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Musik Leben

25 Jahre „Reload“

Dieser Eintrag ist Teil 8 von bisher 8 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Tom Jones - Reload (abfotografiert von Lukas Heinser)

Zum ersten Mal von Tom Jones gehört habe ich, wie vermutlich die meisten Menschen meiner Generation, in „Mars Attacks!“, dem übersehenen Meisterwerk von Tim Burton. In dem Film greifen Marsianer die Erde an und sie tun das unter anderem in Las Vegas, während Tom Jones auf der Bühne eines Casino-Hotels steht und – natürlich – „It’s Not Unusual“ singt. Jones spielt sich selbst, er wird im weiteren Verlauf des Films mit Annette Bening und Janice Rivera zu den Tahoe-Höhlen fliehen und, nachdem die Marsianer besiegt sind und ein Falke auf seinem Arm gelandet ist, erneut „It’s Not Unusual“ anstimmen. Eines der Top-10-Enden der Filmgeschichte. (Falls Ihr „Mars Attacks!“ noch nie gesehen habt: Es ist, seit ich mit 13 im Kino war, einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Auch mehr als 25 Jahre später muss ich immer noch sagen: 10/10, ein Meisterwerk für alle Zeiten. Guckt ihn Euch an!)

Für meine Eltern und ihre Generation war Tom Jones damals im Wesentlichen eine etwas abgehalfterte Witzfigur, nicht unähnlich den ehemaligen Schlagerstars, die bei Baumartkeröffnungen sangen. Es waren die zynischen 1990er und die Qualitäten, die es braucht, um Las Vegas residencies und Baumartkeröffnungen zu bestehen, wurden allenfalls von Götz Alsmann gewürdigt. Da konnte auch sein Mini-Comeback von 1994 nichts dran ändern, als er gemeinsam mit The Art Of Noise „Kiss“ von Prince coverte und mit seiner Version für nicht wenige Kritiker das Original übertraf.

Womöglich war es eine Mischung aus 1990er-„Ironie“ und Teenager-Trotz, aber irgendwie fand ich Tom Jones cool. Entsprechend überrascht war ich, als ich im Herbst 1999 in einem Elektronikmarkt ein neues Album von ihm sah, gemeinsam mit Gaststars wie The Cardigans, Robbie Williams, Natalie Imbruglia und Simply Red, die mir natürlich etwas sagten. Irgendwie muss ich auch erkannt haben, dass es sich um jede Menge Coverversionen und Neueinspielungen handelte, denn ich war enttäuscht, dass „It’s Not Unusual“ nicht dabei war, und so habe ich die CD zu diesem Zeitpunkt nicht gekauft.

Doch dann kam der Auftritt bei „Wetten, dass ..?“: Nina Persson und die Jungs hatten sich trotz aller eigenen Charterfolge vermutlich nie vorgestellt, einmal in dieser seltsamen deutschen Fernsehsendung, von der sich internationale Stars in first class lounges, Festival-Backstage-Bereichen und bei Preisverleihung fassungslos erzählen, vor einem sprechenden Bühnenbild (ja, in der Tat: ein brennendes Haus) einen Auftritt mit dem „Tiger“ zu absolvieren, bei dem sie so tun, als würden sie gerade ihre Version von „Burning Down The House“ live performen. Ich kannte das Original von den Talking Heads nicht (und war, als ich es dann endlich irgendwann mal hörte, nicht sonderlich beeindruckt), aber dieser Auftritt ließ mich direkt am darauffolgenden Montag zu R&K in Dinslaken fahren und „Reload“ doch noch kaufen.

Das Album war für mich der Erstkontakt mit Acts wie The Divine Comedy, Barenaked Ladies, Portishead, Catatonia und Stereophonics und die erste CD in meiner Sammlung, auf der The Cardigans und James Dean Bradfield von den Manic Streets Preachers zu hören waren — Acts, bei denen ich, wie auch bei Robbie Williams, in der Folge einen gewissen Hang zum Komplettismus entwickeln sollte. Es machte mich nicht nur mit „Burning Down The House“ bekannt, sondern auch mit Songs wie „All Mine“ (Portishead), „Never Tear Us Apart“ (INXS) und wahrscheinlich auch „Lust For Life“ (Iggy Pop). Kurzum: Es war ein Crashkurs in Sachen Popkultur der vorangegangenen Jahrzehnte und der Gegenwart.

„Are You Gonna Go My Way“ (Lenny Kravitz) mit Robbie Williams wirkte nicht nur wegen des Titels wie die Übergabe eines Staffelstabs. „Sometimes We Cry“ von und mit Van Morrison, der als Einziger einen seiner eigenen Songs sang, rührt mich bis heute. James Dean Bradfield von den Manic Streets Preachers liefert bei „I’m Left, You’re Right, She’s Gone“ (Elvis Presley) eine der besten Gesangsleistungen seiner Karriere ab (Tom Jones schreibt, wenn ich das richtig erinnere, in seiner Autobiographie, dass er Angst hatte, ein Duett mit einem so begnadeten Sänger zu singen, und ganz ehrlich: Wenn Ihr keine Gänsehaut bekommt, wenn JDBs Stimme zum ersten Mal in den Song reingrätscht, kann ich Euch auch nicht helfen!). Selbst die Ideen, die auf dem Papier schlecht wirken, funktionieren im (hoffentlich weit aufgedrehten) Lautsprecher: Sollte man Iggy Pops „Lust For Life“ covern? Nein. Außer, wenn Chrissie Hynde von The Pretenders und Tom Jones singen. Dann unbedingt.

Dass ein Album mit 17 Tracks so seine Längen hat, lässt sich schwer vermeiden: „Ain’t That A Lot Of Love“ mit fucking Simply Red? „She Drives Me Crazy“ mit Zucchero? Ist doch schön, wenn Tom Jones so viele angesagte Acts zum Mitwirken bewegen konnte!

Der große Hit, der zu einem späten signature song werden sollte, war indes ein anderer: „Sex Bomb“, die einzige Neukomposition des Albums, aus der Feder des Hannoveraner Musikproduzenten Mousse T., der mit seinem Debüt-Hit „Horny ’98“ bereits gezeigt hatte, dass er stumpfes Rumpf-Gemumpf extrem cool und clubtauglich klingen lassen konnte. Heute würde man anders darüber denken, wenn ein 59-jähriger Mann mit gefärbtem Haupthaar einer mutmaßlich sehr viel jüngeren Frau den Refrain „Sexbomb, sexbomb you’re a sexbomb / You can give it to me, when I need to come along / Sexbomb, sexbomb you’re my sexbomb / And baby you can turn me on“ angedeihen lassen wollte, aber man muss Popkultur immer aus ihrem Zeitgeist lesen, wenn man sie irgendwie verstehen will, und der Zeitgeist der ausgehenden 1990er Jahre war eben so, dass ich ihn auf einer Website, die auch Minderjährige besuchen können, schlecht ausformulieren kann.

Einmal angefixt, tauchte ich natürlich in das Gesamtwerk des walisischen Tigers ein — und, meine Güte, waren da Hits, Hits, Hits! Gut: Die Mörderballade „Delilah“ wurde in den letzten Jahren von Sportveranstaltungen verbannt und auch die Sujets manch anderer Songs sind schlecht gealtert, aber diese Stimme, die immer über irgendwelchen State-of-the-art-Arrangements schwebte, lässt zumindest mich einen Tacken mehr durchgehen lassen als es bei anderen Acts der Fall wäre.

Tom Jones war – nach den Prinzen 1994 – tatsächlich das zweite große Popkonzert, das ich in meinem Leben besuchte (im Mai 2000 mit meinen Eltern und meinem Bruder in der Arena Oberhausen; das Konzertplakat, das mein Vater auf dem Heimweg von einem Maschendrahtzaun abmontierte, könnte immer noch im Keller meiner Eltern stehen) und auch wenn natürlich keiner der „Reload“-Gäste dabei war, war es ein Erlebnis. Jones legte in der weiteren Folge einen beeindruckenden dritten (oder vierten oder fünften) Karriere-Akt hin, indem er aufhörte, seine Haare zu färben, und begann, Folk- und Americana-Alben aufzunehmen (ich habe im letzten Jahr zufällig festgestellt, dass er eine Version von „Charlie Darwin“ von The Low Anthem veröffentlicht hat!). Das hatte Folgen, denn als ich ihn zum zweiten Mal live sah, spielte er die meisten seiner Klassiker in kaum wiederzuerkennenden Arrangements. Das Publikum wirkte ein bisschen enttäuscht, aber mit damals schon 79 Jahren hatte er sich das Recht erarbeitet, seine Songs derart zu dylanisieren. Der überraschende Ort dieses überraschenden Auftritts: das Burgtheater Dinslaken.

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Tom Jones – Reload
(Gut/V2, 16. September 1999)
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Digital Leben Gesellschaft

Bitte werfen Sie eine Münze ein!

Zu Beginn der Fußball-Europameisterschaft der Herren ging eine Schalte des britischen „Sky Sports“-Reporters Kaveh Solhekol viral, in der dieser ein gewisses Unverständnis über die Zustände im Spielort Gelsenkirchen zum Ausdruck brachte. Sky Sports nahm das Video recht schnell wieder offline, ich habe bis heute keine Kopie davon finden können, aber die Berichterstattung (inkl. backlash und zu erwartender trauriger Repliken lokaler Medien und Persönlichkeiten) war enorm. Neben der tristen Innenstadt hatte Solhekol auch bemängelt, dass man fast nirgendwo mit Karte (gemeint war: mit Kreditkarte) zahlen könne.

Nun war ich aus offensichtlichen Gründen lange nicht in Gelsenkirchener Gastronomien unterwegs, aber für die Nachbarstadt Bochum kann ich berichten: Hier kann man inzwischen fast in allen Cafés, Eisdielen, Bäckereien und Bratwurstbuden mit Kreditkarte zahlen, idealerweise per Apple Pay — Handy dranhalten, fertig! Es ist – neben der völligen Abwesenheit von Terminen – eine der wenigen guten Sachen, die uns die COVID-19-Pandemie gebracht hatte: Der Alltag ist inzwischen derart durch-digitalisiert, dass sich Bochum fast wie Schweden, England oder weite Teile der Niederlande anfühlt, was die Ankunft in der Gegenwart angeht. Man kann sogar Eintrittskarten für die Bochumer Freibäder vorab online kaufen (was wir erst erfahren haben, nachdem wir 20 Minuten in der Mittagssonne in einer Kassenschlange gestanden hatten, aber: nun gut)!

Kaveh Solhekol und die angereisten Fußball-Fans sollten sich glücklich schätzen, wenn sie nicht auf Gebieten mit der deutschen Interpretation des Konzepts „Digitalisierung“ in Kontakt gekommen sind, die über das Bezahlen von Essen und Getränken hinausgehen.

Ich fühle mich wie ein Fensterrentner, der mit einem Behördenschreiben in die Kamera des Fotografen der Lokalzeitung wedelt, aber die RTL-Verbrauchersendung „Wie bitte?!“ wurde vor 25 Jahren eingestellt, von daher müsst Ihr jetzt mit meinen länglichen, anekdotischen Empörungen leben:

Ende April wurden im Bochumer Stellwerk Kupferkabel geklaut. Um irgendwie zur Arbeit nach Köln zu kommen, nahm ich ein Taxi zum Essener Hauptbahnhof und schickte die Quittung über 65 Euro gut gelaunt an die Deutsche Bahn. Weil angeblich noch Unterlagen fehlten, bekam ich ein Anschreiben per Post, auf das ich auch nur per Post antworten konnte (die Unterlagen waren frei verfügbar im Internet einzusehen, ich habe sie also ausgedruckt und physisch verschickt), und vier Wochen später eine Ablehnung, weil angeblich weitere Unterlagen fehlten, nach denen die DB Dialog GmbH am Anfang gar nicht gefragt hatte. Ich habe also mit der Hotline telefoniert, wo die freundliche, aber auch etwas hilflose Mitarbeiterin und ich in rund zehn Minuten immerhin das Rätsel lösen konnten, was mit „Fehlende Angaben und Belege“ eigentlich gemeint sei (ich konnte die Angaben überraschend per Telefon übermitteln), und bekam dann gestern ein Schreiben der Bahn, dass die Bearbeitung meines Falls noch ein bisschen dauern könne. Die bezaubernden Begründungen: Hochwasser und eine „angespannte Betriebsqualität“, was natürlich einerseits perfekt zu einem Konzern passt, der einen regelmäßig mit Sprachneuschöpfungen wie „Verzögerungen im Betriebsablauf“ erfreut, andererseits kaum etwas anderes bedeuten kann als: „Für uns ist alle siebte oder achte Stunde, wir gehen komplett auf dem Zahnfleisch, die Einsparungen werden uns alle töten, bitte helfen Sie uns!“

Anderes Beispiel: Die Deutsche Post hatte zwei Briefe verloren/nicht zugestellt, in denen die Firma Congstar mir eine SIM-Karte zustellen wollte (das ist noch mal ein eigenes Thema für sich, einigen wir uns auf: die Adressierung war missverständlich). Man kann, wenn man ein bisschen danach sucht, bei der Post online eine sog. „Briefermittlung“ beauftragen und bekommt dann auch eine Bestätigung per E-Mail — alles fein. Bis ich dann – passenderweise am gleichen Tag wie den letzten Brief der Deutschen Bahn – zwei Briefe der Post im Briefkasten hatte. Darin, jeweils: Ein Schreiben mit der Bestätigung, dass ich eine Briefermittlung beauftragt hatte inkl. Entschuldigung und Bitte um Geduld, auf der Rückseite ein Vordruck, den ich nutzen könne, falls der vermisste Brief inzwischen angekommen sei — und ein Rückumschlag, mit dem ich den Vordruck dann postalisch zurück an die Deutsche Post schicken könnte.

Am Ende sind es vermutlich wieder die immer gleichen Gründe aus der Bürokratiehölle („Dokumentenechtheit“, „Datenschutz“, „Haben wir immer schon so gemacht“), aber es ist ja nicht nur die fehlende Digitalisierung, die mich hier verzweifeln lässt: Da wurden fünf Din-A-4-Blätter bedruckt, zwei kleine Rückantwort-Kuverts in größere Briefumschläge gesteckt und das alles wurde quer durch Deutschland transportiert. Am Ende vielleicht immer noch umweltschonender als ein AI-Chatbot, aber eben doch nicht wirklich ökologisch. Und während ich annehme, dass die Deutsche Post ihre eigenen Briefe kostenlos zustellt, zahlt die Bahn auf alle Fälle Porto — bzw. natürlich nicht die Bahn selbst, sondern wir alle, indem wir immer teurer werdende Bahntickets kaufen.

Wir schreiben das Jahr 2024, 95 Prozent der Deutschen nutzen das Internet „zumindest selten“, selbst bei den Personen über 70 sind es 80 Prozent. Das größte außeramerikanische Softwareunternehmen, die Nummer 3 der Welt, kommt aus Deutschland und es gibt sicherlich auch jede Menge Software-Firmen, die Lösungen anbieten, die für alle Beteiligten Vorteile bieten.

Ich kann es selbst kaum fassen, dass ich die folgenden Worte, die auch in einen FDP-Mitgliedsantrag passen könnten, schreibe, aber: Sobald man sich nur einen Schritt von gewinnorientierten Unternehmen entfernt, die in einem echten Wettbewerb am Markt bestehen müssen, muss in diesem Land immer noch (fast) alles ausgedruckt werden. (Keine Angst, ich werde natürlich nicht und auf gar keinen Fall in die FDP eintreten. Die stellt ihre Kompetenz im Bundesministerium für Digitales und Verkehr ja selbst am Besten unter Beweis.)

Und es ist ja nicht so, dass die Deutsche Bahn ein besonderes Herz für jene Leute zeigen würde, die sich ohne Smartphone durchs Leben bewegen: Die Bahncard gibt es zum Beispiel nur noch digital. Es sind diese mixed signals, die alles noch schlimmer machen.

Die gute Nachricht, natürlich: Immerhin lebe ich nicht in Gelsenkirchen.

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Musik Leben

25 Jahre „The Man Who“

Dieser Eintrag ist Teil 7 von bisher 8 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Travis - The Man Who (abfotografiert von Lukas Heinser)

Ein allerletztes Mal habe ich die Single zuerst gehört. Denn das war ja früher so: Man kannte einen Song aus dem Radio (oder Musikfernsehen, um nicht ganz so alt zu erscheinen) und wenn man dann beschlossen hatte, vergleichsweise viel Geld in die CD zu investieren, fing das Album meist mit einem Song an, den man (noch) gar nicht kannte. Man wollte ja aber endlich den verkaufsfördernden Hit hören, dessentwegen man den Weg zum Plattenladen auf sich genommen hatte. Mit dem Fahrrad. An einem Samstagvormittag im Januar. In Dinslaken.

Ich weiß noch, wie ich auf der Couch im Wohnzimmer meiner Eltern lag (dem Dreisitzer an der Innenwand, nicht dem Zweisitzer an der Außenwand, in case you’re wondering) und Track 7 ausgewählt hatte: „Why Does It Always Rain On Me?“, diese überlebensgroße Charlie-Brown-Verliererhymne, die natürlich direkt zu einem 16-jährigen sprach, der sich irgendwie nie so ganz dazugehörig fühlte. Und danach dann das Album von vorne.

Travis waren einen Monat zuvor – sorry, wenn ich mich da wiederhole – Teil der „Rolling Stone Roadshow“ gewesen und mit Ben Folds Five und Gay Dad durch Deutschland getourt. (Ich weiß quasi nichts über Gay Dad. Ich habe, seit wir im Jahr 2005 die CD-Schränke bei CT das radio aufgeräumt haben, sogar ihr 1999er Album „Leisure Noise“ im Regal stehen, aber in all den Jahren nie gehört. Wenn man überlegt, welche Bedeutung Ben Folds Five und Travis in der Folge in meinem Leben einnehmen sollten, ist es eigentlich wahlweise ein Wunder oder eine Schande, dass Gay Dad als fünftes Rad am Wagen derart an den Rand gedrängt wurden. Ich verspreche Euch jetzt einfach mal, dass ich zum 25. Jahrestag des verhängnisvollen, nicht besuchten Konzerts in der Live Music Hall am 29. November zum ersten Mal bewusst Gay Dad hören und hier darüber schreiben werde!) „Why Does It Always Rain On Me?“ kannte ich von Viva 2, obwohl ich das damals gar nicht gucken konnte, und ich mochte die Mischung aus unverkennbarer Lebensenergie (der Rhythmus!) und Traurigkeit (alles andere).

Stellte sich raus: Mit seinem hüpfbaren Rhythmus war der Song noch der klare upper auf dem Album. Alle anderen Songs schleppten sich eher dahin, krochen oder taumelten. Selbst der einzige objektive Rocksong auf „The Man Who“, der hidden track „Blue Flashing Light“, dreht sich schwindlig auf der Stelle und handelt davon, dass jemand allein zuhause sitzt, während alle anderen feiern gehen. Wer weiß, wie ich das Album gefunden hätte, wenn ich es bei Veröffentlichung im Mai 1999 gehört hätte — in den grauen ersten Wochen des Jahres 2000 passte es jedenfalls perfekt zum Wetter und dem Millenniumskater, der sich über die Welt gelegt hatte: Die Zukunft hatte ganz eindeutig und ausweislich des Kalenders begonnen, aber alles war immer noch wie zuvor. Das Theodor-Heuss-Gymnasium in Dinslaken war kein Ort, an dem Optimismus und Zuversicht (oder auch nur irgendetwas anderes als genereller Weltschmerz) gedeihen und aufblühen konnten.

Ich hatte gerade im Januar (genauer: am 7., als ich mir bei einem Ausflug nach Essen den Soundtrack zu „Absolute Giganten“ gekauft hatte) begonnen, abends zum Einschlafen Musik auf meinem Discman zu hören. Nicht etwa ganze Alben, sondern drei Songs, sauber kuratiert. „The Man Who“ bot sehr viele dieser Songs. Noch heute kommt eine ganze Welle sehr spezifischer Emotionen hoch, wenn das Intro von „Driftwood“, die ersten Takte von „Turn“ oder das Gitarrensolo aus „As You Are“ erklingen. Es ist wieder Anfang 2000 und ich war vor ein paar Tagen mit meinem Papa und meinen Freunden in die Großstadt (Duisburg) gefahren, um im dortigen Arthouse-Kino „Ghost Dog“ von Jim Jarmusch oder „The Million Dollar Hotel“ von Wim Wenders zu sehen — Filme, die im Kern schon irgendwie lebensbejahend sind, aber in erster Linie schwelgerisch, melancholisch, langsam und rätselhaft. (Und falls sich jemand gefragt hat: Natürlich habe ich an meinem 17. Geburtstag um kurz nach Mitternacht „Why Does It Always Rain On Me?“ gehört, dessen titelgebende Frage ja weitergeht: „Is it because I lied when I was seventeen?“)

„Everyday I wake up alone because / I’m not like all the other boys“, singt Fran Healy zu Beginn von „As You Are“ und diese Zeile sollte mir in den kommenden Jahren so etwas wie Mantra und Trost werden, steter Begleiter beim Melodramatisch-unglücklich-verliebt-Sein, Die Leiden des jungen Heinsers. (Alter Vatter, was bin ich froh, dass diese Zeiten vorbei sind! Kinder, wenn Ihr glaubt, dass Euer Leben nur mit einem anderen Menschen an Eurer Seite „gut“ und „richtig“ werden kann: Sucht Euch Hilfe! Ihr werdet geliebt, Ihr seid liebenswert, aber die Existenz oder Nichtexistenz einer Zweierbeziehung ist in diesem Kontext eben genau: zweitrangig.)

Vielleicht wäre ich auch ohne „The Man Who“ auf die Idee gekommen, Musik zu machen, Schlagzeug in einer Band zu spielen, mir selbst Gitarre beizubringen und eigene Songs zu schreiben. Die hätten aber zumindest sehr anders geklungen, denn Travis waren, was traurig-antriebslose Songs in G-Dur betrifft, ein großer Einfluss. Weil ich wusste, dass die Bandmitglieder Joni Mitchell so sehr lieben, habe ich mit 18 angefangen, Joni Mitchell zu hören. Ich hatte sogar so einen faux hawk wie Fran Healy (oder wahlweise David Beckham)! Chris Martin hat mal gesagt, dass es ohne Travis kein Coldplay gegeben hätte, aber den vier Schotten jetzt die Schuld an der weiteren Entwicklung seiner Kapelle zu geben, wäre auch üble Nachrede.

Im Juni 2001 erschien der Nachfolger „The Invisible Band“, der heute eigentlich einen noch größeren Stellenwert bei mir hat. Als wir erstmal schnelles Internet hatten, habe ich alle, wirklich alle B-Seiten, die Travis jemals auf ihren Singles veröffentlicht hatten, zusammengesammelt und sicherlich öfter gehört als große Teile ihres Spätwerks. („Die B-Seiten britischer Gitarrenbands zwischen 1994 und 2002 sind besser als alles, was nach 2005 von der Insel kam“ ist ein immer noch nicht geschriebener, aber in regelmäßigen Abständen namhaften deutschen Publikationen angebotener Text von mir.) Ich habe Travis zwischen Sommer 2001 und Dezember 2016 sieben Mal live gesehen (einmal sogar tatsächlich am gleichen Abend wie Ben Folds) und ein paar Mal kurz gesprochen; im September könnte ein achtes Mal hinzukommen. Ihre letzten Alben haben mich gar nicht mehr interessiert, aber wenn einem eine Band mal so wichtig war, versucht man es ja doch immer wieder.

Und irgendeine besondere Beziehung muss es immer noch geben: Ich hätte diesen Text hier eigentlich gestern schon schreiben wollen, aber nicht die Zeit gefunden. Da hätte aber auch die Sonne geschienen. Heute passt hingegen alles: Der VfL Bochum ist so gut wie abgestiegen und es regnet. Weil ich mit 17 gelogen habe.

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Travis – The Man Who
(Independiente; 24. Mai 1999)
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Musik

Neue Musik von Travis, The Decemberists, Maro, Ider

Lukas blickt kurz zurück auf den 69. Eurovision Song Contest, wo schon wieder ein Song gewonnen hat, den wir in unserer ESC-Vorschau nicht gespielt hatten: „The Code“ von Nemo aus der Schweiz.

Dann gibt es neue Songs von Maro, The Decemberists, Amilli, Ider — und den ersten interessanten Travis-Song seit langer Zeit.

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Alle Songs:

  • Nemo – The Code
  • Maro feat. Nesaya – Lifeline
  • Blush Always feat. Brockhoff – Bigger Picture
  • The Decemberists feat. James Mercer – Burial Ground
  • Amilli – Four Days
  • Ider – Girl
  • Travis – Raze The Bar
  • Carpool – Can We Just Get High?

Shownotes:

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Leben Musik

25 Jahre „Play“

Dieser Eintrag ist Teil 6 von bisher 8 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Moby - Play (abfotografiert von Lukas Heinser)

Am Anfang waren die Songs. Ich weiß gar nicht, welche alle als Single ausgekoppelt wurden und wo ich sie vielleicht gehört habe — am Ende ist es auch egal, denn „Play“ ging ja auch deshalb in die Geschichtsbücher ein, weil es das erste komplett durchlizenzierte Album war: Jeder einzelne Track wurde für (mindestens) einen Werbespot, einen Film und/oder eine Serie verwendet. Im Radio und in Cafés laufen die Songs eh immer noch rauf und runter, als seien sie Teil des dortigen Sound-Designs. (Selbst als ich vergangene Woche dem Deutschlandfunk Kultur ein Interview zum ESC in Malmö gegeben habe, lief vor dem Gespräch irgendein Song aus diesem Album. Es zahlt ein bisschen auf meine hier aufgestellte Muzak-These ein, dass ich nicht sagen kann, welcher, aber ich bin mir absolut sicher, dass es einer von diesem Album war.)

Gekauft hab ich „Play“ von Moby auch erst etwa anderthalb Jahre nach dem Release — obwohl diese Songs damals schon allgegenwärtig schienen. Das Konzept, Musik zu „besitzen“ ist im Jahr 2024 ja nicht nur Nachgeborenen schwer zu vermitteln, sondern fast allen, aber es war eben unabdingbar, 30,99 D-Mark für diese CD zu bezahlen, sie im Rucksack auf dem Rücken mit dem Fahrrad vom R&K-Markt nach Hause zu fahren und dann ins DVD-Rom-Laufwerk des Computers zu schieben, um sie über die PC-Boxen abzuspielen. Opa erzählt vom Frieden.

Obwohl ich die vorherigen Hit-Singles von Moby schon aus „Hit-Clip“, von 1Live und von „Bravo Hits“ kannte, umwehte diese Musik etwas Erwachsenes, ja, regelrecht: Kosmopolitisches. So, dachte ich damals, klingt Dinslaken nicht. Der Big Beat von „Bodyrock“ und „Machete“, die Blues- bzw. Gospel-Samples von „Honey“ und „Run On“, die Kaffeehaus-Electronica von „7“ und „Down Slow“ — so etwas kannte man in der Kleinstadt nur aus dem Fernsehen. (Heute hat Dinslaken seine eigenen Hipster-Szenen und -Kneipen und diese Entwicklung ist durchaus zu begrüßen, bremst sie doch die Gentrifizierung in den Großstädten wenigstens minimal ab.)

Moby selbst war bekannt als der knuffige, ausgesucht freundliche, manchmal ein ganz kleines bisschen nervende Veganer mit der Glatze. Womöglich hätte man ahnen können, dass bei ihm nicht alles im Lot war und er mit psychischen Problemen, Alkohol und anderen Drogen kämpfte; „Play“ war ein eher melancholisches Party-Album, vor allem in der zweiten Hälfte. Und allein die Songtitel: „Why Does My Heart Feel So Bad?“, „Natural Blues“, „My Weakness“. Aber als schwermütiger 17-jähriger Individualist bezieht man das alles natürlich ausschließlich auf sich selbst und denkt nicht mal an den Künstler.

„Play“ war da schon lange ein unfassbarer weltweiter Erfolg und alle Labels, die das Album abgelehnt hatten, hatten sich vielleicht kurz geärgert. Moby, dessen Output bis dahin eher eklektisch gewesen war, hatte seine Nische gefunden und liefert seitdem verlässlich den Soundtrack zu Werbespots, Serien, Filmen und Leben.

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Moby – Play
(Mute/PIAS; 17. Mai 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „The Ego Has Landed“

Dieser Eintrag ist Teil 5 von bisher 8 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Robbie Williams - The Ego Has Landed (abfotografiert von Lukas Heinser)

Was für ein merkwürdiges Album: Um das ehemalige Take-That-Mitglied Robbie Williams auch auf dem amerikanischen Markt groß zu machen, hatte Capitol Records einfach Songs seiner ersten beiden Alben zusammengewürfelt und auf den Markt gebracht. Das Ganze war natürlich gar nicht für europäische Plattenläden gedacht gewesen und entsprechend teuer und schwer zu bekommen, aber andererseits hatte man alle Hits und ein paar unbekanntere Songs auf einem Album. Klar, dass ich mir das zu meinem 16. Geburtstag wünschen musste!

Meine liebsten Boybands der 1990er Jahre: 1. East 17, 2. Boyzone, 3. Take That. Natürlich waren die Konventionen zu dieser Zeit noch so, dass man als Junge mit 12, 13 Jahren eine solche Boyband eher doof zu finden hatte, und so war Robbie Williams schon dadurch cool geworden, dass er diese Band verlassen hatte.

Aber auch die Singles, die man danach von ihm im Radio hören konnte, waren gut. Für einen Jungen, der über die Hits von Oasis, Blur und The Lightning Seeds gerade mit dem Konzept „Britpop“ in Kontakt gekommen war, waren Songs wie „Strong“, „No Regrets“ oder „Old Before I Die“ konsequente Ergänzungen — und auch heute halte ich „Strong“ immer noch für einen der besten Oasis-Songs, den Noel Gallagher nie geschrieben hat.

Was für ein großartiges Album: Da waren nun wirklich die ganzen Hits, die ich aus dem Radio kannte, plus so deep cuts wie „Win Some Lose Some“, „Jesus In A Camper Van“ (ein Song, der später wegen Urheberrechtsstreitigkeiten aus Williams’ gesamtem Schaffen gelöscht wurde) und „Karma Killer“ (eine von Streichern angetriebene Alternative-Rock-Abrechnung mit dem ehemaligen Take-That-Manager Nigel Martin-Smith). Im Herbst 1999 wurde „The Ego Has Landed“ (Entschuldigung, was ist das überhaupt für ein genialer Albumtitel?!) mein treuester Begleiter und noch heute kommt „No Regrets“ für mich nach „Millennium“ und nicht wie auf dem originalen Album „I’ve Been Expecting You“ davor.

Natürlich habe ich mir später doch noch die beiden Alben „Life Thru A Lens“ und „I’ve Been Expecting You“ gekauft, so wie ich mir zwischen 2001 und 2006 alle Singles und bis 2013 alle Alben gekauft habe. Zwischen 2000 und ungefähr 2005 war Robbie Williams, das ist für Nachgeborene auch nur noch schwer vorstellbar, unangefochten das, was man eigentlich immer über Michael Jackson gesagt hatte: King of Pop. (Warum er erst 2012 ein Album „Take The Crown“ genannt hat, weiß er auch nur selbst.) Es gab ganze Robbie-Tage bei MTV und er ist bis heute der einzige Act, für den ich an einem Samstagmorgen um halb Acht aufgestanden bin, um in einem physischen Ticket-Shop Konzertkarten zu erwerben. Entsprechend bedrückend fand ich es, in der Netflix-Doku-Serie über sein Leben zu erfahren, dass er, als er uns um die Jahrtausendwende so viel Freude und so viele Evergreens bereitet hat, eigentlich die ganze Zeit unglücklich war. Dabei hatte er uns das – „You think that I’m strong / You’re wrong“ – ja auch immer gesagt.

Für jemanden, der sich Weiß-Gott-was auf seinen Musikgeschmack jenseits des Mainstreams eingebildet hat, war Robbie Williams natürlich auch immer ein Anknüpfungspunkt zu den Mädchen der eigenen Jahrgangsstufe. Er war einer der wenigen Radio-Acts, die einen cooler machten, wenn man signalisierte, seine Musik zu hören. Es gibt so viele seiner Songs aus dieser Zeit, deren Texte schon damals zu mir sprachen und es auch heute noch tun, dass es sich, wenn ich sie heute höre, fast so anfühlt, als könnten der 40-jährige Lukas und sein 16-jähriger Vorgänger durch die Musik miteinander sprechen.

Als der übertrieben kumpelige Moderator auf WDR 4 (of all places), vor einiger Zeit „Feel“ als „einen der Klassiker von Robbie Williams“ ankündigte, dachte ich, ernsthaft überrascht: „Für mich ist ‚Escapology‘ immer noch das ‚neue‘ Album!?“ Es erschien im Herbst 2002.

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Folgende wahre Geschichte: Als ich Neil Hannon von The Divine Comedy im Jahr 2006 interviewt habe, hab ich ihn natürlich auch auf „No Regrets“ angesprochen — und warum er so viel schwieriger zu hören sei als der andere Gast-Sänger, Neil Tennant von den Pet Shop Boys. Hannon erzählte mir, dass Tennant zufällig im Studio gewesen sei, als der Song gemischt wurde, und den Audio-Ingenieur einfach gebeten habe, die eigene Spur ein wenig lauter zu drehen. Ich habe diese Anekdote nicht zu verifizieren versucht, weil ich den Rock’n’Roll-Mythos dahinter nicht zerstören wollte.

Robbie Williams – The Ego Has Landed
(Chrysalis/Capitol, 4. Mai 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“

Dieser Eintrag ist Teil 4 von bisher 8 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Ben Folds Five - The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner (abfotografiert von Lukas Heinser)

Bisher spielten die Geschichten dieser Reihe ja allesamt nicht im Jahr 1999 und ich denke, ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass die meisten weiteren Kapitel über die wichtigsten Alben dieses Jahres auch später spielen werden. Schon in dieser Hinsicht ist das heutige Album ein besonderes. Aber auch in fast jeder anderen.

Man kann das jungen Menschen ja nur noch schwer vermitteln, aber es gab eine Zeit, da standen einem das Wissen und die Kulturgüter dieser Welt nicht jederzeit kostenlos von zuhause aus zur Verfügung — man musste dafür während der Öffnungszeiten die örtliche Stadtbibliothek aufsuchen. Weil meine Mutter immer in solchen Einrichtungen gearbeitet hatte (erst in Mülheim an der Ruhr, dann in Dinslaken), bin ich quasi dort aufgewachsen und mit den Büchern, Zeitschriften, VHS-Kassetten, Audiokassetten und später auch CDs.

Ich weiß nicht mehr das genaue Datum, aber der 26. April war es nicht (da kam das Album in Deutschland ja gerade erst in die Läden, ich war nachmittags mit Stefan T. in der Lichtburg „The Faculty“ gucken und montags hat die Stadtbibliothek Dinslaken seit jeher geschlossen), als ich in der durchaus beeindruckenden CD-Abteilung bei den Neuerscheinungen dieses Album mit dem merkwürdigen, sperrigen Namen sah. Ben Folds Five hatte ich im Jahr zuvor auf dem Soundtrack zu Roland Emmerichs „Godzilla“ kennengelernt (der Hype war damals enorm gewesen, der Film eher egal, aber das Soundtrack-Album stellte auch noch meinen Erstkontakt mit den Wallflowers, Jamiroquai, Rage Against The Machine und Michael Penn dar), also nahm ich „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ mit nach Hause. Ich erinnere mich nicht unbedingt an die allererste listening session (die Chancen stehen gut, dass es nach der Schule während des Mittagessens war, das – seit meine Eltern eine Mikrowelle mit einer sogenannten Crunch-Funktion hatten – gefühlt jeden Tag aus Tiefkühlpizza Capricciosa aus dem Aldi bestand), aber es ist in der Rückschau schon erstaunlich, dass mich der jazzige, manchmal Kammerpop-artige Sound dieser Band nicht überraschte oder gar abschreckte. Ich wusste noch nicht viel über Musik und das musste wohl so.

Ich wusste auch noch nicht viel über Ben Folds Five. Dass es sich trotz des Bandnamens um ein Trio handelte, konnte ich mir aufgrund der Credits und des Bandfotos im Booklet zusammenreimen. Dass da gar keine Gitarren zu hören waren, auch (ich wusste, wie gesagt, wirklich noch nicht viel über Musik und beim Hören allein wäre es mir wohl nicht aufgefallen). Auf dem Bandfoto begutachteten zwei der Bandmitglieder (Sänger/Pianist Ben Folds und Bassist Robert Sledge) ihre Fingernägel, was mir ausgesprochen gut gefiel, und im Booklet erklärte die Band ebenfalls, dass sie (Amerikaner!) gar nicht gewusst hätten, dass Reinhold Messner ein berühmter Bergsteiger sei — dieser exotisch klingende Name sei einfach das gewesen, was Schlagzeuger Darren Jessee und seine Freunde im Feld “name:” auf ihren gefälschten Führerscheinen (also dem amerikanischen Äquivalent zum Personalausweis) stehen gehabt hätten, als sie noch zu jung waren, um mit echten Dokumenten in eine Bar gehen zu dürfen.

Ich hörte das Album viel in diesem Summer of ’99. Sehr viel. Ich hatte noch nicht sehr viele eigene CDs; neben Film-Soundtracks waren „Maybe You’ve Been Brainwashed Too“ von den New Radicals, „Synkronized“ von Jamiroquai und „TUBORM“, wie wir Ben-Folds-Fans es später in den Online-Foren nennen sollten, im Wesentlichen das, woraus ich zu dieser Zeit auswählen konnte.

Im zweiwöchigen Sommerurlaub in – natürlich! – Domburg entwickelte ich die Angewohnheit, meine Tage allabendlich im Bett mit drei Songs aus meinem Discman zu beschließen: „Changes“ von 2Pac, das damals ein ziemlicher Hit und auf dem 2Pac-Best-Of enthalten war, das mir mein bester Freund für den Urlaub geliehen hatte, zweimal hintereinander und dann „Lullabye“, der closer dieses Reinhold-Messner-Albums. In den Herbstferien in einer Jagdhütte im Hunsrück wuchs mir darüberhinaus „Your Redneck Past“ ans Herz, einer der rockigeren Songs, dessen genaue lyrische Bedeutung sich mir bis heute nur unzureichend erschließt. Auch das musste wohl so.

Wenn ich mir „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ heute anhöre, bin ich erstaunt, wie melancholisch, geradezu depressiv das Album klingt. Zwar hat Ben Folds zuvor und danach bewiesen, dass er sich ganz großartig Geschichten ausdenken kann, aber auf diesem Album handeln fast alle Songs vom Scheitern, Versagen oder Sterben und das Lyrische Ich zieht sich selbst derart durch den Staub, dass da schon mehr dahinterstecken musste. Musikalisch ist das zweifelsohne ganz große Songwritingkunst, handwerklich gekonnt umgesetzt, aber eigentlich nicht das, womit 16-Jährige zu einer Band finden sollten. Wie „anders“ das Album auch für die Band selbst war, verstand ich erst, als ich mir ihr sonstiges Schaffen erschlossen hatte, aber es ist eines dieser Alben, von denen ich jeden einzelnen Ton kenne, jedes Knarren des Schlagzeughockers, jeden Bläsersatz und jede Zeile Text. Ich wohne seit acht Jahren in meiner Wohnung und laufe immer noch mindestens einmal pro Woche gegen einen Türrahmen, aber in meinem Elternhaus kann ich zur Not betrunken im Dunkeln die Treppe hochgehen und finde problemlos den Weg in mein altes Kinderzimmer. Genau so fühlt sich dieses Album für mich an. Selbst der „Hospital Song“, der nur eine Strophe hat, und das ausufernde Quasi-Instrumentalstück „Your Most Valuable Possession“, das die Band im Studio zu einer Art spoken word performance improvisierte, die Ben Folds’ Vater Dean seinem Sohn zu nächtlicher Stunde auf dem Anrufbeantworter (googelt das, GenZ!) hinterlassen hatte, müssen genau so.

Die CD aus der Stadtbibliothek („Leihfrist: vier Wochen, Verlängerung zwei Mal möglich“) begleitete mich eigentlich durch den Rest des Jahres, bis ich bei der Erstellung meines weihnachtlichen Wunschzettels „Alle bisher erschienenen Alben von Ben Folds Five“ schrieb. Weil das Booklet der Bücherei-Version so viele Reisen mit mir unternommen hatte, regelte meine Mutter das auf der Arbeit sogar so, dass dieses Booklet gelöscht und durch die in der für mich als Geschenk gekauften CD-Hülle enthaltene Version ersetzt wurde. Ich durfte also das Booklet behalten, mit dem ich schon so viel Zeit verbracht hatte.

Als ich meine eigene Version des Albums zu Weihnachten bekam, war die „Rolling Stone Roadshow“ schon Geschichte: Im Namen des Musikmagazins waren Ben Folds Five, Travis und Gay Dead durch die Bundesrepublik getourt und hatten am 29. November 1999 in der Kölner Live Music Hall gespielt. Ich hatte es mir notiert und dann gedacht: „Ach, mit dem Zug abends alleine nach Köln und zurück — die werden schon noch mal wiederkommen!“ Ich hatte endlich eine Lieblingsband. Weniger als ein Jahr später lösten sich Ben Folds Five auf, aber das habe ich schon ein paar mal aufgeschrieben.

„The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ hat keine Hits im eigentlichen Sinne. Der Song „Army“ ist – vor allem wegen des vom Publikum gesungenen Bläser-Arrangements – auch heute noch ein Ereignis bei jedem Konzert von Ben Folds. Aber der Song, der mich von Anfang an am Meisten gepackt hat, ist „Magic“: ein schleppender Walzer; das einzige Lied auf dem Album, das Schlagzeuger Darren Jessee geschrieben hat, und in dem sich die Trauer um einen verstorbenen Menschen und das Wissen, dass diese Person es hinter sich hat, auf ganz wunderbare Weise vermischen. Dieser Song hat, bevor überhaupt irgendjemand aus meinem näheren Umfeld gestorben war, mir immer Hoffnung gegeben. Und nachdem meine Omi vor anderthalb Jahren gestorben war, wusste ich plötzlich ganz genau, welchen Songtext ich auf Instagram zitieren würde.

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Saw you last night
Stars in the sky
Smiled in my room

Ben Folds Five – The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner
(550/Caroline Music; 26. April 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „Equally Cursed And Blessed“

Dieser Eintrag ist Teil 3 von bisher 8 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Catatonia - Equally Cursed And Blessed (abfotografiert von Lukas Heinser)

Radio Bohlen, jedenfalls, schloss im Sommer 2001 für immer seine Türen. Der Ort, an dem meine Eltern (und Großeltern) nahezu alle Fernseher, Videorecorder und Stereoanlagen gekauft hatten, und an dem ich auch ein paar CDs erstanden hatte (ein ganz paar: R&K und Karstadt waren meist günstiger gewesen — und ich hatte die Preise natürlich oft verglichen), machte nach Jahrzehnten dicht. Der Verkaufsraum war eine dieser 1950er-Jahre-Extravaganzen gewesen, die man zu ebener Ebene betrat (Kasse, Kopfhörer und anderes Zubehör), um dann wahlweise eine halbe Etage hinab- (Fernseher, Stereoanlagen, Boxen, Laserdisc-Player) oder hinaufzusteigen (CDs, Band-T-Shirts, Poster und letzte Vinyl-Schallplatten, die damals wirklich out waren). Absolut nicht barrierefrei (dabei hatte Deutschland in den 1950er Jahren über einen außergewöhnlich hohen Bevölkerungsanteil von Menschen mit fehlenden Gliedmaßen verfügt) und beim anschließenden Umbau zu einem DM ordentlich nivelliert (schöne 50er-Jahre-Treppengeländer kann man sich schließlich auch woanders anschauen).

Die letzte CD, die ich bei einer dieser für alle Beteiligten immer etwas entwürdigenden, Ausverkauf geheißenen, Leichenfleddereien erstand (und das ungehört), war „Equally Cursed And Blessed“, das dritte Album der walisischen Band Catatonia. Die hatte ich, wie schon die Stereophonics, als Gäste auf dem Tom-Jones-Karriere-Revitalisierungswerk „Reload“ kennengelernt und es muss, wenn ich mich nicht sehr irre, der erste Act mit weiblicher Stimme gewesen sein, der seinen Weg in meine CD-Sammlung fand. Kostete glaub ich auch nur noch acht Mark oder so.

Was mich zuhause beim ersten Hören erwartete war das, was ich mir als Noch-nicht-18-Jähriger unter „Musik für Erwachsene“ vorstellte: ein bisschen überdrehter, ein bisschen cooler und ein bisschen cleverer als das, was meist auf 1Live und WDR2 lief. Ich malte mir aus, dass Menschen um die 30, die in schicken Apartments in London wohnten und in den Medien arbeiteten, solche Musik bei ihren dinner parties auflegen würden. Aus irgendeinem Grund stellte ich mir ziemlich genau das Setdesign der „About A Boy“-Verfilmung vor, ein Jahr, bevor der Film rauskam.

Sängerin Cerys Matthews hatte eine Stimme, die klang, als hätte Tiffy aus der „Sesamstraße“ mit dem Trinken und Rauchen angefangen, und sie sang bissige, gelangweilte Gesellschaftskommentare; manche Textzeilen überraschen auch Jahrzehnte später („The ad begs, ‘Buy bottled water‘ / But we know that it tastes of piss / Should be getting our tampons free / DIY gynecology“). Das Album wurde Teil meines Sommer-Soundtracks und tatsächlich klingen die meisten Songs für mich auch heute noch nach dem leichten Wind, der an heißen Sommertagen über die niederrheinische Landschaft kriecht: Könnte auch noch schwül werden, könnte noch gewittern, aber wir würden bei irgendwelchen Schulfreunden, deren Eltern ohne sie in den Urlaub gefahren waren, unter der Markise sitzen.

Track 2 – und damit traditionell das klare Highlight, die klare Single – ist ein Hassliebeslied auf London: „Londinium“ beklagt die hohen Lebenshaltungskosten, den dichten Verkehr und den verlogenen Showbiz-Glamour mit einem unfassbar eingängigen Refrain, der Bahnhöfe und Taxen zusammenbringt. In meiner lebhaften Phantasie entstand eine romantische Komödie um Menschen, die bei einem Stadtmagazin namens „Londinium“ arbeiteten. (Fuck, vielleicht habe ich aus Versehen „Tatsächlich Liebe“ erfunden!)

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Catatonia veröffentlichten im gleichen Sommer ihr viertes Album, das ich nie gehört habe; die Band löste sich kurz darauf auf. Ich habe „Equally Cursed And Blessed“ mehr als zehn Jahre lang nicht gehört, aber die Musik erschafft immer noch farbenfrohe Bilder in meinem Kopf. Nur die Menschen sind inzwischen Mitte Fünfzig und zum zweiten Mal geschieden.

Catatonia – Equally Cursed And Blessed
(Blanco y Negro; 12. April 1999)
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Musik Fernsehen

That’s how I remember it

Kurt Cobain war tot, damit wollen wir beginnen. Grieselige TV-Bilder einer Garage in Seattle haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, wann.

Ich habe ein sehr merkwürdiges Gedächtnis. Ein „gutes“, würden viele sagen, weil ich mich an so vieles erinnern kann: Daten, Namen, Begebenheiten, Dialoge — alles semantisch miteinander verknüpft und immer auch verbunden mit Bildern. Letzte Woche fielen mir die Namen von Freunden meiner Eltern wieder ein, die ich vor 35 Jahren zwei-, dreimal getroffen hatte. Ich fände es aber hilfreicher und mithin „gut“, mir die Namen von Menschen merken zu können, die ich aktuell brauche.

Die TV-Bilder, also: Ich bin mir absolut sicher, dass ich sie auf dem Grundig Monolith im sogenannten „Bauernzimmer“ meines Großelternhauses sah. Meine Großeltern hatten – die Sentenz von Harald Schmidt bestätigend, dass Geld und Geschmack nur selten Hand in Hand einhergehen – sich in den 1970er Jahren durchaus hochwertige, massivste Bauernmöbel andrehen lassen: einen Esstisch, an dem die Ritter der Tafelrunde alle Platz gefunden hätten, nebst passender Stühle; ein Buffet, in das rund die Hälfte der Teller des Hausstandes passten (und das waren viele); darüber ein Hängeregal, das zur Präsentation von Ziertellern gedacht war (was Bauern halt so tun) und sogar ein Beistelltischchen, auf dem immer die „Kirche + Leben“ und die „Hörzu“ der nächsten Woche lagen (die „Hörzu“ der aktuellen Woche lag meist im richtigen Wohnzimmer, da wo auch die Sofas und Sessel um einen tonnenschweren Couchtisch standen). In diesem „Bauernzimmer“, wo meist zu Abend gegessen wurde, stand der treffend so betitelte Monolith, damit mein Großvater während des Abendessens die „Heute“-Nachrichten und/oder die „Tagesschau“ sehen und so nebenbei die essenden, bitte schweigenden Enkelkinder mit Bildern des hingerichteten Nicolae Ceaușescu, aus den Jugoslawienkriegen und anderen Krisenregionen verstören konnte.

Dort hatte ich, seit wir nebenan wohnten (I’m glad you asked: meine Eltern waren mit uns am 30. Januar 1993 umgezogen — das „Zeitzeichen“ auf WDR 2, das ich an jenem Morgen im besagten Bauernzimmer im Radio gehört hatte, hatte das Thema „60 Jahre Machtergreifung“ gehabt), viele Stunden vor dem Fernseher verbracht. Meine Großeltern hatten nämlich ,anders als meine Eltern, damals schon Satellitenfernsehen gehabt — wobei sich meine Fernseh-Diät, von MTV Europe mal ab, eigentlich auf die Programme beschränkte, die ich auch bei meinen Eltern hätte gucken können: „Hit-Clip“, das WDR-Surrogat für MTV, und „Elf 99“, ein Jugendmagazin, das im September 1989 ursprünglich im Fernsehen der DDR gestartet war, sich dort als durchaus regierungskritisch erwiesen und nach dem Ende des DFF eine kleine Odyssee durch die westdeutschen Sender hinter sich hatte. „Elf 99“ lief seit Mitte November 1993 auf Vox, dem kleinen, sympathischen Privatsender, der mit seinem erratischen, oft anspruchsvollen Programm (allem voran das Medienmagazin „Canale Grande“ mit dem damals noch Dieter genannten Max Moor) wie geschaffen war für einen zehnjährigen Jungen, der sich medial gerne zwei, drei Gewichtsklassen über der eigenen bewegte.

Dafür, dass „Elf 99“ nur wenige Monate auf Vox lief, habe ich wirklich viele Erinnerungen daran — womöglich habe ich fast alle Ausgaben dort gesehen. Ich erinnere mich, dass ein dicker, langhaariger, damals mutmaßlich noch junger Dieter Gorny zu Gast war, um das Konzept seines bald startenden Musiksenders Viva vorzustellen (den wir allerdings noch nicht mal bei unseren Großeltern sehen konnten, weil er anfangs per Kabel ausgestrahlt wurde); an Sendungen, in denen man per Anruf so lange für oder gegen den aktuell laufenden Act abstimmen konnte, bis die Negativstimmenstimmen in der Mehrheit waren (am Längsten liefen – in einer Jugendsendung im Jahr 1993 – Phil Collins und Genesis); an die Ausgabe mit den größten Hits des Jahres 1993, die zwar ausgiebig mit „Go West“ von den Pet Shop Boys betrailert worden war, das dann aber in der schlussendlichen Sendung gar nicht vorkam (auf Platz 1 landeten, wenn ich mich recht erinnere, die damals schon von mir für schrecklich befundenen Ace Of Base).

Anfang des Jahres 1994 war „Elf 99“ vom spätnachmittäglichen Sendeplatz auf einen längeren am Samstagvormittag gewechselt. Hier erinnere ich mich vage an ein Take-That-Special, aber nicht viel mehr. Es ging auch nur einige Wochen gut, dann wurde „Elf 99“ in „Saturday“ umbenannt. Und ab hier wird es kompliziert.

In der Wikipedia steht:

Schließlich wurde der Sendeplatz auf den Samstagnachmittag gelegt und im März 1994 eine Umbenennung in Saturday beschlossen. Tatsächlich lief nur eine Ausgabe unter dem neuen Namen am 26. März 1994. Denn im März 1994 hatten sämtliche Anteilseigner des Senders VOX ihre Beteiligungen gekündigt und eine Finanzierung des Programmbetriebs über den 31. März hinaus in Frage gestellt. Somit fiel neben mehreren Sendungen auch Elf 99/Saturday der VOX-Krise zum Opfer. Ein Neustart auf einem anderen Sender erfolgte nicht mehr.

Ich bin mir absolut sicher (im Sinne von: „ich könnte schwören“), dass ich die grieseligen TV-Bilder in den VOX-Nachrichten sah, die vor „Saturday“ liefen, und dort vom Tode Kurt Cobains hörte. Ich meine mich zu erinnern, dass ich einigermaßen geschockt war, denn Nirvana waren mir natürlich ein Begriff gewesen: Das Video zu „Smells Like Teen Spirit“ hatte ich – auch Jahre nach Veröffentlichung – häufig bei „Hit-Clip“ gesehen, wo die Grunge-Band aus Seattle einigermaßen gleichberechtigt zwischen East 17, 2 Unlimited und Billy Joel vorgekommen war, und auch an das Anton-Corbijn-Video zu „Heart-Shaped Box“ meine ich mich aus jener Zeit erinnern zu können. Mir war wohl auch als 10-Jährigem schon klar gewesen, dass es sich um „andere“, irgendwie sperrigere Musik gehandelt hatte als bei den meisten anderen Videos, die bei „Hit-Clip“ liefen, aber von dem Nihilismus, der Verzweiflung und dem ganzen „Generation X“-Vibe, von dem die deutschen Medien dann nach Cobains Suizid berichteten, hatte ich keine Vorstellung, als ich die Nachricht zum ersten Mal hörte — bei Vox. Und ich könnte schwören, dass zu Beginn der dann folgenden „Saturday“-Ausgabe, deretwegen ich Fernseher und Sender ja eingeschaltet hatte, zwei Moderatoren vor ein Studiopublikum traten, von denen der eine seine Nirvana-Konzertkarte (ich glaube, sie war gelb) vor laufender Kamera zerriss, was der andere mit der Frage kommentierte, ob er eigentlich bescheuert sei, diese Karte hätte doch einmal sehr wertvoll werden können. Aber all das würde ja keinerlei Sinn ergeben, wenn die Wikipedia Recht hätte und die Sendung am 26. März eingestellt worden wäre — Kurt Cobains Leiche wurde bekanntlich am 8. April 1994 entdeckt.

Der hier klaffende Widerspruch beschäftigt mich seit einiger Zeit, aber zum 30. Jahrestag wollte ich ihn endlich in Angriff nehmen. Mein erster Kontakt galt der Vox-Pressestelle, wobei ich eigentlich schon in meiner Anfrage die Segel strich, als ich schrieb, ich wisse, dass bei Vox damals chaotische Zustände geherrscht hätten und vermutlich auch einiges aus dieser Zeit nicht sehr gut dokumentiert sei, was mir die nette Pressesprecherin in weniger als 24 Stunden bestätigte.

Also schrieb ich allen Menschen, die ich kenne und die mal irgendwas mit Musikfernsehen zu tun hatten. Nilz Bokelberg, der damals beim Viva-Start dabei war, brachte mich auf die (zugegebenermaßen nicht soooo abseitige) Idee, nach zeitgenössischen Quellen zu suchen — und lieferte gleich einen online verfügbaren Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 16. März 1994 mit, in dem stand:

Nach viereinhalb Jahren kommt das Aus für das ELF-99-Magazin. Wie die ELF-99-Medienproduktion und Vermarktung GmbH gestern mitteilte, wird das Jugendmagazin am 26. März zum letzten Mal bei VOX zu sehen sein. Am 2. April soll als Nachfolger die Sendung ‘saturday’ auf VOX starten.

Ha! Das ist natürlich etwas ganz anderes, als die Wikipedia behauptet! Und die „Frankfurter Rundschau“ schrieb noch am 28. April 1994:

Seit Ostern produziert die Berliner Firma Elf 99 für Vox das Jugendmagazin “saturday”. Nur bis Ende April ist die Planung sicher. Danach sieht es für “saturday” nach Sonntag aus. Bertram Schwarz, Geschäftsführer von Elf 99, hält den Wechsel eines eingeführten “Produkts” von einem Sender zum anderen für zu schwierig.

[Ostersonntag war 1994 am 3. April]

Okay. Also liegt die Wikipedia falsch. Aber das bestätigt ja immer noch nicht meine Erinnerungen.

Ich habe versucht, Kontakt zum damaligen Redaktionsleiter von „Saturday“ aufzunehmen. Ich habe Menschen (bzw. deren Management) kontaktiert, die laut eigener Aussage „Saturday“ moderiert haben — erfolglos.

Je länger ich über diesen Samstagvormittag nachdenke, desto eindringlicher erscheinen mir meine Erinnerungen: Ich bin mir sicher, dass ich noch ganz nah vor dem Fernseher stand, den ich gerade erst eingeschaltet hatte, und mich noch nicht hingesetzt hatte. Ich sehe das Licht durch die Terrassentür fallen und spüre die Fernbedienungen des Fernsehers in meiner Hand. Klar: Die habe ich ja auch hunderte Male in der Hand gehalten — aber auch am 9. April 1994? Man hört ja immer wieder von falschen Erinnerungen, von Zeugenaussagen, die nicht stimmen können. Aber wo kommen wir hin, wenn wir unseren eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen können? Und ist eine Erinnerung, die wir nicht mit Quellen belegen können, überhaupt real?

Eines der legendärsten Zeitdokumente ist dieser Ausschnitt aus den „Tagesthemen“ vom 9. April 1994 (die – wenig hilfreich – in der YouTube-Beschreibung als „Tagesschau“ vom 8. April bezeichnet werden):

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Als man noch auf Facebook war und dort lustige Links teilte, tat dieses Video mindestens einmal im Jahr das, was man damals „viral gehen“ nannte, weil es auf so beeindruckende Art die geballte Ahnungslosigkeit und Bräsigkeit deutscher Medien zusammenzufassen scheint — und das nicht 1968, sondern 1994: Da ist die konsequent falsche Aussprache von Cobains Nachnamen (die ARD-Aussprachedatenbank empfiehlt inzwischen – ich weiß aber nicht, seit wann – /koʊʹbeɪn/), die falsche „Übersetzung“ der „Lithium“-Textzeilen und dann die Zusammenfassung „Kurt Cobains Lieder sind Ausdruck einer jugendlichen Subkultur; einer Jugend ohne Hoffnung, ohne Job, drogenabhängig und kriminell“, die nicht nur grammatikalisch auf dünnem Eis unterwegs ist. Sowohl der damalige Washington-Korrespondent der ARD, Jochen Schweizer (Jahrgang 1938), als auch Moderatorin Sabine Christiansen (Jahrgang 1957) bemühen sich, so etwas wie Emphase und Faszination auszudrücken, aber der ganze Beitrag strahlt gleichzeitig so viel Alarmismus und Verachtung für „Jugendkulturen“ (falls es irgendjemand vergessen haben sollte: Cobain war 27, als er starb) aus, dass es denkbar erscheint, dass Tausende deutsche Eltern danach Tipper-Gore-mäßig in die Jugendzimmer ihrer Kinder rannten und sicherheitshalber die Nirvana-CDs in den Müll warfen.

Nachdem ich diesen Ausschnitt für diesen Text hier zum wiederholten Male gesehen hatte, beschlich mich das Gefühl, jene „Tagesthemen“-Ausgabe damals, am 9. April 1994, womöglich selbst gesehen zu haben — mit meiner Mutter in ihrem Nähzimmer, in dem sie damals abends oft saß, im Anschluss an „Geld oder Liebe“ mit Jürgen von der Lippe. Es scheint zumindest plausibel.

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Musik Leben

25 Jahre „Performance And Cocktails“

Dieser Eintrag ist Teil 2 von bisher 8 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Stereophonics - Performance And Cocktails (abfotografiert von Lukas Heinser)

Zum ersten Mal gehört habe ich von den Stereophonics auf „Reload“, jenem Tom-Jones-Album von 1999, mit dem der „Tiger“ den dritten oder vierten Frühling seiner Karriere einleitete, indem er mit jungen, angesagten Acts der Gegenwart Songs coverte, die allesamt jünger waren als seine eigenen ersten Hits. (Das Album war auch mein Erstkontakt mit The Divine Comedy, Barenaked Ladies, Catatonia und Portishead und es ist mir genau gerade aufgefallen, dass es eigentlich ungewöhnlich ist, dass sich ein 16-Jähriger das Spätwerk eines damals nur halbherzig als „Kult“ bezeichneten Crooners gekauft und darüber zeitgenössische Acts kennengelernt hat, aber ich war glühender Tom-Jones-Verehrer, seit ich ihn in „Mars Attacks!“ als nur halbherzig als „Kult“ zu bezeichnende Version seiner Selbst gesehen hatte.) Mit den Stereophonics sang der Waliser damals eine recht drängende Version von Randy Newmans „Mama Told Me Not To Come“, die bei mir so viel Eindruck machte, dass ich mich der Band selbst in der Folgezeit näherte.

Als wir im Juni 2000 mit unserem Lateinkurs eine Exkursion nach Köln unternahmen und nach Besuch des Doms und des Römisch-Germanischen Museums noch Zeit zur freien Verfügung hatten, überredete ich meine Freunde, mit mir zum Saturn-Stammhaus am Hansaring zu laufen, um dort nach CDs zu gucken. Das war damals angeblich der größte Plattenladen Deutschlands mit zahlreichen Etagen, Zwischen- und Kellergeschossen, in denen es kein Tageslicht gab, und jedes Mal, wenn die S-Bahn vorbeifuhr, vibrierten der Boden und die Regale voller CDs und Schallplatten. Und dort habe ich mir an jenem Tag die „Performance und Cocktails“ der Stereophonics gekauft.

Wenn man erstmal ca. 30 D-Mark in ein Album investiert hatte, hörte man es damals sehr intensiv für die nächsten Monate — meine CD-Sammlung war ja auch noch im Aufbau und so viel Auswahl hatte ich gar nicht, wenn ich den ganzen Tag Musik hören wollte. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die Stereophonics damals zu mir gesprochen hätten, aber ich mochte die energetischen Rocksongs, von denen es auf diesem Album nur so wimmelte, und die etwas ruhigeren Midtempo-Nummern und Balladen. Die Songs klangen alle, als hätten der Band beim Schreiben und Aufnehmen ein bisschen mehr als die üblichen 230 Volt zur Verfügung gestanden, und über die Stimme von Sänger Kelly Jones konnte man eigentlich nicht schreiben oder sprechen, ohne ein „Reibeisen-“ davor zu setzen. Wichtig war mir aber auch, dass die Musik, die ich hörte, in meiner Klassenstufe ansonsten eher unbekannt war — und die Stereophonics verkauften im Vereinigten Königreich und vor allem in ihrer Heimat Wales zwar Stadien aus, liefen in Deutschland aber weder bei Einslive noch bei Viva, was ich immer als gutes Zeichen betrachtete.

So wurde „Performance And Cocktails“ zum Soundtrack eines Sommers; als einzelne Songs auf Mixtapes und in voller Länge in meinem Discman, zum Beispiel an diesem einen Abend im Sommerurlaub, als ich mit meiner Familie ein Picknick am Strand von Domburg machte und die ganze Zeit einen Stöpsel im Ohr hatte. „The Bartender And The Thief“ hat mich gelehrt, wie man Uptempo-Nummern schreibt, „I Stopped To Fill My Car Up“, wie man Geschichten erzählt. „Just Looking“ mochte ich schon immer, aber ich habe erst mit zunehmendem Alter verstanden, worum es in diesem Lied ging und wie sehr es von mir handelte: „There’s things I want / There’s things I think I want“, beginnt der Erzähler, um sich dann zu fragen, was er eigentlich will — und zwar vom Leben. Daneben stehen, beobachten, lächeln, später davon berichten, aber nie aktiv Teil des Geschehens sein (wollen) — das hat lange einen großen Teil meines Lebens ausgemacht: „I’m just looking, I’m not buying / I’m just looking, keeps me smiling“.

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Ein paar Lebenskrisen und eine Therapie später weiß ich heute sehr viel besser, was ich will — und vor allem, was nicht. Wenigstens meistens. „You said that life is what you make of it / Yet most of us just fake“ soll nicht für mich gelten. Schon wegen dieses kathartischen Songs mittendrin wird „Performance And Cocktails“ immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen haben.


Stereophonics – Performance And Cocktails
(V2 Music; 8. März 1999)
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Unterwegs Gesellschaft

Als man damals nach Hamburg kam

Ich wünschte wirklich, es würde nicht stimmen, aber natürlich musste sich die „Du und wieviel von Deinen Freunden“ von kettcar in meinem Sony-Discman drehen, als ich heute vor 20 Jahren mit der U3 vom Hauptbahnhof nach St. Pauli fuhr und über den Spielbudenplatz ging. Mit meiner damaligen Freundin hatte ich mich auf den Weg nach Hamburg gemacht; die erste gemeinsame Reise, ein Besuch bei Internetfreunden, vor allem aber natürlich im Mythos Hamburg.

Das Grand Hotel van Cleef und seine Acts, Bands wie Tocotronic und Die Sterne und „Absolute Giganten“ — die Stadt und vor allem die Gegend um St. Pauli, Karolinenviertel und Sternschanze waren durch die Popkultur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit so aufgeladen, dass sie zumindest für uns eigentlich schon den gleichen touristischen Stellenwert hatten wie Michel, Fischmarkt und Landungsbrücken (die natürlich gleich doppelt): hingehen, Foto machen, abhaken, dort gewesen sein. Ich war gerade erst auf dem Sprung von Dinslaken nach Bochum, aber so, wie diese coolen Menschen in Cordhosen und Trainingsjacken mit einem Stadtnamen-Schriftzug drauf, die die entscheidenden paar Jahre älter waren als ich mit 20 und irgendwas „Kreatives“ machten, so wollte ich auch einmal sein und leben: Platten kaufen bei Zardoz, abends einfach vor die Tür gehen und ein Konzert besuchen; Miles in der Tanzhalle St. Pauli, Ash im Logo, mit der Bierflasche in der Hand vorm Molotow stehen.

Wenn ich die Fotos von damals betrachte, sehe ich vor allem, was nicht mehr da ist: die Esso-Hochhäuser und die Tankstelle davor, der Astra-Turm, der Kaispeicher A ohne Elbphilharmonie drauf — ich war, wie bei meinem ersten Berlin-Besuch 1995, rechtzeitig dagewesen, um heute nostalgisch zu sein. Dabei sind die wahren Opfer natürlich die, die da jahrzehntelang gewohnt haben. Die Gentrifizierung ist über Hamburg hinweggerauscht, alles ist voll mit Bio-Supermärkten, Lastenrädern, Cafés und alternden Hipstern, die jetzt Eltern sind und aussehen wie ich und meine peer group hier in Bochum — nur, dass wir viel weniger Miete zahlen. Wir sind alle Teil des Problems; die Investoren folgen den Kreativen wie Geier; am Ende wollen wir alle eine lichtdurchflutete Altbauscheiße. Aber sowas wie die Hafen City, das haben wir doch nie gewollt!

2009 hatte ich überlegt, nach Hamburg zu ziehen, aber es war mir damals schon zu teuer. Ich liebe die Stadt noch immer: das Licht, die Luft an der Elbe, das Schanzenviertel, trotz all der Gentrifizierung, und der schönste Regiolekt, den das Deutsche zu bieten hat. In meiner DNA bin ich zu zwei Achteln Hamburger und ich bilde mir ein, dass sich das bemerkbar macht (die zwei Achtel Aachener Revier spüre ich nullkommanull). Einige der besten Menschen, die ich kenne, leben in Hamburg. Falls ich Bochum jemals verlasse, dann nur für Hamburg, Wien oder San Francisco. I’d like to thank the academy (academy, academy).

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Musik Leben

25 Jahre „Clarity“

Dieser Eintrag ist Teil 1 von bisher 8 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Jimmy Eat World - Clarity (abfotografiert von Lukas Heinser)

So richtig gildet das ja gar nicht: „Clarity“ von Jimmy Eat World kam in Deutschland ja erst Ende Januar 2001 auf den Markt, fast zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung in den USA — auch etwas, was jungen Menschen heute nur noch schwer zu vermitteln ist, wo Musik einfach um Mitternacht Ortszeit bei den Streaming-Diensten auftaucht.

1999 wäre ich aber auch noch gar nicht bereit gewesen: ein 15-jähriges Kind, dessen sehr überschaubare CD-Sammlung überwiegend mit Film-Soundtracks und Radiopop von Phil Collins bis Lighthouse Family bestückt war. 2001 war das anders: Ich hatte inzwischen ein recht ordentlich gefülltes CD-Regal, eine Festplatte voller MP3s und Viva II und „Visions“ boten Ein- und Ausblicke auf all das, was musikalisch noch existierte. Und an Jimmy Eat World und ihrer Single „Lucky Denver Mint“ kam man dort nicht vorbei:

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Dieser Song klang gleichermaßen catchy und erwachsen. Wie die Musik vom „American Pie“-Soundtrack, aber ein ganz kleines bisschen sperriger. Ich weiß, dass ich das Album an einem Freitagnachmittag bei Radio Bohlen gekauft habe, jenem Unterhaltungselektronik- und Tonträgerhändler in der Dinslakener Innenstadt, bei dem schon mein Vater Stereoanlage und Schallplatten erworben hatte, und der kein halbes Jahr später seine Pforten für immer schließen sollte. (Seitdem ist ein DM an dieser Stelle.) Ich erinnere mich, dass ich noch schnell eine Kassette aufnahm, die ich am nächsten Tag hören konnte, während ich mit Schulfreund*innen bei der Inventur in der Filiale eines großen niederländischen Bekleidungskonzern aushalf, wie wir es zu jener Zeit öfter taten. Und ich weiß, dass die Songs von Jimmy Eat World in der Folge auf zahlreichen Mixtapes für mich und angehimmelte Mitschülerinnen landeten.

Vielleicht projiziere ich im Nachhinein zu viel in dieses Album hinein, vielleicht dachte ich aber auch schon mit 17, dass es mehr nach Studentenwohnheim als nach Jugendzimmer klang. Neben den klaren, eingängigen Singles „Lucky Denver Mint“ und „Blister“ war da ein Song wie „A Sunday“, wo sich tieftönende Gitarren mit Streichern und Glockenspiel mischten; das siebenminütige „Just Watch The Fireworks“, das sich immer wieder steigerte und die Richtung wechselte, wie irgendsoein Progrock-Song der 1970er, nur ohne dessen gleich mitgedachtes Kiffer-Publikum; die perlenden Klavier- und Gitarrensoli in „For Me This Is Heaven“, die sich spiegelten und vereinten wie eine Beethoven-Sonate, und natürlich der mehr als 16-minütige closer „Goodbye Sky Harbor“.

Ich kenne kein anderes Album, dessen Lyrics so gut in die Zeit gepasst hätten, in dem ich es fast jeden Tag gehört habe, ohne es zu merken. Fast jeder Song enthält mindestens eine Zeile, die ich mit Edding (oder wenigstens Bleistift) auf die Schultische hätte schreiben können, aber erst jetzt, mehr als 20 Jahre später, erfasse ich beim Hören, was uns die Band damals mitteilen wollte. Wie die Texte das Konzept „Emo“, schon Jahre vor My Chemical Romance und Fall Out Boy, auf eine Art ausreizten, die in der Rückschau bis an die Grenze der Selbstparodie reicht. Wie sehr dieses Album nur am Ende eines in jeder Hinsicht einzigartigen Jahrzehnts erscheinen konnte, etwa in einem Song, der sich explizit mit der Todsünde der so auf Authentizität bedachten 1990er Jahre beschäftigt, dem sell-out („Your New Aesthetic“).

Womöglich liegt irgendein tieferer Sinn in dem absurden Unterhaltungsindustrieprozess, der dafür sorgte, dass uns „Clarity“ nicht schon 1999 vor die Füße fiel, sondern wir bis 2001 darauf warten mussten. In der Rückschau, die ja vieles umdeutet und in sogenannte Narrative zwängt, war „Clarity“ jedenfalls der zwingende Soundtrack zu dem einen, letzten sorgenfreien Sommer: fast jedes Wochenende saßen wir am Rheinufer, machten illegale Lagerfeuer und hörten betont bedeutungsvolle Musik. Mindestens einmal im Monat waren irgendjemandes Eltern weg, was in einer sogenannten Stumrfrei-Party resultierte. „Unglücklich verliebt“ war die Default-Einstellung bei fast allen. Mein Sony-Walkman und die daran angeschlossenen In-Ear-Kopfhörer waren Teil meines Körpers.

Und Jim Adkins und Tom Linton sangen sich die Seele aus dem Leib:

When the time we have now ends
When the big hand goes round again
Can you still feel the butterflies?
Can you still hear the last goodnight?

Am 20. August begann dann für uns das letzte Schuljahr und drei Wochen später krachten die Flugzeuge ins World Trade Center und ins Pentagon. Aber das ist die Geschichte des Nachfolge-Albums „Bleed American“.

Jimmy Eat World – Clarity
(Capitol Records; 23. Februar 1999/29. Januar 2001)
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