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Musik

Neue Musik von Blur, boygenius, Joker Out feat. Elvis Costello & Bully

Lukas ist vom Eurovision Song Contest zurück und von der anschließenden Virus-Infektion genesen! Nach einer kleinen ESC-Rückschau geht es weiter mit neuer Musik von Blur, Songs von den Alben von Amilli, boygenius und Madison McFerrin und grandiosem 90’s-Retro von Bully.

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Alle Songs:

  • Käärijä – Cha Cha Cha
  • Joker Out feat. Elvis Costello – New Wave
  • Blur – The Narcissist
  • Amilli – Sweet Life
  • boygenius – Emily I’m Sorry
  • Danko Jones – Guess Who’s Back
  • Madison McFerrin – (Please Don’t) Leave Me Now
  • Bully – Days Move Slow

Shownotes:

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Literatur

Sex, Lügen und Video

In den letzten Tagen habe ich meine halbe peer group zugeballert mit der Frage, ob sie ES denn schon gelesen hätten — um dann jeweils nachzuschieben, dass mit „ES“ nicht der so betitelte Roman von Stephen King gemeint sei, sondern das mit vielen überraschenden Großschreibungen durchzogene neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre (wobei es eigentlich in beiden um extrem gruselige Clowns geht).

„Noch wach?“ ist die Geschichte dreier Männer – ein Ich-Erzähler; ein mächtiger Medienmanager, der immer nur als „mein Freund“ vorgestellt wird; ein Chefredakteur in dessen Konzern, der jede Menge Affären mit ihm untergeordneten jungen Frauen unterhält -, und einigen dieser Frauen, die als einzige Charaktere Namen haben. Mehr oder weniger zufällig gerät der Erzähler in diesen Sumpf aus Machtmissbrauch, Männerkumpelei und politischer Radikalisierung. Eine #MeToo-Geschichte, die traurigerweise überall spielen könnte, im Text aber in einem Berliner Krawall-Fernsehsender, weswegen sich jetzt alle fragen, ob damit nicht eigentlich ein sehr konkretes Verlagshaus gemeint sein müsste.

Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Es ist schon amüsant, wenn auch auf Dauer deprimierend, zu sehen, wie das versammelte Feuilleton-Personal das Literaturgrundstudium in den Wind schießt und wie von Sinnen Autor und Erzähler, Fiktion und Realität (oder doch Wirklichkeit?) durcheinanderwirft und die ganze Zeit (und schon vor Veröffentlichung) einen „Schlüsselroman“ herbeisehnt. Da möchte man irgendwann nur noch rufen: Kinder, Schlüssel sind hier echt nicht das Problem, sondern Tassen und Latten. Im Schrank und … naja, lassen wir das.

Der unbedingte Wille zur Dechiffrierung ist sensationslüstern und ungerecht gegenüber dem Autoren, denn das Buch ist eben vor allem wahnsinnig gut geschrieben. Stuckrad-Barre kann, das beweist er jetzt auch schon seit über 25 Jahren, in Situationen das Wesentliche erfassen (was ja selten das ist, worüber alle reden würden) und beschreiben.

Damit macht „Noch wach?“ die ganze Drumherum-Berichterstattung absolut überflüssig. Es ist, gerade weil es sich immer wieder lustig macht über absolute Urteile und definitive Einschätzungen, ein beinahe komplettes Abbild der mittleren 10er bis frühen 20er Jahre. Ein etwas zu früh erschienenes Kompendium für nachgeborene Generationen, in dem die später noch mal nachgucken können, was für einen Quatsch es damals (also: heute, wenn auch nicht mehr zwingend nächstes Jahr) so gab: Twitter, Fox News, Elektroroller, Wirecard und die FDP.

Der leibhaftige Elon Musk hat einen Cameo-Auftritt und wird dabei von Stuckrad-Barre derart gut beschrieben, dass irgendwelche Biographien hernach überflüssig sind (was sie natürlich eh sind, denn Elon Musk ist – wie die allermeisten Männer in diesem Buch – ein absoluter Loser, dessen relative Wichtigkeit sich objektiv nicht erklären lässt, was diese ganzen Männer und ihre jeweiligen Erfolge um so erschütternder macht). Sprachlich legt der Autor eine brutale Präzision an den Tag; lauter finale Rettungsschüsse mit der abgesägten Schrotflinte. Die Silicon-Valley-Hörigkeit alternder deutscher Manager wird genauso abgehakt wie die mit ihr einhergehenden „new work“-Immobilien — und wenn man tatsächlich jemals zu Architektur tanzen konnte, dann in der Form, wie Stuckrad-Barre diese absurden „The Circle“-Konzernzentralen beschreibt. Ihre „Philosophie“: Arbeit soll sich anfühlen wie Freizeit — aber eben auch umgekehrt. Und das passt dann natürlich wieder sehr gut zur Verknüpfung von Dienstlichem und Privatem auf ganz anderer Ebene.

Eigentlich erzählt der Roman auch mindestens zwei Geschichten: Die von diesem ganzen Machtmissbrauch-Elend und die eines Vaterlosen, der viel zu lange an seinem väterlichen Freund festhält, während dieser viel zu lange an seinem leitenden Angestellten festhält. Die eine überlagert die andere zurecht, weil sie die größeren Ungeheuerlichkeiten enthält, aber irgendwann lohnt es sich vielleicht auch noch mal genauer hinzuschauen, wie viele junge Männer, deren Väter früher zu viel gearbeitet haben, im Laufe der Jahrzehnte ihre Karrieren in allen möglichen Branchen älteren Männern verdanken, die zwar zu wenig zuhause waren, aber wenigstens bei der Arbeit als „Mentor“ jemanden „unter ihre Fittiche nehmen“ können.

Und natürlich steht irgendwann breitbeinig die Frage im Raum, ob die Geschichte von Frauen, die sich durch ein Minenfeld von juristischen Drohungen, beruflicher Existenzangst und Retraumatisierung bewegen, denn jetzt unbedingt von einem weiteren Mann erzählt werden muss — aber auch damit setzt sich der Erzähler (aber in Interviews auch sein Autor) immer wieder auseinander. Der Erzähler sagt, dass er sich diese Rolle nicht ausgesucht habe, aber wenn einer der bekanntesten Autoren des Landes auf die ganz große Pauke haut, schlägt das eben höhere Wellen, als wenn jemand anders ein anderes Buch zum gleichen Thema geschrieben hätte. Das kann man unbedingt schlecht finden oder ungerecht, aber es ist – Stand jetzt – der Zustand unserer Aufmerksamkeitsökonomie.

Dabei ist es besonders interessant, wie fast alle Medien übersehen, dass sie und ihre Spekulations-Berichterstattung ja selbst schon im Roman vorkommen. Schwarz auf weiß, auf Seite 349:

Kurzum, ein unwiderstehliches Gossengeschwätzsujet, und das bereitete vielen die allergrößte Freude. Die Zutaten waren ja auch unschlagbar: Sex, Schönheit, lange Nächte — erst dadurch wurde das ganze eine STORY, eine Story, die jeden interessierte. Schwiemelig, doppeldeutigkeitssatt und geifertriefend geriet das Gerede und Geschreibe darüber, und das nahm leider der eigentlichen Geschichte ihre Wucht.

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Musik

Podcast: Episode 6

Am 25. März ist der erste Todestag von Taylor Hawkins, dem Schlagzeuger der Foo Fighters. Ich bin kein Experte oder Biograph für Taylor Hawkins, aber ich mochte ihn immer und ich mag Schlagzeug spielen und deshalb schaue ich heute in einer sehr persönlichen und etwas emotionalen Folge zurück auf das Leben dieses begnadeten Rockstars:

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Alle Songs:

  • Foo Fighters – Stacked Actors
  • Alanis Morissette – You Oughta Know (Live)
  • Foo Fighters – Next Year
  • Foo Fighters – Cold Day In The Sun
  • Dennis Wilson – Holy Man (Taylor Hawkins Version)
  • Taylor Hawkins & The Coattail Riders – Not Bad Luck
  • King Princess – Let Us Die
  • Foo Fighters – My Hero (Live Acoustic)

Shownotes:

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Film Digital

Don’t mention the war

1940 sagte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel über den deutschen Diktator Adolf Hitler, dessen Armee gerade Frankreich und die BeNeLux-Staaten überrannt hatte, dieser sei der „größte Feldherr aller Zeiten“. Nach der verheerenden Niederlage in der Schlacht um Stalingrad machte diese Formulierung in der deutschen Bevölkerung mit eher sarkastischer Konnotation die Runde und Hitler wurde in Anlehnung an den Abkürzungswahn, der Deutsche seit Jahrhunderten umtreibt, zum „GröFaZ“ erklärt.

Man darf davon ausgehen, dass die Formulierung – anders als das „Tausendjährige Reich“ – die Jahrzehnte überdauert hat, denn im November 2007 sagte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble auf dem Höhepunkt der öffentlichen Diskussion um die sog. Vorratsdatenspeicherung laut „taz“:

„Wir hatten den ‘größten Feldherrn aller Zeiten’, den GröFaZ, und jetzt kommt die größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten“

Schäuble schaffte es damit in meine Liste der Nazi-Vergleiche, die es damals zu einer gewissen Popularität in der deutschen Blogosphäre brachte, später mit Ergänzungen in Daniel Erks Buch „So viel Hitler war selten“ für die Nachwelt festgehalten wurde und inzwischen auch schon 15 Jahre alt ist.

Man könnte also schlussfolgern, dass die Formulierung „größter Irgendwas aller Zeiten“ in Deutschland mit einer gewissen Vorsicht verwendet werden sollte. Besonders, wenn es um Deutschland geht. Oder Krieg.

Und damit kommen wir zur gestrigen Berichterstattung von Bild.de über die Oscar-Verleihung und den deutschen Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“:

Holen wir heute unseren größten Oscar aller Zeiten?

Das ist kompositorisch schon nah an der Perfektion (wenn man unter „Perfektion“ auch Dinge versteht wie eine überlaufende Toilette, die die ganze Wohnung in Mitleidenschaft zieht): der Soldat mit Stahlhelm; das fröhlich dummstolze Stammtisch-„Wir“, das „Bild“ immer hervorholt, wenn gerade Fußball-WM ist oder ein Papst gewählt wird; die Formulierung an sich — und natürlich das Gold drumherum.

Im Artikel fasst der Bild.de-Autor seine Eindrücke vom Film so zusammen:

Die Regie genial. Die Kamera anbetungswürdig. Das Szenenbild: Einfach nur krass.

„Okay“, hätte ich gesagt. „Das passiert, wenn man Berufseinsteiger um die 25 Texte schreiben lässt: Die Sprache ist etwas umgangssprachlicher und sie verwenden aus Versehen Formulierungen, für die ihnen im entscheidenden Moment die Goldwaagen-App auf dem Smartphone fehlt.“

Stellt sich raus: Der Text ist von Bild.de-Redakteur Ralf Pörner. Und der müsste inzwischen 60 sein.

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Musik

Goodbye Trouble

Gestern war ich auf einer Trauerfeier. Und auf einem Klassentreffen. Und auf dem ersten (indoor) Konzert seit drei Jahren. Pale hatten zum One-Night-Only-Konzert ins Kölner Gloria gebeten und die Indie-Crowd, die vor 20 Jahren auf Visions-Partys Smirnoff Ice getrunken hatte, war geschlossen angetreten — mit Mützen über dem lichter werdenden Haar, ohne Trainingsjacken mit Städtenamen drauf und mit nur einem Bier in der Hand, denn man muss ja noch fahren und die Kinder werden so früh wach.

Die erste Welle der Ekstase schwappt schon hoch, als das Licht für die Vorband ausgeht. Pale hatten vage „Gäste“ und „Freunde“ angekündigt und so geht es als kollektive Selbstbestätigung durch, als wir sehen, dass es wirklich Thees Uhlmann ist, der da auf die Bühne schlurft. Doch – behold! – er ist nicht alleine, mit ihm kommt Marcus Wiebusch raus. Das macht Sinn, sind doch das letzte Pale-Album 2006 und das jetzt aber wirklich allerletzte Pale-Album 2022 beim Grand Hotel van Cleef erschienen, dem Label, das die beiden 2002 gegründet hatten und dessentwegen wir uns alle kennen und gute Musik hören. „Gebt dem Nachwuchs eine Chance“, scherzt Thees, dann spielen die beiden sechs Songs aus dem großen kettcar/Tomte/Thees-Uhlmann-Werk. Wir hätten auch 20 genommen, aber sie sind ja nur als Warm-Up hier und bringen das Gloria erfolgreich auf Betriebstemperatur. Leider auch buchstäblich.

Vor dem Pale-Konzert (Foto: Lukas Heinser)

Dann leuchtet der Pale-Schriftzug über der Bühne auf und die Band (oder das, was von ihr übrig ist) betritt unter einem der dicksten Auftrittsapplause, die ich je erlebt habe, das Scheinwerferlicht. Nach dem ersten Song sagt Sänger/Gitarrist Holger Kochs, er habe sich in den letzten Tagen eine lange Ansage ausgedacht und wieder verworfen, denn wir wüssten ja eh alle, warum wir da sind: „Für Christian!“

Christian Dang-anh war der Gitarrist von Pale, „der einzige richtige Musiker innerhalb der Band“, wie die anderen selbst sagen. 2019, zehn Jahre nach der Auflösung der Band, wurde bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert, was die Mitglieder auf die Idee brachte, wieder gemeinsam Musik zu machen. Schlagzeuger und Holgers Bruder Stephan Kochs hatte mit einer eigenen schweren Erkrankung zu kämpfen, dann kam die Pandemie und im Frühjahr 2021 ist Christian leider gestorben.

Aus diesen Sessions und Erfahrungen ist „The Night, The Dawn And What Remains“ entstanden, das wirklich allerletzte Album, dessen Songs heute Abend alle zur Aufführung kommen — neben den ganzen Hits, natürlich, wobei mir irgendwann auffällt, dass es false memory meinerseits war, zu glauben, ich hätte die Musik der Band „schon damals“ „immer viel“ gehört.

Zwischen den Songs sagt Holger so viele kluge Sachen über das Leben und die Gegenwart, die man genießen und feiern solle, dass ich mir denke, dass ich mir die alle merken werde. Jetzt könnte ich natürlich nichts mehr davon zitieren, aber das ist total egal, weil ich ja WEISS, dass er Recht hat.

Sie spielen „Man Of 20 Lives“ für Stephan, der heute nur im Publikum ist. Zu „Bigger Than Life“ werden im Hintergrund alte Videos und Bilder von Christian projiziert und ich denke mal wieder, wie so oft, über Musik: „This is my church / This is where I heal my hurts“. (Maxi Jazz von Faithless ist übrigens im Dezember auch gestorben.) Holger singt – „auch wenn’s pathetisch klingt“ – „Wake Up!“ für seine Kinder und ich stehe da inmitten einer wild zusammengewürfelten Gruppe alter Freunde und Bekannter, jetzt sind wir alle Väter, und ich muss mich gar nicht umgucken, weil ich weiß, dass wir gerade alle Tränen in den Augen haben. Das Publikum weiß auch, wann Holger Unterstützung gebrauchen kann, und umarmt ihn mit langem, frenetischen Applaus. Das Gloria ist heute ein einziger großer Liebeskreis. (Rocco Clein ist jetzt auch schon 19 Jahre tot.)

Beim Pale-Konzert (Foto: Lukas Heinser)

„Still You Feel“, eine Hymne auf die Musik, die einem Zuhause ist, nachdem man die furchtbare Heimatstadt verlassen hat, ist auf dem Album ein Duett mit Simon den Hartog von den Kilians. (Auf dem Popkultur-Altar auf dem Albumcover steht ein Mixtape namens „Hometown Mix“, dessen B-Seite mit „Dinslaken 2002“ beschriftet ist — Simons und meiner alten Heimatstadt und meinem Abi-Jahr. Ich bin mir auch nach Monaten noch nicht sicher, was das mit mir macht.) Und natürlich kommt Simon, den Holger als seine Lieblingsstimme in Deutschland bezeichnet, auch auf die Bühne im Gloria. Und er bleibt noch für einen zweiten Song: „Fight The Start“ von den Kilians. Ich habe diesen Song mindestens 30 Mal live gehört, im Publikum, beim Soundcheck, neben der Bühne — zuletzt vor neun Jahren, ein paar Leben her, und ich bin sehr froh, dass mir die ganze emotionale Bedeutung dieses Moments nicht schon gestern Abend aufgefallen ist, sondern erst jetzt. Durchatmen.

„Someday You Will Know“ („The last song of a band that already played its final show“) wird auf dem Album von einem Saxofon-Solo von Steve Norman von Spandau Ballet gekrönt — und es ist jetzt wirklich keine große Überraschung mehr, dass auch er heute Abend hier ist und mitspielt. (Tatsächlich wäre es auch nur konsequent gewesen, wenn zum abschließenden The-Jam-Cover „Town Called Malice“ Paul Weller zur Band hinzugestoßen wäre. Oder Noel Gallagher. Oder John Lennon, because why the fuck not?) Etwas überraschender ist schon, dass auch er für einen zweiten Song bleibt und wir so in den Genuss kommen, „Gold“ von Spandau Ballet auch einmal live zu hören. You’ve got the power to know you’re indestructible!

Er habe unterschätzt, wie viel 27 Songs sind, meint Holger lachend vor den letzten Zugaben, als er das Publikum bittet, gerne etwas lauter mitzusingen. Drei Stunden stehen sind auch schon ziemlich anstrengend, denke ich. Und drei Stunden Rückweg vom Club zum eigenen Bett haben sich früher auch nicht so schlimm angefühlt. Aber wer hätte gedacht, damals, als man anfing, Musik als etwas wahrzunehmen, was mehr ist als das, was im Radio zwischen den Politik-Beiträgen läuft, dass sie einem mal so viel bedeuten und einen durch schwere Zeiten (und großartige!) begleiten würde, dass sie mal zu Freundschaften führen würde und zu Abenden wie diesem?

This is how it feels when nothing can ever make you stop / This is how it feels when nothing’s wrong.

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Musik

Podcast: Episode 1

Vor zweieinhalb Jahren hat Spotify angekündigt, dass sie bald ein Feature ausrollen würden, mit dem man eigene Musik-Podcasts erstellen kann. Man müsste dafür nur Moderationen aufnehmen und mit Songs kombinieren, die bei Spotify verfügbar sind — fertig! Ich hatte zu diesem Zeitpunkt seit etwa 13 Jahren (so lang muss es damals ungefähr hergewesen sein, dass ich zum ersten Mal „All Songs Considered“ von NPR Music gehört hatte) darauf gewartet, einen eigenen Musik-Podcast starten zu können, der gleichzeitig legal und bezahlbar ist (ersteres ermöglicht die GEMA seit einigen Jahren mit einem eigenen Tarif, der zweiteres ausschließt) und war entsprechend stoked: Zwei Tage rannte ich wie high durch meine Wohnung, war völlig begeistert und plante schon mal die ersten zwanzig, dreißig Ausgaben.

Dann passierte: nichts. Im letzten Sommer habe ich noch mal kurz daran gedacht, aber ich befürchtete schon, dass das Feature den Weg aller wirklich sinnvollen Web-Anwendungen (der Google Reader, der Komm-Küssen-Button bei jetzt.de, die Centennial-Bulb-Webcam) gegangen und verschwunden sei. Dann schrieb mir vor zwei Wochen eine Freundin, es gebe jetzt bei Spotify die Möglichkeit, Podcasts mit Musik zu veröffentlichen, und das sei doch etwas, was gut zu mir passen würde.

Nun, ladies and gentlemen und alle in-between: Hier ist „Coffee And TV“, der Podcast!

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In der ersten Folge spiele ich u.a. neue Songs von Amilli, The Hold Steady und Maryaka und obwohl ich ein bisschen aus der Übung war, hat es wahnsinnig Spaß gemacht, nach ca. 16 Jahren mal wieder eine Musiksendung zu moderieren. Also mach ich das jetzt öfters. Leider kann man den Podcast aus den oben beschrieben Gründen nur auf Spotify hören und wenn man kein zahlender Premium-Member ist, gibt es auch nur 30-sekündige Ausschnitte und nicht die ganzen Songs zu hören, aber ich finde, es ist bedeutend besser als nichts!

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Musik

Acts des Jahres 2022

Der erste Monat 2023 ist fast rum, schnell noch eben die Acts des Jahres 2022 in eine ordentliche Liste packen:

10. Sudan Archives
Schon der Name, unter dem Brittney Denise Parks Musik macht, macht neugierig: Sudan Archives, das klingt erstmal nach field recordings, nach Ethnologie und world music. Ja, aber: Die Art, wie sie Einflüsse aus afrikanischer Musik, Elektronik und Hip-Hop mischt und zwischendurch noch auf ihrer Geige spielt, ist nur eine (wenn man so will: akademische) Ebene ihres Sounds. Vor allem flirrt, klopft und groovt ihre Musik; oft passiert vieles gleichzeitig und doch bleibt noch viel Platz in den Arrangements, um zu atmen. „Natural Brown Prom Queen“ (Stones Throw Records; Apple Music, Spotify, Bandcamp) heißt ihr zweites Album und der Titel kommt schon angemessen breitschultrig daher: Wer women of color im Jahr 2022 noch an den Rand drängen wollte, ist bei Sudan Archives an der falschen Adresse (natürlich auch generell; diversity exists, get used to it). „I’m not average“ wiederholt sie im Quasi-Titeltrack „NBPQ (Topless)“ und beschreibt darin, wie es ist, ausgegrenzt und kritisch beäugt zu werden und dieses Anders-Sein zu einer Art Markenzeichen umzuwidmen. „Natural Brown Prom Queen“ ist also ein Album, das sowohl bei sorgfältiger Beschäftigung auf der inhaltlichen Ebene funktioniert, als auch einfach gut als Soundtrack des eigenen Lebens funktioniert — und das ist ja immer super, wenn sowas möglich ist!

9. Janou
Ich finde es ja immer stark, wenn Menschen ihr Ding durchziehen: Ich kenne Jana von Janou jetzt schon mehr als zehn Jahre und habe erlebt, wie sie rumorende Bochumer Kneipen zum Schweigen brachte, indem sie ihre Stimme zur Akustikgitarre erhob. Seit einigen Jahren ist Janou ein Duo mit starken elektronischen Einflüssen und diese ganzen Sounds lassen ihre ausdrucksstarke Stimme noch mehr strahlen. Nach einigen Singles erschien 2022 mit „Fluid Ground“ (Skip A Beat; Apple Music, Spotify) die erste EP, die Bock auf mehr macht: Wenn im opening cut „Down“ kurz eine Erinnerung an „She Drives Me Crazy“ von den Fine Young Cannibals durchschimmert, wenn „Lonely Boy“ von den Black Keys mit Genehmigung der Band zu „Lonely Boy (Girl)“ umgewidmet wird, „Solitude“ ein Licht in der Dunkelheit anzündet oder „Rosemary“, mein persönlicher Sommerhit 2022 (s.a. die Songs des Jahres), Bochum nach LA oder Miami verlegt. Wo sind die Radiosender, die sowas auf Rotation nehmen?!

8. Maro
Ich habe es im letzten Jahr in jedem Interview gesagt und ich wiederhole es gerne: Der Eurovision Song Contest hat nur noch wenig mit dem freakigen musikalischen Paralleluniversum zu tun, als das er über Jahrzehnte galt. Er ist nicht mehr nur die jährliche Leistungsschau der Bühnentechnik-Industrie, sondern auch ein … nun ja: ernstzunehmendes Musikfestival, bei dem man Acts entdecken kann, die einem die heimische Musikpresse und der Spotify-Algorithmus jetzt eher nicht vorgestellt hätte. So auch Mariana Secca aus Portugal, die als Maro (gesprochen: Maru) großartige Musik macht: Ihr ESC-Beitrag „Saudade, Saudade“ (s.a. die Songs des Jahres) ist auf ihrem letztjährigen Album „Can You See Me?“ (Secca Records; Apple Music, Spotify) gar nicht vertreten, dafür Songs wie das hypnotische „Am I Not Enough For Now?“, das schläfrige „We’ve Been Loving In Silence“ oder „Like We’re Wired“, das klingt wie ein Sonnenaufgang. Inhaltlich bildet das Album die Gefühlswelt einer Frau Mitte Zwanzig ab, mit all den großen Erwartungen und Enttäuschungen, die auch Liz Phair, Fiona Apple oder Tori Amos vor 30 Jahren schon besungen haben; musikalisch steht vor allem Maros Stimme im Vordergrund, aber dahinter spannen die Gitarren, Klaviere und Drumcomputer einen weiten Raum auf. Und wenn man denkt, das klingt jetzt schon alles sehr ähnlich, kommt mittendrin das portugiesisch-sprachige Duett „Juro Que Vi Flores“. Das nächste Album hat Maro für dieses Jahr schon angekündigt.

7. Philine Sonny
Irgendwie hat man es ja bei all dem neuen Elend schon fast vergessen, aber in den Jahren 2020 und 2021 (und ein Stück weit auch noch 2022) gab es in Europa eine Pandemie, die das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen gebracht hatte. Als nach zwei Jahren Zwangspause im letzten Sommer die Musikfestivals zurückkehrten, habe ich mich zum ersten Mal richtig aufs Bochum Total gefreut: endlich wieder Livemusik, fußläufig vor der eigenen Haustür, portionsgerecht fürs eigene Kind und ein guter Anlass, um endlich mal wieder die eigenen Freund*innen zu treffen. Genialerweise hatte auch noch ein fellow nerd eine Spotify-Playlist gebaut, mit der man sich im Vorfeld auf das Festival vorbereiten konnte, weil einem die meisten Namen ja doch noch nichts sagen. Als ich zu den Songs von Philine Sonny kam, war ich als Erstes überrascht, dass ein Act, der so nach Weltformat klingt, tatsächlich beim Bochum Total spielt. Dann stellte ich fest, dass Philine Sonny aus Unna stammt, was jetzt – selbst von Bochum aus betrachtet – eher das Gegenteil der großen, weiten Welt ist. So klingt das also, wenn man mit The War On Drugs, Ryan Adams, Bright Eyes und Lucy Dacus aufgewachsen ist und diese Musik ganz doll fühlt (oder zumindest klingt es so, als wäre Philine Sonny mit dieser Musik aufgewachsen). Die erste EP „Lose Yourself“ (Mightkillya; Apple Music, Spotify) haut den Pflock auf alle Fälle schon mal sehr fest in den Boden und jetzt, wo Philine Sonny in Bochum wohnt und zum legendären showcase festival South By Southwest eingeladen wurde, würde ich sagen: sky’s the limit.

6. Anaïs Mitchell
Manchmal frage ich mich schon, wie bestimmte Acts so lange an mir vorbeigehen konnten. Dann fühle ich mich kurz schlecht und nehme ich mir vor, noch mehr Musik zu hören, aber dann denke ich auch wieder: „Das hier ist kein Wettbewerb und Musik findet einen eh immer im richtigen Moment!“ 2022 war also der richtige Moment, um Anaïs Mitchell nach 18 Jahren und einigem „Ich hab davon gehört/gelesen“ in mein Leben zu lassen — rechtzeitig zum achten, selbstbetitelten Album (BMG; Apple Music, Spotify). Ich hab das bei Musik, die irgendwie mit Folk zu tun hat, immer, dass ich mir beim Hören weite Landschaften vorstelle (was ja auch Sinn dieses Genres ist), aber bei diesem Album ist es besonders stark: es klingt wie ein road trip durch Gegenden, die man am Besten schnell hinter sich lässt, auf der Suche nach dem großen Glück und dem Ort, wo man seine Pläne verwirklichen kann. Es erinnert mich aber auch an Hem, k.d. lang und Bon Iver und es gibt nicht viel besseres, was ich über Musik sagen kann.

5. Lou Turner
Noch mehr Indie-Folk: Auf ihrem dritten Album „Microcosmos“ (Lou Turner; Apple Music, Spotify, Bandcamp) setzt sich Lou Turner unter den Eindrücken der Pandemie mit der Frage auseinander, was es bedeutet, „unterwegs“ und „zuhause“ zu sein. Es geht um die Welt, die im Lockdown gleichzeitig kleiner und größer wurde, als Spaziergänge durch die eigene Nachbarschaft plötzlich die neuen Reisen waren. Dabei orientiert sie sich u.a. an Joni Mitchells Album „Hejira“ (das sie in „Empty Tame And Ugly“ auch namentlich erwähnt) und das alles, Musik und Lyrics, sind wirklich wunderbar.

4. Koffee
Gut: Den Künstlernamen finden wir hier im Blog natürlich schon mal grundsympathisch. Auch Koffees Karriere ist eng mit der COVID-19-Pandemie verbunden: Als gefeierte Nachwuchskünstlerin wurde sie 2020 erstmal ausgebremst, die Single „Lockdown“ wurde im selbigen zum Hit. „Gifted“ (Promised Land; Apple Music, Spotify) ist ihr Debüt-Album und gilt offiziell als Reggae. Ich habe dafür alle Vorurteile, die ich gegenüber dem Genre hatte (auch bzw. vor allem Dank seines studentischen Publikums in Deutschland), über Bord geworfen und mich im Frühjahr 2022, als die „Normalität“ so langsam, aber sicher zurückkam, sehr an diesem Album erfreut. Im opening cut „x10“ läuft Bob Marleys „Redemption Song“ einfach im Hintergrund und auch wenn das natürlich vor allem als Ehrerweisung gemeint ist, zeigt es auch: Dieses Album ist etwas anderes.

3. Bülow
Alter ist ja etwas, was man ungefähr nie gescheit einschätzen kann: Als Kind und Teenager sind Musiker*innen halt alle irgendwie „älter“ und die, mit denen man aufgewachsen ist, werden immer älter bleiben. Dann kommen plötzlich Menschen, die signifikant jünger sind als man selbst, und man denkt: „Woher können die das denn schon alles?“ Naja: George Harrison war 20, als das erste Beatles-Album rauskam, Beck war bei „Loser“ auch nur ein paar Jährchen älter und Conor Oberst ist mit zwölf schon mit eigenen Songs aufgetreten. Also: Megan Bülow ist Ende Dezember 23 geworden und macht professionell Musik, seit sie 16 ist. Das klang immer schon gut, aber ihre EP „Booty Call“ (Universal; Apple Music, Spotify) zeigt ihre Stärken nochmal besser als alle bisherigen Releases: fünf Songs, etwas über 13 Minuten — maximal verdichteter Indie-Pop zwischen besagten Beck und Conor Oberst, mit großer Schnoddrigkeit, nachklingender teenage angst und einem generell starken nineties vibe. Hören junge Menschen noch Alben? Nehmen junge Acts noch welche auf? Ich fänd’s stark!

2. King Princess
Das große Aufreger-Thema in den US-Medien waren Ende des Jahres die „Nepo babies“, also junge Menschen, die – so das Narrativ – aufgrund ihrer Abstammung einen leichteren Einstieg ins Berufsleben und bessere Aufstiegschancen haben. Sicherlich ein ernsthaftes Problem, aber gerade die mediale Fokussierung auf die Unterhaltungsbranche nahm der Kritik auch ein bisschen den Wind aus den Segeln: Wenn Du unter Künstler*innen aufwächst, ist es halt wahrscheinlich, dass Du selbst ein gewisses Interesse an Kunst und Kultur entwickelst. Dazu kommen dann eben noch Talent und Kontakte, also: check your privilege, aber so what?! (Dass deutsche Medien sich vor allem um eine Nacherzählung einer amerikanischen Debatte bemühten, aber nicht für eine Sekunde auf die Idee kamen, dass Thema auf Deutschland herunterzubrechen, spricht entweder für oder gegen sie — ich bin mir da noch unsicher.) Mikaela Straus, jedenfalls, tauchte auf dieser Liste der nepo babies auch auf, weil ihr Vater recording engineer ist und ihr Ur-Urgroßvater (!) Isidor Straus einer der Besitzer von Macy’s war, bevor er mit seiner Frau beim Untergang der „Titanic“ (bekanntermaßen im Jahr 1912) ums Leben kam. Ja, interessante Fußnote, aber viel interessanter ist doch nun wirklich die Musik, die Mikaela (Jahrgang 1998) als King Princess veröffentlicht: krachender Indie-Pop mit großen Melodien und klugen Texten. Mit elf hatte sie einen Plattenvertrag abgelehnt, weil sie die kreative Kontrolle nicht abgeben wollte, und das scheint sich ausgezahlt zu haben: „Hold On Baby“ (Zelig Records; Apple Music, Spotify) ist ihr zweites Album und man ahnt, dass es auf einem Major-Label eventuell etwas anders klingen würde. Inhaltlich geht es um Beziehungsspannungen in der Pandemie, um Freundschaften, gender identity und Selbstzweifel im Sex Shop. Mit Mark Ronson, Ethan Gruska, Aaron Dessner, Bryce Dessner und Tobias Jesso Jr. haben einige der aktuell namhaftesten Produzenten am Album mitgewirkt und der closer „Let Us Die“ ist einer der letzten Song, auf dem Taylor Hawkins von den Foo Fighters vor seinem viel zu frühen Tod getrommelt hat. Kurzum: Es gibt viel zu entdecken und zum Nachdenken und das mag ich ja immer, wenn man Musik hören, aber ihr auch zuhören kann. Bei passendem Verkehrsaufkommen „reicht“ das Album genau von meinem Elternhaus bis zu unserer Haustür und in jedem normalen Jahr hätten King Princess und „Hold On Baby“ den Spitzenplatz meiner Rangliste belegt, aber 2022 war auch in dieser Hinsicht kein normales Jahr.

1. Pale
Ich hab die Geschichte jetzt schon ein paar Mal erzählt: Pale hatten sich eigentlich 2009 aufgelöst. Dann wurde 2019 bei ihrem ehemaligen Gitarristen Christian ein Gehirntumor diagnostiziert, was die Mitglieder auf die Idee brachte, wieder gemeinsam Musik zu machen. Schlagzeuger Stephan hatte mit einer eigenen schweren Erkrankung zu kämpfen, dann kam die Pandemie und im Frühjahr 2021 ist Christian leider gestorben. Man muss diese Geschichte kennen, um zu verstehen, was „The Night, The Dawn And What Remains“ (Grand Hotel van Cleef; Apple Music, Spotify), das finale Album, das aus all dem doch noch entstanden ist, eigentlich ist: eine einzige Feier des Lebens, der Freundschaft und der Musik. Vom instrumentalen Opener „Wherever You Will Go“, der an U2 und Stars erinnert und die Tür schon mal entsprechend weit aufmacht, über die Singles „New York“ (s.a. Songs des Jahres), „Man Of 20 Lives“ (für Stephan) und „Bigger Than Life“ (für Christian) bis zum Schlussakkord von „Someday You Will Know“ zelebriert dieses Album das Trotzdem, das Überleben, das Zurückbleiben und auch die Trauer. Es ist wie ein Bengalo auf einer Beerdigung. Und dann taucht mittendrin plötzlich Simon den Hartog auf. Der ehemalige Sänger der Kilians hat zwar fast eine ganze Dekade nicht gesungen, aber auf „Still You Feel“ kuschelt sich seine altbekannte, jung gebliebene Reibeisenstimme plötzlich an die von Pale-Sänger Holger Kochs und gemeinsam singen sie über große Gefühle, Musik und Heimatstädte. Ich wusste selbst nicht, wie dringend ich genau das gebraucht hatte, aber: Junge, war ich glücklich, als ich das Lied zum ersten Mal gehört habe! Klar, dass die Songs zu meinem täglichen Begleiter wurden, als ich nach dem Tod meiner Omi mit meiner eigenen Trauer, meinen Erinnerungen und vor allem aber auch meiner alles überlagernden Liebe für alles und alle klarkommen musste. Klar, dass so ein Album natürlich wieder beim GHvC erscheinen musste. Klar, dass so ein Album seinen ganz eigenen Platz auf meinem privaten Popkultur-Altar bekommen muss — und wie krass ist es da bitte, dass das Albumcover einen Popkultur-Altar zeigt, auf dem (neben einer Ausgabe von „Per Anhalter durch die Galaxis“) ein Mixtape namens „Hometown Mix“ steht, dessen B-Seite (nur auf der Vinyl-Version zu entziffern) mit „Dinslaken 2002“ beschriftet ist?! Eben. It is the last stop that tells you a lot about where you came from and what you have got.

Pale - The Night, The Dawn And What Remains (Albumcover)

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Musik

Songs des Jahres 2022

Ich brauche traditionell immer ein bisschen länger, um meine Songs des Jahres zusammenzustellen, aber ich finde das besser, als das Jahr schon im November einpacken zu wollen; hier ist mein Blog mit meinen Regeln und außerdem ist ja noch Januar. Also: Hier sind – Stand jetzt – meine Lieblingslieder des Jahres 2022!

25. Death Cab For Cutie – Here To Forever
Ben Gibbards Lyrics sind ja mitunter so spezifisch, dass sie schon zum Meme taugen. Das muss natürlich nicht schlecht sein, im Gegenteil:

In every movie I watch from the ’50s
There’s only one thought that swirls
Around my head now
And that’s that everyone there on the screen
Yeah, everyone there on the screen
Well, they’re all dead now

Damit hat er einmal mehr einen Gedanken ausformuliert, den ich so oder so ähnlich selbst schon oft hatte. Und wenn Du dann am Tag nach dem Tod Deiner Großmutter im Wohnzimmer des Großelternhauses stehst, auf einem Regal die Fotos all der Großtanten und -onkel, dann knallen diese Zeilen noch mal ganz neu in die offene Wunde: Die sind jetzt alle tot. Das neue Death-Cab-Album „Asphalt Meadows“ hat mich irgendwie nicht so richtig abgeholt, aber dieser Song wird immer Teil meiner Geschichte sein.

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24. Nina Chuba – Wildberry Lillet
Ich bin jetzt in einem Alter, wo es zunehmend schwer wird, mit den jungen Leuten Schritt zu halten — vor allem, wenn man keinen Bock hat, sich chinesische Spionage-Software aufs Handy zu laden. Ich habe dieses Lied also erst relativ spät in einem prähistorischen Medium namens Musikfernsehen entdeckt, aber mir war sofort klar, warum das ein Hit ist: Diese Hook, die gekonnt auf der Grenze zwischen „eingängig“ und „nervig“ hüpft; diese Lyrics, die im klassischsten Sinne das durchspielen, was wir musical theater kids den „I Want“-Song nennen, und dabei sowohl im Dicke-Hose-Rap („Ich will Immos, ich will Dollars, ich will fliegen wie bei Marvel“) abschöpfen, als auch fast rührend kindlich („Will, dass alle meine Freunde bei mir wohnen in der Straße“) daherkommen; diese fröhlich-rumpelige Pippi-Langstrumpf-Haltung, mit der wieder mal eine neue Generation ihren Teil vom Kuchen einfordert — oder hier gleich die ganze Bäckerei („Ich hab’ Hunger, also nehm’ ich mir alles vom Buffet“). Und mittendrin eine Zeile, die man als immer jugendlichen Trotz lesen kann — oder als wahnsinnig traurigen Fatalismus: „Ich will nicht alt werden“. Wenn man den Song feuilletonistisch naserümpfend neben den „Fridays For Future“-Aktivismus legt, wird man feststellen, dass die Jugend (Nina Chuba ist da mit 24 gerade noch im richtigen Alter für den Song) ganz schön widersprüchlich sein kann: „We’re the young generation, and we’ve got something to say“ hatten die Monkees ja schon 1967 gesungen — und darüber hinaus nichts zu sagen gehabt, während zeitgleich mal wieder eine Zeitenwende ausbrach.

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23. Harry Styles – As It Was
Damit hätte jetzt auch niemand rechnen können, dass ausgerechnet „Take On Me“ von a-ha mal zu einem der prägendsten Einflüsse auf eine neue Generation Popmusik werden würde: Schon „Blinding Lights“ von The Weeknd war von der legendären Keyboard-Hook … sagen wir mal: „inspiriert“ und auch „As It Was“ kann eine gewisse Verwandtschaft nicht bestreiten. Aber erstens bitte nichts gegen a-ha und zweitens passiert hier in 2:47 Minuten (während die Kinofilme immer länger werden, werden die Popsongs immer kürzer — die Menschen haben ja auch nicht unendlich viel Zeit) so viel, dass man kaum hinterher kommt. Und über Harry Styles muss man ja eh nichts mehr sagen. ((Außer: Hat er jetzt eigentlich Chris Pine angespuckt?))

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22. The National feat. Bon Iver – Weird Goodbyes
„What your favorite sad dad band says about you“ titelte McSweeney’s im Januar 2022, dabei war der Witz da schon mindestens viereinhalb Jahre alt. The National und Bon Iver sind natürlich auf beiden Listen und wenn sie nicht gerade mit Taylor Swift Musik machen, machen sie die halt gemeinsam (dass Aaron Dessner von The National und Justin Vernon von Bon Iver auch noch gemeinsam bei Big Red Machine spielen, verwirrt an dieser Stelle zwar nur, ich muss es aber erwähnen, weil sonst meine Mitgliedschaft in der „Musikjournalisten-Nerds“-Unterabteilung des Bochumer „Sad Dad“-Clubs in Gefahr wäre). So wie bei diesem Song, der nicht Teil des neuen The-National-Albums sein wird, das inzwischen angekündigt wurde und „First Two Pages of Frankenstein“ (man ahnt eine etwas umständliche Referenz, die da irgendwo als Witz im Hintergrund lauert) heißt. Es ist trotzdem ein schöner Song! Und die Band verkauft inzwischen „Sad Dad“-Merchandise.

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21. Rae Morris – No Woman Is An Island
Rae Morris ist der erste und bisher einzige Act, der schon zwei Mal meine Liste der „Songs des Jahres“ angeführt hat: 2012 und 2018. Rechnerisch wäre sie also erst 2024 wieder dran, was ja auch gut sein kann. „No Woman Is An Island“ ist natürlich auch nicht schlecht, ich hab nur eben 20 Songs (von ca. 4.000 gehörten) gefunden, die ich 2022 besser fand als diese leicht theatralische (im Sinne von Bühnenaufführung, nicht im Sinne von übertrieben) Feminismus-Ballade.

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Musik Literatur Gesellschaft

Tied To The 90’s

„It’s hard to explain the soft differences between life in the 2020s and life in the 1990s to any person who did not experience both of those periods as an adult“, schreibt Chuck Klosterman auf Seite 6 seines Buchs über die Neunziger und auch wenn ich das Jahrzehnt nur als Kind bzw. Teenager miterlebt habe, war ich schon mit dem gleichen Beispiel konfrontiert, das er einen Absatz später bringt: Erklärt mal einem Achtjährigen, warum man früher Musik nicht einfach bei Spotify gehört hat, sondern CDs kaufen musste!

„The Nineties“ von Chuck Klosterman (Foto: Lukas Heinser)

Anders als die albernen „Weißt Du noch?“-Paraden im deutschen Fernsehen, in denen sich irgendwelche Halb-Promis schenkelklopfend daran erinnern, dass es Songs, Trends und Ereignisse tatsächlich gegeben hat, setzt Klosterman alles in Bezug zueinander: Politik, Gesellschaft, Sport und natürlich Popkultur reflektieren bei ihm immer einander und sie reflektieren ihre Zeit, denn, auch das wird im Buch immer wieder deutlich: Man kann die Vergangenheit nicht durch die Brille der Gegenwart erklären.

Erwartbarem stellt er längst Vergessenes gegenüber; er hat sich durch zeitgenössische Medien und Studien gefressen und alles zu einem wahnsinnig guten Buch zusammengemixt, das zwar (wie er selbst sagt) keine wissenschaftliche Publikation ist, aber auch Nachgeborenen helfen dürfte, jenes Jahrzehnt zu verstehen, das zwischen Ende des Kalten Krieges und 9/11 eine Zeit relativer Ruhe darstellte und in dem die Wahrnehmung der Welt noch nicht fragmentiert war. Eine Zeit, in der „das Internet“ zwar schon existierte, aber keine bedeutende Rolle spielte, und in dem Präsidentschaftskandidaten und Nachrichtensender als vollkommen austauschbar galten.

Klosterman ist ohnehin einer meiner absoluten Lieblings-Autoren und total prägend für meine Arbeit und meinen Blick auf die Welt. „The Nineties“ wirkt, als habe jemand, der sehr viel mehr weiß als ich, ein Buch über mich geschrieben: über Nirvana und „The Matrix“, über VHS-Rekorder und die Präsidentschaft von Bill Clinton. Es ist ein Buch, bei dem ich traurig war, als es zu Ende war, und in dem ich wohnen möchte!

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Leben Familie

Abschied von Omi

Ich weiß noch, wie ich im Februar 2006 mit einer Kollegin unterwegs war, sie einen offenbar unspektakulären Anruf bekam, aber hinterher sagte: „Jedes Mal, wenn meine Mutter anruft, denke ich, es ist was mit Omma!“ Damit fasste sie etwas in Worte, was ich auch schon unterbewusst gedacht hatte, und was ich seitdem immer wieder dachte, wenn mein Handy anzeigte, dass meine Eltern anriefen.

Ich weiß im Gegensatz dazu nicht so genau, wann das angefangen hat, dass ich an Weihnachten und den Geburtstagen meiner Großeltern dachte: „Ich fahr mal lieber nach Dinslaken; wer weiß, wie oft wir das noch zusammen feiern?“, aber auch das muss jetzt über zehn Jahre her sein.

Drei Anrufe hatte ich schon bekommen (alle auf dem Festnetztelefon): im Juli 2012, als mein entfremdeter Großvater gestorben war, ein Mann, den ich zuletzt Mitte der 1990er Jahre gesehen hatte und den ich in der Stadt nicht erkannt hätte, wenn wir uns begegnet wären; im August 2017, als meine Großmutter mütterlicherseits nach einer Operation im Krankenhaus starb, zu der sie sich mit den Worten verabschiedet hatte, es wäre nicht schlimm, wenn das jetzt schief ginge, wir bräuchten nicht traurig zu sein, es sei dann auch gut gewesen; Ende Dezember 2017, 96 Stunden nachdem wir mit unserem Großvater väterlicherseits noch einmal Weihnachten gefeiert und geahnt hatten, dass es das letzte Mal sein würde, aber noch an ein letztes gemeinsames Osterfest geglaubt hatten.

Aber eine Großmutter war ja immer noch da, so wie sie immer dagewesen war: Omi, von der wir zwölf Enkelkinder wirklich fast immer nur als Omi sprachen — so als gäbe es nur eine einzige auf der Welt; die anderen bekamen ihren Namen angehängt, aber „Omi Sigrid“ sagten wir wirklich selten, es war doch eh klar, von wem wir sprachen.

Mit jedem Geburtstag und jedem Weihnachtsfest sank – die trockenen Zahlen betrachtet – die Wahrscheinlichkeit, dass wir in einem Jahr noch einmal gemeinsam feiern können würden. In den Seuchenjahren 2020 und ’21 schafften wir es immerhin, ihren Geburtstag auf der Terrasse zu feiern; mit Masken und Abstand, aber auch mit Sekt, so wie es sich gehörte. 2020 saßen wir an Weihnachten vor dem Tablet und winkten nach Dinslaken, in der Hoffnung, dass die Pharmaindustrie schnell genug sein würde, damit wir eine geimpfte Omi noch einmal in den Arm nehmen könnten. Vielleicht sogar zu Weihnachten. Und auch wenn es 2021 keine Feier in ihrem engsten Familienkreis (Stand damals: 43 Personen) mehr gab, weil es einfach zu viel gewesen wäre und sie in großen Gruppen nicht mehr gescheit zuhören konnte, so waren wir im Laufe der Feiertage doch fast alle noch mal bei ihr im Wohnzimmer, aßen Lebkuchen, die sie selbstverständlich selbst aus der Küche geholt hatte, denn davon würde sie sich niemals abbringen lassen, und genossen das Geschenk, allen Widrig- und Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, noch einmal Weihnachten mit Omi verbringen zu dürfen.

Im Juni wurde Omi – für uns Enkelkinder: plötzlich; für ihre Kinder, die sie Tag für Tag besuchten und umsorgten: absehbar – schwächer. Auf einmal schien die entscheidende Frage, ob wir es noch mal an ihr Bett nach Dinslaken schaffen würden; ihr eine Sonnenblume hinstellen könnten; noch einmal mit ihr sprechen und uns bedanken können würden. Wir konnten. Es wurden noch einige Sonnenblumen und Gespräche und Ende August saß sie an ihrem 96. Geburtstag wie selbstverständlich auf der Terrasse, ließ Gesänge und Lobpreisungen eher widerwillig über sich ergehen, freute sich über neugeborene Urenkelinnen und fast 80-jährige Nichten, die zu Besuch gekommen waren, und erhob natürlich das obligatorische Glas Sekt.

Luki und Omi

Wenn ich in den letzten Jahren die Todesanzeigen in der Zeitung studierte (was ich aus einer Mischung aus „Memento mori“ und „Ich könnte ja jemanden kenne“ regelmäßig tue), vergingen inzwischen manchmal ganze Monate, ohne dass auch nur eine einzige verstorbene Person älter als Omi gewesen wäre. In die Nachrichten schafften es immerhin Betty White, Queen Elizabeth II und Angela Lansbury, die allesamt älter waren (wenn auch zum Teil nur wenige Monate). Eingedenk der Weltlage erschien es mir irgendwann zumindest theoretisch möglich, dass wir uns nie von Omi verabschieden müssen würden, sondern einfach alles vor ihr endet.

Nun: Der Anruf kam am Abend des 25. Oktober 2022. Nach Tagen, an denen sie nicht mehr gegessen und getrunken hatte, war Omi – man soll diese Formulierung in der Gegenwart von Kindern vermeiden, denn Tote sind tot, sie können nicht wieder aufwachen; aber hier trifft sie dann eben doch mal in einem weniger als 50% metaphorischen Sinne zu – friedlich eingeschlafen.

Ich glaube, es war Thees Uhlmann, der mal gesagt hat, dass man versuchen sollte, Denkmäler für die Menschen zu errichten, denen sonst keine Denkmäler gebaut werden. Also habe ich bei Instagram versucht, in Worte zu fassen, was Omi, ihre Süßigkeiten, ihre Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe und ihr Glaube für mich bedeutet haben und immer bedeuten werden. Ich hab bei ihrem Beerdigungskaffeetrinken eine kleine Ansprache gehalten, in der ich versucht habe, ihr Leben (oder wenigstens die 39 Jahre, die ich mit ihr verbringen durfte) zu würdigen. Ich wusste vorher schon: Ich könnte ein Buch schreiben über Omi, unsere Familie und das Ruhrgebiet, dessen Geschichte so eng mit der unserer Familie verwoben ist. Und damit fange ich jetzt an!

Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter “Post vom Einheinser”, für den man sich hier anmelden kann.

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Digital

Woher kennen wir uns?

Seit Jahren sammeln wir Kontakte auf Social Media — zum Teil von Menschen, die wir schon lange im echten Leben kennen, zum Teil, weil man sich bei Projekten oder in anderen Zusammenhängen kennengelernt hat und das „Folgen“ oder „Anfreunden“ den Austausch von Visitenkarten ersetzt hat. Manchmal sind es auch Wildfremde, die man erst im Laufe der folgenden Interaktionen kennenlernt.

In meinem neuen Podcast „Woher kennen wir uns?“ unterhalte ich mich mit diesen „Freund*innen“, um herauszufinden, wie gut wir uns eigentlich kennen, was sie beruflich machen, und welche Rolle Soziale Medien in ihrem Leben spielen.

In der ersten Folge spreche ich mit Susan Link, die sonst das „ARD-Morgenmagazin“ und den „Kölner Treff“ moderiert. Wir unterhalten uns über Aufstehzeiten und über Dinge, die man müde nicht tun sollte. Sie erzählt, dass sie ursprünglich Kriminalkommissarin werden wollte und wie sie stattdessen beim Radio gelandet ist; was Social Media mit Hauswänden gemein hat und was in den Interview-Handwerkskasten gehört — denn von ihr möchte ich lernen, wie man so Interviews überhaupt führt.

Als Bonus erzählen wir uns gegenseitig Backstage-Informationen über Micky Beisenherz und Peter Urban.

„Woher kennen wir uns?“, Folge 1 mit Susan Link

„Woher kennen wir uns?“ erscheint ab heute Freitags auf Apple Podcasts, Spotify, allen anderen gängigen Podcast-Portalen und auf meiner Website. Der Podcast wurde gefördert durch ein Künstlerstipendium im Rahmen der NRW-Corona-Hilfen.

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Musik

In Memoriam Taylor Hawkins

In ein paar Wochen hätte ich Euch die Geschichte erzählt, wie ich vor 20 Jahren, ganz kurz vor dem allerletzten Schultag, mit meinem Fahrrad zu R&K gefahren bin, um mir die „There Is Nothing Left To Lose“ von den Foo Fighters zu kaufen. Das Album war damals schon fast drei Jahre alt, aber ich hatte ein paar Wochen vorher zum wiederholten Male das Video zu „Next Year“ im Musikfernsehen gesehen und eine solche Obsession für diesen Song entwickelt (illegaler MP3-Download und so), dass ich das Album dringend haben musste und sogar die Geburtstagskaffeetafel meiner Schwester dafür verließ. Das Album und die Single (die so untypisch für die Foo Fighters ist, dass sie auf dem Best Of fehlte) wurden der Soundtrack der völlig unbeschwerten Zeit zwischen Abi-Prüfungen und Zivildienst. Noch heute hüpft mein Herz jedes Mal, wenn der Song bei 3:48 eigentlich schon zu Ende ist, aber mit dem zweitgrößten Drum-Break nach „In The Air Tonight“ zur Ehrenrunde ansetzt.

Ich hab Euch die Geschichte jetzt schon erzählt, weil Taylor Hawkins von den Foo Fighters gestern im Alter von nur 50 Jahren gestorben ist. Als gelernter Schlagzeuger hatte ich immer ein Herz für die Drummer — und ganz besonders für ihn, der in einer Band trommelte, deren Frontmann eigentlich der vielleicht profilierteste Drummer seiner Generation war. Mein tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie, der Band und allen, die ihm nahe standen.