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Leben Musik

25 Jahre „Performance And Cocktails“

Dieser Eintrag ist Teil 2 von bisher 2 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Stereophonics - Performance And Cocktails (abfotografiert von Lukas Heinser)

Zum ersten Mal gehört habe ich von den Stereophonics auf „Reload“, jenem Tom-Jones-Album von 1999, mit dem der „Tiger“ den dritten oder vierten Frühling seiner Karriere einleitete, indem er mit jungen, angesagten Acts der Gegenwart Songs coverte, die allesamt jünger waren als seine eigenen ersten Hits. (Das Album war auch mein Erstkontakt mit The Divine Comedy, Barenaked Ladies, Catatonia und Portishead und es ist mir genau gerade aufgefallen, dass es eigentlich ungewöhnlich ist, dass sich ein 16-Jähriger das Spätwerk eines damals nur halbherzig als „Kult“ bezeichneten Crooners gekauft und darüber zeitgenössische Acts kennengelernt hat, aber ich war glühender Tom-Jones-Verehrer, seit ich ihn in „Mars Attacks!“ als nur halbherzig als „Kult“ zu bezeichnende Version seiner Selbst gesehen hatte.) Mit den Stereophonics sang der Waliser damals eine recht drängende Version von Randy Newmans „Mama Told Me Not To Come“, die bei mir so viel Eindruck machte, dass ich mich der Band selbst in der Folgezeit näherte.

Als wir im Juni 2000 mit unserem Lateinkurs eine Exkursion nach Köln unternahmen und nach Besuch des Doms und des Römisch-Germanischen Museums noch Zeit zur freien Verfügung hatten, überredete ich meine Freunde, mit mir zum Saturn-Stammhaus am Hansaring zu laufen, um dort nach CDs zu gucken. Das war damals angeblich der größte Plattenladen Deutschlands mit zahlreichen Etagen, Zwischen- und Kellergeschossen, in denen es kein Tageslicht gab, und jedes Mal, wenn die S-Bahn vorbeifuhr, vibrierten der Boden und die Regale voller CDs und Schallplatten. Und dort habe ich mir an jenem Tag die „Performance und Cocktails“ der Stereophonics gekauft.

Wenn man erstmal ca. 30 D-Mark in ein Album investiert hatte, hörte man es damals sehr intensiv für die nächsten Monate — meine CD-Sammlung war ja auch noch im Aufbau und so viel Auswahl hatte ich gar nicht, wenn ich den ganzen Tag Musik hören wollte. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die Stereophonics damals zu mir gesprochen hätten, aber ich mochte die energetischen Rocksongs, von denen es auf diesem Album nur so wimmelte, und die etwas ruhigeren Midtempo-Nummern und Balladen. Die Songs klangen alle, als hätten der Band beim Schreiben und Aufnehmen ein bisschen mehr als die üblichen 230 Volt zur Verfügung gestanden, und über die Stimme von Sänger Kelly Jones konnte man eigentlich nicht schreiben oder sprechen, ohne ein „Reibeisen-“ davor zu setzen. Wichtig war mir aber auch, dass die Musik, die ich hörte, in meiner Klassenstufe ansonsten eher unbekannt war — und die Stereophonics verkauften im Vereinigten Königreich und vor allem in ihrer Heimat Wales zwar Stadien aus, liefen in Deutschland aber weder bei Einslive noch bei Viva, was ich immer als gutes Zeichen betrachtete.

So wurde „Performance And Cocktails“ zum Soundtrack eines Sommers; als einzelne Songs auf Mixtapes und in voller Länge in meinem Discman, zum Beispiel an diesem einen Abend im Sommerurlaub, als ich mit meiner Familie ein Picknick am Strand von Domburg machte und die ganze Zeit einen Stöpsel im Ohr hatte. „The Bartender And The Thief“ hat mich gelehrt, wie man Uptempo-Nummern schreibt, „I Stopped To Fill My Car Up“, wie man Geschichten erzählt. „Just Looking“ mochte ich schon immer, aber ich habe erst mit zunehmendem Alter verstanden, worum es in diesem Lied ging und wie sehr es von mir handelte: „There’s things I want / There’s things I think I want“, beginnt der Erzähler, um sich dann zu fragen, was er eigentlich will — und zwar vom Leben. Daneben stehen, beobachten, lächeln, später davon berichten, aber nie aktiv Teil des Geschehens sein (wollen) — das hat lange einen großen Teil meines Lebens ausgemacht: „I’m just looking, I’m not buying / I’m just looking, keeps me smiling“.

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Ein paar Lebenskrisen und eine Therapie später weiß ich heute sehr viel besser, was ich will — und vor allem, was nicht. Wenigstens meistens. „You said that life is what you make of it / Yet most of us just fake“ soll nicht für mich gelten. Schon wegen dieses kathartischen Songs mittendrin wird „Performance And Cocktails“ immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen haben.


Stereophonics – Performance And Cocktails
(V2 Music; 8. März 1999)
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Unterwegs Gesellschaft

Als man damals nach Hamburg kam

Ich wünschte wirklich, es würde nicht stimmen, aber natürlich musste sich die „Du und wieviel von Deinen Freunden“ von kettcar in meinem Sony-Discman drehen, als ich heute vor 20 Jahren mit der U3 vom Hauptbahnhof nach St. Pauli fuhr und über den Spielbudenplatz ging. Mit meiner damaligen Freundin hatte ich mich auf den Weg nach Hamburg gemacht; die erste gemeinsame Reise, ein Besuch bei Internetfreunden, vor allem aber natürlich im Mythos Hamburg.

Das Grand Hotel van Cleef und seine Acts, Bands wie Tocotronic und Die Sterne und „Absolute Giganten“ — die Stadt und vor allem die Gegend um St. Pauli, Karolinenviertel und Sternschanze waren durch die Popkultur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit so aufgeladen, dass sie zumindest für uns eigentlich schon den gleichen touristischen Stellenwert hatten wie Michel, Fischmarkt und Landungsbrücken (die natürlich gleich doppelt): hingehen, Foto machen, abhaken, dort gewesen sein. Ich war gerade erst auf dem Sprung von Dinslaken nach Bochum, aber so, wie diese coolen Menschen in Cordhosen und Trainingsjacken mit einem Stadtnamen-Schriftzug drauf, die die entscheidenden paar Jahre älter waren als ich mit 20 und irgendwas „Kreatives“ machten, so wollte ich auch einmal sein und leben: Platten kaufen bei Zardoz, abends einfach vor die Tür gehen und ein Konzert besuchen; Miles in der Tanzhalle St. Pauli, Ash im Logo, mit der Bierflasche in der Hand vorm Molotow stehen.

Wenn ich die Fotos von damals betrachte, sehe ich vor allem, was nicht mehr da ist: die Esso-Hochhäuser und die Tankstelle davor, der Astra-Turm, der Kaispeicher A ohne Elbphilharmonie drauf — ich war, wie bei meinem ersten Berlin-Besuch 1995, rechtzeitig dagewesen, um heute nostalgisch zu sein. Dabei sind die wahren Opfer natürlich die, die da jahrzehntelang gewohnt haben. Die Gentrifizierung ist über Hamburg hinweggerauscht, alles ist voll mit Bio-Supermärkten, Lastenrädern, Cafés und alternden Hipstern, die jetzt Eltern sind und aussehen wie ich und meine peer group hier in Bochum — nur, dass wir viel weniger Miete zahlen. Wir sind alle Teil des Problems; die Investoren folgen den Kreativen wie Geier; am Ende wollen wir alle eine lichtdurchflutete Altbauscheiße. Aber sowas wie die Hafen City, das haben wir doch nie gewollt!

2009 hatte ich überlegt, nach Hamburg zu ziehen, aber es war mir damals schon zu teuer. Ich liebe die Stadt noch immer: das Licht, die Luft an der Elbe, das Schanzenviertel, trotz all der Gentrifizierung, und der schönste Regiolekt, den das Deutsche zu bieten hat. In meiner DNA bin ich zu zwei Achteln Hamburger und ich bilde mir ein, dass sich das bemerkbar macht (die zwei Achtel Aachener Revier spüre ich nullkommanull). Einige der besten Menschen, die ich kenne, leben in Hamburg. Falls ich Bochum jemals verlasse, dann nur für Hamburg, Wien oder San Francisco. I’d like to thank the academy (academy, academy).

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Musik Leben

25 Jahre „Clarity“

Dieser Eintrag ist Teil 1 von bisher 2 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Jimmy Eat World - Clarity (abfotografiert von Lukas Heinser)

So richtig gildet das ja gar nicht: „Clarity“ von Jimmy Eat World kam in Deutschland ja erst Ende Januar 2001 auf den Markt, fast zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung in den USA — auch etwas, was jungen Menschen heute nur noch schwer zu vermitteln ist, wo Musik einfach um Mitternacht Ortszeit bei den Streaming-Diensten auftaucht.

1999 wäre ich aber auch noch gar nicht bereit gewesen: ein 15-jähriges Kind, dessen sehr überschaubare CD-Sammlung überwiegend mit Film-Soundtracks und Radiopop von Phil Collins bis Lighthouse Family bestückt war. 2001 war das anders: Ich hatte inzwischen ein recht ordentlich gefülltes CD-Regal, eine Festplatte voller MP3s und Viva II und „Visions“ boten Ein- und Ausblicke auf all das, was musikalisch noch existierte. Und an Jimmy Eat World und ihrer Single „Lucky Denver Mint“ kam man dort nicht vorbei:

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Dieser Song klang gleichermaßen catchy und erwachsen. Wie die Musik vom „American Pie“-Soundtrack, aber ein ganz kleines bisschen sperriger. Ich weiß, dass ich das Album an einem Freitagnachmittag bei Radio Bohlen gekauft habe, jenem Unterhaltungselektronik- und Tonträgerhändler in der Dinslakener Innenstadt, bei dem schon mein Vater Stereoanlage und Schallplatten erworben hatte, und der kein halbes Jahr später seine Pforten für immer schließen sollte. (Seitdem ist ein DM an dieser Stelle.) Ich erinnere mich, dass ich noch schnell eine Kassette aufnahm, die ich am nächsten Tag hören konnte, während ich mit Schulfreund*innen bei der Inventur in der Filiale eines großen niederländischen Bekleidungskonzern aushalf, wie wir es zu jener Zeit öfter taten. Und ich weiß, dass die Songs von Jimmy Eat World in der Folge auf zahlreichen Mixtapes für mich und angehimmelte Mitschülerinnen landeten.

Vielleicht projiziere ich im Nachhinein zu viel in dieses Album hinein, vielleicht dachte ich aber auch schon mit 17, dass es mehr nach Studentenwohnheim als nach Jugendzimmer klang. Neben den klaren, eingängigen Singles „Lucky Denver Mint“ und „Blister“ war da ein Song wie „A Sunday“, wo sich tieftönende Gitarren mit Streichern und Glockenspiel mischten; das siebenminütige „Just Watch The Fireworks“, das sich immer wieder steigerte und die Richtung wechselte, wie irgendsoein Progrock-Song der 1970er, nur ohne dessen gleich mitgedachtes Kiffer-Publikum; die perlenden Klavier- und Gitarrensoli in „For Me This Is Heaven“, die sich spiegelten und vereinten wie eine Beethoven-Sonate, und natürlich der mehr als 16-minütige closer „Goodbye Sky Harbor“.

Ich kenne kein anderes Album, dessen Lyrics so gut in die Zeit gepasst hätten, in dem ich es fast jeden Tag gehört habe, ohne es zu merken. Fast jeder Song enthält mindestens eine Zeile, die ich mit Edding (oder wenigstens Bleistift) auf die Schultische hätte schreiben können, aber erst jetzt, mehr als 20 Jahre später, erfasse ich beim Hören, was uns die Band damals mitteilen wollte. Wie die Texte das Konzept „Emo“, schon Jahre vor My Chemical Romance und Fall Out Boy, auf eine Art ausreizten, die in der Rückschau bis an die Grenze der Selbstparodie reicht. Wie sehr dieses Album nur am Ende eines in jeder Hinsicht einzigartigen Jahrzehnts erscheinen konnte, etwa in einem Song, der sich explizit mit der Todsünde der so auf Authentizität bedachten 1990er Jahre beschäftigt, dem sell-out („Your New Aesthetic“).

Womöglich liegt irgendein tieferer Sinn in dem absurden Unterhaltungsindustrieprozess, der dafür sorgte, dass uns „Clarity“ nicht schon 1999 vor die Füße fiel, sondern wir bis 2001 darauf warten mussten. In der Rückschau, die ja vieles umdeutet und in sogenannte Narrative zwängt, war „Clarity“ jedenfalls der zwingende Soundtrack zu dem einen, letzten sorgenfreien Sommer: fast jedes Wochenende saßen wir am Rheinufer, machten illegale Lagerfeuer und hörten betont bedeutungsvolle Musik. Mindestens einmal im Monat waren irgendjemandes Eltern weg, was in einer sogenannten Stumrfrei-Party resultierte. „Unglücklich verliebt“ war die Default-Einstellung bei fast allen. Mein Sony-Walkman und die daran angeschlossenen In-Ear-Kopfhörer waren Teil meines Körpers.

Und Jim Adkins und Tom Linton sangen sich die Seele aus dem Leib:

When the time we have now ends
When the big hand goes round again
Can you still feel the butterflies?
Can you still hear the last goodnight?

Am 20. August begann dann für uns das letzte Schuljahr und drei Wochen später krachten die Flugzeuge ins World Trade Center und ins Pentagon. Aber das ist die Geschichte des Nachfolge-Albums „Bleed American“.

Jimmy Eat World – Clarity
(Capitol Records; 23. Februar 1999/29. Januar 2001)
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Musik

Neue Musik von Joy Denalane, Philine Sonny, Sincere Engineer, The Libertines

Es sind anstrengende Zeiten, aber Lukas sagt, mit ein bisschen Sonne und viel Musik wird das allermeiste ein bisschen besser. Deswegen gibt es heute energetischen Indierock von Bilbao, anrührenden Soul von Joy Denalane, Indiepop von Philine Sonny, ein ordentliches Brett von Sincere Engineer und mehr!

Und dann wollen wir noch wissen, was Eure Songs, Acts und Alben des Jahres 2023 sind! Schreibt uns eine E-Mail oder bei Instagram oder Facebook!

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Alle Songs:

  • Bilbao – Calling
  • Joy Denalane feat. Ghostface Killah – Happy
  • Philine Sonny – Drugs
  • Adam Melchor – Garment Bag
  • Paenda – Get Tough
  • The Last Dinner Party – My Lady Of Mercy
  • Sincere Engineer – California King
  • The Libertines – Run Run Run

Shownotes:

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Musik Politik

US-Bands auf Harte-Tour

Krieg sei Gottes Weg, den Amerikanern Geographie beizubringen, hat Jon Stewart mal in der „Daily Show“ gesagt. Dass es nicht genug wäre, die Lage und Umrisse irgendwelcher Länder auf einer Weltkarte wiederzufinden, müssen gerade einige US-Bands lernen. Wie das dann halt so oft der Fall ist: auf die harte Tour.

Die von mir immer noch sehr verehrten Killers haben am Dienstagabend in Batumi an der georgischen Schwarzmeerküste gespielt. Wie es Bands manchmal tun, holten sie für den Song „For Reasons Unknown“ einen Fan auf die Bühne, der bei dem Lied Schlagzeug spielen sollte. Sänger Brandon Flowers hatte wohl eine gewisse Vorahnung, als er ins Mikrofon sprach: „We don’t know the etiquette of this land but this guy’s a Russian. You OK with a Russian coming up here?“

[Video bei Twitter anschauen.]

Man könnte es als nahezu klassische amerikanische Unbedarftheit beschreiben, in einem Land, das zu 20 Prozent von Russland besetzt ist, mit der Verve eines Ferienclub-Animateurs zu fragen, ob es okay sei, einem Staatsbürger der Besatzungsmacht eine buchstäbliche Bühne zu bieten.

Offenbar nach dem Auftritt des Russen versuchte sich Flowers an einem völkerverbindenden Appell, indem er das Publikum fragte, ob es den Mann nicht als seinen „Bruder“ akzeptieren könne, und mit einer Mischung aus ca. zwei Drittel Unverständnis und einem Drittel Benzin nachhakte: „We all separate on the borders of our countries? Am I not your brother, being from America?”

Ein weiteres Video bei Twitter zeigt recht beeindruckend, wie die Stimmung in der Arena hin und her kippt.

Das Publikum verließ offenbar in größeren Teilen die Black Sea Arena, die Band spielte das Konzert aber zu Ende — wobei sich die durch „For Reasons Unknown“ schon anmoderierte Ironie in den folgenden Titeln „Runaway Horses“ und „Runaways“ endgültig Raum brach.

Nun kann man natürlich darüber diskutieren, ob es in Ordnung ist, einen Mann auszubuhen, von dem man außer seiner Staatsbürgerschaft nichts weiß — dies aus dem wohl temperierten, ungefährdeten Wohnzimmer in Deutschland oder den USA zu tun, wäre aber wohlfeil. Als die russische Sängerin Polina Gagarina 2015 beim ESC in Wien ausgebuht wurde, als ob sie persönlich im Jahr zuvor die Krim annektiert hätte, konnte man das mit einiger Begründung ungerecht finden — aber eigentlich auch nur, weil es in Österreich geschah und nicht in der Ukraine oder in Georgien.

Dass er mit seinem theoretisch vorbildlich humanistischen „Sind wir nicht alle Brüder und Schwestern?!“-Vortrag in einem teilweise besetzten Land praktisch leider die intellektuelle Flughöhe von „Jetzt stimmt doch endlich Friedensverhandlungen zu!“-Appellen von einigen deutschen Kulturszenefiguren, AfD-Mitgliedern und Sahra Wagenknechts an die Adresse der Ukraine (also: unterhalb des Radars des Faktischen) gestreift hatte, ist Flowers immerhin schnell aufgefallen. Am Mittwoch veröffentlichte die Band ein Statement auf Twitter (oder wie der Bums jetzt heißt), in dem die Band ihr Bedauern ausdrückte:

The Killers bei Twitter: Good people of Georgia, it was never our intention to offend anyone! We have a longstanding tradition of inviting people to play drums and it seemed from the stage that the initial response from the crowd indicated that they were okay with tonight

(Bonuspunkte für die sonst bei öffentlichen Abbitten eher selten anzutreffende Gabe, einerseits auf fehlende Absicht zu verweisen, sich andererseits aber trotzdem zu entschuldigen — und zwar ohne einen blöden Zusatz wie „sollte sich jemand betroffen fühlen“!)

Den Lernprozess noch vor sich haben Imagine Dragons, die lustigerweise wie die Killers aus Las Vegas, Nevada kommen, angeblich ähnliche Musik machen, für mich aber eine der schlimmsten Bands der Welt sind. Ihre Musik soll hier aber keine Rolle spielen, denn sie haben ganz anderen Ärger an der Backe: Serj Tankian, Sänger der armenischstämmigen amerikanischen Rockband System Of A Down, hat sie öffentlich aufgefordert, ihr für September geplantes Konzert in der aserbaidschanischen Haupstadt Baku abzusagen.

Tankian, der auch schreibt, die Band zunächst direkt kontaktiert zu haben (auch hier: Bonuspunkte für anständiges Verhalten!), führt in seinem Facebook-Post aus, dass Aserbaidschan (genauer: das „petro-oligarchic dictatorial regime“ des Landes, eine rundherum angemessene Formulierung) im Gebiet Nagorny Karabach, dessen Zugehörigkeit zu wahlweise Armenien oder Aserbaidschan seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten umstritten ist, gerade einen Völkermord an den dort lebenden Armenier*innen verübe: Die Menschen sollen systematisch und buchstäblich ausgehungert werden; seit Juli darf nicht mal mehr das Rote Kreuz zur humanitären Hilfe in die Region (mehr zu der aktuellen Lage hier). Dabei verweist Tankian auch auf eine Online-Petition, die die Band zum Umdenken bewegen soll.

Auch hier könnte man jetzt über das Für und Wider einer solchen Petition sprechen: Man könnte sich auf die Position zurückziehen: „Don’t mix pop with politics“. Man könnte auf Bruce Springsteen in Ost-Berlin verweisen oder westliche Rockbands, die in den 1980er Jahren in der Sowjetunion gespielt haben. Aber auch hier wäre das einzig passende Adjektiv wieder: „wohlfeil“. Alles, wirklich alles, was an öffentlichkeitswirksamen Ereignissen in Aserbaidschan geschieht, kommt dem Regime um Machthaber Ilham Alijev zugute — jedes Konzert von Rihanna oder Shakira, jedes Autorennen, jedes international bedeutsame Fußballspiel, jede sonstige Sportveranstaltung. Und natürlich auch ein wohlwollender Empfang beim deutschen Bundeskanzler.

Aserbaidschan, 2012

Ich war vor elf Jahren in Baku, als die Lage im Land schon sehr, sehr schlimm war — und alle, die sich mit der Situation dort auskennen, sagen, dass alles seitdem noch viel, viel schlimmer geworden ist. Es tut mir leid für die Menschen im Land, die ich als wahnsinnig gastfreundlich und stolz erlebt habe, und ich wünsche ihnen alle Kraft, um die Verhältnisse in ihrem Land zu ändern (and the choir goes: „wohl-feil!“), aber angesichts des Elends der Armenier*innen in Nagorny Karabach scheint mir der Verzicht auf ein Rockkonzert mehr als akzeptabel. Und Imagine Dragons könnten ihre Popularität nutzen, um auf die Missstände im Land aufmerksam zu machen.

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Print Sport

Wie der Scorpions-Song

Man vergisst das angesichts immer neuer Verfahren gegen Donald Trump, angesichts von sich überschlagenden und ineinander verkeilender Krisen, schnell, aber es gab mal einen US-Präsidenten, der Barack Obama hieß. Sein (erfolgreicher) Wahlkampf 2008 gründete unter anderem auf dem von Bob, dem Baumeister, entlehnten Slogan „Yes, we can“, der als Mem eine zeitlang die digitale und vor allem analoge Welt beherrschte.

Bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ haben sie ein gutes Gedächtnis (oder Archiv), denn so sah am Montag der Sportteil aus:

Grafik in der F.A.Z.: „Yes we Kane?“

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Gesellschaft Fernsehen

Wo Hafer und Korn verloren sind

In den letzten Wochen ging ein kurzes Video viral, das die beiden Medienpersönlichkeiten Markus Lanz (* 1969) und Richard David Precht (* 1964) auf dem „Kongress Zukunft Handwerk“ zeigt — ansonsten aber ganz in ihrem Element, der gegenseitigen Zustimmung:

Lanz: „[…] so ‘ne gefühlige Gesellschaft geworden. Ja, so ‘ne Hafermilch-Gesellschaft, so ‘ne Guavendicksaft-Truppe, die wirklich die ganze Zeit auf der Suche nach der idealen Work-Life-Balance ist.“

[Schnitt.]

Precht: „Also, ich würde sogar noch etwas radikaler sein. Ich würde sagen: In der Generation meiner Eltern, erst recht meiner Großeltern, haben sich 90 Prozent aller Menschen, wenn sie gearbeitet haben, die Sinnfrage gar nicht erst gestellt. Jetzt sieht es natürlich so aus, dass nahezu alle jungen Menschen ins Leben gehen unter der Vorstellung, das Leben ist ein Wunschkonzert. Was ist die Folge? Ja, Du fängst was an und beim ersten leisen Gegenwind denkst Du: Nee, nee, das war das Falsche; schmeißt die Flinte wieder ins Korn.“

Dieser Ausschnitt hat zu einer ganzen Reihe öffentlicher Äußerungen geführt, hier ist die nächste:

Ich habe natürlich nicht den ganzen Auftritt der beiden gesehen, denn wenn ich zwei Männer sehen will, die einander, vor allem aber sich selbst, geil finden, gucke ich mir weichgezeichnete Schwulen-Pornos an.

Als erstes muss man Lanz vermutlich dankbar sein, dass er nicht von „Algarven-Dicksaft“ gesprochen hat.

Dann muss man anerkennen, dass er seinen Barth ziemlich genau studiert hat. „Hafermilch“ ist in gewissen Kreisen schließlich das, was „Schuhgeschäft“ in anderen ist: eine Abkürzung zum Gelächter, die mechanische Auslösung eines Reflexes anstelle einer ausgearbeiteten Pointe. Der Dumme August tritt dem Weißclown in den Hintern und Grundschulkinder quieken entzückt auf — wobei wir noch klären müssen, wer in diesem Ausschnitt eigentlich welche Rolle einnimmt (ich persönlich würde sagen: Es gibt außerhalb von Tierquälerei im Circus nichts Schlimmeres als den Weißclown, von daher sind einfach beide einer).

Ich möchte eigentlich nicht den gleichen Fehler begehen wie Lanz, Precht und die Leute, die ihnen zustimmen, und gleich ad hominem gehen. Nur: So viel anderes als ihre Persönlichkeiten (oder zumindest ihre öffentlichen personae) haben die beiden ja gar nicht zu bieten. Beide wirken wie die Personifizierungen des Aphorismus (und falschen Karl-Kraus-Zitats), wonach bei niedrig stehender Sonne der Kultur auch Zwerge lange Schatten würfen. Sie sind – ob aus Zufall, Kalkül, Patriarchat oder schlichtem Versehen – im Laufe der Zeit zu dem geworden, was sich sprichwörtliche Durchschnittsdeutsche unter einem Journalisten und einem Philosophen vorstellen. Schon allein das ist ungefähr so absurd, als ob diese Prototypen in den 1990er Jahren mit Hans Meiser und Helmut Markwort besetzt worden wären.

Wenn man sich den Ausschnitt ganz genau anguckt, wird man den Eindruck nicht los, dass der Sit-Down-Comedian Lanz die Begriffe „Hafermilch-Gesellschaft“ und „Guavendicksaft-Truppe“ von langer Hand vorbereitet hat (oder vorbereiten hat lassen) und das stolze Grinsen unterdrücken muss, als sie beim Publikum den erhofften Erfolg erzielen. Er ist da ganz wie in seiner Fernsehsendung: wahnsinnig gut vorbereitet und deshalb so natürlich wie ein Versicherungsmakler kurz nach Beginn der Ausbildung. Es ist mir ein Rätsel, wieso Annalena Baerbock ständig vorgeworfen wird, wie eine „Schülersprecherin“ aufzutreten, Markus Lanz aber immer so eilfertig rumamthoren darf, ohne dass seine Gesprächspartner*innen ihn einfach anschreien (bzw. natürlich kein Rätsel, sondern ein Patriarchat).

„Hafermilch“ ist dabei das, was „Sojamilch“ vor zwölf Jahren war und davor „Latte Macchiato“: ein angeblich suspektes Getränk, das von Menschen getrunken wird, die man irgendwie ablehnt.

Schon diese Milch-Obsession schreit ja eigentlich direkt nach einer Freudianischen Einordnung — gerade bei einem Mann mit so einer Kondensmilch-Mentalität wie Lanz. Da will man direkt kontern: „Echte Männer sind für mich nur die, die von einer Wölfin gesäugt und aufgezogen wurden!“ Oder: „Wenn Du morgens um fünf aufstehst, um oben auf der Alm die Kühe zu melken, können wir über meinen Hafermilch-Konsum sprechen, aber ansonsten sei einfach still!“ Unlustiger kann’s eigentlich nur noch werden, wenn als nächstes jemand sagt: „Bielefeld gibt’s ja gar nicht!“

Humortheoretisch steht die Hafermilch dabei in der Tradition des Dinkel-Bratlings, mit dem Komiker*innen in den 1980er und 90er Jahren reüssieren konnten. Man könnte jetzt erwidern, dass vegetarische oder vegane Ersatzprodukte im Laufe der Jahrzehnte eine Entwicklung durchgemacht haben, die man auch dem deutschen Humor gönnen würde, aber da würde man schon wieder den grundsätzlichen, kapitalen Fehler begehen und sich in ein argumentatives Gespräch stürzen, wo von der Gegenseite nun wirklich keines gewünscht ist.

Lanz hat aber nicht nur seinen Barth studiert, sondern auch seinen Schmidt: Der einstige deutsche Groß-Humorist Harald Schmidt, dessen Lebenswerk man auch noch mal neu betrachten müsste, seit man weiß, dass es relativ unmittelbar zu Jan Böhmermann geführt hat, war 2019 in einem ORF-Interview auffällig geworden, in dem er moderne Väter als „Familientrottel“ bezeichnete (damals sehr schön dokumentiert und gekontert von Martin Benninghoff im F.A.Z.-Familienblog). Wenn Schmidt von „Daddy Weichei“ spricht und Lanz mit hörbarer Distanzierung von „Work-Life-Balance“, wüsste man gerne, was deren Kinder dazu sagen — und hat den Verdacht, dass es interessanter sein könnte als das, was ihre Väter seit Jahren so von sich geben.

Auch eine Umfrage in Prechts Familie wirkt verlockend: Vielleicht hätten Eltern und Großeltern „die Sinnfrage“ ja doch ganz gerne mal gestellt? Ich hab sicherheitshalber mal in der Wikipedia nachgeguckt, in was für Verhältnissen der Mann aufgewachsen ist:

Sein Vater, Hans-Jürgen Precht, war Industriedesigner bei dem Solinger Unternehmen Krups; seine Mutter engagierte sich im Kinderhilfswerk Terre des hommes. Richard David Precht hat vier Geschwister; zwei davon sind vietnamesische Adoptivkinder, die seine Eltern 1969 und 1972 als Zeichen des Protests gegen den Vietnamkrieg aufgenommen haben.

Okay, das hätte ich nach der Anmoderation nicht erwartet. (Bonustrack des Wikipedia-Eintrags: Die Antwort auf die Frage, wie man sich eigentlich das Adjektiv „selbstgefällig“ bildlich vorzustellen habe.) Irritierender ist aber noch, dass Precht, der ja gerne als „Philosoph“ wahrgenommen werden will, positiv hervorhebt, dass niemand „die Sinnfrage“ gestellt habe. (Auch das kann natürlich wieder Sinn ergeben: Wenn in seiner Familie wirklich nicht viel gedacht worden wäre, hätte er mit dem bisschen, was er so an Selbstgedachtem präsentiert, natürlich ordentlich auftrumpfen können.)

Eigentlich sollte man Mitleid haben mit Menschen, die so denken. Die gesellschaftlichen Fortschritt nicht als solchen begreifen, sondern als Degeneration. Die eine Art Stockholm-Syndrom entwickelt haben, gegenüber der „Leistungsgesellschaft“ und gegenüber ihren Vorfahren, die sich oft genug derart abgeracktert haben, dass am Ende nicht nur keine balance übrig war, sondern mitunter auch gar kein life mehr. Wer so denkt, befindet sich bereits weit unten auf einer abschüssigen Ebene, die mit Schmierseife eingerieben ist und hinführt zum Satz: „Manchmal haben mir meine Eltern auch eine verpasst, aber das hat mir auch nicht geschadet.“

Von meinem Urgroßvater ist überliefert, dass er als Kind bei Tisch nur sprechen durfte, wenn er angesprochen wurde, und Vater und Mutter zu Siezen hatte. Ihre eigenen Kinder erzog diese Generation dann auf Grundlage des nationalsozialistischen Erziehungsratgebers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, deren größte Sorge es war, dass das Kind „verweichlicht“ — ein Buch, das auch in der Nachkriegszeit noch als Klassiker der Erziehungsliteratur galt, ehe es vom nächsten Bestseller abgelöst wurde, der wieder propagierte, dass man Kinder am Besten alleine lässt, wenn sie Nähe brauchen. Naheliegend, dass man, wenn man so aufgewachsen ist, „gefühlig“ für ein Schimpfwort hält.

Es ist eine Sache, wenn man sich in der Vergangenheit geirrt hat: Als die ersten Zigaretten aufkamen, konnte man allenfalls ahnen, wie schädlich Rauchen sein würde (damals mutmaßlich auch nicht schädlicher als die normale Atemluft einer Industriestadt); Atomstrom galt mal als Versprechen einer „sauberen Zukunft“ und Heroin war mal für kurze Zeit das Wundermedikament der Firma Bayer. Aber eine Idee, die sich im Nachhinein als schlecht herausgestellt hat, noch zu feiern, dafür bedarf es schon einiger Energie, die man besser anderweitig investiert. (Oder man wählt am Ende doch Friedrich Merz zum Parteivorsitzenden.)

Es sind schöne Erwiderungen auf Lanz und Precht geschrieben worden, zum Beispiel von Birgitta Stauber-Klein (Ein Doppelname! Feiertag für alle Hobby-Komiker!) in der „WAZ“ und von Christian Spiller im Sportteil von „Zeit Online“. Aurel Merz hat ein schönes, kurzes Video auf einem Junge-Leute-Portal namens TikTok gepostet. Die Begriffe „Boomer“ (Lanz ist streng genommen Generation X, aber ich sehe bei ihm auch keine Verbindung zu Ethan Hawke) und „deutsch“ tauchen immer wieder auf, aber auch „Generationenkonflikt“.

Und tatsächlich gibt es ja genug ältere Herren, die es als Aufmerksamkeitsgarantie (der Begriff „Alleinstellungsmerkmal“ verbietet sich komplett) erkannt haben, onkelhaft über jüngere Menschen und deren Themen sprechen. Sie gefährden dabei offenbar gerne den eigentlich positiven Ruf, den sie bei den jüngeren Generationen hatten, um noch eine vielleicht letzte Runde Schulterklopfen bei ihren Altersgenossen zu ernten. (Ich verzichte in diesem Absatz auf gendergerechte Sprache — nicht, um die Nerven der Angesprochenen zu schonen, sondern weil es eigentlich fast immer Männer sind. Aus Gründen der Ausgewogenheit möchte ich trotzdem sagen: Alice Schwarzer, Gloria von Thurn und Taxis.) Man kann nun milliardenfach daran erinnern, dass Satire sich ja „eigentlich“ immer gegen „die da oben“ richte, aber für Harald Schmidt, Dieter Nuhr (und im erweiterten Sinne auch: Thomas Gottschalk, Jürgen von der Lippe und am Ende alle Leute, die unter einem Artikel bei Welt.de kommentieren) sieht es so aus, als sei das, was sie irgendwie falsch, lächerlich oder bedrohlich finden, gesamtgesellschaftlich dominant.

Wenn man sich durch bestimmte Gegenden deutscher Großstädte bewegt, wird man dort halt auf „Mitt- bis Enddreißiger mit Struwwelpudelmütze“ (Schmidt; ich fühle mich ertappt, kann damit aber gut umgehen) oder eben „nahezu alle jungen Menschen“ (Precht) treffen, die dort vor allem deshalb Zeit mit ihren Kindern verbringen, weil es ihnen finanziell möglich ist und sie die oft zu erwartenden Widerstände von Seiten der Arbeitgeber auszuhalten bereit sind. Aber schon dieser Eindruck ist ein Zerrbild: 2022 haben Frauen durchschnittlich 14,6 Monate Elternzeit beantragt, Männer nur 3,6. Schon ein paar Straßen weiter kann es ganz anders aussehen. (Wobei ich da auch vor allzu vereinfachenden Gedanken warnen möchte: Vielleicht ist es in einem eher linken, akademischen Milieu weiter verbreitet, auf die eigenen Bedürfnisse und – vor allem – die seiner Kinder zu achten, aber ich erlebe es regelmäßig im Fußballverein des Kindes, dass andere Eltern, die man der „Arbeiterklasse“ zurechnen würde, ebenfalls sehr sensibel auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und die Leistung auf dem Platz nicht im Vordergrund steht. Mario Basler würde es hassen.)

Aber klar: Wenn man in ein urbanes Café geht und da Eltern sitzen, die ihre Kinder nicht durchgehend zurechtweisen, und man dazu vielleicht noch jede Menge Witze zu anti-autoritärer Erziehung (schlag den Unterschied nach, Jürgen!) im Stehsatz hat, sieht man mit jedem Hafermilch-Kaffee den Untergang der Welt – wenn nicht gar den der deutschen Wirtschaft – auf sich zukommen. So, wie die Leute, die mit der Straßenbahn zum Jobcenter fahren, um dort entwürdigende Fragen über sich ergehen lassen zu müssen, auch irgendwann denken, dass das ganze Land voller „Ausländer“ ist, weil sie in ihrem Alltag eben vor allem Menschen sehen, die „anders“ ausschauen, und sehr wenige Rechtsanwälte, die mehrere Mietshäuser haben, BMW fahren und FDP wählen.

Lanz’ Vortrag in dem Ausschnitt erinnert nur an eine unterdurchschnittliche Büttenrede, Prechts verallgemeinerndes „Wunschkonzert“-Geblubber macht mich wirklich wütend. Dafür habe ich zu viele Freund*innen immense Herausforderungen und Tiefschläge überwinden sehen, um mir diese Pauschal-Beleidigungen eines Millionärs anzuhören, der in jungen Jahren sicherlich oft genug gefragt wurde, ob er eigentlich studiere, um dann Taxi zu fahren. Fehlt wirklich nur noch, dass auch er von „Verweichlichlung“ spricht!

Die These, dass „früher“ alles besser gewesen sei, vor allem der Journalismus, wurde nahezu zeitgleich zum Hafermilch-Eklat von einem früheren Journalisten widerlegt, der sich im Ruhestand offenbar so sehr gelangweilt hatte, dass er sich für eine letzte Runde Applaus von Seiten der AfD und anderer Reaktionär-Katastrophen noch einmal in die Manege erbrach. Ich bin ja grundsätzlich bereit, über alles zu diskutieren, aber wenn im zweiten Absatz das Adjektiv „linksgrunzend“ auftaucht wie in einem „Welt“-Leser-Kommentar, was für eine Diskussionsgrundlage soll ich da noch annehmen? Dafür ist mir dann, Hashtag Work-Life-Balance, wirklich meine Lebenszeit zu kostbar.

Und dann ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass so ein bisschen Generationenkonflikt vielleicht gar nicht so schlecht ist — wie soll man denn sonst als Gesellschaft weiterkommen? Ich lese gerade endlich mal „Die Palette“ von Hubert Fichte; ein Buch, das 1968 erschienen ist. Und dann fiel mir auf: Dieses mystische Jahr 1968 ist vom Kriegsende so weit entfernt wie wir heute vom Jahr 2000. Das ist einige Krisen (9/11, Finanzkrise, Ukraine-Krieg, COVID-19-Pandemie) her, aber erscheint selbst mir, der ich damals 16 war, gar nicht so weit weg. Die 20-Uhr-„Tagesschau“ vom 14. August 2000 wurde von Jens Riewa verlesen und ihre Themen waren: das russische Militär, ein beleidigter Altkanzler, Rechtsextremisten im Internet, besserer Mobilfunk, Umweltschutz und Nordkorea. (Okay, das war jetzt der Pointe wegen etwas vereinfacht. Es ging um den Untergang des russischen Atom-U-Boots „Kursk“, die Nicht-Teilnahme von Helmut Kohl an der Feier zum Tag der deutschen Einheit, ein geplantes NPD-Verbot, die Versteigerung der UMTS-Lizenzen, die Schließung einer Bleischmelze im Nordkosovo, die Verbindungsbüros zwischen Nord- und Südkorea und noch einige andere Themen wie die vorzeitige Haftentlassung des Kaufhaus-Erpressers „Dagobert“.)

Wenn Menschen und Medien heute – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Anekdote wie dem Auftritt von Lanz und Precht – behaupten, eine solche gesellschaftliche Spaltung habe es noch nie gegeben, bestätigt das einmal mehr meine These, dass wir in Deutschland mehr Geschichtsunterricht brauchen: Stichwort Wiederbewaffnung, Stichwort 1968, Stichwort RAF, Stichwort Umweltbewegung. Oder einfach überhaupt mal: Rock’n’Roll! (Oder, wie Thomas Gottschalk es nennt: „Noch richtige Musik.“) Das waren noch Konflikte, die Familien auseinandertrieben!

Deutschland ist in 16 Jahren unter Angela Merkel so durchschnittlich und lauwarm geworden, dass es manchen Leuten als linksradikal gilt, die Umbenennung fragwürdiger Straßennamen zu fordern, und als rechts, Fleisch zu essen. Auch, weil jede Nischen-Position (von denen es immer schon viele gab) heute medial aufgeblasen und zur Glaubensfrage hochphantasiert wird. Und war nicht meine Generation, die Generation Y, am Ende viel zu nett? Da ist es doch gut, wenn die Generation Z jetzt mal ein bisschen auf den Tisch haut! Für Leute wie Lanz, Precht oder Schmidt sind wir wahrscheinlich eh alle eine uniforme, irgendwie „jüngere“ Masse, die in geschlechtsneutralen Badezimmern mit Asterisken und Hafermilch die deutsche Wirtschaft schwächen.

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Sport

Du und Dein VfL

Trainingsauftakt beim VfL Bochum

Heute Vormittag: Trainingsauftakt beim VfL Bochum. Viel weiter kannst Du im Profifußball nicht von Messi, Ronaldo, Mbappé und den Scheich-Milliarden entfernt sein. Dafür sind die Fans mit ihrer ganzen Familie ganz nah dran, kaufen die (wirklich sehr schönen) neuen Trikots und essen Currywurst.

Vor der dritten Bundesliga-Saison in Folge haben sich die Erwartungshaltung der Anhänger*innen und das Selbstverständnis der Offiziellen ein bisschen verschoben: Diesmal soll es nicht mehr nur um den Klassenerhalt gehen, ein wenig weiter oben erscheint denkbar. Von allen Ruhrgebietsvereinen kommt der VfL jedenfalls mit dem größten Rückenwind aus dem letzten Spieltag der letzten Saison.

Beim Trainingsspiel liefern die rund 1.500 Fans schon mal einen Vorgeschmack, wie es mit 28.000 klingen wird. Von den Neuverpflichtungen ist noch nicht ganz so viel zu sehen, einige Fans müssen die neuen Spieler auch erstmal googeln, bevor sie diese um ein Autogramm bitten, aber: Hey, es geht ja gerade erst los!

Die vor vier Jahren noch so gefürchteten und chronisch unzufriedenen Fans sind optimistisch — was sie natürlich trotzdem nicht davon abhält, auf der Tribüne rumzumeckern. Doch trifft es heute eher die eigenen Kinder oder abwesende Dritte.

Quasi parallel hat Herbert Grönemeyer für den 12. Juni 2024 sein erstes Konzert im Ruhrstadion seit neun Jahren angekündigt. Selbst, wenn es für den VfL nicht so rund laufen sollte: Die Relegationsspiele sind bis dahin über die Bühne gegangen.

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Film Fernsehen

Streaming-Tipps Juni 2023

Bevor ich mich mutmaßlich bald bei Netflix abmelde, habe ich mal ein paar Sachen von meiner „Das wolltest Du Dir irgendwann vielleicht mal angesehen haben“-Liste geschaut: Den Film „Die Schlacht um die Schelde“, die zweitteuerste niederländische Produktion aller Zeiten, hatte ich aus zwei Gründen sehen wollen: zum einen, um mein Niederländisch zu trainieren, zum anderen, weil die titelgebende Schelde bei Walcheren in die Nordsee mündet, also dort, wo ich seit Jahrzehnten am Liebsten meine Urlaube verbringe. Die Schlacht an der Scheldemündung diente der Befreiung des Hafens von Antwerpen, den die Westalliierten für ihre Nachschubversorgung brauchten, und war insofern eine der vielen entscheidenden Schlachten des 2. Weltkriegs. Zwischen „Der Soldat James Ryan“-ähnliche Schlachtenszenen erzählt der Film eher kleine, alltägliche Dramen, die in keinem Geschichtsbuch vorkommen würden, von denen man aber annehmen muss, dass es sie tausendfach gegeben hat. Unter anderem wird der Topos „charismatischer Nazi“ von Justus von Dohnanyi hier noch mal sehr gruselig neu mit Leben gefüllt. Tatsächlich wird in dem Film weniger Niederländische gesprochen als Deutsch und Englisch (in der deutschen Synchronfassung sprechen mutmaßlich wieder alle die ganze Zeit Deutsch, weil das halt immer so ist), aber ich fand ihn schon recht beeindruckend und bedrückend.

Ebenfalls bei Netflix läuft die 40-minütige Dokumentation „The Martha Mitchell Effect“. Martha Mitchell war die Ehefrau von John N. Mitchell, dem Wahlkampfmanager Richard Nixons und späterem US-Justizminister, und als der Watergate-Skandal begann, begann sie sofort, Präsident Nixon selbst zu beschuldigen. Martha Mitchell wurde von den mächtigen Männern in Washington diskreditiert und als alkoholkranke mad woman abgestempelt. Ihr Ruf und ihre Ehe waren ruiniert, sie starb bald darauf — und fast alle Vorwürfe, die sie erhoben hatte, stellten sich im Nachhinein als wahr heraus (die anderen gelten als noch nicht bestätigt). Auch dieser Film ist beeindruckend und bedrückend und auch handwerklich sehr gut gemacht.

Auch der Dokumentarfilm „Circus Of Books“ läuft auf Netflix. Die Regisseurin Rachel Mason erzählt hier die Geschichte ihrer Eltern Karen und Barry, die als jüdisches Hetero-Paar einen der bedeutendsten Läden für schwule Literatur und Pornografie in LA betrieben haben. Wie es dazu kam, ist absurd; wie sich konservative Politik und die AIDS-Epidemie auf die Arbeit und das Leben der Familie auswirkte, ist erschütternd; und welche Folgen das Internet und Dating Apps für das Geschäft haben, kann man sich ausmalen. Dies alles aus nächster Nähe von der Familie geschildert zu bekommen, ist sehr beeindruckend.

Bei Disney+ schließlich habe ich „In & Of Itself“ gesehen. Ich hatte schon einiges darüber gehört, meist verbunden mit dem Hinweis, dass man nicht erklären könne, was das sei. Das stimmt. Formal ist es der Mitschnitt einer Show des Zauberers Derek DelGaudio, die 552 mal in einem kleinen Theater in New York City zur Aufführung gekommen war. DelGaudio zeigt darin Taschenspielertricks, er erzählt Teile seiner Lebensgeschichte und sorgt später für im vielfachen Sinne magische Momente. Es ist für Zauberei in etwa das, was „Nanette“ von Hannah Gadsby für Comedy ist: eine völlige Dekonstruktion und ein Sprung auf die nächste Daseinsstufe (und das exakte Gegenteil von den Ehrlich Brothers bzw. Mario Barth). Ich kann es leider auch nicht erklären, aber darum geht es ja: Im Sinne von Elisabeth Kübler-Ross bin ich recht schnell von denial zu acceptance gesprungen und habe gar nicht mehr versucht, zu verstehen, wie die Tricks funktionieren könnten. Ich war Fox Mulder: I want to believe. Selbst wenn Euch Zauberei gar nicht interessiert, solltet Ihr Euch „In & Of Itself“ anschauen! (Nicht zuletzt, weil es eine wahnsinnig spannende Erfahrung ist, von einer title card aufgefordert zu werden, sein Handy wegzulegen und alle Ablenkung zu unterlassen.)


Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter, für den man sich hier anmelden kann.

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Musik Leben

In memoriam Tina Turner

Wie stark einen die Nachricht vom Tod einer berühmten Person trifft, hängt von mehreren Faktoren ab: Zuerst einmal natürlich von der Bedeutung dieser Person und ihres Schaffens für das eigene Leben; dann von ihrem Alter und der … nun ja: Erwartbarkeit des Todes, aber auch vom Zeitpunkt und dem Weg, wie man von ihrem Ableben erfährt. Ich war gestern in einer recht aufgeräumten Feierabend-und-nichts-Konkretes-vor-Stimmung, als mir ein Freund und Kollege einen Screenshot schickte, dass Tina Turner gestorben sei. Entsprechend hatte ich Zeit und Muße, sofort sehr ausgiebig ihre Musik zu hören und mich in den im Minutentakt auf Social Media vorgebrachten Huldigungen zu verlieren.

Es gab eine Zeit, da gehörte die Musik von Tina Turner zu meinem Elternhaus wie die Möbel des Profilsystems von Flötotto, das Bang-&-Olufsen-Festnetztelefon Beocom 2000 und das sonnengelbe Steingutgeschirr der Marke Thomas. Ihre Hits der 1980er und frühen 1990er Jahre waren wichtiger Bestandteil jener Mixtapes, die mein Vater für sogenannte Feten zusammengestellt hatte und die dann, immer einen Tacken zu laut für durchschnittliche Gespräche, zunächst das gesellschaftliche Beisammensein und Essen untermalten, ehe es zum Äußersten kam und erwachsene Menschen in einer Art ungelenkem Halftime-Pogo über die im Wohnzimmer geschaffenen Freiflächen tanzten. (Weitere unabdingbare Songs für diese Anlässe: die Miles-Davis-Interpretation von Michael Jacksons „Human Nature“; „Ella, elle l’a“, dieser Spät-Hit einer anderen Großkünstlerin im dritten Akt: France Gall; irgendwas von Herbert Grönemeyer, Patricia Kaas und Phil Collins und – zu später Stunde – das ebenso unvermeidliche wie unoriginelle „Smoke On The Water“ von Deep Purple, zu dem dann auch schon mal auf Küchenbesen Nicht-mehr-nur-Luft-Gitarre gespielt wurde. Vielleicht baue ich irgendwann mal eine Spotify-Playlist aus diesen Party-Hits — oder ich gehe noch mal in Therapie.)

Songs wie „The Best“, „I Don’t Wanna Lose You“, „What’s Love Got To Do With It“, „Why Must We Wait Until Tonight“, „Private Dancer“ oder „Steamy Windows“ waren mir so selbstverständlich, dass sie natürlich auch auf meinen ersten eigenen Mixtapes landeten, die – in Ermangelung eigener CDs – natürlich auch nur die Musiksammlung meiner Eltern wiedergaben. Ich habe gestern Abend beim Wiederhören (teilweise nach mehreren Jahrzehnten Pause) nur halb überrascht festgestellt, wie sexuell viele dieser Songs waren, was ich als Zehnjähriger natürlich nicht begriff — aber ich bin mir sicher, dass z.B. „Steamy Windows“ („Coming from the body heat“) schon damals eine seltsame Verheißung mit sich brachte, die eher nicht aus der Musik eines Phil Collins sprach.

Wir tendieren ja dazu, popkulturelle Phänomene – wie alles, mit dem wir aufwachsen – als buchstäblich natürlich zu betrachten. Insofern war Tina Turner zur Wende-Zeit selbstverständlich einer der größten lebenden Popstars und ich wusste nichts über ihr Davor, die erst produktive, dann katastrophale Ehe mit Ike und ihr Comeback in den 1980er Jahren. Dieses Wissen um ihren biographischen Hintergrund lässt ihr Schaffen im Nachhinein natürlich noch einmal um so größer erscheinen, lässt jeden einzelnen, auch nur halb-selbstbewussten Song zum Statement werden und sie als Künstlerin umso mehr zur Ikone. Dass sie bei Veröffentlichung von „The Best“ (ich lerne gerade, dass die ursprüngliche Version dieses Songs von Bonnie Tyler stammt) fast 50 Jahre alt war – ein für damalige Verhältnisse ungeheuerliches Alter für einen weiblichen Popstar – erscheint mir auch vor allem in der Rückschau bemerkenswert — als Kind ist „Alter“ eine absolut uneinsehbare Kategorie und es gibt nur „alt wie Mama und Papa“, „alt wie Omi und Opi“ und „die älteren Geschwister von Freund*innen“, was auch wirklich alles umfassen kann. Aber ich war gleichermaßen verwirrt und stolz, als ich vor drei Jahren mit meinem Sohn bei uns im Wohnzimmer eine Wand farbig anstreichen wollte, zu diesem Zweck für meine Verhältnisse ungewöhnlich volkstümelnd das Formatradio aufdrehte und dort dann eine vom norwegischen DJ Kygo nur mäßig überarbeitete Version von „What’s Love Got To Do With It“ lief, von der mein Sohn mir alsbald zu Verstehen gab, dass sie ihm geläufig sei. „Tina Turner müsste doch inzwischen wirklich alt sein“, dachte ich und ließ grüne Wandfarbe auf den Fußboden tropfen.

Tina Turner war auch das perfekte Gegenargument für die ja immer noch in Teilen der Hobby-Kulturkritik vorherrschende Schwachsinns-Position, „echte“ Musiker*innen müssten ihre Songs selbst schreiben. Mehr noch: Sie brauchte für ihre Hits nicht mal die besten Songwriter ihrer Generation, sondern vorsichtig gesagt irgendwelche. Ich persönlich halte die Dire Straits für eine der egalsten Pop-Kapellen aller Zeiten, deren Präsenz in der Rotationsliste jeden Sender Lügen straft, der behauptet, „das Beste“ der 1980er Jahre im Repertoire zu haben, aber „Private Dancer“ ist – selbst in seiner 7:11-Minuten-Albumversion – ein so atmosphärisch dichter, phantastischer Song, dass Mark Knopfler für dessen Laufzeit wie ein genialer Songwriter wirkt. Bono und The Edge schrieben mit „GoldenEye“ das, was Tina Turner dann zum fraglos besten James-Bond-Song aller Zeiten machte, und waren danach offenbar so ausgelaugt, dass ihnen mit ihrer Band U2 nach 1995 nicht mehr viel von Bedeutung gelang. Wieviel sie aus Songs rausgeholt hat, die bei anderen Menschen jetzt nicht so zünden würden — und das in den musikalisch oft fragwürdigen 1980er Jahren: Da zeigt sich die ganze Stärke einer Ausnahme-Künstlerin.

Entsprechend kamen kurz nach der Todesnachricht die Würdigungen auch aus allen Ecken des kulturellen Spektrums: Mick Jagger, Shirley Bassey, Anton Corbijn, Debbie Harry von Blondie und die Pet Shops Boys zogen ebenso den Hut wie Angela Bassett, die Tina Turner 1993 im Film „What’s Love Got To Do With It“ verkörpert hatte — zu einer Zeit, als noch nicht jede zweite Lebensgeschichte in einem Biopic verwurstet wurde. Auf Twitter machte ein Video die Runde, zu dessen Beginn Tina Turner erst einer schwarzen Limousine entstieg, um dann auf beeindruckenden Absätzen 1:1 den Einmarsch eines US-Präsidenten bei der State of the Union Address zu exerzieren (inkl. „Ladies and gentlemen: Miss Tina Turner!“ aus dem Off), was alles in einer 120.000-Volt-Liveversion von „The Best“ kulminiert. Popkultur: So und nicht anders! Tina Turner ist gestern im Alter von 83 Jahren in ihrer neuen Heimat, der Schweiz, gestorben.

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Musik

Neue Musik von Blur, boygenius, Joker Out feat. Elvis Costello & Bully

Lukas ist vom Eurovision Song Contest zurück und von der anschließenden Virus-Infektion genesen! Nach einer kleinen ESC-Rückschau geht es weiter mit neuer Musik von Blur, Songs von den Alben von Amilli, boygenius und Madison McFerrin und grandiosem 90’s-Retro von Bully.

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Alle Songs:

  • Käärijä – Cha Cha Cha
  • Joker Out feat. Elvis Costello – New Wave
  • Blur – The Narcissist
  • Amilli – Sweet Life
  • boygenius – Emily I’m Sorry
  • Danko Jones – Guess Who’s Back
  • Madison McFerrin – (Please Don’t) Leave Me Now
  • Bully – Days Move Slow

Shownotes:

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Literatur

Sex, Lügen und Video

In den letzten Tagen habe ich meine halbe peer group zugeballert mit der Frage, ob sie ES denn schon gelesen hätten — um dann jeweils nachzuschieben, dass mit „ES“ nicht der so betitelte Roman von Stephen King gemeint sei, sondern das mit vielen überraschenden Großschreibungen durchzogene neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre (wobei es eigentlich in beiden um extrem gruselige Clowns geht).

„Noch wach?“ ist die Geschichte dreier Männer – ein Ich-Erzähler; ein mächtiger Medienmanager, der immer nur als „mein Freund“ vorgestellt wird; ein Chefredakteur in dessen Konzern, der jede Menge Affären mit ihm untergeordneten jungen Frauen unterhält -, und einigen dieser Frauen, die als einzige Charaktere Namen haben. Mehr oder weniger zufällig gerät der Erzähler in diesen Sumpf aus Machtmissbrauch, Männerkumpelei und politischer Radikalisierung. Eine #MeToo-Geschichte, die traurigerweise überall spielen könnte, im Text aber in einem Berliner Krawall-Fernsehsender, weswegen sich jetzt alle fragen, ob damit nicht eigentlich ein sehr konkretes Verlagshaus gemeint sein müsste.

Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Es ist schon amüsant, wenn auch auf Dauer deprimierend, zu sehen, wie das versammelte Feuilleton-Personal das Literaturgrundstudium in den Wind schießt und wie von Sinnen Autor und Erzähler, Fiktion und Realität (oder doch Wirklichkeit?) durcheinanderwirft und die ganze Zeit (und schon vor Veröffentlichung) einen „Schlüsselroman“ herbeisehnt. Da möchte man irgendwann nur noch rufen: Kinder, Schlüssel sind hier echt nicht das Problem, sondern Tassen und Latten. Im Schrank und … naja, lassen wir das.

Der unbedingte Wille zur Dechiffrierung ist sensationslüstern und ungerecht gegenüber dem Autoren, denn das Buch ist eben vor allem wahnsinnig gut geschrieben. Stuckrad-Barre kann, das beweist er jetzt auch schon seit über 25 Jahren, in Situationen das Wesentliche erfassen (was ja selten das ist, worüber alle reden würden) und beschreiben.

Damit macht „Noch wach?“ die ganze Drumherum-Berichterstattung absolut überflüssig. Es ist, gerade weil es sich immer wieder lustig macht über absolute Urteile und definitive Einschätzungen, ein beinahe komplettes Abbild der mittleren 10er bis frühen 20er Jahre. Ein etwas zu früh erschienenes Kompendium für nachgeborene Generationen, in dem die später noch mal nachgucken können, was für einen Quatsch es damals (also: heute, wenn auch nicht mehr zwingend nächstes Jahr) so gab: Twitter, Fox News, Elektroroller, Wirecard und die FDP.

Der leibhaftige Elon Musk hat einen Cameo-Auftritt und wird dabei von Stuckrad-Barre derart gut beschrieben, dass irgendwelche Biographien hernach überflüssig sind (was sie natürlich eh sind, denn Elon Musk ist – wie die allermeisten Männer in diesem Buch – ein absoluter Loser, dessen relative Wichtigkeit sich objektiv nicht erklären lässt, was diese ganzen Männer und ihre jeweiligen Erfolge um so erschütternder macht). Sprachlich legt der Autor eine brutale Präzision an den Tag; lauter finale Rettungsschüsse mit der abgesägten Schrotflinte. Die Silicon-Valley-Hörigkeit alternder deutscher Manager wird genauso abgehakt wie die mit ihr einhergehenden „new work“-Immobilien — und wenn man tatsächlich jemals zu Architektur tanzen konnte, dann in der Form, wie Stuckrad-Barre diese absurden „The Circle“-Konzernzentralen beschreibt. Ihre „Philosophie“: Arbeit soll sich anfühlen wie Freizeit — aber eben auch umgekehrt. Und das passt dann natürlich wieder sehr gut zur Verknüpfung von Dienstlichem und Privatem auf ganz anderer Ebene.

Eigentlich erzählt der Roman auch mindestens zwei Geschichten: Die von diesem ganzen Machtmissbrauch-Elend und die eines Vaterlosen, der viel zu lange an seinem väterlichen Freund festhält, während dieser viel zu lange an seinem leitenden Angestellten festhält. Die eine überlagert die andere zurecht, weil sie die größeren Ungeheuerlichkeiten enthält, aber irgendwann lohnt es sich vielleicht auch noch mal genauer hinzuschauen, wie viele junge Männer, deren Väter früher zu viel gearbeitet haben, im Laufe der Jahrzehnte ihre Karrieren in allen möglichen Branchen älteren Männern verdanken, die zwar zu wenig zuhause waren, aber wenigstens bei der Arbeit als „Mentor“ jemanden „unter ihre Fittiche nehmen“ können.

Und natürlich steht irgendwann breitbeinig die Frage im Raum, ob die Geschichte von Frauen, die sich durch ein Minenfeld von juristischen Drohungen, beruflicher Existenzangst und Retraumatisierung bewegen, denn jetzt unbedingt von einem weiteren Mann erzählt werden muss — aber auch damit setzt sich der Erzähler (aber in Interviews auch sein Autor) immer wieder auseinander. Der Erzähler sagt, dass er sich diese Rolle nicht ausgesucht habe, aber wenn einer der bekanntesten Autoren des Landes auf die ganz große Pauke haut, schlägt das eben höhere Wellen, als wenn jemand anders ein anderes Buch zum gleichen Thema geschrieben hätte. Das kann man unbedingt schlecht finden oder ungerecht, aber es ist – Stand jetzt – der Zustand unserer Aufmerksamkeitsökonomie.

Dabei ist es besonders interessant, wie fast alle Medien übersehen, dass sie und ihre Spekulations-Berichterstattung ja selbst schon im Roman vorkommen. Schwarz auf weiß, auf Seite 349:

Kurzum, ein unwiderstehliches Gossengeschwätzsujet, und das bereitete vielen die allergrößte Freude. Die Zutaten waren ja auch unschlagbar: Sex, Schönheit, lange Nächte — erst dadurch wurde das ganze eine STORY, eine Story, die jeden interessierte. Schwiemelig, doppeldeutigkeitssatt und geifertriefend geriet das Gerede und Geschreibe darüber, und das nahm leider der eigentlichen Geschichte ihre Wucht.