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Musik Leben

Wir haben die Musik

Es war im Som­mer 2000, der 12. August: Mein bes­ter Freund hat­te her­aus­ge­fun­den, dass in Rees-Hald­ern, rund 40 Kilo­me­ter von Dins­la­ken ent­fernt, ein Musik­fes­ti­val statt­fand, auf dem unter ande­rem Embrace, Soul­wax und K’s Choice auf­tre­ten wür­den — und zwar heu­te, am letz­ten Sams­tag der Som­mer­fe­ri­en! Da woll­ten wir hin, also druck­te ich bei mei­ner Mut­ter in der Stadt­bi­blio­thek eine Weg­be­schrei­bung aus und das, was wir damals noch nicht „Time­ta­ble“ nann­ten. Ich besorg­te Geträn­ke und ein paar Snacks und mein bes­ter Freund über­zeug­te sei­ne gro­ße Schwes­ter, uns dort­hin zu fah­ren und abends wie­der abzu­ho­len („Um halb Elf, an der glei­chen Stel­le!“ — klingt wie Mit­tel­al­ter, es gibt aber ver­ein­zel­te Hun­de, die damals schon leb­ten und es heu­te auch noch tun). Es soll­te mein ers­tes von zwölf Hald­ern Pop Fes­ti­vals wer­den und mich, dem but­ter­fly effect fol­gend, von Dins­la­ken nach Bochum brin­gen.

Einer der zahl­rei­chen Acts, deren Namen uns nichts sag­ten, war ein Typ mit ver­knautsch­tem Gesicht und Akus­tik­gi­tar­re. Das Pro­gramm­heft klär­te uns auf, dass es sich um Tom Liwa aus Duis­burg hand­le, bis­her bekannt als Sän­ger einer Band namens Flower­porn­oes, jetzt auf Tour mit sei­nem Solo-Debüt mit dem etwas schnul­zig klin­gen­den Titel „St. Amour“. Wir waren anfangs nicht über­zeugt, aber irgend­wie gelang es die­sem Mann, uns wäh­rend sei­nes knapp 40-minü­ti­gen Sets auf sei­ne Sei­te zu zie­hen. Die Songs waren eigen­tüm­lich inter­es­sant, sowas kann­ten wir nicht aus dem Radio und noch nicht mal von Viva II. Wir waren als Skep­ti­ker gekom­men und gin­gen als Fans.

Tom Liwa beim Haldern Pop 2000

Das war inso­fern bemer­kens­wert, als ich damals nicht nur nichts von deutsch­spra­chi­ger Musik wis­sen woll­te, son­dern mir sogar eng­lisch­spra­chi­ge Acts aus Deutsch­land suspekt waren. Ja, okay: Die Fan­tas­ti­schen Vier exis­tier­ten, aber ich hat­te gera­de erst ange­fan­gen, mich vor­sich­tig mit Toco­tro­nic und den Ster­nen zu beschäf­ti­gen; eine Rück­kehr zu Her­bert Grö­ne­mey­er oder der Mün­che­ner Frei­heit, mit denen ich auf­ge­wach­sen war, erschien noch undenk­bar.

Es ist für Men­schen, die heu­te jung sind, unvor­stell­bar und selbst für uns, die wir dabei waren, manch­mal über­ra­schend, aber: Man konn­te damals nicht ein­fach sofort jede Musik hören, die man hören woll­te. Schon gar nicht in nie­der­rhei­ni­schen Klein­städ­ten. Theo­re­tisch hät­te ich das Album noch am sel­ben Abend bei Ama­zon bestel­len kön­nen, prak­tisch hat­te ich noch nicht mal ein Giro­kon­to, von dem aus ich es hät­te bezah­len kön­nen. Es dau­er­te also bis zu den Herbst­fe­ri­en, bis ich im Media­markt in der Köl­ner Hohen Stra­ße nach die­ser „Plat­te“, wie man damals rät­sel­haf­ter­wei­se auch zu CDs sag­te, suchen konn­te.

Die ers­ten Zei­len des Albums, „Dies ist kein Brief /​ Nur eine Stra­ßen­kar­te /​Auf der ich mit dem Fin­ger ent­lang­fahr /​ Wäh­rend ich auf Ant­wort war­te“ im Song „Eski­mo“, waren auf­re­gen­der als neun Jah­re Deutsch­un­ter­richt am Gym­na­si­um. Und dann so lapi­dar dahin­ge­wor­fe­ne Zei­len wie „All mei­ne Geschwis­ter sind Ein­zel­kin­der“, „Die­se Welt ist ein selt­sa­mer Platz, an dem man immer wie­der ver­gisst, wie trau­rig man ist“, „Und jetzt sitzt Du da mit Dei­nem Streich­quar­tett und ich hab Kopf­schmer­zen vom Tele­fo­nie­ren“ — wow!

Die Tex­te haben genau jenes Mischungs­ver­hält­nis aus kon­kret und kryp­tisch, dass man sich in nahe­zu Lebens­pha­se dar­in wie­der­zu­fin­den glaubt: „Und was denkt ein Pin­gu­in /​ In sei­nem Käfig im Zoo /​ Im Herbst, wenn die Vögel zieh’n /​ In die Son­ne?“ Ja, klar: Fühl ich. Und das vor­ge­tra­gen mit die­ser leicht knar­zi­gen, aber trotz­dem sehr war­men Stim­me, die ein­fach klingt wie die eines Freun­des, den „alt“ zu nen­nen man sich ver­bie­ten wür­de, weil man doch ein Jahr­gang ist, der aber am Ende eben dann doch genau das ist. Bei „The Voice“ kommt man damit nicht weit, aber das ist ja – neben der text­li­chen Qua­li­tät – eben genau das, was Tom Liwa von heu­ti­gen wie­der­ver­wert­ba­ren Deutsch­pop­mu­si­kern unter­schei­det.

„Gib ihnen was sie wol­len“ klingt wie eine bru­ta­le, aber nicht unem­pa­thi­sche Abrech­nung mit Baby­boo­mern — aber das kann eigent­lich nicht sein, die waren doch erst Mit­te 40, als das Album erschien, und Liwa gehört selbst dazu. Also doch? Wahn­sin­nig viel pas­siert auch auf der Rück­bank irgend­wel­cher Autos — oder: Es pas­siert eben nicht, es wird immer nur ange­deu­tet, dass dort in der Ver­gan­gen­heit irgend­et­was pas­siert ist. Das ist für einen 17-Jäh­ri­gen, der sei­nen Füh­rer­schein nicht so bald machen soll­te, natür­lich wahn­sin­nig auf­re­gend!

Wie das oft so ist bei Songs, die man schon sehr lan­ge kennt: Wenn man sie nach vie­len Jah­ren wie­der hört, kann man immer noch jedes Wort mit­sin­gen — was einen aber nicht unbe­dingt näher an den Inhalt der Tex­te her­an­bringt, weil man über die­se eben gar nicht mehr nach­denkt, egal ob auf Eng­lisch oder Deutsch. Wovon han­deln also die gan­zen Lie­der? Von Men­schen und ihren Pro­ble­men; von Bezie­hun­gen, die dar­aus ent­ste­hen und dar­un­ter lei­den; von schlaf­lo­sen Näch­ten, eige­nen Unzu­läng­lich­kei­ten, Lei­den­schaf­ten und Ein­sam­kei­ten.

Das könn­te man ehr­li­cher­wei­se über wahr­schein­lich 90% aller Pop­songs sagen, aber irgend­wie war Tom Liwa hier etwas gelun­gen, was bis heu­te nur wahn­sin­nig weni­ge deutsch­spra­chi­ge Tex­ter geschafft haben: so zu for­mu­lie­ren, dass es für mich – und ich bin ja hier die ein­zi­ge Instanz, wenn es um mei­nen Geschmack geht! – nicht pein­lich, gestelzt oder aus­ge­dacht klang, son­dern wie im Gespräch daher­ge­sagt. Mar­cus Wie­busch und Rei­mer Bus­torf von kett­car und Thees Uhl­mann sind für mich die Ein­zi­gen, die mich seit Jahr­zehn­ten beglei­ten, aber ihre Qua­li­tä­ten lie­gen ein biss­chen woan­ders; Muff Pot­ter, Wir Sind Hel­den und Jupi­ter Jones haben vor rund 20 Jah­ren jeweils ein paar Alben lang zu mir gespro­chen, aber Tom Liwa ist wirk­lich ein Soli­tär: Ich wür­de auch heu­te noch nicht sagen, dass er mei­ne Lebens­wirk­lich­keit abbil­det, und die Situa­tio­nen, in denen sich sei­ne Ich-Erzäh­ler befin­den, sind in den sel­tens­ten Fäl­len erstre­bens­wert, aber es blei­ben Geschich­ten, die mich anrüh­ren und inter­es­sie­ren — etwas, was ande­ren deutsch­spra­chi­gen Acts unge­fähr nie gelingt (it’s not you, it’s me).

Tom Liwa - St. Amour (abfotografiert von Lukas Heinser)

Für einen 17-Jäh­ri­gen, der gera­de dabei war, sich die ers­ten paar Male unglück­lich zu ver­lie­ben, bot die­ses Album reich­lich Pro­jek­ti­ons­flä­che: Ein Song, der „Selt­sa­mes Mäd­chen“ hieß; Geschich­ten von offen­bar dra­ma­tisch geen­de­ten Lieb­schaf­ten; eine Erzähl­stim­me, die offen­bar schon mehr wuss­te (Tom Liwa war bei Ver­öf­fent­li­chung des Albums 38 Jah­re alt), aber uns klei­ne Hol­den Caul­fields mit­neh­men konn­te durch die­se Erwach­se­nen­welt, an deren Tür wir gera­de anklopf­ten (oder von deren Tür von uns erwar­tet wur­de, dass wir an sie anklop­fen wol­len wür­den oder müss­ten).

Unter den zwölf Tracks des Albums gibt es nicht einen schwa­chen, einer der bes­ten Songs wur­de noch nicht mal von Liwa selbst geschrie­ben: „Zuhau­se“ stammt von Flo­ri­an Gläs­sing, mit dem Tom Liwa 2002 ein gemein­sa­mes Album auf­neh­men soll­te, und auf des­sen Durch­bruch ich seit über 20 Jah­ren war­te. Nach­dem sich die­ser Song in ein Pearl-Jam-ähn­li­ches Fina­le hoch­ge­schraubt hat, erklingt plötz­lich die Stim­me von Chris­ti­an Brück­ner (oder, wie wir schon damals sag­ten: „die deut­sche Stim­me von Robert de Niro“) und rezi­tiert einen Liwa’schen Text, der „Wir haben die Musik“ heißt und cle­ver­er­wei­se eben genau auf sel­bi­ge ver­zich­tet.

Wenn es auf „St. Amour“ einen Hit gibt, dann „Für die lin­ke Spur zu lang­sam“: Ein Song, des­sen vol­les Aus­maß ich erst im Lauf der Jah­re lang­sam zu erfas­sen begann. Die ers­te Stro­phe han­delt von den Ansprü­chen an sich selbst, vom „Geschenk für die Welt“, an dem man arbei­tet. Die drit­te Stro­phe schleicht sich neben­säch­lich an, um im letz­ten Moment ihre vol­le, fast meta­phy­si­sche Wucht zu ent­fal­ten: „Und dann fahr ich ans Meer raus /​ So wie ich’s immer mach /​ Wenn ich allem ent­flieh’n will /​ Das ich nicht mehr etrag /​ Park den Bus in den Dünen /​ Und setz mich irgend­wo­hin /​ Seh raus aufs Was­ser und war­te /​ Bis ich jemand anders bin“.

Tref­fen­de­re Wor­te sind sel­ten über Män­ner geschrie­ben wor­den. Die­ses gan­ze „Born To Run“-Dingen (also: Motor­rad oder Auto neh­men und los) wird hier ein­mal kurz dekon­stru­iert: Es ist halt ein­fach immer eine ganz bana­le Flucht. Vor dem, was der Mann „nicht mehr erträgt“. Ich ken­ne kaum einen Mann, egal wel­cher Gene­ra­ti­on, auf den die­se Stro­phe nicht pas­sen wür­de: Wenn mei­nem Groß­va­ter sei­ne Fami­lie zu viel wur­de oder ihm Kon­flik­te unlös­bar erschie­nen, fuhr er ein­fach weg. Ich hab mich als Teen­ager auf mein Fahr­rad geschwun­gen und bin zum Rhein­deich gefah­ren; spä­ter, in Bochum, bin ich ins Auto gestie­gen und zum Kem­n­ader See gefah­ren. Das Meer, das mich noch heu­te beru­higt wie sonst nichts auf der Welt, war mir dann doch immer ein biss­chen zu weit weg, aber Haupt­sa­che Was­ser! Ruhe fin­den im Fluss, pan­ta rhei. Das hier ein­mal so aus­for­mu­liert zu fin­den, in sei­ner gan­zen heroi­schen Lächer­lich­keit der Kon­flikt­ver­mei­dung und Kapi­tu­la­ti­on — das hat schon eine sehr ent­waff­nen­de, ernüch­tern­de Macht. Bis heu­te füh­le ich mich oft so, wie es Tom Liwa im Refrain beschreibt: „Für die lin­ke Spur zu lang­sam /​ Für die rech­te Spur zu schnell“. Eigent­lich müss­te es der Slo­gan aller Mil­len­ni­als sein.

In den Jah­ren 2000 und 2001 sahen mein bes­ter Freund und ich Tom Liwa vier Mal live. Meist stand er allein mit sei­ner Akus­tik­gi­tar­re auf der Büh­ne und spiel­te das, was er – in Anleh­nung an die damals popu­lä­ren „Dog­ma 95“-Filme – augen­zwin­kernd als „Dog­ma-Kon­zert“ bezeich­ne­te. Was aus den tol­len bis gran­dio­sen Songs ein rund­her­um groß­ar­ti­ges Album macht, ist jedoch auch die Pro­duk­ti­on Mar­cus Holz­ap­fel, die mir auch Jahr­zehn­te spä­ter noch wahn­sin­nig „undeutsch“ erscheint: sehr klar, alle Instru­men­te haben viel Raum, neben den domi­nie­ren­den Akus­tik- und den beglei­ten­den E‑Gitarren erklin­gen Quer­flö­ten, Vibra­pho­ne, Orgeln und Akkor­de­ons, gleich­zei­tig hat das Schlag­zeug einen fast absur­den Sta­di­on­rock-Appeal. Im Nach­hin­ein den­ke ich, dass die Vor­bil­der für die­sen Sound viel­leicht k.d. lang („Casa­no­vas Rück­kehr zum Pla­net der Affen“ klingt in den ers­ten Tak­ten buch­stäb­lich wie ein „Con­stant Craving“-Cover), Jeff Buck­ley und Wil­co gehei­ßen haben könn­ten. In jedem Fall ist es, neben all sei­nen inhalt­li­chen Stär­ken, immer noch eines der best­klin­gen­den deutsch­spra­chi­gen Alben aller Zei­ten.

Tex­te, die gleich­zei­tig auf magi­sche Art zugäng­lich und sper­rig sind, fand ich auch auf den frü­he­ren Flower­porn­oes-Alben, die ich mir nach und nach erschloss, wäh­rend vie­le Liwa-Alben nach „St. Amour“ oft­mals in buch­stäb­lich sehr ande­ren Sphä­ren spiel­ten. Zwi­schen­durch hat er mal sehr gute Alben beim Grand Hotel van Cleef ver­öf­fent­licht, aber sein Out­put und sei­ne Wech­sel von Labels und Ver­triebs­we­gen haben ähn­lich hohe Schlag­zah­len. Liwas aktu­ells­te Alben sind hoch­ge­lobt, aber weil er es sich erlau­ben kann (oder zumin­dest erlau­ben will), sie aus­schließ­lich außer­halb der Strea­ming­dienst-Aus­schlach­tungs­ket­ten anzu­bie­ten, sind sie ehr­lich gesagt auch ein biss­chen an mir vor­bei gegan­gen. Das weni­ge, was ich im ver­gan­ge­nen Jahr aus „Prim­zah­len aus dem Bar­do“ gehört habe, erin­ner­te aber durch­aus an alte Glanz­zei­ten. „Eine ande­re Zeit“ wur­de von der Redak­ti­on des deut­schen „Rol­ling Stone“ 2022 zum „Album des Jah­res“ gewählt. Klar: Ich käme heu­te sehr viel leich­ter an sei­ne Musik als vor 25 Jah­ren, aber ich bin eben auch Teil des Pro­blems der Musik­in­dus­trie (bzw. hier vor allem: der Künstler*innen), des­sen bin ich mir bewusst.

So ist auch „St. Amour“ bis heu­te nicht zum Strea­men ver­füg­bar. Man kann das Album zwar bei iTu­nes kau­fen, aber weder bei Apple Music noch bei Spo­ti­fy hören. Da sowohl das Label (Det­lef Diede­rich­sens Moll Ton­trä­ger) als auch der Ver­trieb (Ener­gie für Alle) inzwi­schen nicht mehr exis­tie­ren, kann man gebrauch­te CDs im Inter­net bestel­len, aber die Aura des etwas mys­ti­schen, nur mühe­voll zu beschaf­fe­nen, die das Album damals für mich hat­te, umgibt es inter­es­san­ter­wei­se bis heu­te.

Am 7. April 2000 ist es erschie­nen, heu­te vor 25 Jah­ren.

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Musik

Songs 3/​25

Das Jahr nimmt lang­sam rich­tig Fahrt auf, was man an der Zahl der Ver­öf­fent­li­chun­gen im März merkt. Ich ver­su­che mal, für Euch den Durch­blick zu behal­ten, und emp­feh­le neue Songs von HAIM, Clip­ping, Car Seat Head­rest, Case Oats und Kae Tem­pest.

Noch mehr Songs gibt’s wie immer auf unse­rem Cof­fee-And-TV-Mix­tape:

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Alles muss Rausch!

Mit dem Begriff „Clip­ping“ wird in der Ton­tech­nik das Über­steu­ern bezeich­net, also wenn ein Audio-Signal so laut ist, dass sei­ne Kur­ve gekappt wird und Ver­zer­rungs­ef­fek­te auf­tre­ten. So gese­hen haben Clip­ping einen der pas­sends­ten Band­na­men seit den Beat­les (zumin­dest in deren Anfangs­pha­se) oder Metal­li­ca.

Wer, wie ich, so alt ist, sich noch an die Geräu­sche erin­nern zu kön­nen, die ein Modem mach­te, wenn man sich ins Inter­net ein­wähl­te, wird immer wie­der zu die­sem Rau­schen zurück­kom­men, wenn es um die Musik von Clip­ping geht — und das nicht nur, weil das Intro ihres neu­en, fünf­ten Albums „Dead Chan­nel Sky“ buch­stäb­lich einen sol­chen Modem-Sound ver­wen­det: Nahe­zu alle Sounds (Instru­men­te sind es in den sel­tens­ten Fäl­len) des Albums quiet­schen, krat­zen, zir­pen, rau­schen und krei­schen so digi­tal, wie Songs, die man sich mit 56k-Ver­bin­dung über den Real-Play­er ange­hört hat.

Die Lan­des­mu­sik­rä­te der Bun­des­re­pu­blik haben die mensch­li­che Stim­me zum „Instru­ment des Jah­res“ 2025 ernannt. Dass sie, als sie dies taten, an Dave­ed Diggs dach­ten, ist unwahr­schein­lich, aber der Mann, den wir „Hamilton“-Fans als Mar­quis de Lafay­et­te und Tho­mas Jef­fer­son in der Erst­auf­füh­rung des Musi­cals ken­nen, setzt sei­ne Stim­me ein wie ein Maschi­nen­ge­wehr, einen Press­luft­ham­mer oder einen Indus­trieta­cker — wenn die­se Werk­zeu­ge mehr groo­ven wür­den. Er schafft mehr Sil­ben pro Minu­te als die meis­ten Men­schen Buch­sta­ben auf der Schreib­ma­schi­ne und mehr unter­schied­li­che Stim­mun­gen als ein Teen­ager, der gleich­zei­tig Fan des VfL Bochum ist.

Diggs‘ Sprech­ge­sang ist so beein­dru­ckend und eigen­stän­dig, dass man schon total geflasht ist, bevor man auch nur ver­sucht hat, auf den Text zu ach­ten. Man merkt aber auch sofort, dass das hier kein Son­nen­schein-Hip-Hop mit glit­zern­den Fel­gen und geöl­ten Kör­pern ist: Alles klingt nach Sci­ence-Fic­tion- und Hor­ror-Fil­men, man soll­te unbe­dingt das Wort „Dys­to­pie“ nen­nen und „Cyber­punk“ sagen.

Spä­tes­tens, seit ich bei „All Songs Con­side­red“ die zwei­te Vor­ab-Sin­gle „Keep Pushing“ gehört hat­te, war ich so gespannt und vor­freu­dig wie lan­ge nicht mehr bei einem Album. Und als „Dead Chan­nel Sky“ dann letz­te Woche end­lich raus­kam, war ich sofort hoo­ked: In der U‑Bahn, im Regio­nal­ex­press, auf der Auto­bahn, im Fit­ness-Stu­dio, beim Zugu­cken beim Fuß­ball-Trai­ning — das Album ist seit­dem immer mit dabei. Dabei ist es wirk­lich kein Album zum Neben­bei-Hören; kein Track dürf­te es auf eine die­ser „Unge­stört Arbeiten“-Playlisten schaf­fen (was natür­lich auch kein Ort ist, an dem die meis­ten Musiker*innen das Ergeb­nis ihrer Arbeit ger­ne sähen).

Ich bin auch nach einer Woche noch nicht voll­stän­dig in die lyri­sche Tie­fe des Albums ein­ge­taucht, aber es geht um Kapi­ta­lis­mus, digi­ta­le Gefah­ren, Klas­sen­kampf, ver­spie­gel­te Son­nen­bril­len, Dro­gen­han­del, Tod und Apo­ka­lyp­se. Man könn­te es also durch­aus groß­zü­gig von der US-ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft fin­den, dem Album zu sei­ner Ver­öf­fent­li­chung soweit ent­ge­gen­ge­kom­men zu sein, aber Dave­ed Diggs und sei­ne Pro­du­zen­ten Wil­liam Hut­son und Jona­than Snipes den­ken eh in viel grö­ße­ren Dimen­sio­nen; alles ist Inter­tex­tua­li­tät und Mixed-Media-Instal­la­ti­on, der Album­ti­tel eine Refe­renz an Wil­liam Gib­sons Roman „Neu­ro­man­cer“.

Ich weiß, dass sich das wahn­sin­nig anstren­gend und ver­kopft anhört, nach Röh­ren­bild­schir­men in städ­ti­schen Muse­en. Aber wir reden hier über drei Typen aus Kali­for­ni­en, da kommt immer noch von irgend­wo ein biss­chen fun, fun, fun um die scharf­kan­ti­ge Ecke. Und so ist „Dead Chan­nel Sky“ ein Album, aus dem man sich das neh­men kann, was man gera­de braucht.

Der clo­ser „Ask What Hap­pen­ed“ paart Diggs‘ Schnell­feu­er­waf­fen­rap in der ers­ten Hälf­te mit so etwas wie Klang­scha­len, ehe ein galop­pie­ren­der Drum-’n‘-Bass-Beat erscheint, der zwar zum Sprech­tem­po passt, aber durch die Ambi­ent-Geräu­sche fährt wie eine Kreis­sä­ge durch Aro­ma­öl­lam­pen. Danach fühlt man sich, als wäre man aus einem wil­den Traum hoch­ge­schreckt. Nur, dass man dann eher sel­ten „Noch­mal!“ schreit.

Clipping - Dead Channel Sky (Albumcover)

Clip­ping – Dead Chan­nel Sky
(Sub Pop Records; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp)

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Film Gesellschaft

They’ve all come to look for America

Das sei jetzt der Teil, wo sich der Inter­view­part­ner hin­set­zen wür­de, mit der Crew sprä­che und nicht wis­se, dass das Mate­ri­al dann spä­ter an den Anfang der Doku­men­ta­ti­on geschnit­ten wer­de, sagt Will Fer­rell zur Crew, als er sich hin­setzt, am Anfang des Films. Mehr Meta-Ebe­ne wird’s danach nicht mehr, auch wenn die Fra­ge nach der Authen­ti­zi­tät die­ser (und eigent­lich jeder) Doku­men­ta­ti­on ab da miet­frei im Unter­be­wusst­sein des Publi­kums wohnt.

Der Schau­spie­ler („Anchor­man“, „Bud­dy der Weih­nachts­elf“, „Stief­brü­der“, „Stran­ger Than Fic­tion“, „Euro­vi­si­on Song Con­test“) hat eine E‑Mail bekom­men von der Per­son, die er als Mann ken­nen­ge­lernt hat­te, als Autor bei „Satur­day Night Life“, wo ihre bei­den Kar­rie­ren began­nen, und als lang­jäh­ri­gen Freund. Die­se Per­son lebt jetzt, nach Jahr­zehn­ten des inne­ren Rin­gens, offi­zi­ell als Frau, wie sie Will Fer­rell in der E‑Mail mit­teilt. Einen neu­en Namen suche sie noch.

Als sich die bei­den wie­der­se­hen, ist die Ent­schei­dung auf Har­per gefal­len, nach der berühm­ten Schrift­stel­le­rin Har­per Lee („Wer die Nach­ti­gall stört“), die mit Har­pers Mut­ter zur Schu­le gegan­gen war. Will und Har­per wol­len her­aus­fin­den, ob Har­pers Tran­si­ti­on etwas geän­dert hat an ihrer Freund­schaft. Sie tun dies vor lau­fen­den Kame­ras, bei einem der ame­ri­ka­nischs­ten Bräu­che über­haupt: dem road trip.

Beglei­tet von einem phan­tas­ti­schen Fol­k/A­me­ri­ca­na/­Coun­try-Sound­track fah­ren Will und Har­per durch die USA, stel­len ihre Cam­ping-Stüh­le irgend­wo hin und trin­ken Light Beer. Es ist das Früh­jahr 2023; die Spal­tung des Lan­des, die eigent­lich seit sei­ner Grün­dung Teil sei­ner Iden­ti­tät ist, ist durch die ers­te Trump-Regie­rung und die COVID-19-Pan­de­mie mal wie­der beson­ders sicht­bar gewor­den. Trans-Per­so­nen wer­den als Spiel­ball benutzt in einem „Kul­tur­kampf“, auf des­sen einer Sei­te um rei­ne Exis­tenz­rech­te gekämpft wird und auf der ande­ren gegen ein Feind­bild, auf das man alle ein­schwö­ren kann: Wei­ße und peo­p­le of color, Män­ner und Frau­en, Rei­che und Arme.

Wo Will und Har­per auf ein­zel­ne Per­so­nen tref­fen, geht es eigent­lich immer recht har­mo­nisch zu. Fer­rells Pro­mi­nenz spielt qua­si kei­ne Rol­le, Ste­e­les Trans­se­xua­li­tät wird ent­we­der höf­lich igno­riert oder inter­es­siert bis posi­tiv auf­ge­nom­men. Doch in gro­ßen Men­schen­men­gen, bei einem Bas­ket­ball-Spiel und in einem Frei­zeit­park-ähn­li­chen Steak­haus, wo sofort Dut­zen­de Smart­phones auf die bei­den gerich­tet wer­den, wo con­tent online geht und Social-Media-Reak­tio­nen her­vor­ru­fen kann, wird Har­per ver­läss­lich Opfer eines digi­ta­len Mobs.

Das deckt sich zwar mit mei­nen eige­nen Ein­drü­cken von Wirk­lich­keit und Inter­net, aber es pas­siert in „Will & Har­per“ der­art deut­lich, dass die vor­ab im Unter­be­wusst­sein abge­leg­te Fra­ge wie­der hoch­schreckt: Inwie­fern bil­det die­ser Film das ab, was tat­säch­lich gesche­hen ist, als die bei­den mit ihrem Kame­ra­team durch das Land gefah­ren sind? Lief im direk­ten Kon­takt tat­säch­lich alles so glatt? Wie haben sie man­che Sze­nen über­haupt gedreht und wie haben sie das mit den Rech­ten all jener Per­so­nen gere­gelt, die zu sehen und zu hören sind?

Die­se Momen­te haben mich kurz aus dem Film her­aus­ge­holt, was ich aber als posi­tiv betrach­te: Sie stel­len das fer­ti­ge Pro­dukt in Fra­ge, das eben bei allen doku­men­ta­ri­schen Ansät­zen ein edi­tier­ter und redi­gier­ter Film ist und somit nie­mals Abbild einer Wirk­lich­keit sein kann.

„Will & Harper“ (Szenenbild)

Die ver­schie­de­nen Wirk­lich­kei­ten sind: Die Freund­schaft von Will und Har­per hat sich schnell an die ver­än­der­ten äuße­ren Umstän­de ange­passt; die bei­den machen ihre Wit­ze, wie sie es ver­mut­lich immer getan haben. Will und ande­re müs­sen sich mehr Sor­gen um Har­pers Wohl­erge­hen machen, wenn sie irgend­wo hin­geht — nicht nur, weil Frau­en in Fern­fah­rer­knei­pen und bei Auto­rennen anders behan­delt wer­den als Män­ner, son­dern ins­be­son­de­re, wenn sie Trans-Frau­en sind. Auch im 21. Jahr­hun­dert ver­än­dern anwe­sen­de Kame­ras noch die Situa­tio­nen, die sie abzu­bil­den ver­su­chen. Es gibt jede Men­ge Men­schen, die, viel­leicht mit eini­gen Vor­ur­tei­len und Hem­mun­gen, aber gene­rell offen und inter­es­siert auf Trans-Per­so­nen zuge­hen und die im bes­ten und ein­fachs­ten Sin­ne Men­schen­freun­de sind. Und es gibt Arsch­lö­cher, die sich online oder in der Wirk­lich­keit über ande­re erhe­ben; weil sie nicht wei­ter nach­den­ken, weil sie kei­ne Empa­thie haben, weil sie von Fox News und ande­rer Pro­pa­gan­da zu Men­schen­fein­den erzo­gen wur­den.

All das kann gleich­zei­tig wahr sein und „Will & Har­per“ kann und will inso­fern kein rei­nes Feel­good-Movie sein, auch wenn er über wei­te Stre­cken ein war­mes, herz­li­ches Gefühl erzeugt; immer wie­der ver­bun­den mit einem fas­sungs­lo­sen „Wie kann man Men­schen auf­grund ihrer rei­nen Exis­tenz so sehr has­sen?“ und dem Gedan­ken, wie viel schlim­mer die Situa­ti­on heu­te, nur zwei Jah­re spä­ter, unter der neu­en Trump-Regie­rung sein muss.

Der Film kann wahr­schein­lich Gesprä­che in Fami­li­en eröff­nen und Men­schen, die bis­her gar nichts mit dem The­ma Trans­se­xua­li­tät und Trans­gen­der zu tun hat­ten, an die Hand neh­men, weil Will Fer­rell so groß­ar­tig als Platz­hal­ter für das Publi­kum fun­giert: Inter­es­siert, auf­ge­schlos­sen, mit den bes­ten Absich­ten, aber manch­mal steht er sich selbst und dem Aus­tausch auf Augen­hö­he im Weg, manch­mal stellt er eine Fra­ge, die unan­ge­mes­sen ist, und die ihm Har­per Ste­e­le den­noch sofort ver­zeiht.

„Will & Har­per“ ist inso­fern ein bud­dy movie und mei­net­we­gen das, was man ein „nied­rig­schwel­li­ges Bil­dungs­an­ge­bot“ nennt. Es ist ein Film über unse­re Zeit und über ein ver­wirr­tes Land. Ein State­ment und ein Plä­doy­er für mehr Mensch­lich­keit. Aber im Grun­de genom­men auch und vor allem: Die Geschich­te der Freund­schaft zwei­er Men­schen.

„Will & Har­per“ bei Net­flix

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In Memoriam AnNa R.

Das ers­te Mal gehört hab ich von Rosen­stolz am 26. Febru­ar 1998, jenem Tag, an dem auch mei­ne zwei­te ESC-Pha­se begann (mei­ne ers­te ver­dan­ken wir bekannt­lich der Mün­che­ner Frei­heit, mei­ne drit­te, bis heu­te andau­ern­de, Ste­fan Nig­ge­mei­er). Das Duo trat damals beim deut­schen Vor­ent­scheid an und es hät­te womög­lich gewon­nen, wenn da nicht auch ein Mann namens Guil­do Horn im Wett­be­werb gewe­sen wäre, dem Ste­fan Raab einen Song und Johan­nes Kram eine Kam­pa­gne geschnei­dert hat­ten, mit denen er die­sen Abend für sich ent­schei­den konn­te.

Men­schen, die damals in der Bre­mer Stadt­hal­le (Deutsch­land im letz­ten Sta­di­um Hel­mut Kohl) dabei waren, berich­te­ten noch Jahr­zehn­te spä­ter von einer auf­ge­heiz­ten Stim­mung zwi­schen den klas­si­schen (also: schwu­len) Grand-Prix-Anhän­gern und dem Horn/Raab-Lager. Ich kann mich nicht mehr erin­nern, wel­ches Adjek­tiv man damals für que­er ver­wen­de­te, aber ich weiß, dass es an Rosen­stolz kleb­te. Man kann sich das heu­te gar nicht mehr vor­stel­len, aber es war damals eine Sache, dass eine Band eine expli­zit schwul-les­bi­sche Fan­ge­mein­de hat­te (beim ESC-Vor­ent­scheid). Ich kann nicht sagen, dass ihr dama­li­ger Wett­be­werbs­bei­trag „Her­zens­schö­ner“ bei mir blei­ben­den Ein­druck hin­ter­las­sen hät­te, aber ich ahn­te auch mit 14, dass ihre Musik etwas ande­res war als die … sagen wir mal drei Wer­ke von Ralph Sie­gel und Bernd Mei­nun­ger, die Rosen­stolz an jenem Abend hin­ter sich lie­ßen.

Alles, was vom hete­ro­nor­ma­ti­ven Welt­bild abwich, galt 1998 noch als „selt­sam“, „anders“ oder „per­vers“, min­des­tens an klein­städ­ti­schen Gym­na­si­en, wahr­schein­lich über­all im Land. Der ein­zi­ge Ort, wo „so etwas“ behan­delt wur­de (mit einem osten­ta­tiv inter­es­sier­ten Ges­tus, der es irgend­wie noch ver­ruch­ter mach­te), war „B. trifft“, eine Talk­show mit Bet­ti­na Böt­tin­ger im Drit­ten Pro­gramm des WDR. „Der beweg­te Mann“ war 1994 ein Kino­hit gewe­sen, aber da waren die meis­ten Schwu­len von expli­zit hete­ro­se­xu­el­len Schau­spie­lern gespielt wor­den und das Publi­kum lach­te, wenn ich mich knapp 30 Jah­re spä­ter rich­tig erin­ne­re, eher über sie als mit ihnen. Aus­län­di­sche Pop­kul­tur war da viel­leicht einen Schritt wei­ter, aber es soll­te auch noch acht Mona­te dau­ern, bis Geor­ge Micha­el das Video zu „Out­side“ ver­öf­fent­li­chen soll­te, eine der schil­lernds­ten Selbst­er­mäch­ti­gun­gen des aus­ge­hen­den Jahr­zehnts.

Das also war der Kon­text, in dem Rosen­stolz auf­tra­ten, und das war es, was ich wei­ter­hin mit Peter Pla­te und AnNa R. ver­band. Es war ein Stem­pel, der die Band aber immer auch inter­es­san­ter mach­te als ande­re deutsch­spra­chi­ge Acts zu ihrer Zeit.

2004 erschien „Lie­be ist alles“, ein Song, der mir in der Rück­schau omni­prä­sent erscheint, auch wenn ich mich fra­ge, wo er eigent­lich gelau­fen sein soll, und der von recht unter­schied­li­chen Acts wie Spi­ce Girl Mel C., dem Klas­sik-/Pop-Cross­over-Pro­jekt Ado­ro und Schla­ger-Legen­de Roland Kai­ser geco­vert wur­de. (Ich fin­de die Kai­ser-Ver­si­on übri­gens auf eine ganz eige­ne Art anrüh­rend und ich möch­te da nicht wei­ter drü­ber spre­chen!)

Ich weiß noch, wie im Früh­jahr 2006 die damals neue Rosen­stolz-Sin­gle „Ich bin ich (Wir sind wir)“ bei CT das radio in der Redak­ti­on ankam und wir den Song als ein­zi­ges Cam­pus­ra­dio über­haupt auf Rota­ti­on nah­men — und zwar auf die mit dem Vor­na­men „Hea­vy“. Ich erin­ne­re mich an eine Nacht, die ich im Stu­dio ver­brach­te, weil ich abends die Punk­sen­sung „Rocka­way Beach“ mode­riert hat­te, noch neue Songs auf­spie­len und mor­gens ab 7 wie­der mode­rie­ren muss­te (und es immer hieß, jede*r müss­te „min­des­tens ein Mal in der Redak­ti­on über­nach­tet haben“), und die­ser Song gefühlt ein­mal pro Stun­de sehr lei­se, aber bestän­dig aus den nicht kom­plett stumm geschal­te­ten Kopf­hö­rern zu der Couch her­über­weh­te, auf der ich schlief.

Die­ses Kla­vier­mo­tiv (das zumin­dest in mei­nem Kopf in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft von Peter­Lichts „Alles, was Du siehst, gehört Dir“ und Ben Lees „Wake Up To Ame­ri­ca“ wohnt, was jetzt objek­tiv nur so mit­tel-belast­bar ist) ist ja wohl auch unwi­der­steh­lich! Und die­se per­ma­nen­te Stei­ge­rung des Songs!

Viel mehr kann ich über Rosen­stolz ehr­lich gesagt gar nicht bei­tra­gen. Ich weiß, dass die Band 2012 eine „Pau­se“ ein­ge­legt hat, und habe seit­dem nicht oft an sie gedacht. (Außer bei der Ver­öf­fent­li­chung des Roland-Kai­ser-Albums, über das wir ja nicht reden woll­ten.)

Aber als heu­te Nach­mit­tag die Nach­richt kam, dass Sän­ge­rin AnNa R. im Alter von nur 55 Jah­ren gestor­ben ist, hat mich das über­ra­schend betrof­fen gemacht.

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Songs 2/​25

Hier sind 5 Songs, die Ihr im Febru­ar 2025 gehört haben soll­tet:

Und hier ist unser CTV-Mix­tape für den kür­zes­ten Monat des Jah­res:

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Zu früh geärgert

Vor zwei Wochen haben wir den 18. Geburts­tag die­ses Blogs gefei­ert, jetzt kön­nen wir schon das nächs­te Jubi­lä­um bege­hen. Heu­te vor zehn Jah­ren habe ich das abge­setzt, was mein erfolg­reichs­ter Tweet (eine Kate­go­rie, bedeu­tend trau­ri­ger als „Viert­bes­ter Tor­schüt­ze der Rück­run­de in der Kreis­li­ga C“) wer­den soll­te:

Tweet vom 24. Februar 2015: Wir sind im Jahr 2015 und die großen Themen lauten Religion, Meinungsfreiheit und Impfen. Wollen wir eigentlich unsere Vorfahren verarschen?

Ich bin mir rela­tiv sicher, mich erin­nern zu kön­nen (und wir wis­sen alle, was das bedeu­tet), wie ich die­sen Tweet zwi­schen „War­ten am Bochu­mer Haupt­bahn­hof“ und „Ein­stei­gen in den Regio­nal­ex­press nach Köln“ geschrie­ben und abge­schickt habe (des­we­gen auch die etwas merk­wür­di­ge Posi­tio­nie­rung des Adverbs „eigent­lich“ vor dem Akku­sa­tiv-Objekt, die mich seit dem ers­ten Moment stört), aber ich bin etwas rat­los, wel­che damals aktu­el­len Debat­ten ich damit kom­men­tie­ren woll­te. Die „Tages­schau“ vom Vor­abend ist schon mal kei­ne Hil­fe.

Die The­men „Reli­gi­on“ und „Mei­nungs­frei­heit“ mögen mit den Anschlä­gen auf die Redak­ti­on des fran­zö­si­schen Sati­re­ma­ga­zins „Char­lie Heb­do“ sie­ben Wochen zuvor zusam­men­hän­gen, auch wenn es aus heu­ti­ger Sicht eini­ger­ma­ßen unvor­stell­bar erscheint, dass ein Ereig­nis der­art lan­ge medi­al ven­ti­liert wird. „Imp­fen“ hat, wie ich jetzt ergoo­geln konn­te, wahr­schein­lich etwas mit einem Masern­aus­bruch zu tun, zu dem sich der Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter, offen­kun­dig ein Mann mit dem Namen Her­mann Grö­he, am glei­chen Tag äußer­te.

Wie es so oft ist: Man kann nicht vor­her­sa­gen oder kon­trol­lie­ren, was „viral geht“. So erreich­te mei­ne etwas nebu­lö­se Gesell­schafts­kri­tik schon in den ers­ten Stun­den Hun­der­te „Ret­weets“ und „Likes“ und ich bekam mei­ne wei­te­re gerech­te Stra­fe in Form eines eige­nen Arti­kels bei „Focus Online“. Ich ent­neh­me mei­nen Auf­zeich­nun­gen, dass ich offen­bar eini­gen uner­wünsch­ten Zuspruch von Ras­sis­ten auf Face­book bekom­men habe, und der „Focus Online“-Text deu­tet an, wie die­se Leu­te auf die fal­sche Fähr­te kom­men konn­ten:

In der Tat liegt Hein­ser nicht falsch: Der Islam und wie der Wes­ten mit ihm umge­hen soll, ist nicht erst seit der Pegi­da-Bewe­gung ein heiß dis­ku­tier­tes The­ma in Deutsch­land.

Mei­ne flap­sig weg­for­mu­lier­te Äuße­rung lässt natür­lich auch ver­schie­de­ne Deu­tun­gen zu — das ist ja eines der vie­len Elen­de von maxi­mal ver­knapp­ten Online-Debat­ten. Mei­ne Blog-Ein­trä­ge und News­let­ter spren­gen nicht sel­ten die 10.000-Zeichen-Marke, Twit­ter erlaub­te damals offen­bar nicht mehr als 140. Wie hät­te ich da gleich­zei­tig Besorg­nis aus­drü­cken sol­len über Per­so­nen, die ihre Reli­gi­on so ernst neh­men, dass sie dafür Men­schen ermor­den, und gleich­zei­tig einer frem­den­feind­li­chen Pau­schal­kri­tik eine Absa­ge ertei­len? Ich weiß ja nicht mal mehr, wor­um es mir genau ging, außer, dass ich von Evo­lu­ti­ons­brem­sen genervt war.

Den­noch wirkt mein Tweet heu­te wie eine Fla­schen­post aus ein­fa­che­ren, fast sorg­lo­sen Zei­ten: Vor dem Spät­som­mer 2015, in dem sich Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel gegen eine Schlie­ßung der deut­schen Außen­gren­zen ent­schied und ihren anstän­di­gen Mini­mal-Huma­nis­mus mit dem Erstar­ken von offen frem­den­feind­li­chen Posi­tio­nen auf Social Media und in der deut­schen und euro­päi­schen Poli­tik bezah­len muss­te; vor der US-Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tur eines abge­half­ter­ten Rea­li­ty-TV-Stars; vor dem „Brexit“; vor dem Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne (aber nach der Anne­xi­on der Krim und dem Ein­marsch im Don­bass); vor dem Hamas-Ter­ror vom 7. Okto­ber 2023, der bis heu­te anhält, und dem ganz gro­ßen Das-wird-man-doch-noch-sagen-dür­fen-Back­lash. Fried­rich Merz war ein weit­ge­hend in Ver­ges­sen­heit gera­te­ner Rechts­an­walt aus Düs­sel­dorf und die AfD stand in Wahl­um­fra­gen bei ca. 6%.

Es liegt eine beson­ders grob­schläch­ti­ge Iro­nie dar­in, dass der Ort, an dem ich mei­ne Gedan­ken damals wind­schief notiert habe, einer der Haupt­fak­to­ren der Ent­wick­lun­gen der nächs­ten Jah­re war: mit Fehl­in­for­ma­tio­nen zu Brexit und Hil­la­ry Clin­ton, zu COVID-19 und Imp­fun­gen, zu Geflüch­te­ten — und dann kam auch noch Elon Musk, der den gan­zen Bums auf­ge­kauft und zu einem Schmelz­tigel für Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen, Hass und alle Arten von Men­schen­ver­ach­tung opti­miert hat (wor­auf­hin Mark Zucker­berg für sei­ne Platt­for­men nach­zog).

Zwei wei­te­re Iro­nien lie­gen dar­in, dass mein Tweet aus­ge­rech­net heu­te Jubi­lä­um fei­ert, am drit­ten Jah­res­tag des offe­nen rus­si­schen Kriegs gegen die Ukrai­ne, und am Mor­gen nach einer Bun­des­tags­wahl, bei der die AfD auf 20,8% kam und eine Uni­on, die die Mer­kel-Ära abge­schüt­telt hat wie eine unge­lieb­te Jacke, in der Bun­des­re­gie­rung den Ton ange­ben wird.

Wahl­er­fol­ge mit rech­ter Rhe­to­rik ver­än­dern das gesell­schaft­li­che Kli­ma: Leu­te, die über Jah­re (zu recht) zu fei­ge waren, ras­sis­ti­sche, que­er­feind­li­che oder sonst­wie xeno­pho­be Kom­men­ta­re abzu­ge­ben, füh­len sich plötz­lich wie­der in der Mehr­heit, weil die Medi­en, rich­ti­ge wie Sozia­le, voll sind mit den gan­zen Unge­heu­er­lich­kei­ten (und ja auch lin­ke, auf­ge­klär­te Men­schen sie ger­ne noch ein­mal tei­len, um noch mal klar zu machen, wie unge­heu­er­lich sie sind). 

An einem Tag wie heu­te fällt es schwer, hoff­nungs­voll oder auch nur opti­mis­tisch zu sein: AfD-Wähler*innen wer­fen Nicht-AfD-Wähler*innen auf Social Media vor, dass ihnen der Tod von Opfern mut­maß­lich isla­mis­tisch moti­vier­ter Ter­ror­an­schlä­ge und Mor­de egal sei — als ob pro­gres­si­ve Men­schen nicht gegen Tota­li­ta­ris­mus, Patri­ar­chat und Gewalt wären, als ob der gefähr­lichs­te Ort für Frau­en nicht ihr eige­nes Zuhau­se oder Umfeld wäre und als ob eine sofor­ti­ge Schlie­ßung der Außen­gren­zen irgend­wel­che Aus­wir­kun­gen hät­te auf Men­schen, die hier unter men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen leben, unbe­han­del­te psy­chi­sche Pro­ble­me haben (womög­lich als Fol­ge von Trau­ma­ti­sie­rung in ihrer Hei­mat oder auf der Flucht hier­her) und emp­fäng­lich sind für men­schen­ver­ach­ten­de Wir-gegen-die-Nar­ra­ti­ve, die denen der AfD gar nicht so unähn­lich sind.

Jede „Migra­ti­ons­de­bat­te“ ist immer auch der sump­fi­ge, brau­ne Nähr­bo­den für blan­ken Ras­sis­mus, für ein Über­le­gen­heits­ge­fühl irgend­wel­cher Arsch­lö­cher, deren arg­los raus­ge­haue­nen Social-Media-Paro­len die Lebens­wirk­lich­keit mei­ner Freund*innen und der Freund*innen mei­nes Soh­nes bestim­men. Gleich­zei­tig glau­be ich, dass jede Social-Media-Empö­rung immer auch eine endo­ther­me Reak­ti­on ist, dass also die gan­ze Zeit von außen Ener­gie zuge­führt wer­den muss, damit sie am Kochen bleibt. Die­ses „außen“ sind natür­lich in ers­ter Linie Kräf­te wie Russ­land, Elon Musk und der Axel-Sprin­ger-Ver­lag, bei denen ich aktu­ell kei­ne Idee habe, wie man sie wie­der los wird oder wenigs­tens ihren Ein­fluss ein­schränkt (also: außer „Social Media abschal­ten“), aber ich wer­de weder die Hoff­nung, noch mein Enga­ge­ment gegen die­sen Wahn­sinn der ein­fa­chen Lösun­gen auf­ge­ben.

Ich bin jetzt 41 Jah­re alt und ich bin seit 41 Jah­ren auf Demos gegen Umwelt­zer­stö­rung und Nazis dabei. Ich bin es den Frau­en in mei­ner Fami­lie schul­dig, die sich seit Gene­ra­tio­nen für die Men­schen enga­giert haben, die von unse­rer Gesell­schaft an den Rand gedrängt und über­se­hen wur­den; die in Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen aktiv waren und 1938 anti­se­mi­ti­sche Mit­schü­le­rin­nen ver­dro­schen haben. Das sind die Vor­fah­ren, die ich mit mei­nem Tweet mein­te.

Kor­rek­tur, 4. März 2025: In der ers­ten Ver­si­on die­ses Blog­posts hat­te ich das Wort „eigent­lich“ als „Adjek­tiv“ bezeich­net. Im Fal­le des Tweets ist es aber ein­deu­tig ein Adverb. Mit Dank an K.!

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An einem anderen Tag gestorben

Natür­lich fehlt in den Pres­se­be­rich­ten jetzt wie­der jed­we­der Hin­weis dar­auf, dass James Bond in Wat­ten­scheid gebo­ren wur­de. So steht es in der „auto­ri­sier­te Bio­gra­fie von 007“, die John Pear­son, der ehe­ma­li­ge Assis­tent von James-Bond-Erfin­der Ian Fle­ming, 1973 ver­öf­fent­licht hat, und weil die Wattenscheider*innen immer noch nicht dar­über hin­weg sind, dass ihre Stadt seit 1975 zu Bochum gehört, kon­zen­triert sich ihr Stolz eben auf die­sen Fakt. Das Stadt­mar­ke­ting wei­det die­sen Umstand mit einer Hin­ga­be aus, die schon in Essen und Gel­sen­kir­chen (of all places) eher pein­lich berührt zur Kennt­nis genom­men wird: Zum 100. Geburts­tag der Figur im Novem­ber 2020 gab es eine Pla­kat­ak­ti­on, Zei­tungs­an­zei­gen, eine Post­kar­ten-Edi­ti­on und die Bie­re „James Blond“ und „James Dun­kel­blond“ in der Tou­rist­info zu erwer­ben. Eine geplan­te Foto­ak­ti­on mit einem Dani­el-Craig-Dou­ble muss­te pan­de­mie­be­dingt eben­so abge­sagt wer­den wie eine Aus­stel­lung.

Gestor­ben ist der legen­dä­re Geheim­agent, da sind sich die meis­ten Fans sicher, nicht in den letz­ten Sze­nen von „Kei­ne Zeit zu ster­ben“, jenem vom Pech ver­folg­ten letz­ten Dani­el-Craig-Film, des­sen Film­start erst wegen des Abgangs des ursprüng­lich geplan­ten Regis­seurs Dan­ny Boyle („Train­spot­ting“, „28 Days Later“, „Slum­dog Mil­lionaire“) und dann wegen der begin­nen­den COVID-19-Pan­de­mie ins­ge­samt fünf Mal ver­scho­ben wur­de, son­dern am gest­ri­gen Don­ners­tag auf irgend­ei­nem Schreib­tisch, als die bis­he­ri­gen Produzent*innen Bar­ba­ra Broc­co­li und Micha­el G. Wil­son bekannt gaben, die krea­ti­ve Kon­trol­le an der Film­rei­he an Ama­zon MGM Stu­di­os abge­ge­ben zu haben.

Union Jack

Eben­so wie rich­ti­ge Geheim­dienst­ar­beit in der Regel aus der Lek­tü­re und Nie­der­schrift von Berich­ten besteht, ist die Geschich­te der James-Bond-Fil­me min­des­tens genau­so eine von Rech­ten (juris­ti­sche, nicht Nazis) wie von exo­ti­schen Dreh­or­ten und rie­si­gen Sets: Der kana­di­sche Film­pro­du­zent Har­ry Saltz­man und sein US-ame­ri­ka­ni­scher Kol­le­ge Albert R. Broc­co­li hat­ten 1961 die Fir­ma Eon Pro­duc­tions gegrün­det, nach­dem Saltz­man die Film­rech­te der Roman­rei­he von Ian Fle­ming erwor­ben hat­te. Eon ist eine Toch­ter­ge­sell­schaft der Dan­jaq, LLC, die eben­falls von Saltz­man und Broc­co­li gegrün­det wur­de (und nach den dama­li­gen Ehe­frau­en der bei­den benannt ist) und die die Rech­te an der Mar­ke „James Bond“ hält — was etwas ande­res ist als die Urhe­ber­rech­te der Fil­me und die der Bücher. 1975 ver­kauf­te Saltz­man sei­nen Anteil an die Film­fir­ma United Artists, die wie­der­um 1980 von MGM (die mit dem Löwen) über­nom­men wur­de.

Weil der Regis­seur und Pro­du­zent Kevin McClo­ry wegen eines kom­pli­zier­ten Urhe­ber­rechts­streits die Rech­te an Ian Fle­mings James-Bond-Roman „Thun­der­ball“ und der dort vor­kom­men­den Vebre­cher­or­ga­ni­sa­ti­on SPECTRE besaß, konn­te er 1983 unab­hän­gig von den Eon-Fil­men „Sag nie­mals nie“ dre­hen, ein fak­ti­sches Remake der „Thunderball“-Verfilmung „Feu­er­ball“, in dem Sean Con­nery im Alter von 53 Jah­ren zum aller­letz­ten Mal James Bond spielt. Albert R. Broc­co­li wie­der­um über­trug sei­nen Teil der Fir­ma vor sei­nem Tod 1996 an sei­ne Toch­ter Bar­ba­ra Broc­co­li und sei­nen Stief­sohn Micha­el G. Wil­son, die seit „Gol­de­nEye“ (1995) alle Bond-Fil­me pro­du­zier­ten. (Wil­son hat auch in unge­fähr jedem Film einen Mini-Gast­auf­tritt, was einem nur dann pene­trant erscheint, wenn man viel zu tief drin ist in der Mate­rie.) 2005 wur­den United Artists und MGM von Sony über­nom­men, wo sich die finan­zi­el­le Lage des Stu­di­os bald als so dra­ma­tisch erwies, dass die Pro­duk­ti­on des 23. Bond-Films, der spä­ter „Sky­fall“ wer­den soll­te, zunächst auf Eis lag. Nach einer  erfolg­rei­chen Chap­ter-11-Insol­venz (die gan­ze Num­mer mit den Bond-Ver­leih­rech­ten bei 20th Cen­tu­ry Fox, heu­te Dis­ney, und Uni­ver­sal erspa­re ich uns allen, denn es ist ja jetzt schon kom­pli­zier­ter als jeder John-le-Car­ré-Roman) fusio­nier­te MGM im Jahr 2022 mit Ama­zon Stu­di­os.

Eines der Opfer die­ser gan­zen „Succession“-mäßigen Unter­hal­tungs­in­dus­trie-Wir­run­gen ist James Bond: Nach „Kei­ne Zeit zu ster­ben“, dem letz­ten Film mit Dani­el Craig als Titel­held, soll­te eigent­lich ein neu­er Haupt­dar­stel­ler gefun­den wer­den. Krea­ti­ve Ent­schei­dun­gen hät­ten gefällt wer­den müs­sen: Macht man, wie schon bei Craigs ers­tem Auf­tritt in „Casi­no Roya­le“ einen erneu­ten reboot, also einen Neu­an­fang, der die bis­he­ri­gen Fil­me der Rei­he ver­wirft bzw. in ein Par­al­lel­uni­ver­sum ver­weist? Lässt man die neu­en Fil­me, wie Ian Fle­mings Roman­vor­la­gen, in den 1950er und 60er Jah­ren und damit im Kal­ten Krieg spie­len? Wird James Bond viel­leicht doch eine Frau? Für die­se Ent­schei­dun­gen waren eigent­lich immer Bar­ba­ra Broc­co­li und Micha­el G. Wil­son zustän­dig, bei Ama­zon fan­den sie aber offen­bar kei­ne Ansprechpartner*innen mehr, von denen sie sich aus­rei­chend wert­ge­schätzt fühl­ten: Im ver­gan­ge­nen Dezem­ber berich­te­te das „Wall Street Jour­nal“, dass Wil­son nur Gesprächspartner*innen in unte­ren Hier­ar­chie­rän­gen bekä­me und Broc­co­li die Ama­zon-Leu­te im pri­va­ten Rah­men als „fuck­ing idi­ots“ bezeich­net habe. Vor die­sem Hin­ter­grund liest sich die gest­ri­ge Ankün­di­gung nur zwei Mona­te spä­ter als Kapi­tu­la­ti­on der Denkmalpfleger*innen.

Broc­co­li und Wil­son hat­ten es mehr­fach geschafft, James Bond zu moder­ni­sie­ren: Mit­te der 1990er Jah­re, als Pier­ce Brosn­ans Bond-Lauf­bahn begann, konn­te ihn sei­ne Che­fin M (Judi Dench) als „sexis­ti­schen Dino­sau­ri­er“ und „Relikt des Kal­ten Krie­ges“ ver­spot­ten und den (aus heu­ti­ger Sicht wirk­lich ver­stö­ren­den) Sexis­mus der alten Fil­me so wenigs­tens werk­im­ma­nent kom­men­tie­ren. 2006, als es mit Dani­el Craig tat­säch­lich zurück auf Anfang ging (irri­tie­ren­der­wei­se immer noch mit Judi Dench als M, aber wer wür­de die­ser Cas­ting-Ent­schei­dung wider­spre­chen wol­len?), ori­en­tier­ten sich die Fil­me an der schrof­fen Ästhe­tik der damals sehr erfolg­rei­chen Jason-Bourne-Fil­me mit Matt Damon. Das wären einer­seits gute Argu­men­te, das Duo wie­der mit einer Neu­erfin­dung der Rei­he zu beauf­tra­gen. Ande­rer­seits ist Wil­son inzwi­schen 83 und bei Ama­zon sit­zen Men­schen, die weni­ger als halb so alt sind, das Ekel­wort „con­tent“ benut­zen und auf­grund von sekun­den­ge­nau­en Aus­wer­tun­gen des eige­nen Strea­ming-Ange­bots genau zu wis­sen glau­ben, was die Leu­te inter­es­siert und was nicht. Das ist ein üble­res Auf­ein­an­der­tref­fen zwei­er Wel­ten als in der Sze­ne mit Bros­nan und Dench.

Außer­dem hat­te die Rei­he nach „Sky­fall“ auch arg ihr Mojo ver­lo­ren: In „SPECTRE“ und „Kei­ne Zeit zu ster­ben“ konn­ten die nach wie vor beein­dru­cken­den set pie­ces von den Dreh­bü­chern nur noch bedingt zusam­men­ge­hal­ten wer­den. Zu drin­gend woll­ten die Macher die Vebre­cher­or­ga­ni­sa­ti­on SPECTRE, deren Rech­te sie gera­de nach den oben ange­deu­te­ten jahr­zehn­te­lan­gen Rechts­strei­tig­kei­ten end­lich erwor­ben hat­ten, in die bereits bestehen­de Geschich­te ein­flech­ten, wes­halb die gan­ze Moti­va­ti­on und der gan­ze Hand­lungs­bo­gen des „Skyfall“-Bösewichts Sil­va (Javier Bar­dem) nach­träg­lich unter den Bus bzw. den ent­gleis­ten U‑Bahn-Wag­gon gewor­fen wur­de. Chris­toph Waltz über­schritt als unge­fähr sieb­te Ite­ra­ti­on des Super­schur­ken Ernst Stav­ro Blo­feld die Gren­zen zur Selbst­par­odie, nur um dann in „Kei­ne Zeit zu ster­ben“ nach einem Kli­schee-Mono­log urplötz­lich abge­murkst zu wer­den. Die Film­rei­he war – wie zuletzt im berüch­tig­ten letz­ten Pier­ce-Bros­nan-Auf­tritt „Stirb an einem ande­ren Tag“ – ein­mal mehr aus der Kur­ve getra­gen wor­den.

Tower Bridge, Frontalansicht

Mei­ne per­sön­li­che Bond-Sozia­li­sa­ti­on begann 1995 in der Licht­burg in Dins­la­ken an der Sei­te mei­nes Vaters mit besag­tem „Gol­de­nEye“. Ich war gera­de zwölf und ent­sprach damit der Alters­frei­ga­be (die Vor­stel­lung, den Film in andert­halb Jah­ren mit mei­nem Sohn zu schau­en, irri­tiert mich gera­de aller­dings sehr), es war mein ers­ter „Erwachsenen“-Film, der Titel­song kam von Tina Tur­ner und der Cha­rak­ter der Xenia Ona­topp (Fam­ke Jans­sen), einer Schur­kin, die Män­ner beim Geschlechts­akt mit ihren Schen­keln ermor­det, sorg­te für ein irri­tier­tes ers­tes sexu­el­les Erwa­chen. Woll­te ich wie James Bond sein? Wohl kaum. Aber ich woll­te sol­che Fil­me machen, wes­halb die meis­ten Heim­vi­de­os, die ich als Teen­ager mit mei­nen Freun­den und Geschwis­tern dreh­te, auch James-Bond-Par­odien rund um unse­rem eige­nen Geheim­agen­ten Johann Bünett waren („James und Johann sind bei­des But­ler-Namen und statt ‚blond‘ ohne L halt ‚brü­nett‘ ohne R“, wie mein Schul­freund Ben­ja­min tod­si­cher aus­ge­führt hat­te).

Mit einer Ener­gie, die nur Nerd-Kin­der ohne Com­pu­ter an den Tag legen kön­nen, ver­schlang ich alle gedruck­ten Infor­ma­tio­nen über die damals schon mehr als 30 Jah­re lau­fen­de Film­rei­he, so dass ich Euch die oben auf­ge­führ­ten juris­ti­schen Pro­ble­me schon mit 13, 14 hät­te refe­rie­ren kön­nen. Da mein Schlag­zeug­leh­rer eben­so gro­ßer Fan war und alle Fil­me auf VHS besaß, war ich nicht zwin­gend auf die Aus­strah­lun­gen im linea­ren Fern­se­hen ange­wie­sen — obwohl „Lizenz zum Töten“ für mich heu­te immer noch ein Weih­nachts-Vor­abend-Film ist, nur weil er zufäl­li­ger­wei­se am 23. Dezem­ber 1997 im Ers­ten gelau­fen war, als mei­ne Eltern im Wohn­zim­mer den Baum schmück­ten und ich den Film des­halb in Papas Arbeits­zim­mer gucken durf­te.

Die Dani­el-Craig-Ära begann im Novem­ber 2006, als ich gera­de für drei Mona­te in San Fran­cis­co leb­te, und tat­säch­lich hab ich bis heu­te kei­nen ein­zi­gen Craig-Bond in deut­scher Syn­chron­fas­sung gese­hen, weil es ab „Ein Quan­tum Trost“ (2008) dann auch in Bochum Film­vor­füh­run­gen im eng­lisch­spra­chi­gen Ori­gi­nal gab. Aber seit 2015 haben die „Mis­si­on: Impossible“-Filme bei mir eh „James Bond“ als liebs­te Agen­ten­film-Rei­he abge­löst.

Und jetzt? Unken die Fans im Inter­net, dass es das natür­lich gewe­sen sei mit James Bond. Ama­zon wer­de das fran­chise aus­schlach­ten und eine Art Mar­vel Cine­ma­tic Uni­ver­se (MCU) dar­aus erschaf­fen mit spin-offs, Fern­seh­se­ri­en, ori­gin sto­ries und ähn­li­chem Schnick­schnack. Gera­de Bar­ba­ra Broc­co­li hat­te bis zuletzt dar­auf beharrt, Bond-Fil­me als sin­gu­lä­re Ereig­nis­se alle zwei bis fünf Jah­re ins Kino zu brin­gen. Ver­glei­che wer­den gezo­gen zum „Star Wars“-Universum, das seit dem Ver­kauf von Lucas­film an Dis­ney auch sei­nen Reiz ver­lo­ren habe. Und da muss man jetzt vor­sich­tig sein: Ich sit­ze den gan­zen „Star Wars“-Fernsehserien auch rat­los gegen­über und fin­de, dass „Der Auf­stieg Sky­wal­kers“, der letz­te „Star Wars“-Film der drit­ten Tri­lo­gie aus dem Jahr 2019 sei­nen unmit­tel­ba­ren Vor­gän­ger „Die letz­ten Jedi“ in ähn­li­cher Wei­se ver­ra­ten hat wie „SPECTRE“ es mit „Sky­fall“ getan hat­te. Anders als vie­le „Star Wars“-Fans, die zumin­dest geis­tig das Arbeits­zim­mer ihres Vaters oder den Kel­ler ihrer Mut­ter nie ver­las­sen zu haben schei­nen, sehe ich das Pro­blem aber nicht in star­ken Frau­en­rol­len oder einem diver­sen cast.

Das Elend moder­ner Erzähl­wei­sen liegt für mich viel­mehr in dem unend­li­chen Breit­tre­ten von Cha­rak­te­ren und Hand­lungs­bö­gen (Stich­wort „hori­zon­ta­les Erzäh­len“, Stich­wort MCU), weil das teu­er erwor­be­ne intellec­tu­al pro­per­ty so stark wie mög­lich aus­ge­presst wer­den muss — da bin ich dann ganz bei Bar­ba­ra Broc­co­li, ihren event movies und ihrer Ableh­nung des Begriffs „con­tent“. (Die Iro­nie, dass wir hier über Bewegt­bild-Adap­tio­nen von Comic­buch-Rei­hen bzw. geho­be­ne­ren Gro­schen­ro­ma­nen spre­chen, ist mir dabei durch­aus bewusst, dan­ke der Nach­fra­ge!)

Fans, die sich im Inter­net empö­ren, die krea­ti­ve Kon­trol­le über künst­le­ri­sche Pro­jek­te zu über­las­sen, hal­te ich aller­dings für min­des­tens eben­so bescheu­ert, wie die­se Auf­ga­ben an die con­trol­ler abzu­ge­ben, die einem dank irgend­wel­cher Erhe­bun­gen erklä­ren wol­len, wel­che „Inhal­te“ gut „funk­tio­nie­ren“ — die Ergeb­nis­se die­ser Vor­ge­hens­wei­se kann man in den meis­ten Social-Media-Auf­trit­ten ehe­mals seriö­ser deut­scher Medi­en­mar­ken besich­ti­gen. Es gibt immer zwei Sor­ten Nerds: Die, die Musik hören und dann das Bedürf­nis haben, eine Band grün­den (oder fern­se­hen und dann eine Kame­ra in die Hand neh­men), und die, die Ver­kaufs­zah­len oder Ein­schalt­quo­ten stu­die­ren und dann dar­aus ablei­ten zu kön­nen glau­ben, was für Songs oder Fil­me erfolg­reich sein könn­ten. Ich war immer ent­schie­den im ers­ten Team.

Den rau­chen­den, trin­ken­den, schie­ßen­den und durch­aus auch sexu­ell über­grif­fi­gen James Bond der Roma­ne und frü­hen Fil­me könn­te man heu­te allen­falls als peri­od pie­ce insze­nie­ren, auch das ver­mut­lich nur mit irgend­ei­ner Art ein­ord­nen­dem Kom­men­tar. In Zei­ten, wo Typen wie Andrew Tate, Mark Zucker­berg und Joe Rogan ihre eher ver­stö­ren­de, weil unend­lich trau­ri­ge, Vor­stel­lung von Männ­lich­keit unge­fil­tert auf Mil­lio­nen Jun­gen und jun­ge Män­ner los­las­sen kön­nen und gif­ti­ge Männ­lich­keit eher wie­der auf dem auf- als auf dem abstei­gen­den Ast scheint, wür­de einer Judi Dench, die mal ordent­lich auf den Tisch haut, ver­mut­lich „can­cel cul­tu­re“ vor­ge­wor­fen wer­den, aber sie wäre not­wen­dig.

Eine beson­de­re Iro­nie liegt natür­lich dar­in, dass die Zukunft des berühm­tes­ten Geheim­agen­ten jetzt in den Hän­den eines Kon­zerns liegt, des­sen Grün­der so ein­deu­tig eine Check­lis­te der wich­tigs­ten Bond-Böse­wich­te abge­ar­bei­tet zu haben scheint: Er baut Rake­ten wie Hugo Drax („Moon­ra­ker“), besitzt eine wich­ti­ge Zei­tung wie Elli­ot Car­ver („Der Mor­gen stirbt nie“) und ist kahl­köp­fig wie Ernst Stav­ro Blo­feld bei meh­re­ren Auf­trit­ten. Aber wer weiß, viel­leicht will Jeff Bezos den Ant­ago­nis­ten im nächs­ten Film auch ein­fach selbst spie­len.

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Musik

Aber hier leben, nein danke!

Am Frei­tag ist das neue Album von Toco­tro­nic erschie­nen. Der Titel­song wäre bei­na­he das ers­te mir bekann­te Lied gewe­sen, in dem der Orts­na­me „Dins­la­ken“ vor­kommt — allein: Es stan­den ästhe­ti­sche Grün­de im Wege, wie Sän­ger Dirk von Lowtzow der „NRZ“ erzähl­te:

Im Titel­song von „Gol­den Years“ geht es um Heim­weh und Lie­bes­sehn­sucht im Künst­ler­le­ben unter­wegs – „Aber man muss dank­bar sein, wenn man den Leu­ten noch begeg­net, nicht nur als Klick auf Spo­ti­fy“. Machen die­se zwei Stun­den am Abend auf der Büh­ne den gan­zen Tour­stress wett?

 

In den aller­meis­ten Fäl­len: ja. Und oft auch auf unvor­her­ge­se­he­ne Art und Wei­se. Eine Inspi­ra­ti­on für die­ses Lied war ein Kon­zert, das wir im Som­mer 2023 in Dins­la­ken gege­ben haben, auf einer Frei­licht­büh­ne. Und ohne Dins­la­ken zu nahe tre­ten zu wol­len: Ich habe das nicht als den Nabel der Welt emp­fun­den. Und es hat zudem noch aus Eimern gereg­net. Trotz­dem war es eines der schöns­ten Kon­zer­te, die wir je gespielt haben. Weil es so toll anzu­se­hen war, wie die Leu­te da im Regen in die­sem ver­wun­sche­nen Park stan­den und durch­ge­hal­ten haben.

Im Text heißt es aller­dings: „Frei­licht­büh­ne Reck­ling­hau­sen /​ Wo die öden Win­de wehen“. Zufäl­li­ge Ver­frem­dung oder ver­bin­den Sie mit Reck­ling­hau­sen etwas Kon­kre­tes?

 

Nee, ich fand ein­fach das Wort­paar gut. Ich dach­te an die­ses Kon­zert in Dins­la­ken, das war die Blau­pau­se. Aber „Frei­licht­büh­ne Reck­ling­hau­sen“ klingt pho­ne­tisch so wahn­sin­nig schön. Das geht einem gut über die Lip­pen und lässt sich gut sin­gen.

Ande­rer­seits dürf­te es bis­her auch nicht vie­le Songs geben, in denen Reck­ling­hau­sen vor­kommt — und Göt­tin­gen:

Lasst uns jeden­falls gemein­sam hof­fen, dass die Pres­se­stel­le der Stadt Dins­la­ken nicht wie­der eine Pres­se­mit­tei­lung raus­gibt!

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Musik Digital

Geburtstagskaffee

Heu­te vor 18 Jah­ren ging die­ses klei­ne Pop­kul­tur-Blog an den Start — mit einem Kick­off-Text, der zuvor den 4. Platz beim Wett­be­werb „Schü­ler ver­su­chen, wie Max Goldt zu schrei­ben“ belegt hat­te.

Das heißt: Cof­fee And TV ist jetzt voll­jäh­rig, darf Auto fah­ren, har­ten Alko­hol kau­fen und wäh­len. Uff!

So einen Geburts­tag muss man natür­lich ordent­lich fei­ern, des­we­gen ist heu­te Nacht, exakt 157.800 Stun­den nach dem Sta­pel­lauf, mein Pro­jekt 18 Jah­re, 18 Songs online gegan­gen, das eigent­lich nur eine Play­list mit ein paar Anmer­kun­gen wer­den soll­te und jetzt – natür­lich – einer der längs­ten Tex­te der Blog-His­to­rie ist.

Außer­dem fei­ert die kurz­le­bi­ge 2014er-Serie „Song des Tages“ eine Wie­der­auf­er­ste­hung — und zwar exklu­siv in unse­rem Whats­App-Kanal. Da soll es aber extra kei­ne Begleit­tex­te in Roman-Län­ge geben, son­dern ein­fach nur jeden Tag einen Song, der mir gera­de pas­send erscheint — obskur oder Hit, aktu­ell oder uralt.

Und dann woll­ten wir Ihnen noch das zei­gen:

The rumours are true: Aus Anlass des 18. Geburts­tags wer­de ich aus den schöns­ten Blog-Tex­ten (oder den schöns­ten, die ich wie­der­ge­fun­den habe) lesen!

18 Jah­re Cof­fee And TV
Frei­tag, 7. März 2025, 20 Uhr (anschl. Par­ty)
Gold­kan­te, Alte Hat­tin­ger Str. 22, 44789 Bochum
Ein­tritt frei, hin­ter­her geht ein Hut rum

Das wird super, ich freu mich!

Mein beson­de­rer Dank geht heu­te an die ande­ren Gründungs-Autor*innen Kath­rin, Oli­ver, Ste­phan, Dani­el, Mar­ta, Tho­mas und Gor­di­an, die gleich­zei­tig mei­ne ers­ten Leser*innen waren, und an Anni­ka, Mar­kus, Ste­fan, Katha­ri­na, Bas­ti, Lisa, Tom­my, Tom, Fried­rich, Domi­nik, Sari­na, Sue, Sel­ma, Peter, Jens, Thors­ten und Jus­tus, die spä­ter zu die­sem Blog bei­getra­gen haben! They cal­led us the pop kids.

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Leben Musik

18 Jahre, 18 Songs

Für Gün­ter und Jür­gen, die ich ohne die­ses Blog nie ken­nen­ge­lernt hät­te.
Und für Dör­te, die immer alles gele­sen hat.

Es war die nahe­lie­gends­te Idee der Welt: Zum 18. Geburts­tag des Blogs wäh­le ich einen Song aus jedem Jahr aus — fer­tig ist die Play­list!

Aber nach wel­chen Kri­te­ri­en? Ein­fach das Lied neh­men, das jeweils mei­ne Lis­te „Song des Jah­res“ ange­führt hat? Das wäre ja ein biss­chen lang­wei­lig — und sol­che Lis­ten gab es auch gar nicht in jedem Jahr.

Die Kaffeetasse aus dem ersten Coffee-And-TV-Logo

Also: 18 ande­re Songs. Wel­che, die ihr jewei­li­ges Jahr, aber auch die­ses Blog gut reprä­sen­tie­ren; die für mich eine per­sön­li­che Bedeu­tung haben; die ich auch heu­te noch höre. Eine halb­wegs aus­ge­wo­ge­ne Mischung aus Gen­res, Geschlech­tern und Spra­chen, also eben dann doch auch: Kon­text.

Und so wur­de aus einem klei­nen Gim­mick zum Jubi­lä­um eine aus­ufern­de Recher­che-Akti­on im eige­nen Leben ’n‘ Werk und einer der längs­ten Tex­te, der hier in den letz­ten 18 Jah­ren erschie­nen ist:

2007: Mika – Grace Kel­ly
Als die­ses Blog an den Start geht, sind Gitar­ren­mu­sik im All­ge­mei­nen und Indie­rock im Spe­zi­el­len noch ein Ding. Bei der damals noch statt­fin­den­den „Leser­wahl“ (ein Kon­strukt, das wir uns rela­tiv offen­sicht­lich von „Plat­ten­tests online“ abge­schaut haben), wird „A Weekend In The City“ von Bloc Par­ty (Wann habt Ihr zuletzt an die­se Band gedacht?) zum „Album des Jah­res“ gewählt und „Ruby“ von Kai­ser Chiefs (Oder an die­se Band?!) zum „Song des Jah­res“.

Auf mei­ner Jah­res­bes­ten­lis­te ganz vor­ne ist „Tonight I Have To Lea­ve It“ von Shout Out Louds, das ich auch ewig nicht mehr gehört habe. Und ganz ver­steckt, auf Platz 22: „Grace Kel­ly“ von Mika, ein etwas exal­tier­ter over-the-top-Pop­song mit Vau­de­ville- und Musi­cal-Anlei­hen von einem jun­gen Mann, den das Adjek­tiv „andro­gyn“ beglei­tet. (Es waren, wie gesagt, ande­re Zei­ten.) Ein Song, den mir „Plan B“, die etwas anspruchs­vol­le­re Musik­sen­dung von 1Live (ich unter­schied damals noch puber­tär zwi­schen „guter“ Indie- und „schlech­ter“ Main­stream-Musik; ande­re Zei­ten inde­ed), in die WG-Küche gebracht hat.

15 Jah­re spä­ter sit­ze ich beim Euro­vi­si­on Song Con­test in Turin in der deut­schen Kom­men­ta­to­ren­ka­bi­ne, zum neun­ten Mal als Assis­tent von Peter Urban, der wegen der aus­klin­gen­den COVID-19-Pan­de­mie von Ham­burg aus kom­men­tiert. Gelan­det war ich bei die­ser Ver­an­stal­tung über­haupt nur, weil Ste­fan Nig­ge­mei­er 2007 mei­ne Kom­men­ta­re in sei­nem Blog gele­sen und mich gefragt hat­te, ob ich mit ihm einen „Grand-Prix-Füh­rer“ schrei­ben wür­de. Der Rest ist Geschich­te, bzw. BILD­blog, Oslog, Dus­log, Baku­b­log, besag­ter Job als Kom­men­ta­to­ren-Assis­tent und mein Buch. Und die­ser Mika mit sei­nem Song über Grace Kel­ly (bzw. dar­über, wie man sich anpasst, um den Men­schen zu gefal­len) mode­riert da jetzt die­se Ver­an­stal­tung gemein­sam mit Lau­ra Pausi­ni und Ales­san­dro Cat­tel­an, er bringt inter­na­tio­na­len Gla­mour in eine (vor allem hin­ter den Kulis­sen) eher chao­ti­sche TV-Sen­dung und er singt ein Med­ley sei­ner Hits.

Es ist ein selt­sa­mer, rüh­ren­der full-cir­cle-Moment, der die größ­te Musik­show der Welt mit mei­ner alten WG-Küche und allem dazwi­schen kurz­schließt, und in einem Anfall von Geis­tes­ge­gen­wart und emo­tio­na­ler Über­for­de­rung schrei­be ich auf jener Social-Media-Platt­form, die damals noch Twit­ter heißt: „Es ist schön, an das Jahr 2007 erin­nert zu wer­den. Es ist noch schö­ner, dass in mei­nem Leben heu­te unge­fähr alles bes­ser ist als damals.“ Oder, mit Mikas Wor­ten: „Ca-ching!
[Songs 2007 von damals]

2008: The Hold Ste­ady – Con­s­truc­ti­ve Sum­mer
Die Leser*innen, die ich damals noch „Leser“ nen­ne, wäh­len „Sex On Fire“ von Kings Of Leon zum Song und „Heu­re­ka“ von Tom­te zum Album des Jah­res. Ich samm­le die wich­tigs­ten Nazi-Ver­glei­che (eine Kate­go­rie, der damals noch ein gewis­ser Unter­hal­tungs­fak­tor anzu­haf­ten scheint) und Barack-Oba­ma-Refe­ren­zen und arbei­te den Rest der Zeit fürs BILD­blog.

Mei­ne wich­tigs­te Quel­le für neue Musik ist „All Songs Con­side­red“, ein Pod­cast von NPR, der auch das Vor­bild für mei­ne eige­ne, kurz­le­bi­ge Musik­sen­dung bei Spo­ti­fy 2023/​24 wird. Hier sto­ße ich erst­mals auf The Hold Ste­ady, eine Band aus Brook­lyn (ursprüng­lich: Minneapolis/​St. Paul), die Geschich­ten von Ver­lie­rern und Under­dogs in hym­ni­schen Rock­songs erzählt wie sonst nur Bruce Springsteen. Ihr Album „Stay Posi­ti­ve“ bringt mich durch ein Jahr, von dem ich heu­te so gut wie nichts mehr weiß, des­halb las­se ich mir das Sym­bol vom Album­co­ver 2011 auf mei­ne Wade täto­wie­ren.

Auch ihre Musik bleibt: 2009 kau­fe ich mir alle Alben und höre sie rauf und run­ter (wie man es in einer Welt ohne Strea­ming eben so mach­te), 2010 rufe ich den „Con­s­truc­ti­ve Sum­mer“ aus: „We’­re gon­na build some­thing this sum­mer.“ Hier ent­ste­hen dann end­lich Erin­ne­run­gen, die für immer blei­ben wer­den, unter­malt von „Boys And Girls In Ame­ri­ca“, „Stay Posi­ti­ve“ und dem damals neu­en Nach­fol­ge-Album „Hea­ven Is When­ever“.
[Songs 2008 von damals]

2009: Kili­ans – Home­town
Nach über fünf Jah­ren im Stu­den­ten­wohn­heim muss ich mir mal lang­sam eine eige­ne Woh­nung suchen und ich über­le­ge: In Bochum blei­ben oder nach Ham­burg zie­hen? Es ist ein Jahr der gro­ßen Gefüh­le zwi­schen Welt erobern wol­len und zuhau­se ein­sper­ren, beglei­tet von der ganz gro­ßen, uner­füll­ten Lie­be.

Mei­ne Freun­de von den Kili­ans (Bru­der, Demo-CD, Thees Uhl­mann, Tom­te-Tour — you know the sto­ry!) ver­öf­fent­li­chen im April ihr zwei­tes Album „They Are Cal­ling Your Name“ und spie­len aus die­sem Anlass ein Kon­zert auf dem Hans-Böck­ler-Platz in Dins­la­ken, jener Stadt, in der wir alle – die Kili­ans, ich und die ganz gro­ße, uner­füll­te Lie­be – auf­ge­wach­sen waren. Ihr Song „Home­town“ ist das Ange­bot einer Hym­ne.

Die Band löst sich 2013 auf, da wird der Hans-Böck­ler-Platz gera­de mit einem Ein­kaufs­zen­trum über­baut. Wenn man heu­te „Dins­la­ken“ sagt, reagie­ren nicht mehr vie­le Men­schen mit „Aaaah, die Kili­ans!“ (aber – und das wird die Bür­ger­meis­te­rin freu­en – auch nicht mehr mit „Aaaah, der Wend­ler!“ oder „Aaaah, die Sala­fis­ten!“). Die Stadt hat sogar die Emscher­mün­dung ver­lo­ren. Aber Erin­ne­run­gen und Musik wer­den ja immer blei­ben.

(Ich ent­schei­de mich 2009 übri­gens für Bochum. My home­town.)

2010: Lena – Satel­li­te
„Irgend­wann musst Du Dir das mal vor Ort anschau­en“, hat­te Ste­fan Nig­ge­mei­er 2008 über den Euro­vi­si­on Song Con­test (damals und immer schon: „Euro­vi­si­on Song Con­test“) gesagt, aber weil Mos­kau schon damals kein Ort ist, an dem man ger­ne sein möch­te, ver­schie­ben wir unser Pro­jekt auf das Fol­ge­jahr und nach Oslo. Womit wir nicht rech­nen: dass in Deutsch­land ein regel­rech­ter ESC-Hype um eine 18-jäh­ri­ge Abitu­ri­en­tin aus Han­no­ver aus­bricht und die die­se merk­wür­di­ge Quatsch-Ver­an­stal­tung tat­säch­lich gewinnt. (Also: In der ers­ten Fol­ge des Oslog wet­te ich natür­lich genau das, aller­dings ohne auch nur einen ande­ren Wett­be­werbs­bei­trag zu ken­nen.)

Als altes Thea­ter-Kind zieht mich die jähr­li­che Leis­tungs­schau der Büh­nen­tech­nik-Indus­trie sofort in ihren Bann und auch musi­ka­lisch ist das alles gar nicht mehr so schlimm, wenn man es nur oft genug gehört hat. Aber trotz der ein­schnei­den­den, im Nach­hin­ein lebens­weg­wei­sen­den Erfah­rung in Oslo traue ich mich nicht, „Satel­li­te“ auf mei­ne Jah­res­bes­ten­lis­te zu packen. Da sol­len auch wei­ter nur Indie-kre­di­be­le Sachen zu fin­den zu fin­den sein (und so igno­rie­re ich offen­bar auch das tol­le Take-That-mit-Rob­bie-Album „Pro­gress“ kom­plett). Das passt zu einem Jahr, in dem ich nicht gera­de dadurch auf­fal­le, irgend­wel­che Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, son­dern mich lie­ber vom Großstadt‑, vor allem aber Nacht­le­ben rund um mei­ne neue Woh­nung in der Innen­stadt mit­rei­ßen las­se und als neu­er BILD­blog-Chef in Talk­shows gehe und zu Jour­na­lis­ten­kon­gres­sen ins Aus­land flie­ge. („It’s phy­sics /​ There’s no escape.“)

Hier also spä­te Genug­tu­ung für einen Song und ein Ereig­nis, ohne die ich heu­te nicht da wäre, wo ich bin, und ohne die der ESC in Deutsch­land immer noch als „Schla­ger-Grand-Prix“ fir­mie­ren wür­de, bei dem man ohne­hin nichts rei­ßen kann.
[Songs 2010 von damals]

2011: Thees Uhl­mann – 17 Wor­te
Mein Kum­pel Thees Uhl­mann ist im Jahr 2011 wie so oft wei­ter als ich: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Ich bin vier bis fünf Aben­de die Woche im Frei­beu­ter im Bochu­mer Bermuda3eck und schrei­be neben­her das BILD­blog voll. Des­we­gen igno­rie­re ich Thees‘ selbst­be­ti­tel­tes Solo-Debüt damals auch rüpe­lig bei den „Alben des Jah­res“ (und lobe lie­ber das nächs­te ega­le Cold­play-Album), obwohl ich es wirk­lich oft höre.

Aber die­se Lis­te hier ist auch eine Chan­ce auf Wie­der­gut­ma­chung, denn sechs Jah­re spä­ter ste­he ich beim GHvC-Geburts­tag in Ham­burg im Nie­sel­re­gen: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Also völ­lig ande­re Prio­ri­tä­ten und Prin­zi­pi­en: „Mei­ne Wahr­heit in 17 Wor­ten: /​ Ich hab ein Kind zu erzie­hen /​ Dir einen Brief zu schrei­ben /​ Und ein Fuß­ball-Team zu sup­port­en.“ (Bei Erschei­nen des Albums hat­te ich Thees eine SMS geschrie­ben, dass das nur 16 Wor­te wären, weil man „Fuß­ball­team“ zusam­men­schrei­be. Sei­ne Ant­wort kam natür­lich prompt: „Fuß­ball Team!“)

2021 sehe ich Thees Uhl­mann und Band live im Burg­thea­ter in Dins­la­ken (weil: natür­lich). Es ist mein ers­ter Kon­zert­be­such seit andert­halb Jah­ren, mein Sohn ist an mei­ner Sei­te, mei­ne Eltern irgend­wo in mei­nem Rücken, der VfL Bochum ist auf­ge­stie­gen. Wei­te Tei­le der Öffent­lich­keit sind wäh­rend der immer noch anhal­ten­den Pan­de­mie dem Wahn­sinn anheim­ge­fal­len, aber als Thees „17 Wor­te“ spielt, macht für mich alles Sinn: Wir sin­gen, um uns zu erin­nern.
[Songs 2011 von damals]

2012: Car­ly Rae Jep­sen – Call Me May­be
Die­ser beklopp­te Euro­vi­si­on Song Con­test hat mich nach Aser­bai­dschan ver­schla­gen. Ich sit­ze in Baku im Hotel­zim­mer, gucke rus­si­sches Musik­fern­se­hen und sehe die­ses Video. Als der Song zu Ende ist, zap­pe ich wei­ter und sehe das glei­che Video auf dem nächs­ten Kanal direkt noch mal von vorn. „Komi­sche Rus­sen“, den­ke ich, will den Song bei Face­book pos­ten und stel­le fest, dass ich mit „Call Me May­be“ einen inter­na­tio­na­len Hit ver­passt habe.

Wahr­schein­lich ist es die­ser Moment, in dem ich die­ses eli­tär-puber­tä­re Musik-nur-gut-fin­den-wenn-sie-sonst-kei­ner-hört-Din­gen auf­ge­be und end­lich frei bin, Din­ge gut zu fin­den, nur weil ich sie gut fin­de. Um Din­ge auch öffent­lich gut zu fin­den (jeden­falls meis­tens), star­ten Tom The­len und ich im Blog unse­ren Kino-Pod­cast „Cine­ma And Beer“.

„Befo­re you came into my life /​ I missed you so bad“ ist immer noch eine der bes­ten Zei­len, die je über roman­ti­sche Lie­be geschrie­ben wur­de — und das waren ja nun wirk­lich nicht weni­ge. Car­ly Rae Jep­sen in der Köl­ner Essig­fa­brik ist im Febru­ar 2020 mein letz­tes Kon­zert vor dem Lock­down (ist es nicht Magie, wie hier alles inein­an­der­greift?!) und die fröh­li­che Stim­mung die­ses durch­aus ESC-taug­li­chen Publi­kums trägt mich durch die ers­ten, dunk­len Mona­te der Iso­la­ti­on.
[Songs 2012 von damals]

2013: Daft Punk feat. Phar­rell Wil­liams & Nile Rogers – Get Lucky
Ich sit­ze in einem Auto, das mich vom Hotel zur Mal­mö Are­na bringt, neben mir: ESC-Kom­men­ta­to­ren­le­gen­de Peter Urban. Als wäre das nicht schon absurd genug, wippt die­ser 65-jäh­ri­ge Mann zur Musik aus dem Auto­ra­dio mit: „Get Lucky“ von Daft Punk, Phar­rell Wil­liams und Nile Rogers. Natür­lich kennt er das, denn es ist ja ein inter­na­tio­na­ler Super­hit, dem man nur schwer ent­kom­men kann, und Peter wür­de auch jede Men­ge deut­lich obsku­re­re Songs mit­sin­gen, die in den letz­ten ca. 50 Jah­ren erschie­nen sind, aber irgend­wie über­rascht es mich in die­sem Moment doch, denn Daft Punk, das sind doch die von Viva 2 (wo sie jetzt zuge­ge­be­ner­ma­ßen auch nicht zwin­gend zur Avant­gar­de gezählt hat­ten).

Die Domi­no­stei­ne, von denen die­ses Blog der ers­te war, haben mich hier­her gebracht, ins Epi­zen­trum des Enter­tain­ments. Nur einen Monat spä­ter sol­len sie mich zum Late-Night-Mei­nungs­ma­ga­zin „Tages­schaum“ mit Fried­rich Küp­pers­busch füh­ren und von dort zu unse­rem gemein­sa­men Pod­cast „Lucky & Fred“. Das Leben meint es gut mit mir, beruf­lich wie pri­vat.
[Songs 2013 von damals]

2014: Andrew McMa­hon In The Wil­der­ness – High Dive
Ich hät­te immer gesagt, dass das Jahr 2014 hier im Blog gar nicht statt­ge­fun­den hat, aber es gibt doch eini­ge Ein­trä­ge aus die­ser Zeit — die meis­ten als Teil der kurz­le­bi­gen Serie „Song des Tages“. Ich erin­ne­re mich an nichts, weil ich zu sehr mit ande­ren Sachen beschäf­tigt bin: Umzug, neue Jobs, Hoch­zeit pla­nen und absa­gen, Vater wer­den, irgend­wie ver­su­chen, mei­ne Bezie­hung zu ret­ten. Alles Din­ge, auf die einen Pop­kul­tur nur unzu­rei­chend vor­be­rei­tet; alles Din­ge, die für Pop­kul­tur wenig Zeit las­sen.

Das ers­te neue Album, das ich mit mei­nem Sohn höre, ist das Solo­de­büt von Andrew McMa­hon, der mich mit sei­nen Bands Some­thing Cor­po­ra­te und Jack’s Man­ne­quin jetzt auch schon mehr als zehn Jah­re beglei­tet. Er ist auch gera­de Papa gewor­den, so kann ich die Ver­ar­bei­tung mei­ner Lebens­wirk­lich­keit wie­der mal auf ihn abwäl­zen und ein­fach sei­ne Songs hören. Obwohl wir doch noch jung sind, ist da viel Nost­al­gie in sei­nen Tex­ten wie „High Dive“, aber Face­book ersetzt Knei­pen­aben­de mit Freund*innen ja auch nur bedingt.

2015: Ben Folds feat. yMu­sic – Pho­ne In A Pool
2015 ist dann tat­säch­lich das Jahr, das nicht war, denn ich schrei­be sen­sa­tio­nel­le sie­ben Blog­ein­trä­ge, von denen die meis­ten ursprüng­lich Face­book-Posts waren. Offen­bar schaf­fe ich es immer­hin ein paar Mal ins Kino. (Ach, „The Force Awa­kens“ ist von 2015?!) Ich kann mich an nichts erin­nern und es geht mir wirk­lich nicht gut.

Ein biss­chen Trost kommt von mei­nem ewi­gen Hel­den Ben Folds, der gera­de die vier­te Schei­dung (von inzwi­schen fünf) hin­ter sich hat und mit dem Kam­mer­mu­sik-Ensem­ble yMu­sic ein Album ein­spielt, auf dem auch sein ers­tes Kla­vier­kon­zert zu hören ist. (Wir gehen alle unter­schied­lich mit Lebens­kri­sen um.) In „Pho­ne In A Pool“ berich­tet er: „Found the love of my life again /​ Y’all knows what I means /​ And I’ll be back on the sofa in a pudd­le in a cou­ple of weeks“. Bei all dem Elend ist es schön, dass jemand, der mich mein hal­bes Leben lang beglei­tet, immer noch Songs schrei­ben kann, die so gut zu mei­nem eige­nen Leben pas­sen. Natür­lich gibt es am Ende des Jah­res kei­ne Lis­ten — ich hab ja eh viel zu wenig Musik gehört und wann hät­te ich die denn noch schrei­ben sol­len?

2016: Weezer – Cali­for­nia Kids
Neu­an­fang in einer eige­nen Woh­nung und das Vor­ha­ben, das Blog jetzt aber wirk­lich wie­der zu befeu­ern. Da passt es ganz gut, dass Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re, des­sent­we­gen ich als Teen­ager mit dem Schrei­ben ange­fan­gen hat­te, ein neu­es Buch ver­öf­fent­licht, unge­fähr zeit­gleich mit dem neu­en Album der von uns hoch ver­ehr­ten Pet Shop Boys und dem von Weezer. Alle drei Acts eint, dass ihr Schaf­fen nicht zu jedem Zeit­punkt ihrer Kar­rie­re den Ansprü­chen des eige­nen Publi­kums genüg­te, aber jetzt sind sie wie­der voll da.

Also eigent­lich eine gute Gele­gen­heit, dar­über zu schrei­ben und über ande­re Din­ge, die mir Freu­de berei­ten, aber das Inter­net ist damals im wesent­li­chen Face­book und dort sind wir alle damit beschäf­tigt, mit irgend­wel­chen AfD-Anhän­gern zu dis­ku­tie­ren, die irgend­wo etwas Dum­mes kom­men­tiert haben. Um die­sem gan­zen Irr­sinn zu ent­flie­hen, schrei­be ich nicht etwa wie­der mehr ins Blog, son­dern star­te mei­nen eige­nen News­let­ter. Da macht das Schrei­ben immer­hin auch Spaß.

Weezer, jeden­falls, ken­ne ich seit mehr als 20 Jah­ren, als das Video zu „Bud­dy Hol­ly“ bei „Hit-Clip“ lief und auf der Win­dows-95-CD-Rom ent­hal­ten war. Jetzt ver­öf­fent­li­chen sie schon das vier­te Album namens „Weezer“ (nach dem blau­en, dem grü­nen und dem roten Album jetzt ganz Beat­les-mäßig das wei­ße), das mei­nen Sohn und mich auf vie­len Aus­flü­gen zum Kem­n­ader See beglei­tet und ihr bes­tes seit Jahr­zehn­ten ist. Der ope­ning cut „Cali­for­nia Kids“ han­delt von den glück­li­chen jun­gen Men­schen aus dem Gol­den Sta­te, die einem das Leben ret­ten. Ich nen­ne Kali­for­ni­en ger­ne „my home away from home“, was viel­leicht etwas prä­ten­ti­ös ist, aber ich hab da halt Fami­lie und es ist auch der ein­zi­ge Ort außer­halb des Ruhr­ge­biets, an dem ich je so viel Zeit am Stück ver­bracht habe. Der Staat bleibt auch nach der Wahl von Donald Trump zum US-Prä­si­den­ten das (natür­lich eher theo­re­ti­sche) Ide­al, das ich bewun­de­re, genau­so wie ich Men­schen auch lie­ber aus der Fer­ne toll fin­de — Cali­for­nia Kids halt.

2017: kett­car – Ankunfts­hal­le
Als die­ses Blog an den Start geht, haben kett­car bereits zwei Alben ver­öf­fent­licht: ihr Debüt „Du und wie­viel von Dei­nen Freun­den“, ein instant clas­sic, und – beglei­tet von Fern­seh­auf­trit­ten und ganz­sei­ti­gen Zei­tungs­ar­ti­keln – den Nach­fol­ger „Von Spat­zen und Tau­ben, Dächern und Hän­den“. Trotz­dem schrei­be ich in all den Jah­ren rela­tiv weni­ge Tex­te über die­se Band, die mir so wich­tig ist. Viel­leicht weil ich den­ke, dass das eh klar ist.

2017 liegt das letz­te (eher okaye) kett­car-Album fünf Jah­re zurück, Mar­cus Wie­busch hat in der Zwi­schen­zeit ein (ziem­lich gutes) Solo­al­bum ver­öf­fent­licht, aber plötz­lich ist die Band wie­der ein Macht­block mit­ten in Euro­pa: Ihre stets kla­re poli­ti­sche Hal­tung, die Jah­re vor­her noch ein biss­chen folk­lo­ris­tisch anmu­te­te, ist inzwi­schen not­wen­dig, aber neben Songs wie „Som­mer ’89“, „Wagen­burg“ und „Mann­schafts­auf­stel­lung“ gibt es auch jene, die sich anfüh­len wie Pola­roids (oder Ins­ta-Posts) aus dem All­tag. „Die Stra­ßen unse­res Vier­tels“ ersetzt eine gan­ze Fern­seh­se­rie über das Fami­li­en­le­ben in Hips­ter-Vier­teln, ohne sich für eine Sekun­de Harald-Schmidt-mäßig über Hafer­milch lus­tig zu machen; „Trost­brü­cke Süd“ ist ein Kame­ra­schwenk durch einen Lini­en­bus vol­ler Men­schen, die auf­ste­hen, atmen, sich anzie­hen und hin­ge­hen, und „Ankunfts­hal­le“ der Blog-Ein­trag, News­let­ter oder Song, den ich immer hat­te schrei­ben wol­len: ein Lob­lied auf die hei­len­de Kraft von Flug­ha­fen-Ankunfts­hal­len, wo Men­schen sich nach lan­ger Zeit der Tren­nung wie­der in die Arme fal­len.

Als kett­car und Thees Uhl­mann im August im Ham­bur­ger Nie­sel­re­gen 15 Jah­re Grand Hotel van Cleef fei­ern, ist weni­ge Tage zuvor mei­ne Oma gestor­ben, die hier von Anfang an mit­ge­le­sen hat­te. Ende Dezem­ber liegt mein Opa im Ster­ben und ich fah­re mit mei­nem Sohn zum Düs­sel­dor­fer Flug­ha­fen, Men­schen in der Ankunfts­hal­le gucken.
[Songs des Jah­res 2017 damals]

2018: Rae Mor­ris – Do It
Hat­te ich oben – also vor ca. 18.000 Zei­chen – nicht noch geschrie­ben, dass in die­ser Lis­te expli­zit nicht die jewei­li­gen Songs des Jah­res auf­tau­chen sol­len? Well: We make up the rules as we go along!

Rae Mor­ris hat sich ihre Son­der­rol­le hier im Blog ver­dient: Weil ich mich 2012 instant­ly in ihren Song „Don’t Go“ aus dem (eigent­li­chen) Seri­en­fi­na­le von „Skins“ (der ein­zi­gen Fern­seh­se­rie neben „Die Brü­cke“, von der ich alle Fol­gen gese­hen habe) ver­liebt habe; weil sie der ers­te (und bis heu­te ein­zi­ge) Act in der Geschich­te die­ses Blogs ist, der in einem Jahr (2018) mei­nen per­sön­li­chen „Song des Jah­res“ und mein „Album des Jah­res“ ver­öf­fent­licht hat (das haben Tom­te 2006 zwar auch geschafft, aber halt sechs Wochen, bevor die­ses Blog an den Start ging, also zählt das nur an unge­ra­den Wochen­ta­gen ohne Neu­mond); weil sie der ers­te (und bis heu­te ein­zi­ge) Act ist, der zwei Mal mei­nen per­sön­li­chen Song des Jah­res (2012 und 2018) geschrie­ben hat.

Irgend­wie alles tro­cke­ner Sta­tis­tik-Kram ange­sichts eines Songs, der davon han­delt, auf die Zwei­fel zu pfei­fen und sich kopf­über in die Lie­be zu stür­zen. Rae Mor­ris singt das über ihren musi­ka­li­schen Part­ner und heu­ti­gen Ehe­mann Fryars und sie macht das so toll, dass ich mit ihr an die gro­ße Lie­be glau­ben will, die sich anfühlt wie Feu­er­werk aus­sieht. Doch mei­ne Ver­su­che, „Do It“ in „Joko Win­ter­scheidts Druckerzeug­nis“ zum Som­mer­hit des Jah­res zu pushen, schei­tern und Men­schen wie ich blei­ben bes­ser allein.

Aber, so den­ke ich heu­te, eigent­lich ist die­ses Blog hier ja auch nichts ande­res als die Umset­zung des Gedan­kens „We could just do it“: Gestar­tet als „die Online-Zei­tung, die wir ger­ne lesen wür­den“ (puh!), konn­te ich mich hier an der Tas­ta­tur und vor der Kame­ra aus­to­ben, aus­pro­bie­ren und dar­an wach­sen, um dann für Zei­tun­gen und Fern­seh­sen­dun­gen zu arbei­ten, die ich frü­her nur rezi­piert hat­te. Wenn man aus 18 Jah­ren Cof­fee And TV unbe­dingt irgend­et­was ler­nen will, dann, dass Selbst­er­mäch­ti­gung manch­mal (es gehört ja auch bei mir sicher­lich eini­ges an Glück dazu) wirk­lich funk­tio­nie­ren kann.
[Songs des Jah­res 2018 damals]

2019: LOKI – The Girl With No Eyes
Für die, die hier ernst­haft Buch füh­ren (also: für mich), mag es etwas über­ra­schend sein, dass ein Song, der auf Platz 59 einer Jah­res­bes­ten­lis­te stand, ein Jahr reprä­sen­tie­ren soll. Nun: Ers­tens kön­nen wir uns glaub ich dar­auf eini­gen, dass es eh schon ein ganz klei­nes biss­chen wahn­sin­nig ist, einen „Platz 59“ auf einer per­sön­li­chen Bes­ten­lis­te zu haben; zwei­tens habe ich erst bei der Durch­sicht mei­ner diver­sen Lis­ten, Ein­trä­ge und Play­lists fest­ge­stellt, dass ich tat­säch­lich schon mal Musik von LOKI gehört haben muss, bevor ich sie letz­tes Jahr beim Fes­ti­val Sounds Like Sugar in Her­ne gese­hen habe und so begeis­tert war, dass ich sie beim Bochum Total direkt wie­der sehen muss­te.

Damit steht „The Girl With No Eyes“, des­sen Bon-Iver-Haf­tig­keit mich schon 2019 über­zeugt haben muss, näm­lich für etwas ande­res: Für das wil­de Über­an­ge­bot an Wer­ken (oder: „Con­tent“, wie die Arsch­lö­cher sagen, die in ihrem Leben nicht einen ein­zel­nen genui­nen Gedan­ken hat­ten), aus dem wir theo­re­tisch wäh­len kön­nen, das aber auch das Risi­ko birgt, alles belie­big und egal zu machen. Dass es etwas ande­res ist, tage­lang in phy­si­schen Läden nach einer CD zu fahn­den und sie dann end­lich zu fin­den, als ein­fach alles immer sofort (terms and con­di­ti­ons app­ly) zur Ver­fü­gung zu haben, hab ich schon 2016 auf­ge­schrie­ben. Es ist seit­dem nicht weni­ger gewor­den. Wenn ich mich nicht mehr an irgend­wel­che Acts erin­nern kann (natür­lich auch, weil ihre Namen nur noch über Bild­schir­me flim­mern und nicht aus­ge­druckt vor mir lie­gen, was mei­nem Gehirn immer­hin ein biss­chen hel­fen wür­de), ist es alles ein biss­chen viel.

Ich selbst tra­ge fröh­lich zum Über­an­ge­bot bei: Mit Fried­rich Küp­pers­busch ste­he ich jetzt regel­mä­ßig auf Büh­nen in Dort­mund und Ber­lin, um „Lucky & Fred“ vor Publi­kum auf­zu­zeich­nen. Da kommt das Thea­ter-Kind von frü­her wie­der zum Vor­schein, Applaus ist immer noch die stärks­te Wäh­rung. Weil Likes dage­gen abstin­ken und dort eh nichts mehr los ist, lösche ich am Sil­ves­ter­abend mei­nen Face­book-Account. Im Nach­hin­ein möch­te ich sagen: Ich habe schon düm­me­re Din­ge zu einem schlech­te­ren Zeit­punkt gemacht.
[Songs des Jah­res 2019 damals]

2020: Tay­lor Swift – Epi­pha­ny
Alles beginnt so schön mit wei­te­ren Live-Auf­trit­ten und Kon­zert­be­su­chen bei kett­car, Ider und Car­ly Rae Jep­sen. Und dann endet alles: Kon­zer­te, Kin­der­gar­ten, Bun­des­li­ga, sogar der Euro­vi­si­on Song Con­test wird erst­mals abge­sagt. „Wegen Coro­na“ wird ein soge­nann­tes geflü­gel­tes Wort, was auch irgend­wie zu den ver­damm­ten Flug­hun­den auf dem Nass­markt von Wuhan passt, die uns die gan­ze Schei­ße (mut­maß­lich) ein­ge­brockt haben.

Popkultur-Freund*innen ver­glei­chen die Stra­ßen mit jenen aus dem Zom­bie­film „28 Days Later“ und wir ler­nen die Wohn­zim­mer von Kolleg*innen und Rock­stars ken­nen, die von dort aus Mini-Kon­zer­te in die Welt strea­men (die Rock­stars, nicht die Kolleg*innen). Die Leu­te erschei­nen all das mit erstaun­li­chem Gleich­mut zu ertra­gen, aber die­ses Bild bekommt – um eine wei­te­re Phra­se zu ver­mei­den – schnell Ris­se: Als sich im April eine Frau, die vor einem Café war­ten muss, um Kuchen zum Mit­neh­men zu kau­fen, über die „Gesund­heits­dik­ta­tur“ beschwert, bin ich viel zu über­rascht und scho­ckiert, ihr vor­zu­schla­gen, dass wir ger­ne gemein­sam einen Bekann­ten von mir, der Arzt in Padua ist, anru­fen könn­ten und sie ja mal mit dem spre­chen kön­ne, wenn er nicht gera­de dabei ist, um Leben zu kämp­fen.

Es ist ein Vor­ge­schmack auf das, was kommt: Weil man sich jetzt nir­gend­wo mehr in die Augen gucken kann, ver­ges­sen nahe­zu alle, dass sie online mit ande­ren Men­schen dis­ku­tie­ren. Man­che von uns nut­zen die vie­le freie Zeit, um sich über Ras­sis­mus fort­zu­bil­den, ande­re, um sich zu radi­ka­li­sie­ren. Ich schrei­be viel in mei­nen News­let­ter und wenig ins Blog, star­te aber zusam­men mit Sue Reind­ke immer­hin einen neu­en Pod­cast namens „Bist Du noch wach?“

In all das hin­ein ver­öf­fent­licht Tay­lor Swift, die nach einer abge­sag­ten Welt-Tour­nee auch zu viel Frei­zeit hat, ein Album, das sie in den ers­ten Mona­ten des Lock­downs mit Aaron Dess­ner von The Natio­nal auf­ge­nom­men hat, remo­te. „Folk­lo­re“ wird zum Sound­track des ers­ten Coro­na-Som­mers und über­zeugt selbst jene, die ihrer Musik bis­her kri­tisch gegen­über­ge­stan­den hat­ten. Mit „Ever­mo­re“ erscheint ein paar Mona­te spä­ter noch so ein gro­ßer Wurf. Nach dem groß­ar­ti­gen „1989“ von 2014 hab ich end­lich die nächs­te era, in der ich mich ein­rich­ten kann. Es ist der Sound­track zu sehr aus­gie­bi­gen Spa­zier­gän­gen durch die ver­schie­de­nen Nach­bar­schaf­ten hier in Bochum. Und mit­ten­drin ein Song über Sol­da­ten und Men­schen im Gesund­heits­we­sen, über das Ster­ben in Ein­sam­keit und über das Wei­ter­ma­chen der Über­le­ben­den: „Epi­pha­ny“. „Someone’s daugh­ter, someone’s mother /​ Holds your hand through pla­s­tic now“ sind Zei­len, die mir auf ewig die Trä­nen in die Augen trei­ben und einen Klos in den Hals drü­cken wer­den. Die gute Nach­richt: Mei­ne Omi, die mit 94 noch allein in ihrem viel zu gro­ßen Haus wohnt, über­lebt all das ohne Anste­ckung. Das ist nicht ihr Song.
[Songs des Jah­res 2020 damals]

2021: Meet Me @ The Altar – Never Gon­na Chan­ge
2021 ist die etwas öde Fort­set­zung des Seu­chen­jah­res, aber als Far­ce: Hash­tag Oster­ru­he. Die Amts­zeit von Donald Trump endet, die von Ange­la Mer­kel auch. In Rot­ter­dam, wo der ESC unter Pan­de­mie-Bedin­gun­gen statt­fin­det, lau­tet der schon 2019 erson­ne­ne Slo­gan pas­sen­der­wei­se „Open Up“. Den Som­mer ver­brin­ge ich damit, mein Buch über den Song Con­test zu schrei­ben, an Omis Geburts­tag und an Weih­nach­ten sind wir wie­der alle ver­eint.

In Aachen tref­fe ich einen mei­ner aller­größ­ten Hel­den: Micha­el Sti­pe von R.E.M. Er ist so bezau­bernd, wie ich erhofft hat­te, und gibt mir das Gefühl, als sei ich der aller­ers­te Mensch, der „You’­ve chan­ged my life“ zu ihm sagt. Der VfL Bochum steigt nach elf Jah­ren wie­der in die Bun­des­li­ga auf. Natu­re is heal­ing.

Mei­ne aktu­el­le Lieb­lings­band heißt Meet Me @ The Altar, que­er Women of Color aus den USA, die Pop-Punk zwi­schen Avril Lavi­gne, Para­mo­re und Blink-182 machen. Zum ers­ten Mal hören tue ich von ihnen bei – natür­lich – „All Songs Con­side­red“ auf – natür­lich – einem mei­ner lan­gen Spa­zier­gän­ge, in Erin­ne­rung blei­ben mir ihre EP „Model Citi­zen“ und der Song „Never Gon­na Chan­ge“ aber vor allem als Sound­track zu den ers­ten Besu­chen im Fit­ness­stu­dio, die jetzt wie­der mög­lich sind.
[Songs des Jah­res 2021 von damals]

2022: Maro – Sau­da­de, Sau­da­de
Am Ende wird es das Jahr gewe­sen sein, das ich so lang gefürch­tet hat­te: das, in dem mei­ne Omi stirbt. Es wer­den lan­ge vier Mona­te des Abschieds, die ihren Kin­dern alles abver­lan­gen, aber es ist eine Zeit des bewuss­ten, lie­be­vol­len Abschieds und der Lie­be in ihrer reins­ten Form.

All das ahne ich noch nicht, als ich beim ESC in Turin sit­ze und völ­lig gebannt (das eng­li­sche Wort mes­me­ri­zed ken­nen wir im Deut­schen lei­der nicht, obwohl es doch auf einen deut­schen Arzt zurück­geht) dem Auf­tritt der por­tu­gie­si­schen Künst­le­rin fol­ge, die das spe­zi­fisch por­tu­gie­si­sche Gefühl sau­da­de besingt, das mit „ver­mis­sen“ nur unzu­rei­chend über­setzt wer­den kann und das sie nach dem Tod ihres gelieb­ten Groß­va­ters emp­fin­det. „Sau­da­de, Sau­da­de“ erreicht am Ende einen tol­len 9. Platz, Deutsch­land hat auch teil­ge­nom­men. Aller­spä­tes­tens hier in Turin ist der ESC nicht mehr die leicht tra­shi­ge Quatsch-Ver­an­stal­tung, als die er noch galt, als Ste­fan und ich 2007 erst­ma­lig dar­über gebloggt haben. Er ist ein ech­tes Musik­fes­ti­val, bei dem man Gen­res und Acts vor­ge­stellt bekommt, auf die man sonst viel­leicht nie gesto­ßen wäre. Wer hier noch alles doof fin­det, mag wahr­schein­lich ein­fach kei­ne Musik.

Mein Buch über die­se Ver­an­stal­tung erscheint qua­si zeit­gleich mit Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne, was mir eine ordent­lich Por­ti­on der Freu­de raubt. Als ich den Release trotz­dem mit Freund*innen in mei­ner Stamm­knei­pe feie­re, ste­cke ich mich (end­lich) mit COVID-19 an und bin immer noch reich­lich außer Atem, als ich das Buch in einer klei­nen gro­ßen Live­show in der Zeche Carl in Essen vor­stel­le. Irgend­wie schaf­fe ich es sogar, in die­sem Jahr noch einen Pod­cast zu pro­du­zie­ren: die Talk­sen­dung „Woher ken­nen wir uns?“
[Songs des Jah­res 2022 damals]

2023: Foo Figh­ters – Res­cued
Omi und Tay­lor Haw­kins sind im sel­ben Jahr gestor­ben, was inso­fern beson­ders tra­gisch ist, als der Schlag­zeu­ger der Foo Figh­ters 46 Jah­re jün­ger gewe­sen war. Dave Grohl hat­te zum drit­ten Mal einen sei­ner bes­ten Freun­de ver­lo­ren, Mona­te spä­ter sei­ne Mut­ter. Ob das der Beginn einer etwas ver­spä­te­ten mid­life-cri­sis war, in deren Ver­lauf jene Toch­ter ent­stand, die „außer­halb mei­ner Ehe“ gebo­ren wur­de, wie er auf Insta­gram schrieb, ver­mag ich nicht zu beur­tei­len — es war zumin­dest der Aus­lö­ser, „But Here We Are“ auf­zu­neh­men, das bes­te Foo-Figh­ters-Album seit fast 25 Jah­ren, auf dem er wie­der ein­mal Trau­er in Wut ver­wan­delt und umge­kehrt.

„Res­cued“ ist einer der ers­ten Songs, den ich in mei­ner klei­nen Musik­sen­dung spie­le, die ich in einem Anfall beson­de­rer Geis­tes­ge­gen­wart auch „Cof­fee And TV“ genannt habe. Sie ist das, wor­auf ich Jahr­zehn­te lang gewar­tet hat­te: die Mög­lich­keit, Songs in einem Pod­cast zu spie­len, ohne in einem kost­spie­li­gen Büro­kra­tie­ge­wit­ter namens „GEMA“ unter­zu­ge­hen. Das Ergeb­nis kann man zwar nur beim fins­te­ren Tech-Kon­zern Spo­ti­fy hören, aber ent­schei­den­der ist für mich eh, sowas über­haupt machen zu kön­nen. Aber wie so oft mit den schö­nen Din­gen im Inter­net: Nur ein Jahr spä­ter zieht Spo­ti­fy den Ste­cker und schafft die Mög­lich­keit, sol­che Musik­sen­dun­gen zu bau­en, direkt wie­der ab.

„But Here We Are“ wird auch 2024 wie­der für mich da sein: Als mei­ne gelieb­te Tan­te Dör­te stirbt, eine groß­ar­ti­ge Grund­schul­leh­re­rin, höre ich den Song, den Dave Grohl für sei­ne ver­stor­be­ne Mut­ter Vir­gi­nia geschrie­ben hat, die eben­falls Leh­re­rin gewe­sen war: „The Tea­cher“.

2024: Ezra Coll­ec­ti­ve feat. Yaz­min Lacey – God Gave Me Feet For Dancing
Das ist mir in all den Jah­ren auch noch nicht pas­siert, dass ich – trotz aller Play­lis­ten, Noti­zen-Apps und Zet­tel – beim Zusam­men­stel­len der „Alben“ oder „Acts des Jah­res“ ein Album bzw. einen Act kom­plett ver­ges­se. Ob’s am Alter liegt oder dem schon erwähn­ten Über­an­ge­bot?

Immer­hin habe ich hier die Gele­gen­heit, den Feh­ler schnell halb­wegs wett­zu­ma­chen: „God Gave Me Feet For Dancing“ von Ezra Coll­ec­ti­ve und Yaz­min Lacey. Ezra Coll­ec­ti­ve sind eine Jazz-Fusi­on-Band aus Lon­don, die Ele­men­te aus Afro­beat, Calyp­so, Reg­gae, Hip-Hop, Soul und Jazz ver­bin­den und deren Songs bei BBC Radio 6 Music, mei­ner aktu­el­len Haupt­quel­le für neue Musik, rauf und run­ter läuft. Es ist die­se Musik, die ich mit dem leicht­fü­ßi­gen Som­mer 2024 ver­bin­de, als wir alle den­ken, dass Kama­la Har­ris US-Prä­si­den­tin wer­den wird, und die Olym­pi­schen Spie­le in Paris ein Gefühl von Hoff­nung, Zuver­sicht und Gemein­schaft ver­mit­teln, das wir so lan­ge ver­misst hat­ten. Sich ein paar Mona­te spä­ter über die eige­ne ver­meint­li­che Nai­vi­tät lus­tig zu machen, wäre aber auch zynisch.
[Songs des Jah­res 2024 von „damals“]

Epi­log
„Am Ende wird alles okay sein — und wenn es nicht okay ist, ist es nicht das Ende“, hat der bra­si­lia­ni­sche Autor Fer­nan­do Sabi­no geschrie­ben und Weezer nann­ten ihr 2015er Album „Ever­y­thing Will Be Alright In The End“. „Schwimm für die Songs, die noch geschrie­ben wer­den“, hat Mar­cus Wie­busch von kett­car auf sei­nem Solo­al­bum gesun­gen — und dabei Andrew McMa­hon refe­ren­ziert. Alles hängt immer mit allem zusam­men.

Social Media ist, spä­tes­tens seit sich die Tech-Olig­ar­chen um Donald Trump scha­ren, ein dumps­ter fire, das unse­re See­len und Gehir­ne ver­zehrt. Doch das hier sind nur die ers­ten 18 Jah­re und die ers­ten 18 Songs. Cof­fee And TV ist mein Zuhau­se und ich pla­ne zu blei­ben, mein Freund.

Denn wie sang einst Gra­ham Coxon in jenem Blur-Song, des­sen Titel wir uns damals ein­fach gemopst haben?

Take me away from this big bad world
And agree to mar­ry me
So we can start over again

(Auf das mit dem Hei­ra­ten wür­de ich nach den oben erwähn­ten Erfah­run­gen aller­dings ger­ne ver­zich­ten.)

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Digital Gesellschaft

3,2,1 – ein zuversichtliches Blog-Stöckchen

Zuge­ge­ben: Es gab schon mal Zei­ten, in denen es ein­fa­cher erschien, opti­mis­tisch in die Zukunft zu bli­cken.

Selbst jene Social-Media-Platt­for­men, die ursprüng­lich mal dazu gedacht waren, Urlau­be, Son­nen­un­ter­gän­ge und fan­cy Geträn­ke zu pos­ten, um das gute Leben zu fei­ern, sind voll mit irgend­wel­chen Unge­heu­er­lich­kei­ten, die irgend­wel­che Drit­ten irgend­wo anders ins Inter­net geschrie­ben haben. Mal davon ab, dass die Betrei­ber die­ser Platt­for­men unge­fähr so sym­pa­thisch und zukunfts­wei­send sind wie Mine­ral­öl­kon­zer­ne.

Bochumer Brandmauer: Nie wieder Faschismus

Also: Raus aus den soge­nann­ten Sozia­len Netz­wer­ken, zurück in die Blogs und ein paar Leucht­feu­er anzün­den!

Der Kol­le­ge Dirk von Geh­len, des­sen unge­bro­che­nen Glau­ben an das Inter­net als Werk­zeug der Auf­klä­rung ich vor­sich­tig skep­tisch bewun­de­re, hat etwas gemacht, was man frü­her „ein Blog-Stöck­chen wer­fen“ nann­te: sowas ähn­li­ches wie in der Schu­le in ein Freund­schafts­buch ein­zu­tra­gen. Ich hab noch nie bei so etwas mit­ge­macht, aber extre­me Zei­ten erfor­dern extre­me Maß­nah­men!

Drei Din­ge, für die ich mich enga­gie­re:

Umwelt­schutz. Ich war zehn Wochen alt, als mei­ne Eltern mich zu einem der ers­ten Grü­nen-Par­tei­ta­ge mit­ge­nom­men haben, und war in den Jah­ren danach auf zahl­rei­chen Demos gegen Atom­kraft, FCKW und Stein­koh­le­ver­stro­mung. Ich kann nicht fas­sen, dass ich 40 Jah­re spä­ter immer noch des­halb auf die Stra­ße gehen muss, aber gut: Am 14. Febru­ar ist die nächs­te „Fri­days For Future“-Demo in Bochum.

Eine offe­ne, freie Gesell­schaft. Ich war noch kei­ne sechs Jah­re alt, als mei­ne Eltern mich zu einer Gedenk­ver­an­stal­tung mit­nah­men: 50 Jah­re Aus­bruch des 2. Welt­kriegs. Es war noch vor Ros­tock-Lich­ten­ha­gen, aber weni­ge Mona­te, nach­dem die Repu­bli­ka­ner bei der Euro­pa­wahl in Deutsch­land 7,1 % erreicht haben. Ich kann nicht fas­sen, dass ich 35 Jah­re spä­ter immer noch des­halb auf die Stra­ße gehen muss, aber gut: Am 14. Febru­ar ist auch die nächs­te Demo gegen rechts in Bochum.

Gutes Ver­stär­ken. Es ist mei­ne tiefs­te Über­zeu­gung, Din­ge, die mir Freu­de berei­ten, mit ande­ren Men­schen tei­len zu wol­len. Des­we­gen mache ich sowas wie „5 Songs, die Ihr im Janu­ar gehört haben soll­tet“, des­we­gen betrei­be ich immer noch die­ses Blog, des­we­gen schrei­be ich für Zei­tun­gen und mei­nen News­let­ter. Es macht mich immer ein biss­chen fer­tig, wenn ich z.B. Musik auf Social Media tei­le und die Künstler*innen, ob sie mei­ne Freund*innen sind oder wir uns gar nicht ken­nen, sich dann über­schwäng­lich bedan­ken. Ich mei­ne: Lieb, dass sie das tun, aber es soll­te doch ver­dammt noch mal selbst­ver­ständ­lich sein, Din­ge, die man gut fin­det, tei­len und ver­brei­ten zu wol­len!

Zwei Phä­no­me­ne, die mich posi­tiv stim­men:

Künstler*innen, die wei­ter für Fort­schritt kämp­fen: Lady Gaga hat ihren Gewinn bei den gest­ri­gen Gram­mys genutzt, um sich für Trans­rech­te stark zu machen; Bey­on­cé ist die ers­te Schwar­ze Frau, die den Gram­my für das bes­te Coun­try-Album gewon­nen hat.

Son­ne. In Bochum ist seit Tagen strah­lend blau­er Him­mel und das ändert doch mei­ne Per­spek­ti­ve auf die Welt schon merk­lich.

Ein Zitat, das mir hilft:

„And so now I’d like to say – peo­p­le can chan­ge any­thing they want to. And that means ever­y­thing in the world. Peo­p­le are run­ning about fol­lo­wing their litt­le tracks – I am one of them. But we’­ve all got to stop just fol­lo­wing our own litt­le mou­se trail. Peo­p­le can do any­thing – this is some­thing that I’m begin­ning to learn. Peo­p­le are out the­re doing bad things to each other. That’s becau­se they’ve been dehu­ma­nis­ed. It’s time to take the huma­ni­ty back into the cen­ter of the ring and fol­low that for a time. Greed, it ain’t going any­whe­re. They should have that in a big bill­board across Times Squa­re. Wit­hout peo­p­le you’­re not­hing. That’s my spiel.“ (Joe Strum­mer)