liert zu fin­den, in sei­ner gan­zen heroi­schen Lächer­lich­keit der Kon­flikt­ver­mei­dung und Kapi­tu­la­ti­on — das hat schon eine sehr ent­waff­nen­de, ernüch­tern­de Macht. Bis heu­te füh­le ich mich oft so, wie es Tom Liwa im Refrain beschreibt: „Für die lin­ke Spur zu lang­sam /​ Für die rech­te Spur zu schnell“. Eigent­lich müss­te es der Slo­gan aller Mil­len­ni­als sein.

In den Jah­ren 2000 und 2001 sahen mein bes­ter Freund und ich Tom Liwa vier Mal live. Meist stand er allein mit sei­ner Akus­tik­gi­tar­re auf der Büh­ne und spiel­te das, was er – in Anleh­nung an die damals popu­lä­ren „Dog­ma 95“-Filme – augen­zwin­kernd als „Dog­ma-Kon­zert“ bezeich­ne­te. Was aus den tol­len bis gran­dio­sen Songs ein rund­her­um groß­ar­ti­ges Album macht, ist jedoch auch die Pro­duk­ti­on Mar­cus Holz­ap­fel, die mir auch Jahr­zehn­te spä­ter noch wahn­sin­nig „undeutsch“ erscheint: sehr klar, alle Instru­men­te haben viel Raum, neben den domi­nie­ren­den Akus­tik- und den beglei­ten­den E‑Gitarren erklin­gen Quer­flö­ten, Vibra­pho­ne, Orgeln und Akkor­de­ons, gleich­zei­tig hat das Schlag­zeug einen fast absur­den Sta­di­on­rock-Appeal. Im Nach­hin­ein den­ke ich, dass die Vor­bil­der für die­sen Sound viel­leicht k.d. lang („Casa­no­vas Rück­kehr zum Pla­net der Affen“ klingt in den ers­ten Tak­ten buch­stäb­lich wie ein „Con­stant Craving“-Cover), Jeff Buck­ley und Wil­co gehei­ßen haben könn­ten. In jedem Fall ist es, neben all sei­nen inhalt­li­chen Stär­ken, immer noch eines der best­klin­gen­den deutsch­spra­chi­gen Alben aller Zei­ten.

Tex­te, die gleich­zei­tig auf magi­sche Art zugäng­lich und sper­rig sind, fand ich auch auf den frü­he­ren Flower­porn­oes-Alben, die ich mir nach und nach erschloss, wäh­rend vie­le Liwa-Alben nach „St. Amour“ oft­mals in buch­stäb­lich sehr ande­ren Sphä­ren spiel­ten. Zwi­schen­durch hat er mal sehr gute Alben beim Grand Hotel van Cleef ver­öf­fent­licht, aber sein Out­put und sei­ne Wech­sel von Labels und Ver­triebs­we­gen haben ähn­lich hohe Schlag­zah­len. Liwas aktu­ells­te Alben sind hoch­ge­lobt, aber weil er es sich erlau­ben kann (oder zumin­dest erlau­ben will), sie aus­schließ­lich außer­halb der Strea­ming­dienst-Aus­schlach­tungs­ket­ten anzu­bie­ten, sind sie ehr­lich gesagt auch ein biss­chen an mir vor­bei gegan­gen. Das weni­ge, was ich im ver­gan­ge­nen Jahr aus „Prim­zah­len aus dem Bar­do“ gehört habe, erin­ner­te aber durch­aus an alte Glanz­zei­ten. „Eine ande­re Zeit“ wur­de von der Redak­ti­on des deut­schen „Rol­ling Stone“ 2022 zum „Album des Jah­res“ gewählt. Klar: Ich käme heu­te sehr viel leich­ter an sei­ne Musik als vor 25 Jah­ren, aber ich bin eben auch Teil des Pro­blems der Musik­in­dus­trie (bzw. hier vor allem: der Künstler*innen), des­sen bin ich mir bewusst.

So ist auch „St. Amour“ bis heu­te nicht zum Strea­men ver­füg­bar. Man kann das Album zwar bei iTu­nes kau­fen, aber weder bei Apple Music noch bei Spo­ti­fy hören. Da sowohl das Label (Det­lef Diede­rich­sens Moll Ton­trä­ger) als auch der Ver­trieb (Ener­gie für Alle) inzwi­schen nicht mehr exis­tie­ren, kann man gebrauch­te CDs im Inter­net bestel­len, aber die Aura des etwas mys­ti­schen, nur mühe­voll zu beschaf­fe­nen, die das Album damals für mich hat­te, umgibt es inter­es­san­ter­wei­se bis heu­te.

Am 7. April 2000 ist es erschie­nen, heu­te vor 25 Jah­ren.

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Musik

Songs 3/​25

Das Jahr nimmt lang­sam rich­tig Fahrt auf, was man an der Zahl der Ver­öf­fent­li­chun­gen im März merkt. Ich ver­su­che mal, für Euch den Durch­blick zu behal­ten, und emp­feh­le neue Songs von HAIM, Clip­ping, Car Seat Head­rest, Case Oats und Kae Tem­pest.

Noch mehr Songs gibt’s wie immer auf unse­rem Cof­fee-And-TV-Mix­tape:

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Musik

Alles muss Rausch!

Mit dem Begriff „Clip­ping“ wird in der Ton­tech­nik das Über­steu­ern bezeich­net, also wenn ein Audio-Signal so laut ist, dass sei­ne Kur­ve gekappt wird und Ver­zer­rungs­ef­fek­te auf­tre­ten. So gese­hen haben Clip­ping einen der pas­sends­ten Band­na­men seit den Beat­les (zumin­dest in deren Anfangs­pha­se) oder Metal­li­ca.

Wer, wie ich, so alt ist, sich noch an die Geräu­sche erin­nern zu kön­nen, die ein Modem mach­te, wenn man sich ins Inter­net ein­wähl­te, wird immer wie­der zu die­sem Rau­schen zurück­kom­men, wenn es um die Musik von Clip­ping geht — und das nicht nur, weil das Intro ihres neu­en, fünf­ten Albums „Dead Chan­nel Sky“ buch­stäb­lich einen sol­chen Modem-Sound ver­wen­det: Nahe­zu alle Sounds (Instru­men­te sind es in den sel­tens­ten Fäl­len) des Albums quiet­schen, krat­zen, zir­pen, rau­schen und krei­schen so digi­tal, wie Songs, die man sich mit 56k-Ver­bin­dung über den Real-Play­er ange­hört hat.

Die Lan­des­mu­sik­rä­te der Bun­des­re­pu­blik haben die mensch­li­che Stim­me zum „Instru­ment des Jah­res“ 2025 ernannt. Dass sie, als sie dies taten, an Dave­ed Diggs dach­ten, ist unwahr­schein­lich, aber der Mann, den wir „Hamilton“-Fans als Mar­quis de Lafay­et­te und Tho­mas Jef­fer­son in der Erst­auf­füh­rung des Musi­cals ken­nen, setzt sei­ne Stim­me ein wie ein Maschi­nen­ge­wehr, einen Press­luft­ham­mer oder einen Indus­trieta­cker — wenn die­se Werk­zeu­ge mehr groo­ven wür­den. Er schafft mehr Sil­ben pro Minu­te als die meis­ten Men­schen Buch­sta­ben auf der Schreib­ma­schi­ne und mehr unter­schied­li­che Stim­mun­gen als ein Teen­ager, der gleich­zei­tig Fan des VfL Bochum ist.

Diggs‘ Sprech­ge­sang ist so beein­dru­ckend und eigen­stän­dig, dass man schon total geflasht ist, bevor man auch nur ver­sucht hat, auf den Text zu ach­ten. Man merkt aber auch sofort, dass das hier kein Son­nen­schein-Hip-Hop mit glit­zern­den Fel­gen und geöl­ten Kör­pern ist: Alles klingt nach Sci­ence-Fic­tion- und Hor­ror-Fil­men, man soll­te unbe­dingt das Wort „Dys­to­pie“ nen­nen und „Cyber­punk“ sagen.

Spä­tes­tens, seit ich bei „All Songs Con­side­red“ die zwei­te Vor­ab-Sin­gle „Keep Pushing“ gehört hat­te, war ich so gespannt und vor­freu­dig wie lan­ge nicht mehr bei einem Album. Und als „Dead Chan­nel Sky“ dann letz­te Woche end­lich raus­kam, war ich sofort hoo­ked: In der U‑Bahn, im Regio­nal­ex­press, auf der Auto­bahn, im Fit­ness-Stu­dio, beim Zugu­cken beim Fuß­ball-Trai­ning — das Album ist seit­dem immer mit dabei. Dabei ist es wirk­lich kein Album zum Neben­bei-Hören; kein Track dürf­te es auf eine die­ser „Unge­stört Arbeiten“-Playlisten schaf­fen (was natür­lich auch kein Ort ist, an dem die meis­ten Musiker*innen das Ergeb­nis ihrer Arbeit ger­ne sähen).

Ich bin auch nach einer Woche noch nicht voll­stän­dig in die lyri­sche Tie­fe des Albums ein­ge­taucht, aber es geht um Kapi­ta­lis­mus, digi­ta­le Gefah­ren, Klas­sen­kampf, ver­spie­gel­te Son­nen­bril­len, Dro­gen­han­del, Tod und Apo­ka­lyp­se. Man könn­te es also durch­aus groß­zü­gig von der US-ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft fin­den, dem Album zu sei­ner Ver­öf­fent­li­chung soweit ent­ge­gen­ge­kom­men zu sein, aber Dave­ed Diggs und sei­ne Pro­du­zen­ten Wil­liam Hut­son und Jona­than Snipes den­ken eh in viel grö­ße­ren Dimen­sio­nen; alles ist Inter­tex­tua­li­tät und Mixed-Media-Instal­la­ti­on, der Album­ti­tel eine Refe­renz an Wil­liam Gib­sons Roman „Neu­ro­man­cer“.

Ich weiß, dass sich das wahn­sin­nig anstren­gend und ver­kopft anhört, nach Röh­ren­bild­schir­men in städ­ti­schen Muse­en. Aber wir reden hier über drei Typen aus Kali­for­ni­en, da kommt immer noch von irgend­wo ein biss­chen fun, fun, fun um die scharf­kan­ti­ge Ecke. Und so ist „Dead Chan­nel Sky“ ein Album, aus dem man sich das neh­men kann, was man gera­de braucht.

Der clo­ser „Ask What Hap­pen­ed“ paart Diggs‘ Schnell­feu­er­waf­fen­rap in der ers­ten Hälf­te mit so etwas wie Klang­scha­len, ehe ein galop­pie­ren­der Drum-’n‘-Bass-Beat erscheint, der zwar zum Sprech­tem­po passt, aber durch die Ambi­ent-Geräu­sche fährt wie eine Kreis­sä­ge durch Aro­ma­öl­lam­pen. Danach fühlt man sich, als wäre man aus einem wil­den Traum hoch­ge­schreckt. Nur, dass man dann eher sel­ten „Noch­mal!“ schreit.

Clipping - Dead Channel Sky (Albumcover)

Clip­ping – Dead Chan­nel Sky
(Sub Pop Records; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp)

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Film Gesellschaft

They’ve all come to look for America

Das sei jetzt der Teil, wo sich der Inter­view­part­ner hin­set­zen wür­de, mit der Crew sprä­che und nicht wis­se, dass das Mate­ri­al dann spä­ter an den Anfang der Doku­men­ta­ti­on geschnit­ten wer­de, sagt Will Fer­rell zur Crew, als er sich hin­setzt, am Anfang des Films. Mehr Meta-Ebe­ne wird’s danach nicht mehr, auch wenn die Fra­ge nach der Authen­ti­zi­tät die­ser (und eigent­lich jeder) Doku­men­ta­ti­on ab da miet­frei im Unter­be­wusst­sein des Publi­kums wohnt.

Der Schau­spie­ler („Anchor­man“, „Bud­dy der Weih­nachts­elf“, „Stief­brü­der“, „Stran­ger Than Fic­tion“, „Euro­vi­si­on Song Con­test“) hat eine E‑Mail bekom­men von der Per­son, die er als Mann ken­nen­ge­lernt hat­te, als Autor bei „Satur­day Night Life“, wo ihre bei­den Kar­rie­ren began­nen, und als lang­jäh­ri­gen Freund. Die­se Per­son lebt jetzt, nach Jahr­zehn­ten des inne­ren Rin­gens, offi­zi­ell als Frau, wie sie Will Fer­rell in der E‑Mail mit­teilt. Einen neu­en Namen suche sie noch.

Als sich die bei­den wie­der­se­hen, ist die Ent­schei­dung auf Har­per gefal­len, nach der berühm­ten Schrift­stel­le­rin Har­per Lee („Wer die Nach­ti­gall stört“), die mit Har­pers Mut­ter zur Schu­le gegan­gen war. Will und Har­per wol­len her­aus­fin­den, ob Har­pers Tran­si­ti­on etwas geän­dert hat an ihrer Freund­schaft. Sie tun dies vor lau­fen­den Kame­ras, bei einem der ame­ri­ka­nischs­ten Bräu­che über­haupt: dem road trip.

Beglei­tet von einem phan­tas­ti­schen Fol­k/A­me­ri­ca­na/­Coun­try-Sound­track fah­ren Will und Har­per durch die USA, stel­len ihre Cam­ping-Stüh­le irgend­wo hin und trin­ken Light Beer. Es ist das Früh­jahr 2023; die Spal­tung des Lan­des, die eigent­lich seit sei­ner Grün­dung Teil sei­ner Iden­ti­tät ist, ist durch die ers­te Trump-Regie­rung und die COVID-19-Pan­de­mie mal wie­der beson­ders sicht­bar gewor­den. Trans-Per­so­nen wer­den als Spiel­ball benutzt in einem „Kul­tur­kampf“, auf des­sen einer Sei­te um rei­ne Exis­tenz­rech­te gekämpft wird und auf der ande­ren gegen ein Feind­bild, auf das man alle ein­schwö­ren kann: Wei­ße und peo­p­le of color, Män­ner und Frau­en, Rei­che und Arme.

Wo Will und Har­per auf ein­zel­ne Per­so­nen tref­fen, geht es eigent­lich immer recht har­mo­nisch zu. Fer­rells Pro­mi­nenz spielt qua­si kei­ne Rol­le, Ste­e­les Trans­se­xua­li­tät wird ent­we­der höf­lich igno­riert oder inter­es­siert bis posi­tiv auf­ge­nom­men. Doch in gro­ßen Men­schen­men­gen, bei einem Bas­ket­ball-Spiel und in einem Frei­zeit­park-ähn­li­chen Steak­haus, wo sofort Dut­zen­de Smart­phones auf die bei­den gerich­tet wer­den, wo con­tent online geht und Social-Media-Reak­tio­nen her­vor­ru­fen kann, wird Har­per ver­läss­lich Opfer eines digi­ta­len Mobs.

Das deckt sich zwar mit mei­nen eige­nen Ein­drü­cken von Wirk­lich­keit und Inter­net, aber es pas­siert in „Will & Har­per“ der­art deut­lich, dass die vor­ab im Unter­be­wusst­sein abge­leg­te Fra­ge wie­der hoch­schreckt: Inwie­fern bil­det die­ser Film das ab, was tat­säch­lich gesche­hen ist, als die bei­den mit ihrem Kame­ra­team durch das Land gefah­ren sind? Lief im direk­ten Kon­takt tat­säch­lich alles so glatt? Wie haben sie man­che Sze­nen über­haupt gedreht und wie haben sie das mit den Rech­ten all jener Per­so­nen gere­gelt, die zu sehen und zu hören sind?

Die­se Momen­te haben mich kurz aus dem Film her­aus­ge­holt, was ich aber als posi­tiv betrach­te: Sie stel­len das fer­ti­ge Pro­dukt in Fra­ge, das eben bei allen doku­men­ta­ri­schen Ansät­zen ein edi­tier­ter und redi­gier­ter Film ist und somit nie­mals Abbild einer Wirk­lich­keit sein kann.

„Will & Harper“ (Szenenbild)

Die ver­schie­de­nen Wirk­lich­kei­ten sind: Die Freund­schaft von Will und Har­per hat sich schnell an die ver­än­der­ten äuße­ren Umstän­de ange­passt; die bei­den machen ihre Wit­ze, wie sie es ver­mut­lich immer getan haben. Will und ande­re müs­sen sich mehr Sor­gen um Har­pers Wohl­erge­hen machen, wenn sie irgend­wo hin­geht — nicht nur, weil Frau­en in Fern­fah­rer­knei­pen und bei Auto­rennen anders behan­delt wer­den als Män­ner, son­dern ins­be­son­de­re, wenn sie Trans-Frau­en sind. Auch im 21. Jahr­hun­dert ver­än­dern anwe­sen­de Kame­ras noch die Situa­tio­nen, die sie abzu­bil­den ver­su­chen. Es gibt jede Men­ge Men­schen, die, viel­leicht mit eini­gen Vor­ur­tei­len und Hem­mun­gen, aber gene­rell offen und inter­es­siert auf Trans-Per­so­nen zuge­hen und die im bes­ten und ein­fachs­ten Sin­ne Men­schen­freun­de sind. Und es gibt Arsch­lö­cher, die sich online oder in der Wirk­lich­keit über ande­re erhe­ben; weil sie nicht wei­ter nach­den­ken, weil sie kei­ne Empa­thie haben, weil sie von Fox News und ande­rer Pro­pa­gan­da zu Men­schen­fein­den erzo­gen wur­den.

All das kann gleich­zei­tig wahr sein und „Will & Har­per“ kann und will inso­fern kein rei­nes Feel­good-Movie sein, auch wenn er über wei­te Stre­cken ein war­mes, herz­li­ches Gefühl erzeugt; immer wie­der ver­bun­den mit einem fas­sungs­lo­sen „Wie kann man Men­schen auf­grund ihrer rei­nen Exis­tenz so sehr has­sen?“ und dem Gedan­ken, wie viel schlim­mer die Situa­ti­on heu­te, nur zwei Jah­re spä­ter, unter der neu­en Trump-Regie­rung sein muss.

Der Film kann wahr­schein­lich Gesprä­che in Fami­li­en eröff­nen und Men­schen, die bis­her gar nichts mit dem The­ma Trans­se­xua­li­tät und Trans­gen­der zu tun hat­ten, an die Hand neh­men, weil Will Fer­rell so groß­ar­tig als Platz­hal­ter für das Publi­kum fun­giert: Inter­es­siert, auf­ge­schlos­sen, mit den bes­ten Absich­ten, aber manch­mal steht er sich selbst und dem Aus­tausch auf Augen­hö­he im Weg, manch­mal stellt er eine Fra­ge, die unan­ge­mes­sen ist, und die ihm Har­per Ste­e­le den­noch sofort ver­zeiht.

„Will & Har­per“ ist inso­fern ein bud­dy movie und mei­net­we­gen das, was man ein „nied­rig­schwel­li­ges Bil­dungs­an­ge­bot“ nennt. Es ist ein Film über unse­re Zeit und über ein ver­wirr­tes Land. Ein State­ment und ein Plä­doy­er für mehr Mensch­lich­keit. Aber im Grun­de genom­men auch und vor allem: Die Geschich­te der Freund­schaft zwei­er Men­schen.

„Will & Har­per“ bei Net­flix

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In Memoriam AnNa R.

Das ers­te Mal gehört hab ich von Rosen­stolz am 26. Febru­ar 1998, jenem Tag, an dem auch mei­ne zwei­te ESC-Pha­se begann (mei­ne ers­te ver­dan­ken wir bekannt­lich der Mün­che­ner Frei­heit, mei­ne drit­te, bis heu­te andau­ern­de, Ste­fan Nig­ge­mei­er). Das Duo trat damals beim deut­schen Vor­ent­scheid an und es hät­te womög­lich gewon­nen, wenn da nicht auch ein Mann namens Guil­do Horn im Wett­be­werb gewe­sen wäre, dem Ste­fan Raab einen Song und Johan­nes Kram eine Kam­pa­gne geschnei­dert hat­ten, mit denen er die­sen Abend für sich ent­schei­den konn­te.

Men­schen, die damals in der Bre­mer Stadt­hal­le (Deutsch­land im letz­ten Sta­di­um Hel­mut Kohl) dabei waren, berich­te­ten noch Jahr­zehn­te spä­ter von einer auf­ge­heiz­ten Stim­mung zwi­schen den klas­si­schen (also: schwu­len) Grand-Prix-Anhän­gern und dem Horn/Raab-Lager. Ich kann mich nicht mehr erin­nern, wel­ches Adjek­tiv man damals für que­er ver­wen­de­te, aber ich weiß, dass es an Rosen­stolz kleb­te. Man kann sich das heu­te gar nicht mehr vor­stel­len, aber es war damals eine Sache, dass eine Band eine expli­zit schwul-les­bi­sche Fan­ge­mein­de hat­te (beim ESC-Vor­ent­scheid). Ich kann nicht sagen, dass ihr dama­li­ger Wett­be­werbs­bei­trag „Her­zens­schö­ner“ bei mir blei­ben­den Ein­druck hin­ter­las­sen hät­te, aber ich ahn­te auch mit 14, dass ihre Musik etwas ande­res war als die … sagen wir mal drei Wer­ke von Ralph Sie­gel und Bernd Mei­nun­ger, die Rosen­stolz an jenem Abend hin­ter sich lie­ßen.

Alles, was vom hete­ro­nor­ma­ti­ven Welt­bild abwich, galt 1998 noch als „selt­sam“, „anders“ oder „per­vers“, min­des­tens an klein­städ­ti­schen Gym­na­si­en, wahr­schein­lich über­all im Land. Der ein­zi­ge Ort, wo „so etwas“ behan­delt wur­de (mit einem osten­ta­tiv inter­es­sier­ten Ges­tus, der es irgend­wie noch ver­ruch­ter mach­te), war „B. trifft“, eine Talk­show mit Bet­ti­na Böt­tin­ger im Drit­ten Pro­gramm des WDR. „Der beweg­te Mann“ war 1994 ein Kino­hit gewe­sen, aber da waren die meis­ten Schwu­len von expli­zit hete­ro­se­xu­el­len Schau­spie­lern gespielt wor­den und das Publi­kum lach­te, wenn ich mich knapp 30 Jah­re spä­ter rich­tig erin­ne­re, eher über sie als mit ihnen. Aus­län­di­sche Pop­kul­tur war da viel­leicht einen Schritt wei­ter, aber es soll­te auch noch acht Mona­te dau­ern, bis Geor­ge Micha­el das Video zu „Out­side“ ver­öf­fent­li­chen soll­te, eine der schil­lernds­ten Selbst­er­mäch­ti­gun­gen des aus­ge­hen­den Jahr­zehnts.

Das also war der Kon­text, in dem Rosen­stolz auf­tra­ten, und das war es, was ich wei­ter­hin mit Peter Pla­te und AnNa R. ver­band. Es war ein Stem­pel, der die Band aber immer auch inter­es­san­ter mach­te als ande­re deutsch­spra­chi­ge Acts zu ihrer Zeit.

2004 erschien „Lie­be ist alles“, ein Song, der mir in der Rück­schau omni­prä­sent erscheint, auch wenn ich mich fra­ge, wo er eigent­lich gelau­fen sein soll, und der von recht unter­schied­li­chen Acts wie Spi­ce Girl Mel C., dem Klas­sik-/Pop-Cross­over-Pro­jekt Ado­ro und Schla­ger-Legen­de Roland Kai­ser geco­vert wur­de. (Ich fin­de die Kai­ser-Ver­si­on übri­gens auf eine ganz eige­ne Art anrüh­rend und ich möch­te da nicht wei­ter drü­ber spre­chen!)

Ich weiß noch, wie im Früh­jahr 2006 die damals neue Rosen­stolz-Sin­gle „Ich bin ich (Wir sind wir)“ bei CT das radio in der Redak­ti­on ankam und wir den Song als ein­zi­ges Cam­pus­ra­dio über­haupt auf Rota­ti­on nah­men — und zwar auf die mit dem Vor­na­men „Hea­vy“. Ich erin­ne­re mich an eine Nacht, die ich im Stu­dio ver­brach­te, weil ich abends die Punk­sen­sung „Rocka­way Beach“ mode­riert hat­te, noch neue Songs auf­spie­len und mor­gens ab 7 wie­der mode­rie­ren muss­te (und es immer hieß, jede*r müss­te „min­des­tens ein Mal in der Redak­ti­on über­nach­tet haben“), und die­ser Song gefühlt ein­mal pro Stun­de sehr lei­se, aber bestän­dig aus den nicht kom­plett stumm geschal­te­ten Kopf­hö­rern zu der Couch her­über­weh­te, auf der ich schlief.

Die­ses Kla­vier­mo­tiv (das zumin­dest in mei­nem Kopf in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft von Peter­Lichts „Alles, was Du siehst, gehört Dir“ und Ben Lees „Wake Up To Ame­ri­ca“ wohnt, was jetzt objek­tiv nur so mit­tel-belast­bar ist) ist ja wohl auch unwi­der­steh­lich! Und die­se per­ma­nen­te Stei­ge­rung des Songs!

Viel mehr kann ich über Rosen­stolz ehr­lich gesagt gar nicht bei­tra­gen. Ich weiß, dass die Band 2012 eine „Pau­se“ ein­ge­legt hat, und habe seit­dem nicht oft an sie gedacht. (Außer bei der Ver­öf­fent­li­chung des Roland-Kai­ser-Albums, über das wir ja nicht reden woll­ten.)

Aber als heu­te Nach­mit­tag die Nach­richt kam, dass Sän­ge­rin AnNa R. im Alter von nur 55 Jah­ren gestor­ben ist, hat mich das über­ra­schend betrof­fen gemacht.

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Musik

Songs 2/​25

Hier sind 5 Songs, die Ihr im Febru­ar 2025 gehört haben soll­tet:

Und hier ist unser CTV-Mix­tape für den kür­zes­ten Monat des Jah­res:

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Zu früh geärgert

Vor zwei Wochen haben wir den 18. Geburts­tag die­ses Blogs gefei­ert, jetzt kön­nen wir schon das nächs­te Jubi­lä­um bege­hen. Heu­te vor zehn Jah­ren habe ich das abge­setzt, was mein erfolg­reichs­ter Tweet (eine Kate­go­rie, bedeu­tend trau­ri­ger als „Viert­bes­ter Tor­schüt­ze der Rück­run­de in der Kreis­li­ga C“) wer­den soll­te:

Tweet vom 24. Februar 2015: Wir sind im Jahr 2015 und die großen Themen lauten Religion, Meinungsfreiheit und Impfen. Wollen wir eigentlich unsere Vorfahren verarschen?

Ich bin mir rela­tiv sicher, mich erin­nern zu kön­nen (und wir wis­sen alle, was das bedeu­tet), wie ich die­sen Tweet zwi­schen „War­ten am Bochu­mer Haupt­bahn­hof“ und „Ein­stei­gen in den Regio­nal­ex­press nach Köln“ geschrie­ben und abge­schickt habe (des­we­gen auch die etwas merk­wür­di­ge Posi­tio­nie­rung des Adverbs „eigent­lich“ vor dem Akku­sa­tiv-Objekt, die mich seit dem ers­ten Moment stört), aber ich bin etwas rat­los, wel­che damals aktu­el­len Debat­ten ich damit kom­men­tie­ren woll­te. Die „Tages­schau“ vom Vor­abend ist schon mal kei­ne Hil­fe.

Die The­men „Reli­gi­on“ und „Mei­nungs­frei­heit“ mögen mit den Anschlä­gen auf die Redak­ti­on des fran­zö­si­schen Sati­re­ma­ga­zins „Char­lie Heb­do“ sie­ben Wochen zuvor zusam­men­hän­gen, auch wenn es aus heu­ti­ger Sicht eini­ger­ma­ßen unvor­stell­bar erscheint, dass ein Ereig­nis der­art lan­ge medi­al ven­ti­liert wird. „Imp­fen“ hat, wie ich jetzt ergoo­geln konn­te, wahr­schein­lich etwas mit einem Masern­aus­bruch zu tun, zu dem sich der Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter, offen­kun­dig ein Mann mit dem Namen Her­mann Grö­he, am glei­chen Tag äußer­te.

Wie es so oft ist: Man kann nicht vor­her­sa­gen oder kon­trol­lie­ren, was „viral geht“. So erreich­te mei­ne etwas nebu­lö­se Gesell­schafts­kri­tik schon in den ers­ten Stun­den Hun­der­te „Ret­weets“ und „Likes“ und ich bekam mei­ne wei­te­re gerech­te Stra­fe in Form eines eige­nen Arti­kels bei „Focus Online“. Ich ent­neh­me mei­nen Auf­zeich­nun­gen, dass ich offen­bar eini­gen uner­wünsch­ten Zuspruch von Ras­sis­ten auf Face­book bekom­men habe, und der „Focus Online“-Text deu­tet an, wie die­se Leu­te auf die fal­sche Fähr­te kom­men konn­ten:

In der Tat liegt Hein­ser nicht falsch: Der Islam und wie der Wes­ten mit ihm umge­hen soll, ist nicht erst seit der Pegi­da-Bewe­gung ein heiß dis­ku­tier­tes The­ma in Deutsch­land.

Mei­ne flap­sig weg­for­mu­lier­te Äuße­rung lässt natür­lich auch ver­schie­de­ne Deu­tun­gen zu — das ist ja eines der vie­len Elen­de von maxi­mal ver­knapp­ten Online-Debat­ten. Mei­ne Blog-Ein­trä­ge und News­let­ter spren­gen nicht sel­ten die 10.000-Zeichen-Marke, Twit­ter erlaub­te damals offen­bar nicht mehr als 140. Wie hät­te ich da gleich­zei­tig Besorg­nis aus­drü­cken sol­len über Per­so­nen, die ihre Reli­gi­on so ernst neh­men, dass sie dafür Men­schen ermor­den, und gleich­zei­tig einer frem­den­feind­li­chen Pau­schal­kri­tik eine Absa­ge ertei­len? Ich weiß ja nicht mal mehr, wor­um es mir genau ging, außer, dass ich von Evo­lu­ti­ons­brem­sen genervt war.

Den­noch wirkt mein Tweet heu­te wie eine Fla­schen­post aus ein­fa­che­ren, fast sorg­lo­sen Zei­ten: Vor dem Spät­som­mer 2015, in dem sich Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel gegen eine Schlie­ßung der deut­schen Außen­gren­zen ent­schied und ihren anstän­di­gen Mini­mal-Huma­nis­mus mit dem Erstar­ken von offen frem­den­feind­li­chen Posi­tio­nen auf Social Media und in der deut­schen und euro­päi­schen Poli­tik bezah­len muss­te; vor der US-Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tur eines abge­half­ter­ten Rea­li­ty-TV-Stars; vor dem „Brexit“; vor dem Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne (aber nach der Anne­xi­on der Krim und dem Ein­marsch im Don­bass); vor dem Hamas-Ter­ror vom 7. Okto­ber 2023, der bis heu­te anhält, und dem ganz gro­ßen Das-wird-man-doch-noch-sagen-dür­fen-Back­lash. Fried­rich Merz war ein weit­ge­hend in Ver­ges­sen­heit gera­te­ner Rechts­an­walt aus Düs­sel­dorf und die AfD stand in Wahl­um­fra­gen bei ca. 6%.

Es liegt eine beson­ders grob­schläch­ti­ge Iro­nie dar­in, dass der Ort, an dem ich mei­ne Gedan­ken damals wind­schief notiert habe, einer der Haupt­fak­to­ren der Ent­wick­lun­gen der nächs­ten Jah­re war: mit Fehl­in­for­ma­tio­nen zu Brexit und Hil­la­ry Clin­ton, zu COVID-19 und Imp­fun­gen, zu Geflüch­te­ten — und dann kam auch noch Elon Musk, der den gan­zen Bums auf­ge­kauft und zu einem Schmelz­tigel für Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen, Hass und alle Arten von Men­schen­ver­ach­tung opti­miert hat (wor­auf­hin Mark Zucker­berg für sei­ne Platt­for­men nach­zog).

Zwei wei­te­re Iro­nien lie­gen dar­in, dass mein Tweet aus­ge­rech­net heu­te Jubi­lä­um fei­ert, am drit­ten Jah­res­tag des offe­nen rus­si­schen Kriegs gegen die Ukrai­ne, und am Mor­gen nach einer Bun­des­tags­wahl, bei der die AfD auf 20,8% kam und eine Uni­on, die die Mer­kel-Ära abge­schüt­telt hat wie eine unge­lieb­te Jacke, in der Bun­des­re­gie­rung den Ton ange­ben wird.

Wahl­er­fol­ge mit rech­ter Rhe­to­rik ver­än­dern das gesell­schaft­li­che Kli­ma: Leu­te, die über Jah­re (zu recht) zu fei­ge waren, ras­sis­ti­sche, que­er­feind­li­che oder sonst­wie xeno­pho­be Kom­men­ta­re abzu­ge­ben, füh­len sich plötz­lich wie­der in der Mehr­heit, weil die Medi­en, rich­ti­ge wie Sozia­le, voll sind mit den gan­zen Unge­heu­er­lich­kei­ten (und ja auch lin­ke, auf­ge­klär­te Men­schen sie ger­ne noch ein­mal tei­len, um noch mal klar zu machen, wie unge­heu­er­lich sie sind). 

An einem Tag wie heu­te fällt es schwer, hoff­nungs­voll oder auch nur opti­mis­tisch zu sein: AfD-Wähler*innen wer­fen Nicht-AfD-Wähler*innen auf Social Media vor, dass ihnen der Tod von Opfern mut­maß­lich isla­mis­tisch moti­vier­ter Ter­ror­an­schlä­ge und Mor­de egal sei — als ob pro­gres­si­ve Men­schen nicht gegen Tota­li­ta­ris­mus, Patri­ar­chat und Gewalt wären, als ob der gefähr­lichs­te Ort für Frau­en nicht ihr eige­nes Zuhau­se oder Umfeld wäre und als ob eine sofor­ti­ge Schlie­ßung der Außen­gren­zen irgend­wel­che Aus­wir­kun­gen hät­te auf Men­schen, die hier unter men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen leben, unbe­han­del­te psy­chi­sche Pro­ble­me haben (womög­lich als Fol­ge von Trau­ma­ti­sie­rung in ihrer Hei­mat oder auf der Flucht hier­her) und emp­fäng­lich sind für men­schen­ver­ach­ten­de Wir-gegen-die-Nar­ra­ti­ve, die denen der AfD gar nicht so unähn­lich sind.

Jede „Migra­ti­ons­de­bat­te“ ist immer auch der sump­fi­ge, brau­ne Nähr­bo­den für blan­ken Ras­sis­mus, für ein Über­le­gen­heits­ge­fühl irgend­wel­cher Arsch­lö­cher, deren arg­los raus­ge­haue­nen Social-Media-Paro­len die Lebens­wirk­lich­keit mei­ner Freund*innen und der Freund*innen mei­nes Soh­nes bestim­men. Gleich­zei­tig glau­be ich, dass jede Social-Media-Empö­rung immer auch eine endo­ther­me Reak­ti­on ist, dass also die gan­ze Zeit von außen Ener­gie zuge­führt wer­den muss, damit sie am Kochen bleibt. Die­ses „außen“ sind natür­lich in ers­ter Linie Kräf­te wie Russ­land, Elon Musk und der Axel-Sprin­ger-Ver­lag, bei denen ich aktu­ell kei­ne Idee habe, wie man sie wie­der los wird oder wenigs­tens ihren Ein­fluss ein­schränkt (also: außer „Social Media abschal­ten“), aber ich wer­de weder die Hoff­nung, noch mein Enga­ge­ment gegen die­sen Wahn­sinn der ein­fa­chen Lösun­gen auf­ge­ben.

Ich bin jetzt 41 Jah­re alt und ich bin seit 41 Jah­ren auf Demos gegen Umwelt­zer­stö­rung und Nazis dabei. Ich bin es den Frau­en in mei­ner Fami­lie schul­dig, die sich seit Gene­ra­tio­nen für die Men­schen enga­giert haben, die von unse­rer Gesell­schaft an den Rand gedrängt und über­se­hen wur­den; die in Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen aktiv waren und 1938 anti­se­mi­ti­sche Mit­schü­le­rin­nen ver­dro­schen haben. Das sind die Vor­fah­ren, die ich mit mei­nem Tweet mein­te.

Kor­rek­tur, 4. März 2025: In der ers­ten Ver­si­on die­ses Blog­posts hat­te ich das Wort „eigent­lich“ als „Adjek­tiv“ bezeich­net. Im Fal­le des Tweets ist es aber ein­deu­tig ein Adverb. Mit Dank an K.!