Vor zwei Wochen haben wir den 18. Geburtstag dieses Blogs gefeiert, jetzt können wir schon das nächste Jubiläum begehen. Heute vor zehn Jahren habe ich das abgesetzt, was mein erfolgreichster Tweet (eine Kategorie, bedeutend trauriger als „Viertbester Torschütze der Rückrunde in der Kreisliga C“) werden sollte:
Ich bin mir relativ sicher, mich erinnern zu können (und wir wissen alle, was das bedeutet), wie ich diesen Tweet zwischen „Warten am Bochumer Hauptbahnhof“ und „Einsteigen in den Regionalexpress nach Köln“ geschrieben und abgeschickt habe (deswegen auch die etwas merkwürdige Positionierung des Adverbs „eigentlich“ vor dem Akkusativ-Objekt, die mich seit dem ersten Moment stört), aber ich bin etwas ratlos, welche damals aktuellen Debatten ich damit kommentieren wollte. Die „Tagesschau“ vom Vorabend ist schon mal keine Hilfe.
Die Themen „Religion“ und „Meinungsfreiheit“ mögen mit den Anschlägen auf die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ sieben Wochen zuvor zusammenhängen, auch wenn es aus heutiger Sicht einigermaßen unvorstellbar erscheint, dass ein Ereignis derart lange medial ventiliert wird. „Impfen“ hat, wie ich jetzt ergoogeln konnte, wahrscheinlich etwas mit einem Masernausbruch zu tun, zu dem sich der Bundesgesundheitsminister, offenkundig ein Mann mit dem Namen Hermann Gröhe, am gleichen Tag äußerte.
Wie es so oft ist: Man kann nicht vorhersagen oder kontrollieren, was „viral geht“. So erreichte meine etwas nebulöse Gesellschaftskritik schon in den ersten Stunden Hunderte „Retweets“ und „Likes“ und ich bekam meine weitere gerechte Strafe in Form eines eigenen Artikels bei „Focus Online“. Ich entnehme meinen Aufzeichnungen, dass ich offenbar einigen unerwünschten Zuspruch von Rassisten auf Facebook bekommen habe, und der „Focus Online“-Text deutet an, wie diese Leute auf die falsche Fährte kommen konnten:
In der Tat liegt Heinser nicht falsch: Der Islam und wie der Westen mit ihm umgehen soll, ist nicht erst seit der Pegida-Bewegung ein heiß diskutiertes Thema in Deutschland.
Meine flapsig wegformulierte Äußerung lässt natürlich auch verschiedene Deutungen zu — das ist ja eines der vielen Elende von maximal verknappten Online-Debatten. Meine Blog-Einträge und Newsletter sprengen nicht selten die 10.000-Zeichen-Marke, Twitter erlaubte damals offenbar nicht mehr als 140. Wie hätte ich da gleichzeitig Besorgnis ausdrücken sollen über Personen, die ihre Religion so ernst nehmen, dass sie dafür Menschen ermorden, und gleichzeitig einer fremdenfeindlichen Pauschalkritik eine Absage erteilen? Ich weiß ja nicht mal mehr, worum es mir genau ging, außer, dass ich von Evolutionsbremsen genervt war.
Dennoch wirkt mein Tweet heute wie eine Flaschenpost aus einfacheren, fast sorglosen Zeiten: Vor dem Spätsommer 2015, in dem sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen eine Schließung der deutschen Außengrenzen entschied und ihren anständigen Minimal-Humanismus mit dem Erstarken von offen fremdenfeindlichen Positionen auf Social Media und in der deutschen und europäischen Politik bezahlen musste; vor der US-Präsidentschaftskandidatur eines abgehalfterten Reality-TV-Stars; vor dem „Brexit“; vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine (aber nach der Annexion der Krim und dem Einmarsch im Donbass); vor dem Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023, der bis heute anhält, und dem ganz großen Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen-Backlash. Friedrich Merz war ein weitgehend in Vergessenheit geratener Rechtsanwalt aus Düsseldorf und die AfD stand in Wahlumfragen bei ca. 6%.
Es liegt eine besonders grobschlächtige Ironie darin, dass der Ort, an dem ich meine Gedanken damals windschief notiert habe, einer der Hauptfaktoren der Entwicklungen der nächsten Jahre war: mit Fehlinformationen zu Brexit und Hillary Clinton, zu COVID-19 und Impfungen, zu Geflüchteten — und dann kam auch noch Elon Musk, der den ganzen Bums aufgekauft und zu einem Schmelztigel für Verschwörungserzählungen, Hass und alle Arten von Menschenverachtung optimiert hat (woraufhin Mark Zuckerberg für seine Plattformen nachzog).
Zwei weitere Ironien liegen darin, dass mein Tweet ausgerechnet heute Jubiläum feiert, am dritten Jahrestag des offenen russischen Kriegs gegen die Ukraine, und am Morgen nach einer Bundestagswahl, bei der die AfD auf 20,8% kam und eine Union, die die Merkel-Ära abgeschüttelt hat wie eine ungeliebte Jacke, in der Bundesregierung den Ton angeben wird.
Wahlerfolge mit rechter Rhetorik verändern das gesellschaftliche Klima: Leute, die über Jahre (zu recht) zu feige waren, rassistische, queerfeindliche oder sonstwie xenophobe Kommentare abzugeben, fühlen sich plötzlich wieder in der Mehrheit, weil die Medien, richtige wie Soziale, voll sind mit den ganzen Ungeheuerlichkeiten (und ja auch linke, aufgeklärte Menschen sie gerne noch einmal teilen, um noch mal klar zu machen, wie ungeheuerlich sie sind).
An einem Tag wie heute fällt es schwer, hoffnungsvoll oder auch nur optimistisch zu sein: AfD-Wähler*innen werfen Nicht-AfD-Wähler*innen auf Social Media vor, dass ihnen der Tod von Opfern mutmaßlich islamistisch motivierter Terroranschläge und Morde egal sei — als ob progressive Menschen nicht gegen Totalitarismus, Patriarchat und Gewalt wären, als ob der gefährlichste Ort für Frauen nicht ihr eigenes Zuhause oder Umfeld wäre und als ob eine sofortige Schließung der Außengrenzen irgendwelche Auswirkungen hätte auf Menschen, die hier unter menschenunwürdigen Bedingungen leben, unbehandelte psychische Probleme haben (womöglich als Folge von Traumatisierung in ihrer Heimat oder auf der Flucht hierher) und empfänglich sind für menschenverachtende Wir-gegen-die-Narrative, die denen der AfD gar nicht so unähnlich sind.
Jede „Migrationsdebatte“ ist immer auch der sumpfige, braune Nährboden für blanken Rassismus, für ein Überlegenheitsgefühl irgendwelcher Arschlöcher, deren arglos rausgehauenen Social-Media-Parolen die Lebenswirklichkeit meiner Freund*innen und der Freund*innen meines Sohnes bestimmen. Gleichzeitig glaube ich, dass jede Social-Media-Empörung immer auch eine endotherme Reaktion ist, dass also die ganze Zeit von außen Energie zugeführt werden muss, damit sie am Kochen bleibt. Dieses „außen“ sind natürlich in erster Linie Kräfte wie Russland, Elon Musk und der Axel-Springer-Verlag, bei denen ich aktuell keine Idee habe, wie man sie wieder los wird oder wenigstens ihren Einfluss einschränkt (also: außer „Social Media abschalten“), aber ich werde weder die Hoffnung, noch mein Engagement gegen diesen Wahnsinn der einfachen Lösungen aufgeben.
Ich bin jetzt 41 Jahre alt und ich bin seit 41 Jahren auf Demos gegen Umweltzerstörung und Nazis dabei. Ich bin es den Frauen in meiner Familie schuldig, die sich seit Generationen für die Menschen engagiert haben, die von unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt und übersehen wurden; die in Parteien und Organisationen aktiv waren und 1938 antisemitische Mitschülerinnen verdroschen haben. Das sind die Vorfahren, die ich mit meinem Tweet meinte.
Korrektur, 4. März 2025: In der ersten Version dieses Blogposts hatte ich das Wort „eigentlich“ als „Adjektiv“ bezeichnet. Im Falle des Tweets ist es aber eindeutig ein Adverb. Mit Dank an K.!
Natürlich fehlt in den Presseberichten jetzt wieder jedweder Hinweis darauf, dass James Bond in Wattenscheid geboren wurde. So steht es in der „autorisierte Biografie von 007“, die John Pearson, der ehemalige Assistent von James-Bond-Erfinder Ian Fleming, 1973 veröffentlicht hat, und weil die Wattenscheider*innen immer noch nicht darüber hinweg sind, dass ihre Stadt seit 1975 zu Bochum gehört, konzentriert sich ihr Stolz eben auf diesen Fakt. Das Stadtmarketing weidet diesen Umstand mit einer Hingabe aus, die schon in Essen und Gelsenkirchen (of all places) eher peinlich berührt zur Kenntnis genommen wird: Zum 100. Geburtstag der Figur im November 2020 gab es eine Plakataktion, Zeitungsanzeigen, eine Postkarten-Edition und die Biere „James Blond“ und „James Dunkelblond“ in der Touristinfo zu erwerben. Eine geplante Fotoaktion mit einem Daniel-Craig-Double musste pandemiebedingt ebenso abgesagt werden wie eine Ausstellung.
Gestorben ist der legendäre Geheimagent, da sind sich die meisten Fans sicher, nicht in den letzten Szenen von „Keine Zeit zu sterben“, jenem vom Pech verfolgten letzten Daniel-Craig-Film, dessen Filmstart erst wegen des Abgangs des ursprünglich geplanten Regisseurs Danny Boyle („Trainspotting“, „28 Days Later“, „Slumdog Millionaire“) und dann wegen der beginnenden COVID-19-Pandemie insgesamt fünf Mal verschoben wurde, sondern am gestrigen Donnerstag auf irgendeinem Schreibtisch, als die bisherigen Produzent*innen Barbara Broccoli und Michael G. Wilson bekannt gaben, die kreative Kontrolle an der Filmreihe an Amazon MGM Studios abgegeben zu haben.
Ebenso wie richtige Geheimdienstarbeit in der Regel aus der Lektüre und Niederschrift von Berichten besteht, ist die Geschichte der James-Bond-Filme mindestens genauso eine von Rechten (juristische, nicht Nazis) wie von exotischen Drehorten und riesigen Sets: Der kanadische Filmproduzent Harry Saltzman und sein US-amerikanischer Kollege Albert R. Broccoli hatten 1961 die Firma Eon Productions gegründet, nachdem Saltzman die Filmrechte der Romanreihe von Ian Fleming erworben hatte. Eon ist eine Tochtergesellschaft der Danjaq, LLC, die ebenfalls von Saltzman und Broccoli gegründet wurde (und nach den damaligen Ehefrauen der beiden benannt ist) und die die Rechte an der Marke „James Bond“ hält — was etwas anderes ist als die Urheberrechte der Filme und die der Bücher. 1975 verkaufte Saltzman seinen Anteil an die Filmfirma United Artists, die wiederum 1980 von MGM (die mit dem Löwen) übernommen wurde.
Weil der Regisseur und Produzent Kevin McClory wegen eines komplizierten Urheberrechtsstreits die Rechte an Ian Flemings James-Bond-Roman „Thunderball“ und der dort vorkommenden Vebrecherorganisation SPECTRE besaß, konnte er 1983 unabhängig von den Eon-Filmen „Sag niemals nie“ drehen, ein faktisches Remake der „Thunderball“-Verfilmung „Feuerball“, in dem Sean Connery im Alter von 53 Jahren zum allerletzten Mal James Bond spielt. Albert R. Broccoli wiederum übertrug seinen Teil der Firma vor seinem Tod 1996 an seine Tochter Barbara Broccoli und seinen Stiefsohn Michael G. Wilson, die seit „GoldenEye“ (1995) alle Bond-Filme produzierten. (Wilson hat auch in ungefähr jedem Film einen Mini-Gastauftritt, was einem nur dann penetrant erscheint, wenn man viel zu tief drin ist in der Materie.) 2005 wurden United Artists und MGM von Sony übernommen, wo sich die finanzielle Lage des Studios bald als so dramatisch erwies, dass die Produktion des 23. Bond-Films, der später „Skyfall“ werden sollte, zunächst auf Eis lag. Nach einer erfolgreichen Chapter-11-Insolvenz (die ganze Nummer mit den Bond-Verleihrechten bei 20th Century Fox, heute Disney, und Universal erspare ich uns allen, denn es ist ja jetzt schon komplizierter als jeder John-le-Carré-Roman) fusionierte MGM im Jahr 2022 mit Amazon Studios.
Eines der Opfer dieser ganzen „Succession“-mäßigen Unterhaltungsindustrie-Wirrungen ist James Bond: Nach „Keine Zeit zu sterben“, dem letzten Film mit Daniel Craig als Titelheld, sollte eigentlich ein neuer Hauptdarsteller gefunden werden. Kreative Entscheidungen hätten gefällt werden müssen: Macht man, wie schon bei Craigs erstem Auftritt in „Casino Royale“ einen erneuten reboot, also einen Neuanfang, der die bisherigen Filme der Reihe verwirft bzw. in ein Paralleluniversum verweist? Lässt man die neuen Filme, wie Ian Flemings Romanvorlagen, in den 1950er und 60er Jahren und damit im Kalten Krieg spielen? Wird James Bond vielleicht doch eine Frau? Für diese Entscheidungen waren eigentlich immer Barbara Broccoli und Michael G. Wilson zuständig, bei Amazon fanden sie aber offenbar keine Ansprechpartner*innen mehr, von denen sie sich ausreichend wertgeschätzt fühlten: Im vergangenen Dezember berichtete das „Wall Street Journal“, dass Wilson nur Gesprächspartner*innen in unteren Hierarchierängen bekäme und Broccoli die Amazon-Leute im privaten Rahmen als „fucking idiots“ bezeichnet habe. Vor diesem Hintergrund liest sich die gestrige Ankündigung nur zwei Monate später als Kapitulation der Denkmalpfleger*innen.
Broccoli und Wilson hatten es mehrfach geschafft, James Bond zu modernisieren: Mitte der 1990er Jahre, als Pierce Brosnans Bond-Laufbahn begann, konnte ihn seine Chefin M (Judi Dench) als „sexistischen Dinosaurier“ und „Relikt des Kalten Krieges“ verspotten und den (aus heutiger Sicht wirklich verstörenden) Sexismus der alten Filme so wenigstens werkimmanent kommentieren. 2006, als es mit Daniel Craig tatsächlich zurück auf Anfang ging (irritierenderweise immer noch mit Judi Dench als M, aber wer würde dieser Casting-Entscheidung widersprechen wollen?), orientierten sich die Filme an der schroffen Ästhetik der damals sehr erfolgreichen Jason-Bourne-Filme mit Matt Damon. Das wären einerseits gute Argumente, das Duo wieder mit einer Neuerfindung der Reihe zu beauftragen. Andererseits ist Wilson inzwischen 83 und bei Amazon sitzen Menschen, die weniger als halb so alt sind, das Ekelwort „content“ benutzen und aufgrund von sekundengenauen Auswertungen des eigenen Streaming-Angebots genau zu wissen glauben, was die Leute interessiert und was nicht. Das ist ein übleres Aufeinandertreffen zweier Welten als in der Szene mit Brosnan und Dench.
Außerdem hatte die Reihe nach „Skyfall“ auch arg ihr Mojo verloren: In „SPECTRE“ und „Keine Zeit zu sterben“ konnten die nach wie vor beeindruckenden set pieces von den Drehbüchern nur noch bedingt zusammengehalten werden. Zu dringend wollten die Macher die Vebrecherorganisation SPECTRE, deren Rechte sie gerade nach den oben angedeuteten jahrzehntelangen Rechtsstreitigkeiten endlich erworben hatten, in die bereits bestehende Geschichte einflechten, weshalb die ganze Motivation und der ganze Handlungsbogen des „Skyfall“-Bösewichts Silva (Javier Bardem) nachträglich unter den Bus bzw. den entgleisten U‑Bahn-Waggon geworfen wurde. Christoph Waltz überschritt als ungefähr siebte Iteration des Superschurken Ernst Stavro Blofeld die Grenzen zur Selbstparodie, nur um dann in „Keine Zeit zu sterben“ nach einem Klischee-Monolog urplötzlich abgemurkst zu werden. Die Filmreihe war – wie zuletzt im berüchtigten letzten Pierce-Brosnan-Auftritt „Stirb an einem anderen Tag“ – einmal mehr aus der Kurve getragen worden.
Meine persönliche Bond-Sozialisation begann 1995 in der Lichtburg in Dinslaken an der Seite meines Vaters mit besagtem „GoldenEye“. Ich war gerade zwölf und entsprach damit der Altersfreigabe (die Vorstellung, den Film in anderthalb Jahren mit meinem Sohn zu schauen, irritiert mich gerade allerdings sehr), es war mein erster „Erwachsenen“-Film, der Titelsong kam von Tina Turner und der Charakter der Xenia Onatopp (Famke Janssen), einer Schurkin, die Männer beim Geschlechtsakt mit ihren Schenkeln ermordet, sorgte für ein irritiertes erstes sexuelles Erwachen. Wollte ich wie James Bond sein? Wohl kaum. Aber ich wollte solche Filme machen, weshalb die meisten Heimvideos, die ich als Teenager mit meinen Freunden und Geschwistern drehte, auch James-Bond-Parodien rund um unserem eigenen Geheimagenten Johann Bünett waren („James und Johann sind beides Butler-Namen und statt ‚blond‘ ohne L halt ‚brünett‘ ohne R“, wie mein Schulfreund Benjamin todsicher ausgeführt hatte).
Mit einer Energie, die nur Nerd-Kinder ohne Computer an den Tag legen können, verschlang ich alle gedruckten Informationen über die damals schon mehr als 30 Jahre laufende Filmreihe, so dass ich Euch die oben aufgeführten juristischen Probleme schon mit 13, 14 hätte referieren können. Da mein Schlagzeuglehrer ebenso großer Fan war und alle Filme auf VHS besaß, war ich nicht zwingend auf die Ausstrahlungen im linearen Fernsehen angewiesen — obwohl „Lizenz zum Töten“ für mich heute immer noch ein Weihnachts-Vorabend-Film ist, nur weil er zufälligerweise am 23. Dezember 1997 im Ersten gelaufen war, als meine Eltern im Wohnzimmer den Baum schmückten und ich den Film deshalb in Papas Arbeitszimmer gucken durfte.
Die Daniel-Craig-Ära begann im November 2006, als ich gerade für drei Monate in San Francisco lebte, und tatsächlich hab ich bis heute keinen einzigen Craig-Bond in deutscher Synchronfassung gesehen, weil es ab „Ein Quantum Trost“ (2008) dann auch in Bochum Filmvorführungen im englischsprachigen Original gab. Aber seit 2015 haben die „Mission: Impossible“-Filme bei mir eh „James Bond“ als liebste Agentenfilm-Reihe abgelöst.
Und jetzt? Unken die Fans im Internet, dass es das natürlich gewesen sei mit James Bond. Amazon werde das franchise ausschlachten und eine Art Marvel Cinematic Universe (MCU) daraus erschaffen mit spin-offs, Fernsehserien, origin stories und ähnlichem Schnickschnack. Gerade Barbara Broccoli hatte bis zuletzt darauf beharrt, Bond-Filme als singuläre Ereignisse alle zwei bis fünf Jahre ins Kino zu bringen. Vergleiche werden gezogen zum „Star Wars“-Universum, das seit dem Verkauf von Lucasfilm an Disney auch seinen Reiz verloren habe. Und da muss man jetzt vorsichtig sein: Ich sitze den ganzen „Star Wars“-Fernsehserien auch ratlos gegenüber und finde, dass „Der Aufstieg Skywalkers“, der letzte „Star Wars“-Film der dritten Trilogie aus dem Jahr 2019 seinen unmittelbaren Vorgänger „Die letzten Jedi“ in ähnlicher Weise verraten hat wie „SPECTRE“ es mit „Skyfall“ getan hatte. Anders als viele „Star Wars“-Fans, die zumindest geistig das Arbeitszimmer ihres Vaters oder den Keller ihrer Mutter nie verlassen zu haben scheinen, sehe ich das Problem aber nicht in starken Frauenrollen oder einem diversen cast.
Das Elend moderner Erzählweisen liegt für mich vielmehr in dem unendlichen Breittreten von Charakteren und Handlungsbögen (Stichwort „horizontales Erzählen“, Stichwort MCU), weil das teuer erworbene intellectual property so stark wie möglich ausgepresst werden muss — da bin ich dann ganz bei Barbara Broccoli, ihren event movies und ihrer Ablehnung des Begriffs „content“. (Die Ironie, dass wir hier über Bewegtbild-Adaptionen von Comicbuch-Reihen bzw. gehobeneren Groschenromanen sprechen, ist mir dabei durchaus bewusst, danke der Nachfrage!)
Fans, die sich im Internet empören, die kreative Kontrolle über künstlerische Projekte zu überlassen, halte ich allerdings für mindestens ebenso bescheuert, wie diese Aufgaben an die controller abzugeben, die einem dank irgendwelcher Erhebungen erklären wollen, welche „Inhalte“ gut „funktionieren“ — die Ergebnisse dieser Vorgehensweise kann man in den meisten Social-Media-Auftritten ehemals seriöser deutscher Medienmarken besichtigen. Es gibt immer zwei Sorten Nerds: Die, die Musik hören und dann das Bedürfnis haben, eine Band gründen (oder fernsehen und dann eine Kamera in die Hand nehmen), und die, die Verkaufszahlen oder Einschaltquoten studieren und dann daraus ableiten zu können glauben, was für Songs oder Filme erfolgreich sein könnten. Ich war immer entschieden im ersten Team.
Den rauchenden, trinkenden, schießenden und durchaus auch sexuell übergriffigen James Bond der Romane und frühen Filme könnte man heute allenfalls als period piece inszenieren, auch das vermutlich nur mit irgendeiner Art einordnendem Kommentar. In Zeiten, wo Typen wie Andrew Tate, Mark Zuckerberg und Joe Rogan ihre eher verstörende, weil unendlich traurige, Vorstellung von Männlichkeit ungefiltert auf Millionen Jungen und junge Männer loslassen können und giftige Männlichkeit eher wieder auf dem auf- als auf dem absteigenden Ast scheint, würde einer Judi Dench, die mal ordentlich auf den Tisch haut, vermutlich „cancel culture“ vorgeworfen werden, aber sie wäre notwendig.
Eine besondere Ironie liegt natürlich darin, dass die Zukunft des berühmtesten Geheimagenten jetzt in den Händen eines Konzerns liegt, dessen Gründer so eindeutig eine Checkliste der wichtigsten Bond-Bösewichte abgearbeitet zu haben scheint: Er baut Raketen wie Hugo Drax („Moonraker“), besitzt eine wichtige Zeitung wie Elliot Carver („Der Morgen stirbt nie“) und ist kahlköpfig wie Ernst Stavro Blofeld bei mehreren Auftritten. Aber wer weiß, vielleicht will Jeff Bezos den Antagonisten im nächsten Film auch einfach selbst spielen.
Am Freitag ist das neue Album von Tocotronic erschienen. Der Titelsong wäre beinahe das erste mir bekannte Lied gewesen, in dem der Ortsname „Dinslaken“ vorkommt — allein: Es standen ästhetische Gründe im Wege, wie Sänger Dirk von Lowtzow der „NRZ“ erzählte:
Im Titelsong von „Golden Years“ geht es um Heimweh und Liebessehnsucht im Künstlerleben unterwegs – „Aber man muss dankbar sein, wenn man den Leuten noch begegnet, nicht nur als Klick auf Spotify“. Machen diese zwei Stunden am Abend auf der Bühne den ganzen Tourstress wett?
In den allermeisten Fällen: ja. Und oft auch auf unvorhergesehene Art und Weise. Eine Inspiration für dieses Lied war ein Konzert, das wir im Sommer 2023 in Dinslaken gegeben haben, auf einer Freilichtbühne. Und ohne Dinslaken zu nahe treten zu wollen: Ich habe das nicht als den Nabel der Welt empfunden. Und es hat zudem noch aus Eimern geregnet. Trotzdem war es eines der schönsten Konzerte, die wir je gespielt haben. Weil es so toll anzusehen war, wie die Leute da im Regen in diesem verwunschenen Park standen und durchgehalten haben.
Im Text heißt es allerdings: „Freilichtbühne Recklinghausen / Wo die öden Winde wehen“. Zufällige Verfremdung oder verbinden Sie mit Recklinghausen etwas Konkretes?
Nee, ich fand einfach das Wortpaar gut. Ich dachte an dieses Konzert in Dinslaken, das war die Blaupause. Aber „Freilichtbühne Recklinghausen“ klingt phonetisch so wahnsinnig schön. Das geht einem gut über die Lippen und lässt sich gut singen.
Andererseits dürfte es bisher auch nicht viele Songs geben, in denen Recklinghausen vorkommt — und Göttingen:
Lasst uns jedenfalls gemeinsam hoffen, dass die Pressestelle der Stadt Dinslaken nicht wieder eine Pressemitteilung rausgibt!
Heute vor 18 Jahren ging dieses kleine Popkultur-Blog an den Start — mit einem Kickoff-Text, der zuvor den 4. Platz beim Wettbewerb „Schüler versuchen, wie Max Goldt zu schreiben“ belegt hatte.
Das heißt: Coffee And TV ist jetzt volljährig, darf Auto fahren, harten Alkohol kaufen und wählen. Uff!
So einen Geburtstag muss man natürlich ordentlich feiern, deswegen ist heute Nacht, exakt 157.800 Stunden nach dem Stapellauf, mein Projekt 18 Jahre, 18 Songs online gegangen, das eigentlich nur eine Playlist mit ein paar Anmerkungen werden sollte und jetzt – natürlich – einer der längsten Texte der Blog-Historie ist.
Außerdem feiert die kurzlebige 2014er-Serie „Song des Tages“ eine Wiederauferstehung — und zwar exklusiv in unserem WhatsApp-Kanal. Da soll es aber extra keine Begleittexte in Roman-Länge geben, sondern einfach nur jeden Tag einen Song, der mir gerade passend erscheint — obskur oder Hit, aktuell oder uralt.
Und dann wollten wir Ihnen noch das zeigen:
The rumours are true: Aus Anlass des 18. Geburtstags werde ich aus den schönsten Blog-Texten (oder den schönsten, die ich wiedergefunden habe) lesen!
18 Jahre Coffee And TV
Freitag, 7. März 2025, 20 Uhr (anschl. Party) Goldkante, Alte Hattinger Str. 22, 44789 Bochum
Eintritt frei, hinterher geht ein Hut rum
Das wird super, ich freu mich!
Mein besonderer Dank geht heute an die anderen Gründungs-Autor*innen Kathrin, Oliver, Stephan, Daniel, Marta, Thomas und Gordian, die gleichzeitig meine ersten Leser*innen waren, und an Annika, Markus, Stefan, Katharina, Basti, Lisa, Tommy, Tom, Friedrich, Dominik, Sarina, Sue, Selma, Peter, Jens, Thorsten und Justus, die später zu diesem Blog beigetragen haben! They called us the pop kids.
Für Günter und Jürgen, die ich ohne dieses Blog nie kennengelernt hätte.
Und für Dörte, die immer alles gelesen hat.
Es war die naheliegendste Idee der Welt: Zum 18. Geburtstag des Blogs wähle ich einen Song aus jedem Jahr aus — fertig ist die Playlist!
Aber nach welchen Kriterien? Einfach das Lied nehmen, das jeweils meine Liste „Song des Jahres“ angeführt hat? Das wäre ja ein bisschen langweilig — und solche Listen gab es auch gar nicht in jedem Jahr.
Also: 18 andere Songs. Welche, die ihr jeweiliges Jahr, aber auch dieses Blog gut repräsentieren; die für mich eine persönliche Bedeutung haben; die ich auch heute noch höre. Eine halbwegs ausgewogene Mischung aus Genres, Geschlechtern und Sprachen, also eben dann doch auch: Kontext.
Und so wurde aus einem kleinen Gimmick zum Jubiläum eine ausufernde Recherche-Aktion im eigenen Leben ’n‘ Werk und einer der längsten Texte, der hier in den letzten 18 Jahren erschienen ist:
2007: Mika – Grace Kelly
Als dieses Blog an den Start geht, sind Gitarrenmusik im Allgemeinen und Indierock im Speziellen noch ein Ding. Bei der damals noch stattfindenden „Leserwahl“ (ein Konstrukt, das wir uns relativ offensichtlich von „Plattentests online“ abgeschaut haben), wird „A Weekend In The City“ von Bloc Party (Wann habt Ihr zuletzt an diese Band gedacht?) zum „Album des Jahres“ gewählt und „Ruby“ von Kaiser Chiefs (Oder an diese Band?!) zum „Song des Jahres“.
Auf meiner Jahresbestenliste ganz vorne ist „Tonight I Have To Leave It“ von Shout Out Louds, das ich auch ewig nicht mehr gehört habe. Und ganz versteckt, auf Platz 22: „Grace Kelly“ von Mika, ein etwas exaltierter over-the-top-Popsong mit Vaudeville- und Musical-Anleihen von einem jungen Mann, den das Adjektiv „androgyn“ begleitet. (Es waren, wie gesagt, andere Zeiten.) Ein Song, den mir „Plan B“, die etwas anspruchsvollere Musiksendung von 1Live (ich unterschied damals noch pubertär zwischen „guter“ Indie- und „schlechter“ Mainstream-Musik; andere Zeiten indeed), in die WG-Küche gebracht hat.
15 Jahre später sitze ich beim Eurovision Song Contest in Turin in der deutschen Kommentatorenkabine, zum neunten Mal als Assistent von Peter Urban, der wegen der ausklingenden COVID-19-Pandemie von Hamburg aus kommentiert. Gelandet war ich bei dieser Veranstaltung überhaupt nur, weil Stefan Niggemeier 2007 meine Kommentare in seinem Blog gelesen und mich gefragt hatte, ob ich mit ihm einen „Grand-Prix-Führer“ schreiben würde. Der Rest ist Geschichte, bzw. BILDblog, Oslog, Duslog, Bakublog, besagter Job als Kommentatoren-Assistent und mein Buch. Und dieser Mika mit seinem Song über Grace Kelly (bzw. darüber, wie man sich anpasst, um den Menschen zu gefallen) moderiert da jetzt diese Veranstaltung gemeinsam mit Laura Pausini und Alessandro Cattelan, er bringt internationalen Glamour in eine (vor allem hinter den Kulissen) eher chaotische TV-Sendung und er singt ein Medley seiner Hits.
Es ist ein seltsamer, rührender full-circle-Moment, der die größte Musikshow der Welt mit meiner alten WG-Küche und allem dazwischen kurzschließt, und in einem Anfall von Geistesgegenwart und emotionaler Überforderung schreibe ich auf jener Social-Media-Plattform, die damals noch Twitter heißt: „Es ist schön, an das Jahr 2007 erinnert zu werden. Es ist noch schöner, dass in meinem Leben heute ungefähr alles besser ist als damals.“ Oder, mit Mikas Worten: „Ca-ching!“
[Songs 2007 von damals]
2008: The Hold Steady – Constructive Summer
Die Leser*innen, die ich damals noch „Leser“ nenne, wählen „Sex On Fire“ von Kings Of Leon zum Song und „Heureka“ von Tomte zum Album des Jahres. Ich sammle die wichtigsten Nazi-Vergleiche (eine Kategorie, der damals noch ein gewisser Unterhaltungsfaktor anzuhaften scheint) und Barack-Obama-Referenzen und arbeite den Rest der Zeit fürs BILDblog.
Meine wichtigste Quelle für neue Musik ist „All Songs Considered“, ein Podcast von NPR, der auch das Vorbild für meine eigene, kurzlebige Musiksendung bei Spotify 2023/24 wird. Hier stoße ich erstmals auf The Hold Steady, eine Band aus Brooklyn (ursprünglich: Minneapolis/St. Paul), die Geschichten von Verlierern und Underdogs in hymnischen Rocksongs erzählt wie sonst nur Bruce Springsteen. Ihr Album „Stay Positive“ bringt mich durch ein Jahr, von dem ich heute so gut wie nichts mehr weiß, deshalb lasse ich mir das Symbol vom Albumcover 2011 auf meine Wade tätowieren.
Auch ihre Musik bleibt: 2009 kaufe ich mir alle Alben und höre sie rauf und runter (wie man es in einer Welt ohne Streaming eben so machte), 2010 rufe ich den „Constructive Summer“ aus: „We’re gonna build something this summer.“ Hier entstehen dann endlich Erinnerungen, die für immer bleiben werden, untermalt von „Boys And Girls In America“, „Stay Positive“ und dem damals neuen Nachfolge-Album „Heaven Is Whenever“.
[Songs 2008 von damals]
2009: Kilians – Hometown
Nach über fünf Jahren im Studentenwohnheim muss ich mir mal langsam eine eigene Wohnung suchen und ich überlege: In Bochum bleiben oder nach Hamburg ziehen? Es ist ein Jahr der großen Gefühle zwischen Welt erobern wollen und zuhause einsperren, begleitet von der ganz großen, unerfüllten Liebe.
Meine Freunde von den Kilians (Bruder, Demo-CD, Thees Uhlmann, Tomte-Tour — youknowthestory!) veröffentlichen im April ihr zweites Album „They Are Calling Your Name“ und spielen aus diesem Anlass ein Konzert auf dem Hans-Böckler-Platz in Dinslaken, jener Stadt, in der wir alle – die Kilians, ich und die ganz große, unerfüllte Liebe – aufgewachsen waren. Ihr Song „Hometown“ ist das Angebot einer Hymne.
Die Band löst sich 2013 auf, da wird der Hans-Böckler-Platz gerade mit einem Einkaufszentrum überbaut. Wenn man heute „Dinslaken“ sagt, reagieren nicht mehr viele Menschen mit „Aaaah, die Kilians!“ (aber – und das wird die Bürgermeisterin freuen – auch nicht mehr mit „Aaaah, der Wendler!“ oder „Aaaah, die Salafisten!“). Die Stadt hat sogar die Emschermündung verloren. Aber Erinnerungen und Musik werden ja immer bleiben.
(Ich entscheide mich 2009 übrigens für Bochum. My hometown.)
2010: Lena – Satellite
„Irgendwann musst Du Dir das mal vor Ort anschauen“, hatte Stefan Niggemeier 2008 über den Eurovision Song Contest (damals und immer schon: „Eurovision Song Contest“) gesagt, aber weil Moskau schon damals kein Ort ist, an dem man gerne sein möchte, verschieben wir unser Projekt auf das Folgejahr und nach Oslo. Womit wir nicht rechnen: dass in Deutschland ein regelrechter ESC-Hype um eine 18-jährige Abiturientin aus Hannover ausbricht und die diese merkwürdige Quatsch-Veranstaltung tatsächlich gewinnt. (Also: In der ersten Folge des Oslog wette ich natürlich genau das, allerdings ohne auch nur einen anderen Wettbewerbsbeitrag zu kennen.)
Als altes Theater-Kind zieht mich die jährliche Leistungsschau der Bühnentechnik-Industrie sofort in ihren Bann und auch musikalisch ist das alles gar nicht mehr so schlimm, wenn man es nur oft genug gehört hat. Aber trotz der einschneidenden, im Nachhinein lebenswegweisenden Erfahrung in Oslo traue ich mich nicht, „Satellite“ auf meine Jahresbestenliste zu packen. Da sollen auch weiter nur Indie-kredibele Sachen zu finden zu finden sein (und so ignoriere ich offenbar auch das tolle Take-That-mit-Robbie-Album „Progress“ komplett). Das passt zu einem Jahr, in dem ich nicht gerade dadurch auffalle, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, sondern mich lieber vom Großstadt‑, vor allem aber Nachtleben rund um meine neue Wohnung in der Innenstadt mitreißen lasse und als neuer BILDblog-Chef in Talkshows gehe und zu Journalistenkongressen ins Ausland fliege. („It’s physics / There’s no escape.“)
Hier also späte Genugtuung für einen Song und ein Ereignis, ohne die ich heute nicht da wäre, wo ich bin, und ohne die der ESC in Deutschland immer noch als „Schlager-Grand-Prix“ firmieren würde, bei dem man ohnehin nichts reißen kann.
[Songs 2010 von damals]
2011: Thees Uhlmann – 17 Worte Mein Kumpel Thees Uhlmann ist im Jahr 2011 wie so oft weiter als ich: Vater geworden, Beziehung zerbrochen, dabei, das Glück im Kleinen zu suchen. Ich bin vier bis fünf Abende die Woche im Freibeuter im Bochumer Bermuda3eck und schreibe nebenher das BILDblog voll. Deswegen ignoriere ich Thees‘ selbstbetiteltes Solo-Debüt damals auch rüpelig bei den „Alben des Jahres“ (und lobe lieber das nächste egale Coldplay-Album), obwohl ich es wirklich oft höre.
Aber diese Liste hier ist auch eine Chance auf Wiedergutmachung, denn sechs Jahre später stehe ich beim GHvC-Geburtstag in Hamburg im Nieselregen: Vater geworden, Beziehung zerbrochen, dabei, das Glück im Kleinen zu suchen. Also völlig andere Prioritäten und Prinzipien: „Meine Wahrheit in 17 Worten: / Ich hab ein Kind zu erziehen / Dir einen Brief zu schreiben / Und ein Fußball-Team zu supporten.“ (Bei Erscheinen des Albums hatte ich Thees eine SMS geschrieben, dass das nur 16 Worte wären, weil man „Fußballteam“ zusammenschreibe. Seine Antwort kam natürlich prompt: „Fußball Team!“)
2021 sehe ich Thees Uhlmann und Band live im Burgtheater in Dinslaken (weil: natürlich). Es ist mein erster Konzertbesuch seit anderthalb Jahren, mein Sohn ist an meiner Seite, meine Eltern irgendwo in meinem Rücken, der VfL Bochum ist aufgestiegen. Weite Teile der Öffentlichkeit sind während der immer noch anhaltenden Pandemie dem Wahnsinn anheimgefallen, aber als Thees „17 Worte“ spielt, macht für mich alles Sinn: Wir singen, um uns zu erinnern.
[Songs 2011 von damals]
2012: Carly Rae Jepsen – Call Me Maybe
Dieser bekloppte Eurovision Song Contest hat mich nach Aserbaidschan verschlagen. Ich sitze in Baku im Hotelzimmer, gucke russisches Musikfernsehen und sehe dieses Video. Als der Song zu Ende ist, zappe ich weiter und sehe das gleiche Video auf dem nächsten Kanal direkt noch mal von vorn. „Komische Russen“, denke ich, will den Song bei Facebook posten und stelle fest, dass ich mit „Call Me Maybe“ einen internationalen Hit verpasst habe.
Wahrscheinlich ist es dieser Moment, in dem ich dieses elitär-pubertäre Musik-nur-gut-finden-wenn-sie-sonst-keiner-hört-Dingen aufgebe und endlich frei bin, Dinge gut zu finden, nur weil ich sie gut finde. Um Dinge auch öffentlich gut zu finden (jedenfalls meistens), starten Tom Thelen und ich im Blog unseren Kino-Podcast „Cinema And Beer“.
„Before you came into my life / I missed you so bad“ ist immer noch eine der besten Zeilen, die je über romantische Liebe geschrieben wurde — und das waren ja nun wirklich nicht wenige. Carly Rae Jepsen in der Kölner Essigfabrik ist im Februar 2020 mein letztes Konzert vor dem Lockdown (ist es nicht Magie, wie hier alles ineinandergreift?!) und die fröhliche Stimmung dieses durchaus ESC-tauglichen Publikums trägt mich durch die ersten, dunklen Monate der Isolation.
[Songs 2012 von damals]
2013: Daft Punk feat. Pharrell Williams & Nile Rogers – Get Lucky Ich sitze in einem Auto, das mich vom Hotel zur Malmö Arena bringt, neben mir: ESC-Kommentatorenlegende Peter Urban. Als wäre das nicht schon absurd genug, wippt dieser 65-jährige Mann zur Musik aus dem Autoradio mit: „Get Lucky“ von Daft Punk, Pharrell Williams und Nile Rogers. Natürlich kennt er das, denn es ist ja ein internationaler Superhit, dem man nur schwer entkommen kann, und Peter würde auch jede Menge deutlich obskurere Songs mitsingen, die in den letzten ca. 50 Jahren erschienen sind, aber irgendwie überrascht es mich in diesem Moment doch, denn Daft Punk, das sind doch die von Viva 2 (wo sie jetzt zugegebenermaßen auch nicht zwingend zur Avantgarde gezählt hatten).
Die Dominosteine, von denen dieses Blog der erste war, haben mich hierher gebracht, ins Epizentrum des Entertainments. Nur einen Monat später sollen sie mich zum Late-Night-Meinungsmagazin „Tagesschaum“ mit Friedrich Küppersbusch führen und von dort zu unserem gemeinsamen Podcast „Lucky & Fred“. Das Leben meint es gut mit mir, beruflich wie privat.
[Songs 2013 von damals]
2014: Andrew McMahon In The Wilderness – High Dive Ich hätte immer gesagt, dass das Jahr 2014 hier im Blog gar nicht stattgefunden hat, aber es gibt doch einige Einträge aus dieser Zeit — die meisten als Teil der kurzlebigen Serie „Song des Tages“. Ich erinnere mich an nichts, weil ich zu sehr mit anderen Sachen beschäftigt bin: Umzug, neue Jobs, Hochzeit planen und absagen, Vater werden, irgendwie versuchen, meine Beziehung zu retten. Alles Dinge, auf die einen Popkultur nur unzureichend vorbereitet; alles Dinge, die für Popkultur wenig Zeit lassen.
Das erste neue Album, das ich mit meinem Sohn höre, ist das Solodebüt von Andrew McMahon, der mich mit seinen Bands Something Corporate und Jack’s Mannequin jetzt auch schon mehr als zehn Jahre begleitet. Er ist auch gerade Papa geworden, so kann ich die Verarbeitung meiner Lebenswirklichkeit wieder mal auf ihn abwälzen und einfach seine Songs hören. Obwohl wir doch noch jung sind, ist da viel Nostalgie in seinen Texten wie „High Dive“, aber Facebook ersetzt Kneipenabende mit Freund*innen ja auch nur bedingt.
2015: Ben Folds feat. yMusic – Phone In A Pool
2015 ist dann tatsächlich das Jahr, das nicht war, denn ich schreibe sensationelle sieben Blogeinträge, von denen die meisten ursprünglich Facebook-Posts waren. Offenbar schaffe ich es immerhin ein paar Mal ins Kino. (Ach, „The Force Awakens“ ist von 2015?!) Ich kann mich an nichts erinnern und es geht mir wirklich nicht gut.
Ein bisschen Trost kommt von meinem ewigen Helden Ben Folds, der gerade die vierte Scheidung (von inzwischen fünf) hinter sich hat und mit dem Kammermusik-Ensemble yMusic ein Album einspielt, auf dem auch sein erstes Klavierkonzert zu hören ist. (Wir gehen alle unterschiedlich mit Lebenskrisen um.) In „Phone In A Pool“ berichtet er: „Found the love of my life again / Y’all knows what I means / And I’ll be back on the sofa in a puddle in a couple of weeks“. Bei all dem Elend ist es schön, dass jemand, der mich mein halbes Leben lang begleitet, immer noch Songs schreiben kann, die so gut zu meinem eigenen Leben passen. Natürlich gibt es am Ende des Jahres keine Listen — ich hab ja eh viel zu wenig Musik gehört und wann hätte ich die denn noch schreiben sollen?
2016: Weezer – California Kids
Neuanfang in einer eigenen Wohnung und das Vorhaben, das Blog jetzt aber wirklich wieder zu befeuern. Da passt es ganz gut, dass Benjamin von Stuckrad-Barre, dessentwegen ich als Teenager mit dem Schreiben angefangen hatte, ein neues Buch veröffentlicht, ungefähr zeitgleich mit dem neuen Album der von uns hoch verehrten Pet Shop Boys und dem von Weezer. Alle drei Acts eint, dass ihr Schaffen nicht zu jedem Zeitpunkt ihrer Karriere den Ansprüchen des eigenen Publikums genügte, aber jetzt sind sie wieder voll da.
Also eigentlich eine gute Gelegenheit, darüber zu schreiben und über andere Dinge, die mir Freude bereiten, aber das Internet ist damals im wesentlichen Facebook und dort sind wir alle damit beschäftigt, mit irgendwelchen AfD-Anhängern zu diskutieren, die irgendwo etwas Dummes kommentiert haben. Um diesem ganzen Irrsinn zu entfliehen, schreibe ich nicht etwa wieder mehr ins Blog, sondern starte meinen eigenen Newsletter. Da macht das Schreiben immerhin auch Spaß.
Weezer, jedenfalls, kenne ich seit mehr als 20 Jahren, als das Video zu „Buddy Holly“ bei „Hit-Clip“ lief und auf der Windows-95-CD-Rom enthalten war. Jetzt veröffentlichen sie schon das vierte Album namens „Weezer“ (nach dem blauen, dem grünen und dem roten Album jetzt ganz Beatles-mäßig das weiße), das meinen Sohn und mich auf vielen Ausflügen zum Kemnader See begleitet und ihr bestes seit Jahrzehnten ist. Der opening cut„California Kids“ handelt von den glücklichen jungen Menschen aus dem Golden State, die einem das Leben retten. Ich nenne Kalifornien gerne „my home away from home“, was vielleicht etwas prätentiös ist, aber ich hab da halt Familie und es ist auch der einzige Ort außerhalb des Ruhrgebiets, an dem ich je so viel Zeit am Stück verbracht habe. Der Staat bleibt auch nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten das (natürlich eher theoretische) Ideal, das ich bewundere, genauso wie ich Menschen auch lieber aus der Ferne toll finde — California Kids halt.
2017: kettcar – Ankunftshalle
Als dieses Blog an den Start geht, haben kettcar bereits zwei Alben veröffentlicht: ihr Debüt „Du und wieviel von Deinen Freunden“, ein instant classic, und – begleitet von Fernsehauftritten und ganzseitigen Zeitungsartikeln – den Nachfolger „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“. Trotzdem schreibe ich in all den Jahren relativwenige Texte über diese Band, die mir so wichtig ist. Vielleicht weil ich denke, dass das eh klar ist.
2017 liegt das letzte (eher okaye) kettcar-Album fünf Jahre zurück, Marcus Wiebusch hat in der Zwischenzeit ein (ziemlich gutes) Soloalbum veröffentlicht, aber plötzlich ist die Band wieder ein Machtblock mitten in Europa: Ihre stets klare politische Haltung, die Jahre vorher noch ein bisschen folkloristisch anmutete, ist inzwischen notwendig, aber neben Songs wie „Sommer ’89“, „Wagenburg“ und „Mannschaftsaufstellung“ gibt es auch jene, die sich anfühlen wie Polaroids (oder Insta-Posts) aus dem Alltag. „Die Straßen unseres Viertels“ ersetzt eine ganze Fernsehserie über das Familienleben in Hipster-Vierteln, ohne sich für eine Sekunde Harald-Schmidt-mäßig über Hafermilch lustig zu machen; „Trostbrücke Süd“ ist ein Kameraschwenk durch einen Linienbus voller Menschen, die aufstehen, atmen, sich anziehen und hingehen, und „Ankunftshalle“ der Blog-Eintrag, Newsletter oder Song, den ich immer hatte schreiben wollen: ein Loblied auf die heilende Kraft von Flughafen-Ankunftshallen, wo Menschen sich nach langer Zeit der Trennung wieder in die Arme fallen.
Als kettcar und Thees Uhlmann im August im Hamburger Nieselregen 15 Jahre Grand Hotel van Cleef feiern, ist wenige Tage zuvor meine Oma gestorben, die hier von Anfang an mitgelesen hatte. Ende Dezember liegt mein Opa im Sterben und ich fahre mit meinem Sohn zum Düsseldorfer Flughafen, Menschen in der Ankunftshalle gucken.
[Songs des Jahres 2017 damals]
2018: Rae Morris – Do It
Hatte ich oben – also vor ca. 18.000 Zeichen – nicht noch geschrieben, dass in dieser Liste explizit nicht die jeweiligen Songs des Jahres auftauchen sollen? Well: We make up the rules as we go along!
Rae Morris hat sich ihre Sonderrolle hier im Blog verdient: Weil ich mich 2012 instantly in ihren Song „Don’t Go“ aus dem (eigentlichen) Serienfinale von „Skins“ (der einzigen Fernsehserie neben „Die Brücke“, von der ich alle Folgen gesehen habe) verliebt habe; weil sie der erste (und bis heute einzige) Act in der Geschichte dieses Blogs ist, der in einem Jahr (2018) meinen persönlichen „Song des Jahres“ und mein „Album des Jahres“ veröffentlicht hat (das haben Tomte 2006 zwar auch geschafft, aber halt sechs Wochen, bevor dieses Blog an den Start ging, also zählt das nur an ungeraden Wochentagen ohne Neumond); weil sie der erste (und bis heute einzige) Act ist, der zwei Mal meinen persönlichen Song des Jahres (2012 und 2018) geschrieben hat.
Irgendwie alles trockener Statistik-Kram angesichts eines Songs, der davon handelt, auf die Zweifel zu pfeifen und sich kopfüber in die Liebe zu stürzen. Rae Morris singt das über ihren musikalischen Partner und heutigen Ehemann Fryars und sie macht das so toll, dass ich mit ihr an die große Liebe glauben will, die sich anfühlt wie Feuerwerk aussieht. Doch meine Versuche, „Do It“ in „Joko Winterscheidts Druckerzeugnis“ zum Sommerhit des Jahres zu pushen, scheitern und Menschen wie ich bleiben besser allein.
Aber, so denke ich heute, eigentlich ist dieses Blog hier ja auch nichts anderes als die Umsetzung des Gedankens „We could just do it“: Gestartet als „die Online-Zeitung, die wir gerne lesen würden“ (puh!), konnte ich mich hier an der Tastatur und vor der Kamera austoben, ausprobieren und daran wachsen, um dann für Zeitungen und Fernsehsendungen zu arbeiten, die ich früher nur rezipiert hatte. Wenn man aus 18 Jahren Coffee And TV unbedingt irgendetwas lernen will, dann, dass Selbstermächtigung manchmal (es gehört ja auch bei mir sicherlich einiges an Glück dazu) wirklich funktionieren kann.
[Songs des Jahres 2018 damals]
2019: LOKI – The Girl With No Eyes Für die, die hier ernsthaft Buch führen (also: für mich), mag es etwas überraschend sein, dass ein Song, der auf Platz 59 einer Jahresbestenliste stand, ein Jahr repräsentieren soll. Nun: Erstens können wir uns glaub ich darauf einigen, dass es eh schon ein ganz kleines bisschen wahnsinnig ist, einen „Platz 59“ auf einer persönlichen Bestenliste zu haben; zweitens habe ich erst bei der Durchsicht meiner diversen Listen, Einträge und Playlists festgestellt, dass ich tatsächlich schon mal Musik von LOKI gehört haben muss, bevor ich sie letztes Jahr beim Festival Sounds Like Sugar in Herne gesehen habe und so begeistert war, dass ich sie beim Bochum Total direkt wieder sehen musste.
Damit steht „The Girl With No Eyes“, dessen Bon-Iver-Haftigkeit mich schon 2019 überzeugt haben muss, nämlich für etwas anderes: Für das wilde Überangebot an Werken (oder: „Content“, wie die Arschlöcher sagen, die in ihrem Leben nicht einen einzelnen genuinen Gedanken hatten), aus dem wir theoretisch wählen können, das aber auch das Risiko birgt, alles beliebig und egal zu machen. Dass es etwas anderes ist, tagelang in physischen Läden nach einer CD zu fahnden und sie dann endlich zu finden, als einfach alles immer sofort (terms and conditions apply) zur Verfügung zu haben, hab ich schon 2016 aufgeschrieben. Es ist seitdem nicht weniger geworden. Wenn ich mich nicht mehr an irgendwelche Acts erinnern kann (natürlich auch, weil ihre Namen nur noch über Bildschirme flimmern und nicht ausgedruckt vor mir liegen, was meinem Gehirn immerhin ein bisschen helfen würde), ist es alles ein bisschen viel.
Ich selbst trage fröhlich zum Überangebot bei: Mit Friedrich Küppersbusch stehe ich jetzt regelmäßig auf Bühnen in Dortmund und Berlin, um „Lucky & Fred“ vor Publikum aufzuzeichnen. Da kommt das Theater-Kind von früher wieder zum Vorschein, Applaus ist immer noch die stärkste Währung. Weil Likes dagegen abstinken und dort eh nichts mehr los ist, lösche ich am Silvesterabend meinen Facebook-Account. Im Nachhinein möchte ich sagen: Ich habe schon dümmere Dinge zu einem schlechteren Zeitpunkt gemacht.
[Songs des Jahres 2019 damals]
2020: Taylor Swift – Epiphany Alles beginnt so schön mit weiteren Live-Auftritten und Konzertbesuchen bei kettcar, Ider und Carly Rae Jepsen. Und dann endet alles: Konzerte, Kindergarten, Bundesliga, sogar der Eurovision Song Contest wird erstmals abgesagt. „Wegen Corona“ wird ein sogenanntes geflügeltes Wort, was auch irgendwie zu den verdammten Flughunden auf dem Nassmarkt von Wuhan passt, die uns die ganze Scheiße (mutmaßlich) eingebrockt haben.
Popkultur-Freund*innen vergleichen die Straßen mit jenen aus dem Zombiefilm „28 Days Later“ und wir lernen die Wohnzimmer von Kolleg*innen und Rockstars kennen, die von dort aus Mini-Konzerte in die Welt streamen (die Rockstars, nicht die Kolleg*innen). Die Leute erscheinen all das mit erstaunlichem Gleichmut zu ertragen, aber dieses Bild bekommt – um eine weitere Phrase zu vermeiden – schnell Risse: Als sich im April eine Frau, die vor einem Café warten muss, um Kuchen zum Mitnehmen zu kaufen, über die „Gesundheitsdiktatur“ beschwert, bin ich viel zu überrascht und schockiert, ihr vorzuschlagen, dass wir gerne gemeinsam einen Bekannten von mir, der Arzt in Padua ist, anrufen könnten und sie ja mal mit dem sprechen könne, wenn er nicht gerade dabei ist, um Leben zu kämpfen.
Es ist ein Vorgeschmack auf das, was kommt: Weil man sich jetzt nirgendwo mehr in die Augen gucken kann, vergessen nahezu alle, dass sie online mit anderen Menschen diskutieren. Manche von uns nutzen die viele freie Zeit, um sich über Rassismus fortzubilden, andere, um sich zu radikalisieren. Ich schreibe viel in meinen Newsletter und wenig ins Blog, starte aber zusammen mit Sue Reindke immerhin einen neuen Podcast namens „Bist Du noch wach?“
In all das hinein veröffentlicht Taylor Swift, die nach einer abgesagten Welt-Tournee auch zu viel Freizeit hat, ein Album, das sie in den ersten Monaten des Lockdowns mit Aaron Dessner von The National aufgenommen hat, remote. „Folklore“ wird zum Soundtrack des ersten Corona-Sommers und überzeugt selbst jene, die ihrer Musik bisher kritisch gegenübergestanden hatten. Mit „Evermore“ erscheint ein paar Monate später noch so ein großer Wurf. Nach dem großartigen „1989“ von 2014 hab ich endlich die nächste era, in der ich mich einrichten kann. Es ist der Soundtrack zu sehr ausgiebigen Spaziergängen durch die verschiedenen Nachbarschaften hier in Bochum. Und mittendrin ein Song über Soldaten und Menschen im Gesundheitswesen, über das Sterben in Einsamkeit und über das Weitermachen der Überlebenden: „Epiphany“. „Someone’s daughter, someone’s mother / Holds your hand through plastic now“ sind Zeilen, die mir auf ewig die Tränen in die Augen treiben und einen Klos in den Hals drücken werden. Die gute Nachricht: Meine Omi, die mit 94 noch allein in ihrem viel zu großen Haus wohnt, überlebt all das ohne Ansteckung. Das ist nicht ihr Song.
[Songs des Jahres 2020 damals]
2021: Meet Me @ The Altar – Never Gonna Change 2021 ist die etwas öde Fortsetzung des Seuchenjahres, aber als Farce: Hashtag Osterruhe. Die Amtszeit von Donald Trump endet, die von Angela Merkel auch. In Rotterdam, wo der ESC unter Pandemie-Bedingungen stattfindet, lautet der schon 2019 ersonnene Slogan passenderweise „Open Up“. Den Sommer verbringe ich damit, mein Buch über den Song Contest zu schreiben, an Omis Geburtstag und an Weihnachten sind wir wieder alle vereint.
In Aachen treffe ich einen meiner allergrößten Helden: Michael Stipe von R.E.M. Er ist so bezaubernd, wie ich erhofft hatte, und gibt mir das Gefühl, als sei ich der allererste Mensch, der „You’ve changed my life“ zu ihm sagt. Der VfL Bochum steigt nach elf Jahren wieder in die Bundesliga auf. Nature is healing.
Meine aktuelle Lieblingsband heißt Meet Me @ The Altar, queer Women of Color aus den USA, die Pop-Punk zwischen Avril Lavigne, Paramore und Blink-182 machen. Zum ersten Mal hören tue ich von ihnen bei – natürlich – „All Songs Considered“ auf – natürlich – einem meiner langen Spaziergänge, in Erinnerung bleiben mir ihre EP „Model Citizen“ und der Song „Never Gonna Change“ aber vor allem als Soundtrack zu den ersten Besuchen im Fitnessstudio, die jetzt wieder möglich sind.
[Songs des Jahres 2021 von damals]
2022: Maro – Saudade, Saudade
Am Ende wird es das Jahr gewesen sein, das ich so lang gefürchtet hatte: das, in dem meine Omi stirbt. Es werden lange vier Monate des Abschieds, die ihren Kindern alles abverlangen, aber es ist eine Zeit des bewussten, liebevollen Abschieds und der Liebe in ihrer reinsten Form.
All das ahne ich noch nicht, als ich beim ESC in Turin sitze und völlig gebannt (das englische Wort mesmerized kennen wir im Deutschen leider nicht, obwohl es doch auf einen deutschen Arzt zurückgeht) dem Auftritt der portugiesischen Künstlerin folge, die das spezifisch portugiesische Gefühl saudade besingt, das mit „vermissen“ nur unzureichend übersetzt werden kann und das sie nach dem Tod ihres geliebten Großvaters empfindet. „Saudade, Saudade“ erreicht am Ende einen tollen 9. Platz, Deutschland hat auch teilgenommen. Allerspätestens hier in Turin ist der ESC nicht mehr die leicht trashige Quatsch-Veranstaltung, als die er noch galt, als Stefan und ich 2007 erstmalig darüber gebloggt haben. Er ist ein echtes Musikfestival, bei dem man Genres und Acts vorgestellt bekommt, auf die man sonst vielleicht nie gestoßen wäre. Wer hier noch alles doof findet, mag wahrscheinlich einfach keine Musik.
Mein Buch über diese Veranstaltung erscheint quasi zeitgleich mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, was mir eine ordentlich Portion der Freude raubt. Als ich den Release trotzdem mit Freund*innen in meiner Stammkneipe feiere, stecke ich mich (endlich) mit COVID-19 an und bin immer noch reichlich außer Atem, als ich das Buch in einer kleinen großen Liveshow in der Zeche Carl in Essen vorstelle. Irgendwie schaffe ich es sogar, in diesem Jahr noch einen Podcast zu produzieren: die Talksendung „Woher kennen wir uns?“
[Songs des Jahres 2022 damals]
2023: Foo Fighters – Rescued
Omi und Taylor Hawkins sind im selben Jahr gestorben, was insofern besonders tragisch ist, als der Schlagzeuger der Foo Fighters 46 Jahre jünger gewesen war. Dave Grohl hatte zum dritten Mal einen seiner besten Freunde verloren, Monate später seine Mutter. Ob das der Beginn einer etwas verspäteten midlife-crisis war, in deren Verlauf jene Tochter entstand, die „außerhalb meiner Ehe“ geboren wurde, wie er auf Instagram schrieb, vermag ich nicht zu beurteilen — es war zumindest der Auslöser, „But Here We Are“ aufzunehmen, das beste Foo-Fighters-Album seit fast 25 Jahren, auf dem er wieder einmal Trauer in Wut verwandelt und umgekehrt.
„Rescued“ ist einer der ersten Songs, den ich in meiner kleinen Musiksendung spiele, die ich in einem Anfall besonderer Geistesgegenwart auch „Coffee And TV“ genannt habe. Sie ist das, worauf ich Jahrzehnte lang gewartet hatte: die Möglichkeit, Songs in einem Podcast zu spielen, ohne in einem kostspieligen Bürokratiegewitter namens „GEMA“ unterzugehen. Das Ergebnis kann man zwar nur beim finsteren Tech-Konzern Spotify hören, aber entscheidender ist für mich eh, sowas überhaupt machen zu können. Aber wie so oft mit den schönen Dingen im Internet: Nur ein Jahr später zieht Spotify den Stecker und schafft die Möglichkeit, solche Musiksendungen zu bauen, direkt wieder ab.
„But Here We Are“ wird auch 2024 wieder für mich da sein: Als meine geliebte Tante Dörte stirbt, eine großartige Grundschullehrerin, höre ich den Song, den Dave Grohl für seine verstorbene Mutter Virginia geschrieben hat, die ebenfalls Lehrerin gewesen war: „The Teacher“.
2024: Ezra Collective feat. Yazmin Lacey – God Gave Me Feet For Dancing Das ist mir in all den Jahren auch noch nicht passiert, dass ich – trotz aller Playlisten, Notizen-Apps und Zettel – beim Zusammenstellen der „Alben“ oder „Acts des Jahres“ ein Album bzw. einen Act komplett vergesse. Ob’s am Alter liegt oder dem schon erwähnten Überangebot?
Immerhin habe ich hier die Gelegenheit, den Fehler schnell halbwegs wettzumachen: „God Gave Me Feet For Dancing“ von Ezra Collective und Yazmin Lacey. Ezra Collective sind eine Jazz-Fusion-Band aus London, die Elemente aus Afrobeat, Calypso, Reggae, Hip-Hop, Soul und Jazz verbinden und deren Songs bei BBC Radio 6 Music, meiner aktuellen Hauptquelle für neue Musik, rauf und runter läuft. Es ist diese Musik, die ich mit dem leichtfüßigen Sommer 2024 verbinde, als wir alle denken, dass Kamala Harris US-Präsidentin werden wird, und die Olympischen Spiele in Paris ein Gefühl von Hoffnung, Zuversicht und Gemeinschaft vermitteln, das wir so lange vermisst hatten. Sich ein paar Monate später über die eigene vermeintliche Naivität lustig zu machen, wäre aber auch zynisch.
[Songs des Jahres 2024 von „damals“]
Epilog „Am Ende wird alles okay sein — und wenn es nicht okay ist, ist es nicht das Ende“, hat der brasilianische Autor Fernando Sabino geschrieben und Weezer nannten ihr 2015er Album „Everything Will Be Alright In The End“. „Schwimm für die Songs, die noch geschrieben werden“, hat Marcus Wiebusch von kettcar auf seinem Soloalbum gesungen — und dabei Andrew McMahon referenziert. Alles hängt immer mit allem zusammen.
Social Media ist, spätestens seit sich die Tech-Oligarchen um Donald Trump scharen, ein dumpster fire, das unsere Seelen und Gehirne verzehrt. Doch das hier sind nur die ersten 18 Jahre und die ersten 18 Songs. Coffee And TV ist mein Zuhause und ich plane zu bleiben, mein Freund.
Denn wie sang einst Graham Coxon in jenem Blur-Song, dessen Titel wir uns damals einfach gemopst haben?
Take me away from this big bad world
And agree to marry me
So we can start over again
(Auf das mit dem Heiraten würde ich nach den oben erwähnten Erfahrungen allerdings gerne verzichten.)
Zugegeben: Es gab schon mal Zeiten, in denen es einfacher erschien, optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Selbst jene Social-Media-Plattformen, die ursprünglich mal dazu gedacht waren, Urlaube, Sonnenuntergänge und fancy Getränke zu posten, um das gute Leben zu feiern, sind voll mit irgendwelchen Ungeheuerlichkeiten, die irgendwelche Dritten irgendwo anders ins Internet geschrieben haben. Mal davon ab, dass die Betreiber dieser Plattformen ungefähr so sympathisch und zukunftsweisend sind wie Mineralölkonzerne.
Also: Raus aus den sogenannten Sozialen Netzwerken, zurück in die Blogs und ein paar Leuchtfeuer anzünden!
Der Kollege Dirk von Gehlen, dessen ungebrochenen Glauben an das Internet als Werkzeug der Aufklärung ich vorsichtig skeptisch bewundere, hat etwas gemacht, was man früher „ein Blog-Stöckchen werfen“ nannte: sowas ähnliches wie in der Schule in ein Freundschaftsbuch einzutragen. Ich hab noch nie bei so etwas mitgemacht, aber extreme Zeiten erfordern extreme Maßnahmen!
Drei Dinge, für die ich mich engagiere:
Umweltschutz. Ich war zehn Wochen alt, als meine Eltern mich zu einem der ersten Grünen-Parteitage mitgenommen haben, und war in den Jahren danach auf zahlreichen Demos gegen Atomkraft, FCKW und Steinkohleverstromung. Ich kann nicht fassen, dass ich 40 Jahre später immer noch deshalb auf die Straße gehen muss, aber gut: Am 14. Februar ist die nächste „Fridays For Future“-Demo in Bochum.
Eine offene, freie Gesellschaft. Ich war noch keine sechs Jahre alt, als meine Eltern mich zu einer Gedenkveranstaltung mitnahmen: 50 Jahre Ausbruch des 2. Weltkriegs. Es war noch vor Rostock-Lichtenhagen, aber wenige Monate, nachdem die Republikaner bei der Europawahl in Deutschland 7,1 % erreicht haben. Ich kann nicht fassen, dass ich 35 Jahre später immer noch deshalb auf die Straße gehen muss, aber gut: Am 14. Februar ist auch die nächste Demo gegen rechts in Bochum.
Gutes Verstärken. Es ist meine tiefste Überzeugung, Dinge, die mir Freude bereiten, mit anderen Menschen teilen zu wollen. Deswegen mache ich sowas wie „5 Songs, die Ihr im Januar gehört haben solltet“, deswegen betreibe ich immer noch dieses Blog, deswegen schreibe ich für Zeitungen und meinen Newsletter. Es macht mich immer ein bisschen fertig, wenn ich z.B. Musik auf Social Media teile und die Künstler*innen, ob sie meine Freund*innen sind oder wir uns gar nicht kennen, sich dann überschwänglich bedanken. Ich meine: Lieb, dass sie das tun, aber es sollte doch verdammt noch mal selbstverständlich sein, Dinge, die man gut findet, teilen und verbreiten zu wollen!
Zwei Phänomene, die mich positiv stimmen:
Künstler*innen, die weiter für Fortschritt kämpfen: Lady Gaga hat ihren Gewinn bei den gestrigen Grammys genutzt, um sich für Transrechte stark zu machen; Beyoncé ist die erste Schwarze Frau, die den Grammy für das beste Country-Album gewonnen hat.
Sonne. In Bochum ist seit Tagen strahlend blauer Himmel und das ändert doch meine Perspektive auf die Welt schon merklich.
Ein Zitat, das mir hilft:
„And so now I’d like to say – people can change anything they want to. And that means everything in the world. People are running about following their little tracks – I am one of them. But we’ve all got to stop just following our own little mouse trail. People can do anything – this is something that I’m beginning to learn. People are out there doing bad things to each other. That’s because they’ve been dehumanised. It’s time to take the humanity back into the center of the ring and follow that for a time. Greed, it ain’t going anywhere. They should have that in a big billboard across Times Square. Without people you’re nothing. That’s my spiel.“ (Joe Strummer)
Dieses kleine Popkultur-Blog wird in zehn Tagen volljährig (wait for it!) und weil wir so ein kreativer Laden sind und weil wir finden, dass es in diesen Zeiten dringend notwendig ist, schöne Dinge hervorzuheben, haben wir uns ein neues Format ausgedacht: 5 Songs, die Ihr im Januar gehört haben solltet!
Natürlich gibt es auch weiterhin unser beliebtes CTV-Mixtape mit den 5 Songs aus dem Video und vielen weiteren. Dieses Mal u.a. dabei: Neue Songs von Thursday, Heather Nova und Travis, ein Radiohead-Cover von Blossoms und Klassik vom südafrikanischen Cellisten Abel Selacoe. Philine Sonny ist natürlich genauso vertreten wie das Grand Hotel van Cleef — diesmal mit Amos The Kid.
Ich muss zugeben: Ich habe noch keine Minute der aktuellen Champions-League-Saison in diesem neuen Modus gesehen. Zum einen, weil ich kein DAZN habe (zu teuer und zu schlecht), zum anderen, weil sich weder der VfL Bochum noch Borussia Mönchengladbach hatten qualifizieren können.
Muss ich aber auch nicht, denn Tobias Ahrens und Max Dinkelaker haben gestern für „11 Freunde“ den letzten Spieltag der Vorrunde getickert, bei dem 18 Spiele (um mal meinen verstorbenen Großvater zu zitieren: „in Worten: achtzehn“) gleichzeitig stattfanden („36 Mannschaften, also circa 720 Fußballer, 123 Trainer und Betreuer, 7.000.000 Fans im Stadion“).
Und so konnte ich heute Morgen entspannt nachlesen, wie irrlichternd, hektisch, überfordernd und schlicht unverarbeitbar der gestrige Abend gewesen sein muss. Es ist ein großartiges journalistisches Werk, das mutmaßlich unterhaltsamer ist als die Veranstaltung selbst.
10. Pet Shop Boys
31 Jahre, nachdem sie mit „Go West“ in mein Leben getreten waren (und damit lange, bevor ich um Begriffe wie „queer“ wusste), haben die Pet Shop Boys ihr 15. Studioalbum veröffentlicht. „Nonetheless“ (Parlophone; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal, YouTube Music, Bandcamp) heißt es – „Nichtsdestotrotz“, was für ein schönes Wort! – und es zählt im Gesamtwerk zu den eher melancholischen Alben. Ansonsten machen Neil Tennant und Chris Lowe einfach weiter genau ihr Ding: Es geht um Liebe und Nachtleben, aber ebenso selbstverständlich um die ZDF-Hitparade und einen von Donald Trumps Bodyguards. Natürlich. Immer wieder erkennt man Versatzstücke aus älteren Songs, aber das ist ja Teil des Gesamtkunstwerks, wie wir spätestens seit „DJ Culture“ (dem PSB-Song von 1991, nicht dem Buch von Ulf Poschardt) wissen. Persönlicher Höhepunkt: Ich durfte für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ über das Album schreiben, jenes Blatt, in dem ich noch als Schüler über die Band gelesen hatte.
9. Vanessa Peters
Bevor Mark Zuckerberg beschloss, Instagram zur weiteren Zersetzung der Demokratie zu nutzen, konnte man dort tatsächlich Musik entdecken: Acts haben kleine Clips aus ihren Musikvideos als Werbung geschaltet und die gleichen Algorithmen, die mich jetzt von den Vorzügen des Faschismus überzeugen sollen (Vergiss es, Pudel!), haben mir dann überraschend präzise Songs vorgespielt, die mich sofort überzeugt haben. So bin ich jedenfalls 2021 auf die Amerikanerin Vanessa Peters und ihr Album „Modern Age“ aufmerksam geworden und seitdem verfolge ich ihr Schaffen. Damals hatte ich geschrieben: „Als hätten Aimee Mann, Suzanne Vega und Kathleen Edwards eine Supergroup gegründet.“ Das gilt immer noch und ich meine es als eines der höchsten Komplimente, denn auch „Flying On Instruments“ (Idol Records; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal, YouTube Music, Bandcamp) ist wieder ein Americana/Folk-Album, das mich an die besten Seiten der amerikanischen Kultur erinnert. Also an das Gegenteil von Mark Zuckerberg.
8. Maro
Maro ist immer das Beispiel, das ich bringe, wenn ich erklären will, dass der Eurovision Song Contest längst keine alberne Quatsch-Veranstaltung voll Eurodance-B-Ware ist (das war er in dieser Absolutheit noch nicht mal in den 1980er bis 2000er Jahren), sondern ein Musikfestival im klassischsten Sinne: Natürlich hätte ich auch auf anderen Wegen (das Internet existiert ja) von der jungen Musikerin mit dem bürgerlichen Namen Mariana Brito da Cruz Forjaz Secca und der wunderbar verschlafenen Stimme erfahren können, aber ihr Auftritt in Turin 2022 war dann doch ein ganz besonders beeindruckender Kennenlernmoment. Ende September habe ich sie endlich wieder live gesehen, durchaus angemessen im Konzerthaus Dortmund, und es war eines der schönsten, umarmendsten Konzerte, das ich je besucht habe. Wie junge Acts das so machen, hat sie während des ganzen Jahres immer wieder Songs herausgebracht, u.a. mit Parcels, vor allem aber mit dem Musiker Nasaya, der auf der französischen Insel Reunion im indischen Ozean aufgewachsen ist, wie Maro das Berklee College of Music besucht hat, und mit dem sie 2021 schon mal eine ganze EP mit vier Songs veröffentlicht hatte. Das gemeinsame Album „Lifeline“ (Secca Records; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal, YouTube Music) kam erst am 15. Januar raus, aber das bedeutet ja nur, dass Maro auch 2025 wieder zu meinen Acts des Jahres gehören kann.
7. Joy Oladokun
Auf das Musikjahr 2023 haben wir ja in einer gemeinsamen Sendung zurückgeschaut. Deswegen gibt es keine persönliche Bestenliste, die ich jetzt verlinken kann, und auf der Joy Oladokun mit ihrem Album „Proof Of Life“ meinen Platz 1 belegt hätte. Das wird nicht der Hauptgrund sein, warum sie 2024 direkt das nächste Album, ihr fünftes, veröffentlicht hat, aber auch „Observations From A Crowded Room“ (Amigo Records; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal, YouTube Music) ist wieder verdammt gut geworden. Sie macht sich Gedanken über den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Fortschritt, sie singt über die Kraftanstrengungen, überhaupt aufzustehen und weiterzumachen — und all das hat so viel Groove, so viel schöne Melodien und so viele Gospel-Chöre, dass einen diese vermeintlichen Widersprüche ganz aufwühlen. Aber war das bei Marvin Gaye, Sam Cooke oder Aretha Franklin anders?
6. MJ Lenderman
Manchmal gibt es ja so Namen und Alben, von denen man so oft in verschiedenen Zusammenhängen liest, dass man sie einfach hören muss: Das vierte Soloalbum von MJ Lenderman war so eins und das Überraschende war eigentlich nur, dass es nach vielen Jahren mal wieder ein Indierock-Album war, über das so viele Leute sprachen — und dass es mir dann auch noch gefiel! „Manning Fireworks“ (Anti; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal, YouTube Music, Bandcamp) klingt, als würde ich es schon mein halbes Leben kennen. Oder, anders: So, wie wenn The Get Up Kids und The Weakerthans sich vor 20, 25 Jahren in einer Scheune in Montana, in der zufällig noch ein paar Folk-Musiker sitzen, gegenseitig gecovert hätten.
5. Christian Lee Hutson
Ich kann gar nicht mehr rekonstruieren, wie ich zum ersten Mal „After Hours“ von Christian Lee Hutson gehört habe. Ich weiß nur, dass die 3:12 Minuten, die der Song dauert, noch nicht durch waren, als ich ihn meinen engsten Freund*innen schon wärmstens – lass alles stehen und liegen und hör es Dir JETZT an! – ans Herz gelegt hatte. Entsprechend ist es auch mein Song des Jahrs 2024 geworden. Wenn ich Songs so doll liebe, habe ich manchmal Angst vor dem Album, dem sie vorangingen, aber „Paradise Pop. 10“ (Anti; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal, YouTube Music, Bandcamp) löste sogar mehr Versprechen ein, als die Single aufgestellt hatte: Songs wie „Autopilot“, „Water Ballet“ oder besagtes „After Hours“ klingen, wie sich die eigene Bettdecke an einem diesigen, kalten Sonntagvormittag anfühlt. Es gibt Klavierballaden, melancholische Folksongs und etwas lärmendere Folkrock-Nummern für Fans von Elliott Smith, The Weakerthans und Bright Eyes. Jetzt machen also Menschen, die 1990 geboren sind, Musik, wie ich sie 2004 gehört habe.
4. Philine Sonny
Ich weiß nicht, ob man es merkt, aber ich habe einen gewissen Hang zum Lokalpatriotismus. Man müsste mir schon sehr viel Geld bieten, damit ich das Ruhrgebiet oder auch nur Bochum-Ehrenfeld verlasse. Wenn es um Philine Sonny geht, ist es deshalb, als würde der VfL Bayern München schlagen: Sowas ist hier möglich! Und wer wohnt schon in Düsseldorf? Dabei hat das ja alles gar nichts mir mir zu tun und vielleicht auch nur in Teilen mit der Stadt. Im März, jedenfalls, hatte die 23-jährige Musikerin und Songschreiberin ihre zweite EP „Invader“ (Nettwerk; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal, YouTube Music, Bandcamp) veröffentlicht, danach noch jede Menge Singles. Im Herbst begann sie dann ihr nächstes Projekt, bei dem sie Songs in 15 Minuten schreibt, innerhalb weniger Tage aufnimmt und dann so schnell wie möglich veröffentlicht. „So schnell wie möglich“ bedeutet bei einem Label – bei Nettwerk erscheinen auch Angus & Julia Stone, The Paper Kites, Joshua Radin und Great Lake Swimmers – und Streamingdiensten immer noch rund zweieinhalb Monate, aber das ganze Konzept und die Daten im Songtitel verleihen den Songs eine gewisse Unmittelbarkeit. Und ich tue, was ich kann, um Philine Sonny noch berühmter zu machen — zum Beispiel in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ über sie schreiben.
3. Suzan Köcher’s Suprafon
Wenn jemand „psychedelisch“ sagt, denke ich an Pink Floyd, Ölprojektoren und die Generation unserer Eltern, die bekifft auf einem Flokati liegt. Okay, ich komm noch mal rein: Wenn jemand „psychedelisch“ sagt, denke ich an David Lynch, die mittleren Byrds und orangefarbene U‑Bahn-Haltestellen. Habt Ihr die Bilder? Okay, dann kommt jetzt der Soundtrack, denn Suzan Köcher’s Suprafon machen laut eigener Aussage Psychedelia (nur, damit Ihr’s schonmal gehört habt: im Englischen ist das „P“ stumm), aber auch Dream Pop, Krautrock, Disco und Desert Americana. Tatsächlich entstehen in meinem Kopf sofort Filme der Coen Brothers, Wim Wenders und Paul Thomas Anderson; ein Steppenläufer rollt definitiv durch die staubige Landschaft und es ist entweder immer gerade Mittag oder die Zeit kurz nach Sonnenuntergang. Also: Alltag im Bergischen Land, denn Suzan Köcher selbst stammt aus Solingen, ihre Band aus dem Umkreis (und damit ein Strich mehr bei „Ruhrgebiet“). Ihr drittes Album „In These Dying Times“ (Unique Records; Apple Music, Spotify, Amazon Music, YouTube Music, Bandcamp) wäre, wenn es aus den USA käme, überall in den Jahresbestenlisten. So wenigstens bei mir.
2. kettcar
Er habe mehr durch Musik gelernt als durch Bibliotheken, hat Thees Uhlmann mal gesungen (und dabei Bruce Springsteen referenziert) und er hat leicht reden, denn unsere gemeinsamen Buddies von kettcar veröffentlichen auf Grand Hotel van Cleef, dem Label, das sie mit ihm gemeinsam betreiben, ja regelmäßig Alben, deren Songs ganze Bücher ersetzen. So gesehen ist „Gute Laune ungerecht verteilt“ (Grand Hotel van Cleef; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal, YouTube Music, Bandcamp) wieder eine 45-minütige Bibliothek zum Hören: Die brachiale Single „München“ ist ein eigenes, umfassendes Werk über Alltagsrassismus; „Rügen“ referiert die Freude und Nachteile des Eltern-Seins besser als es ein Buch irgendeiner Twitter-Berühmtheit je könnte; „Kanye in Bayreuth“ ist das feuilletonistische Essay über die Schwierigkeit, Werk und Autor zu trennen; „Einkaufen in Zeiten des Krieges“ die vertonte Kolumne über gestiegene Lebensmittelpreise und „Blaue Lagune, 21:45 Uhr“ der Antihelden-Roman, der in Rezensionen mit Tarantino verglichen wird. Dass das alles noch so schön erhebend klingt und man alles mitsingen kann, ist ja das eigentliche Kunststück, aber kettcar lassen es ganz leicht aussehen. Da wartet man auch gerne mal fünf Jahre drauf!
1. Japandroids
2024 war für viele von uns ein schwieriges Jahr, das in der zweiten Jahreshälfte völlig aus der Kurve zu fliegen schien: Donald Trump, AfD, Neuwahlen, dazu immer noch Krieg in der Ukraine und eine ungelöste Klimakatastrophe — und das war nur die Scheiße aus den Nachrichten, die uns alle betraf. Hinzu kamen private Schicksalsschläge und die immer absurder erscheinende Aufgabenstellung, auch noch den sogenannten Alltag bewältigen zu sollen. Am 25. Oktober starb meine geliebte Tante Dörte und ich war wirklich froh, dass ich neben meinem engsten Umfeld auch immer noch Musik hatte. Genau eine Woche zuvor war „Fate & Alcohol“ (schon wieder Anti — Label des Jahres!; Apple Music, Spotify, Amazon Music, Tidal , YouTube Music, Bandcamp) erschienen, das vierte und vorab schon als solches angekündigte letzte Album der Japandroids. Fragt mich nicht, wie Brian King und David Prowse diesen Sound mit nur einer Gitarre und einem Schlagzeug hinbekommen, denn ich habe sie leider nie live gesehen, aber das ist auch egal, denn für „Fate & Alcohol“ gilt, was Faithless damals in „God Is A DJ“ deklamierten: „This is my church / This is where I heal my hurts“. Wann immer ich vergessen hatte, dass ich am Leben bin, und wie sich das anfühlt, habe ich dieses Album gehört. Und es legte mir sacht seine Hand auf meine Schulter und gemeinsam wussten wir: Ja, unsere Hände sind blau und geschwollen, aber wir können daraus immer noch ein Herz formen (und zwar so wie Millennials, also richtig), eine Faust machen und sie in den Himmel strecken. Die Musik klingt immer noch, als würde sie vom ersten bis zum letzten Ton das Leben feiern, aber anders als auf den ersten Alben nicht aus jugendlicher Ignoranz heraus, sondern aus erwachsenem Verständnis und Trotz: Ja, das Leben enthält auch Enttäuschungen, Trauer und andere Tiefschläge und genau deshalb ist es so wertvoll und wunderschön. Nonetheless. Wenn meine Persönlichkeit zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben ein Album wäre, sie würde so klingen. „For a few hours, it’ll be alright, Baby!“
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Wenn Silvester vorbei ist, beginnt für mich eine Zeit der inneren Anspannung: Ich will unbedingt meine musikalische Rückschau auf das vergangene Jahr abschließen, muss aber auch erstmal den Alltag wieder rebooten. Ich weiß, dass Ihr nicht alle mit den Hufen scharrt und wütend werdet, wenn ich meine Liste später veröffentliche (oder gar nicht, wie in den Jahren, als das Kind ganz klein war und ich mit anderem beschäftigt war), aber irgendwie gehört es für mich ebenso zum Jahresabschluss wie das Abtakeln des Tannenbaums (der auch noch steht).
Beim Durchhören meiner Vorauswahl (ein ausgesprochen komplizierter Prozess, gegen den jede Papstwahl wie ein Kindergartenausflug aussieht) dachte ich immer wieder: „Das war musikalisch ein sehr guter Jahrgang!“ Gleichzeitig habe ich festgestellt, dass ich wirklich wenige Songs in ihrem Kontext gehört habe — also als Teil eines Albums. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich auf zehn Alben komme, die ich öfter als drei Mal gehört habe.
Ein paar Trends waren zu erkennen: Im Vereinigten Königreich kam Drum ’n‘ Bass sowas von zurück (und es interessierte, wie schon in den 1990er Jahren, hierzulande kaum jemanden im Mainstream); es gab überraschend viele junge Bands, die wie The Strokes klangen, eine Band, die für Menschen unter 30 eigentlich eine Oldie-Band sein muss, und ich habe – besonders im Vergleich zu vor 15, 20 Jahren – ziemlich viele Songs dabei, die von Frauen gesungen werden.
Bei vielen Songs habe ich zwar keine Ahnung, wie ich überhaupt auf sie aufmerksam geworden bin, aber sie haben mich dann eben doch über Monate begleitet, bei allem, was man so tut und erlebt. Es wurde aber auch irgendwann beliebig: Bei vielen Songs dachte ich, wenn ich sie im Laufe des Jahres ein paar Mal öfter gehört hätte, hätten sie am Ende auch auf einem einstelligen Rang landen können. Über 100 Songs in der Vorauswahl und fast alle sind gleich gut?
Es gibt also jetzt eine Liste mit 100 Songs (Sorry!). Man kann sie auf Shuffle hören, dann ist sicherlich viel Schönes dabei, aber vor allem die ersten zehn, zwanzig Songs folgen auch einer gewissen Hierarchie:
10. Crowded House – Oh Hi Ich verrate Euch jetzt ein Geheimnis: An mehr als 182 Tagen im Jahr halte ich Neil Finn für einen bedeutenderen Songwriter als John Lennon und Paul McCartney. Etliche der Songs, die er für die gerade mal vier Alben von Crowded House in den 1980er und 90er Jahren geschrieben hat, sind längst Klassiker; „Don’t Dream It’s Over“ ist für mich einer der schönsten Songs aller Zeiten (und wenn man ein Orgelsolo heiraten könnte: Hier würd ich’s tun!) und „Everyone Is Here“, das Album, das er 2004 mit seinem Bruder Tim aufgenommen hat, wäre bei meinen Top 10 für die einsame Insel mit dabei. Seit ein paar Jahren sind seine Söhne Liam und Elroy Teil von Crowded House und zusammen haben sie letztes Jahr das Album „Gravity Stairs“ veröffentlicht. Nicht der ganz große Wurf, aber die Vorab-Single „Oh Hi“ vereint wieder eingängige Melodien mit einem schwerelosen Pop-Arrangement, wie man es von der Band seit knapp 40 Jahren kennt. Ein Klang, so vertraut wie das Wohnzimmer meiner Eltern.
9. Lambrini Girls – Company Culture
Eine englische all girl Punkband, die einen wütenden, kompromisslosen und trotzdem lustigen Song über Sexismus am Arbeitsplatz spielt? Count me in!
8. Bon Iver – Speyside
Ich möchte ehrlich sein: So ganz hab ich nicht alles verstanden, was Justin Vernon nach dem zweiten Bon-Iver-Album „Bon Iver“ gemacht hat. Dieses Gezirpe, die komischen Songtitel, die 42 Gastsänger*innen — aber Vernon war von Anfang an über so viele Zweifel erhaben, dass ich den Fehler natürlich bei mir gesucht habe. Jetzt hat er die Akustikgitarre wiedergefunden und die Drei-Song-EP „SABLE,“ (nur echt in Großbuchstaben, mit Komma und vier Tracks, weil der erste nur Geräusch ist) klingt, als sei sie der noch kleinere Anbau zu der Waldhütte, in der im Winter 2006/07 das Debütalbum „For Emma, Forever Ago“ entstanden ist. „Speyside“ klingt entsprechend, wie nach einer langen Reise wieder zuhause anzukommen.
7. Manic Street Preachers – Decline & Fall Ich bin jetzt seit fast 25 Jahren Fan der Manic Street Preachers; sie haben mich durch die Oberstufenzeit begleitet und politisiert. Ihr letztes richtig gutes Album ist jetzt auch schon vierzehn Jahre alt — und dann ballern sie plötzlich so eine Single raus: eine Piano-Hook wie bei ABBA, Gitarren wie bei Guns ‘n’ Roses und eine Gesangsmelodie, die ungefähr so eingängig ist wie ein gelungenerer Schlager. Der Text handelt davon, im Angesicht einer verfallenden Welt die kleinen Wunder zu feiern — vielleicht ein bisschen fatalistisch für eine Band, die die meiste Zeit ihrer Karriere die kommunistische Weltrevolution anzetteln wollte, aber in Zeiten, in denen sich so viele immer radikaler äußern, ist es auch auf eine Art radikal, das Gegenteil zu tun. Am 31. Januar erscheint dann auch endlich das neue Manics-Album, dessen Titel ebenfalls perfekt in unsere Zeit passt: „Critical Thinking“.
6. Ider – You Don’t Know How To Drive
Wir waren bei Coffee And TV schon große Fans von Ider, bevor das britische Elektropop-Duo überhaupt 2019 sein Debütalbum „Emotional Education“ veröffentlicht hatte. Der Bildspender für den Titel dieser Single ist die männliche Unfähigkeit, sich im Straßenverkehr zu orientieren, aber immer gute Ratschläge zu geben — und das ist nur die erste Strophe, denn die burns werden danach noch viel, viel gemeiner: „I wanna throw your shit in the middle of the street / Really make a big scene and burn your red SG / Delete the files of your solo EP, yeah no one’s gonna hear it now“, singen Megan Markwick und Lily Somerville im Refrain und vielleicht muss man ein paar Musiker im Bekanntenkreis haben, um die Tiefe und Schärfe dieser Zeilen voll würdigen zu können, aber lasst es mich so sagen: Das hier ist die nukleare Option — aber sehr, sehr lustig! Das dritte Ider-Album „Late To The World“ erscheint am 21. Februar; Ende März spielen sie in Hamburg, Berlin und Köln.
5. MJ Lenderman – She’s Leaving You
Ich hätte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass es noch mal einen Act wie MJ Lenderman geben würde: klassischer Indierock, den Menschen zwischen 16 und 61 gut finden und über den eine Zeitlang wirklich alle in meinem Umfeld reden. „You can put your clothes back on / She’s leaving you“ ist kein ganz schlechter Anfang, es wird danach aber noch besser: Es fällt schwer, den Refrain „It falls apart, we all got work to do / It gets dark, we all got work to do“ nicht auf das allgemeine Weltgeschehen zu beziehen — aber was bezieht man dieser Tage nicht darauf? Dabei ist der Song doch eigentlich das „Sie ist weg“ der Generation Z (hoffe ich).
4. kettcar – Auch für mich 6. Stunde
Ja, ja, natürlich: „München“ hatte mehr Wucht, war politischer und wichtiger — so wie damals „Sommer ’89“. Aber kettcar benennen ja nicht nur Probleme, sie haben immer auch Trost dabei: „Ein Bengalo in der Nacht“. So ist „Auch für mich 6. Stunde“, der Opener ihres sehr, sehr guten 2024er Albums „Gute Laune ungerecht verteilt“ vielleicht eher der Zwilling von „Ankunftshalle“ vom Vorgänger „Ich vs. Wir“: Ja, da ist ganz schön viel Scheiße in der Welt, aber wir müssen da nicht alleine durch. Und das ist für mich dann die noch schönere Botschaft, getragen von diesem wunderbaren Snow-Patrol-Arrangement.
3. Philine Sonny – In Denial
Dafür, dass sie erst seit wenigen Jahren Musik veröffentlicht, gehört Philine Sonny schon sehr deutlich zu unseren Lieblings-Acts. Okay: Sie wohnt ja auch in Bochum, aber das hier ist mehr als Lokalpatriotismus, das ist „Ich fänd’s auch geil, wenn es aus den USA käme und bei All Songs Considered und Pitchfork vorgestellt würde“. Im März erschien ihre EP „Invader“, darauf auch „In Denial“, ein langjähriger fan favorite bei den Konzerten. Dieses „Somebody out there“ muss man mal live erlebt haben, wie das Publikum es mitsingt.
2. Japandroids – Positively 34th Street
Kann man mit über 25 noch glaubhafte Liebeslieder schreiben? Ben Folds war 34, als er „The Luckiest“ aufnahm; Marcus Wiebusch 43 bei „Rettung“. Also: Ja. Brian King ist 41, als das finale Album seiner Band Japandroids erscheint. „Positively 34th Street“ ist nicht nur ein Verweis auf Bob Dylan, es ist auch eines der erwachsensten Liebeslieder, das ich je gehört habe. Und eines der schönsten. Wie man auch nach Jahren, nach all dem Chaos, das wir „Leben“ nennen, noch an eine Person von früher denken kann; wie man es noch mal versucht, immer wieder hadert und zweifelt und die Geschichte vielleicht doch noch gut ausgeht, zumindest aber erstmal überhaupt noch anfängt, das ist schon grandioses, lebensnahes Songwriting. Und das alles in diesem klassischen Hüsker-Dü-treffen-Bruce-Springsteen-Sound, den Japandroids über ihre vier Studioalben gepflegt haben: Dieser Song ist das Gegenteil von midlife crisis, von Porsche, Goldkettchen und die Demokratie zerstören. So klingen Männer, die es irgendwie doch noch geschafft haben; geschunden zwar, aber im Einklang mit sich und ihren Gefühlen.
1. Christian Lee Hutson – After Hours
Seit dem Release Anfang Juli lag ich meiner gesamten peer group in den Ohren, dass sie sich bitte, unbedingt, keine Zeit zu Warten, diesen Song anhören sollen. Nein: müssen! „After Hours“ klingt, als würde ich es seit 25 Jahren kennen, aber ich kann nicht genau sagen, an was mich Stimme und Musik erinnern: Nick Drake? Nein. The Weakerthans? Auch nicht. Vor allem war Christian Lee Hutson vor 25 Jahren gerade acht und hat (hoffentlich, denn das Wort „fuck“ kommt auch drin vor) noch nicht solche Songs geschrieben. Refrains gibt’s keine, dafür Strophen, die sich frei assoziativ von Spätis im Himmel über die Schauspielerin Catherine O’Hara bis zur Feststellung „The good stuff is behind a paywall“ erstrecken. Es war ein wildes Jahr für mich, vor allem in der zweiten Hälfte, aber dann war dieser Song immer für mich da, der sich anfühlt wie in der warmen Badewanne einzuschlafen (Vorsicht bitte!). Einatmen, ausatmen. „It’s crazy I know, I’ve got nowhere to go / But up here, I wear my seatbelt“.
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Ja: Ich bin ein bisschen spät dran, aber die Feiertage, die Ferien und ein paar Computerprobleme haben mich aufgehalten.
Aber jetzt ist es endlich da: Mein Dezember-Mixtape, mit Songs, die ich in den letzten Wochen so gehört und für gut befunden habe. Dabei sind Tiny Moving Parts, in deren Album „Deep In The Blue“ ich mich gerade ein bisschen verliebt habe, Andrew W.K. und Kendrick Lamar, aber auch Maro, Paenda und Art School Girlfriend, die Ihr als aufmerksame Hörer*innen unserer leider eingestellten Musiksendung natürlich schon kennt.
The Zutons, von denen Amy Winehouses „Valerie“ ja im Original stammte, covern nach 17 Jahren „Back To Black“ zurück, der Berliner DJ Dirty Doering sampelt – wenn ich das richtig erkannt habe – ukrainische Folklore und Horsegirl erinnern auf ganz bezaubernde Weise an den „Juno“-Soundtrack.
Viel Spaß! (Und: Ja, die Bestenlisten fürs Jahr 2024 kommen natürlich auch noch!)
Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat heute in einer – zugegebenermaßen schön bebilderten – Presseerklärung bekanntgegeben, wie ihr „Wort des Jahres 2024“ lautet: „Ampel-Aus“.
Gemeint ist damit das Scheitern der Bundesregierung aus SPD (rot), FDP (gelb) und Grünen (nun …), die im sogenannten Volksmund als „Ampel-Koalition“ oder schlicht als „Ampel“ bekannt war.
Nun zögere ich als studierter Linguist, die GfdS (nicht zu verwechseln mit dem „Verein Deutsche Sprache“, einer Art Vorfeld-Organisation der AfD) zu kritisieren, aber ich bin der Meinung, dass mit dieser Auszeichnung eine zunehmende Infantilisierung der Polit-Kommunikation gewürdigt und damit auch weiter vorangetrieben wird.
Bei dem legendär-öden Pressetermin in der Bayerischen Vertretung in Berlin, auf dem er Friedrich Merz mit einem mittel-enthusiastischen „Ich bin damit fein“ zum Kanzlerkandidaten der Union kürte, sprach Markus Söder mehrfach vom „Ampelschaden“, als sei er ehrenamtlicher Bürgermeister einer Kleinstadt, die über eine einzige Kreuzung verfügt. Dem Adjektiv „staatstragend“ kam der bayerische Ministerpräsident damit so nahe wie der Wachtmeister Dimpfelmoser, aber den würde Söders Kernzielgruppe, der Stammtisch (bzw. dessen Bewohner), wahrscheinlich auch nach zwei Maß Bier noch freundlich grüßen.
Die „Ampel“, das ist für Menschen, die auf Social Media gerne erklären, dass sie „selbst denken“, die Vorstufe zu „rot-grün-versifft“, zum „Kinderbuchautor“ Robert Habeck, zum müffeligen Namenswitz „Greta Thunfisch“: eine vermeintlich originelle Formulierung, die man irgendwo zwischen „Welt“-Kommentarspalte, Gabor Steingarts Lebenswerk und Facebook aufgelesen hat, die man als Erkennungszeichen für Gleichgesinnte vor sich herträgt und die ihre eigene Replik gleich mitbringt: „Okay, Boomer!“
„Ampelzoff“ war schon 2023 unter den „Wörtern des Jahres“ gewesen, was eine gewisse Fixierung auf Wörter der Duden-Kategorie „veraltend“ nahelegt (Kunden, die „zoffen“ kauften, interessierten sich auch für „pennen“, „funzen“ und „bumsen“), andererseits sprechen die meisten weiteren Begriffe aus den Top 10 nicht dafür, dass sich die Gesellschaft für deutsche Sprache an das Luther’sche Diktum hält, dem Volk aufs Maul zu schauen: „Klimaschönfärberei“, „kriegstüchtig“, „Rechtsdrift“, „generative Wende“, „SBGG“, „Life-Work-Balance“, „Messerverbot“, „angstsparen“ und „Deckelwahnsinn“ wirken jedenfalls nicht, als könnten sie – um mal ein beliebiges Wort zu verwenden, das 2024 tatsächlich viel zu hören war – das popular vote gewinnen.
Von Guido Westerwelle ist ein überraschend poetischer (auch Joachim Ringelnatz und Ernst Jandl sind Poesie) Moment überliefert, in dem er einmal erklärte: „Wir gehen in keine Ampel, Schwampel und andere Hampeleien sind mit uns nicht zu machen.“ Das ist allerdings so lange her, dass der Fußballverein, für den Kevin Kampl heute spielt, noch gar nicht gegründet war.
Die allererste Regierungskoalition der Bundesrepublik aus CDU/CSU, FDP und DP hatte keinen Spitznamen, der sich bis heute erhalten hätte, was auch daran gelegen haben mag, dass man die Farben der Deutschen Partei (schwarz-weiß-rot) jetzt vielleicht nicht mehr als unbedingt nötig hervorheben wollte. 1953 wurde diese Koalition noch um den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten erweitert, wirklich in Erinnerung blieb aber eh nur der Bundeskanzler: Konrad Adenauer. Der konnte von 1957 bis 1961 alleine (also: mit absoluter Mehrheit für die Union) regieren und saß ab 1961 einer Koalition vor, die man heute „schwarz-gelb“ nennen würde (oder, für die Teilzeit-Komiker der Hauptstadtpresse: „BVB“), damals aber nicht, weil die FDP Gelb erst seit 1972 einsetzt. Entsprechend regierte sie mit der SPD zusammen auch als „sozial-liberale Koalition“, was heute geradezu rührend aussagekräftig wirkt, wo man derlei Inhaltsangaben nur noch in bizarren Schwundstufen wie dem „Gute-Kita-Gesetz“ begegnet. Die Regierungen von 1966–1969, 2005–2009 und 2013–2021, die aus Union und SPD bestanden, nannte man „große Koalition“, weil sie – zumindest anfangs – eine erhebliche Mehrheit der Abgeordneten abdeckte.
In den 1980er Jahren begann das Farbenspiel. Das hat wenig mit dem gleichnamigen Album von Helene Fischer zu tun, wohl aber mit ihrem Namensvetter Joschka. Einer der vielen ungeschriebenen Artikel meines Jahres hätte deshalb die Geschichte dieses Begriffs zurückverfolgen sollen (denn ich liebe wenig mehr an meiner journalistischen Arbeit, als mich stundenlang durch Archive zu wühlen, eine erstaunliche Menge Beifang mit meinen peers zu teilen und daraus hinterher einen Text zu schnitzen, bei dem die Redaktion kritisch eine Augenbraue hebt und sagt: „Das ist jetzt selbst für Deine Verhältnisse extrem nerdig!“), bis in die frühen 1990er Jahre und zu einem Mann namens Björn Engholm, der für kurze Zeit das war, was nach ihm viele waren: Der schnell vergessene Hoffnungsträger der SPD.
Vorbei die Zeiten wie im November 1992, als die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb:
Fertig ist sie, die ‚Ampelkoalition‘, die wir deshalb in Gänsefüßchen setzen, weil wir uns unter diesem Gebilde technisch nichts vorstellen können.
Dass Naturwissenschaften im öffentlichen Diskurs eher eine Nebenrolle spielen, wissen wir spätestens seit der Covid-19-Pandemie, und zu den Dingen, die über Eure Vorstellungskraft gehen, gehört allenfalls eine Bobmannschaft aus, genau: Jamaika.
In der medialen Dauer-Erregung schon lang vergessen ist das Wort „Schwampel“ (für: „schwarze Ampel“), das Jörg Schönenborn am Wahlabend 2005 mit besorgniserrgendem Verve in den aktiven Wortschatz seiner Gesprächspartner*innen und Zuschauer*innen überführen wollte. Es klingt, als würde es etwas sehr, sehr Ekliges beschreiben — mutmaßlich das knorpelige Stück Fleisch, das man beim Mittagessen bei der „feinen“ Oma plötzlich im Mund hat und sich nicht auszuspucken traut (was, seien wir ehrlich, andererseits nah dran ist an dem, was man von einer schwarz-gelb-grünen Koalition erwarten kann).
Dann hat irgendjemand den Flaggen-Atlas seines Kindergartenkindes mit in irgendeine Redaktion gebracht und nach intensivem Studium und sicherlich tagelangen Konferenzen wurde beschlossen, fürderhin den Begriff „Jamaika-Koalition“ zu verwenden. Heute könnte man über die Gleichsetzung der Begriffe „schwarze Ampel“ und „Jamaika“ noch mal ganze post-koloniale, rassismuskritische Diskurse aufsperren, aber der Gelbe Wagen, er ist inzwischen in jeder Hinsicht weitergerollt, und es liegt eine feine Ironie darin, dass die Cannabis-Legalisierung eben nicht von einer Jamaika-Koalition beschlossen wurde. (Als Led Zeppelin einen Reggae-lastigen Song aufnahmen, nannten sie ihn „D’yer Mak’er“, was man [dʒəˈmeɪkə] aussprechen sollte, also wie den Inselstaat, was The Hold Steady in ihrem Song „Joke About Jamaica“ noch mal thematisieren, uns aber leider gerade nirgendwohin bringt.)
Der Flaggen-Atlas blieb in der Redaktion und erwies sich als praktisch, als schwarz-rot-grüne Regierungsbündnisse gebildet und benamt werden mussten: „Afghanistan“ hatte einen in vieler Hinsicht unglücklichen Beiklang (und nach Gras auch noch Opium in die politische Kommunikation einzuführen, hätte vielleicht auch merkwürdig gewirkt — eine „Kolumbien“-Koalition aus SPD, FDP und AfD scheint wenigstens erstmal ausgeschlossen), weswegen sich die Medien mehrheitlich auf „Kenia“ verständigten.
Die weiteren tektonischen Ereignisse in der Parteienlandschaft stellen Redaktionen und Parteien vor immer neue Probleme: Für schwarz-rot-lila hatte nichtmal mehr Sheldon Cooper eine Flagge parat, weswegen sich Berichte aus Thüringen nun um eine „Brombeer-Koalition“ ranken. Und anstatt dass irgendjemand mal innehält und sich (und bestenfalls auch andere) fragt, ob das nicht langsam alles ein bisschen albern wird, wird wahrscheinlich schon wertvolle Arbeitszeit mit der Frage verschwendet, was – zum Henker – eigentlich rot-grün-lila sein könnte oder schwarz-gelb-lila (Menschen mit Gastro-Erfahrungen wissen: Erbrochenes nach Weihnachtsmarkt-Besuch).
Angesichts der angeblichen Polarisierung der Gesellschaft (auch hier hilft ein Blick in Zeitungen von, sagen wir mal: 1968) und der damit einhergehenden Schwarz-Weiß-Einteilung bietet sich als nächste Eskalationsstufe vielleicht eine „Panda-Koalition“ an. Oder einfach, denn jetzt ist auch alles egal: eine „Koalalition“.
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