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Musik Leben

Wir haben die Musik

Es war im Som­mer 2000, der 12. August: Mein bes­ter Freund hat­te her­aus­ge­fun­den, dass in Rees-Hald­ern, rund 40 Kilo­me­ter von Dins­la­ken ent­fernt, ein Musik­fes­ti­val statt­fand, auf dem unter ande­rem Embrace, Soul­wax und K’s Choice auf­tre­ten wür­den — und zwar heu­te, am letz­ten Sams­tag der Som­mer­fe­ri­en! Da woll­ten wir hin, also druck­te ich bei mei­ner Mut­ter in der Stadt­bi­blio­thek eine Weg­be­schrei­bung aus und das, was wir damals noch nicht „Time­ta­ble“ nann­ten. Ich besorg­te Geträn­ke und ein paar Snacks und mein bes­ter Freund über­zeug­te sei­ne gro­ße Schwes­ter, uns dort­hin zu fah­ren und abends wie­der abzu­ho­len („Um halb Elf, an der glei­chen Stel­le!“ — klingt wie Mit­tel­al­ter, es gibt aber ver­ein­zel­te Hun­de, die damals schon leb­ten und es heu­te auch noch tun). Es soll­te mein ers­tes von zwölf Hald­ern Pop Fes­ti­vals wer­den und mich, dem but­ter­fly effect fol­gend, von Dins­la­ken nach Bochum brin­gen.

Einer der zahl­rei­chen Acts, deren Namen uns nichts sag­ten, war ein Typ mit ver­knautsch­tem Gesicht und Akus­tik­gi­tar­re. Das Pro­gramm­heft klär­te uns auf, dass es sich um Tom Liwa aus Duis­burg hand­le, bis­her bekannt als Sän­ger einer Band namens Flower­porn­oes, jetzt auf Tour mit sei­nem Solo-Debüt mit dem etwas schnul­zig klin­gen­den Titel „St. Amour“. Wir waren anfangs nicht über­zeugt, aber irgend­wie gelang es die­sem Mann, uns wäh­rend sei­nes knapp 40-minü­ti­gen Sets auf sei­ne Sei­te zu zie­hen. Die Songs waren eigen­tüm­lich inter­es­sant, sowas kann­ten wir nicht aus dem Radio und noch nicht mal von Viva II. Wir waren als Skep­ti­ker gekom­men und gin­gen als Fans.

Tom Liwa beim Haldern Pop 2000

Das war inso­fern bemer­kens­wert, als ich damals nicht nur nichts von deutsch­spra­chi­ger Musik wis­sen woll­te, son­dern mir sogar eng­lisch­spra­chi­ge Acts aus Deutsch­land suspekt waren. Ja, okay: Die Fan­tas­ti­schen Vier exis­tier­ten, aber ich hat­te gera­de erst ange­fan­gen, mich vor­sich­tig mit Toco­tro­nic und den Ster­nen zu beschäf­ti­gen; eine Rück­kehr zu Her­bert Grö­ne­mey­er oder der Mün­che­ner Frei­heit, mit denen ich auf­ge­wach­sen war, erschien noch undenk­bar.

Es ist für Men­schen, die heu­te jung sind, unvor­stell­bar und selbst für uns, die wir dabei waren, manch­mal über­ra­schend, aber: Man konn­te damals nicht ein­fach sofort jede Musik hören, die man hören woll­te. Schon gar nicht in nie­der­rhei­ni­schen Klein­städ­ten. Theo­re­tisch hät­te ich das Album noch am sel­ben Abend bei Ama­zon bestel­len kön­nen, prak­tisch hat­te ich noch nicht mal ein Giro­kon­to, von dem aus ich es hät­te bezah­len kön­nen. Es dau­er­te also bis zu den Herbst­fe­ri­en, bis ich im Media­markt in der Köl­ner Hohen Stra­ße nach die­ser „Plat­te“, wie man damals rät­sel­haf­ter­wei­se auch zu CDs sag­te, suchen konn­te.

Die ers­ten Zei­len des Albums, „Dies ist kein Brief /​ Nur eine Stra­ßen­kar­te /​Auf der ich mit dem Fin­ger ent­lang­fahr /​ Wäh­rend ich auf Ant­wort war­te“ im Song „Eski­mo“, waren auf­re­gen­der als neun Jah­re Deutsch­un­ter­richt am Gym­na­si­um. Und dann so lapi­dar dahin­ge­wor­fe­ne Zei­len wie „All mei­ne Geschwis­ter sind Ein­zel­kin­der“, „Die­se Welt ist ein selt­sa­mer Platz, an dem man immer wie­der ver­gisst, wie trau­rig man ist“, „Und jetzt sitzt Du da mit Dei­nem Streich­quar­tett und ich hab Kopf­schmer­zen vom Tele­fo­nie­ren“ — wow!

Die Tex­te haben genau jenes Mischungs­ver­hält­nis aus kon­kret und kryp­tisch, dass man sich in nahe­zu Lebens­pha­se dar­in wie­der­zu­fin­den glaubt: „Und was denkt ein Pin­gu­in /​ In sei­nem Käfig im Zoo /​ Im Herbst, wenn die Vögel zieh’n /​ In die Son­ne?“ Ja, klar: Fühl ich. Und das vor­ge­tra­gen mit die­ser leicht knar­zi­gen, aber trotz­dem sehr war­men Stim­me, die ein­fach klingt wie die eines Freun­des, den „alt“ zu nen­nen man sich ver­bie­ten wür­de, weil man doch ein Jahr­gang ist, der aber am Ende eben dann doch genau das ist. Bei „The Voice“ kommt man damit nicht weit, aber das ist ja – neben der text­li­chen Qua­li­tät – eben genau das, was Tom Liwa von heu­ti­gen wie­der­ver­wert­ba­ren Deutsch­pop­mu­si­kern unter­schei­det.

„Gib ihnen was sie wol­len“ klingt wie eine bru­ta­le, aber nicht unem­pa­thi­sche Abrech­nung mit Baby­boo­mern — aber das kann eigent­lich nicht sein, die waren doch erst Mit­te 40, als das Album erschien, und Liwa gehört selbst dazu. Also doch? Wahn­sin­nig viel pas­siert auch auf der Rück­bank irgend­wel­cher Autos — oder: Es pas­siert eben nicht, es wird immer nur ange­deu­tet, dass dort in der Ver­gan­gen­heit irgend­et­was pas­siert ist. Das ist für einen 17-Jäh­ri­gen, der sei­nen Füh­rer­schein nicht so bald machen soll­te, natür­lich wahn­sin­nig auf­re­gend!

Wie das oft so ist bei Songs, die man schon sehr lan­ge kennt: Wenn man sie nach vie­len Jah­ren wie­der hört, kann man immer noch jedes Wort mit­sin­gen — was einen aber nicht unbe­dingt näher an den Inhalt der Tex­te her­an­bringt, weil man über die­se eben gar nicht mehr nach­denkt, egal ob auf Eng­lisch oder Deutsch. Wovon han­deln also die gan­zen Lie­der? Von Men­schen und ihren Pro­ble­men; von Bezie­hun­gen, die dar­aus ent­ste­hen und dar­un­ter lei­den; von schlaf­lo­sen Näch­ten, eige­nen Unzu­läng­lich­kei­ten, Lei­den­schaf­ten und Ein­sam­kei­ten.

Das könn­te man ehr­li­cher­wei­se über wahr­schein­lich 90% aller Pop­songs sagen, aber irgend­wie war Tom Liwa hier etwas gelun­gen, was bis heu­te nur wahn­sin­nig weni­ge deutsch­spra­chi­ge Tex­ter geschafft haben: so zu for­mu­lie­ren, dass es für mich – und ich bin ja hier die ein­zi­ge Instanz, wenn es um mei­nen Geschmack geht! – nicht pein­lich, gestelzt oder aus­ge­dacht klang, son­dern wie im Gespräch daher­ge­sagt. Mar­cus Wie­busch und Rei­mer Bus­torf von kett­car und Thees Uhl­mann sind für mich die Ein­zi­gen, die mich seit Jahr­zehn­ten beglei­ten, aber ihre Qua­li­tä­ten lie­gen ein biss­chen woan­ders; Muff Pot­ter, Wir Sind Hel­den und Jupi­ter Jones haben vor rund 20 Jah­ren jeweils ein paar Alben lang zu mir gespro­chen, aber Tom Liwa ist wirk­lich ein Soli­tär: Ich wür­de auch heu­te noch nicht sagen, dass er mei­ne Lebens­wirk­lich­keit abbil­det, und die Situa­tio­nen, in denen sich sei­ne Ich-Erzäh­ler befin­den, sind in den sel­tens­ten Fäl­len erstre­bens­wert, aber es blei­ben Geschich­ten, die mich anrüh­ren und inter­es­sie­ren — etwas, was ande­ren deutsch­spra­chi­gen Acts unge­fähr nie gelingt (it’s not you, it’s me).

Tom Liwa - St. Amour (abfotografiert von Lukas Heinser)

Für einen 17-Jäh­ri­gen, der gera­de dabei war, sich die ers­ten paar Male unglück­lich zu ver­lie­ben, bot die­ses Album reich­lich Pro­jek­ti­ons­flä­che: Ein Song, der „Selt­sa­mes Mäd­chen“ hieß; Geschich­ten von offen­bar dra­ma­tisch geen­de­ten Lieb­schaf­ten; eine Erzähl­stim­me, die offen­bar schon mehr wuss­te (Tom Liwa war bei Ver­öf­fent­li­chung des Albums 38 Jah­re alt), aber uns klei­ne Hol­den Caul­fields mit­neh­men konn­te durch die­se Erwach­se­nen­welt, an deren Tür wir gera­de anklopf­ten (oder von deren Tür von uns erwar­tet wur­de, dass wir an sie anklop­fen wol­len wür­den oder müss­ten).

Unter den zwölf Tracks des Albums gibt es nicht einen schwa­chen, einer der bes­ten Songs wur­de noch nicht mal von Liwa selbst geschrie­ben: „Zuhau­se“ stammt von Flo­ri­an Gläs­sing, mit dem Tom Liwa 2002 ein gemein­sa­mes Album auf­neh­men soll­te, und auf des­sen Durch­bruch ich seit über 20 Jah­ren war­te. Nach­dem sich die­ser Song in ein Pearl-Jam-ähn­li­ches Fina­le hoch­ge­schraubt hat, erklingt plötz­lich die Stim­me von Chris­ti­an Brück­ner (oder, wie wir schon damals sag­ten: „die deut­sche Stim­me von Robert de Niro“) und rezi­tiert einen Liwa’schen Text, der „Wir haben die Musik“ heißt und cle­ver­er­wei­se eben genau auf sel­bi­ge ver­zich­tet.

Wenn es auf „St. Amour“ einen Hit gibt, dann „Für die lin­ke Spur zu lang­sam“: Ein Song, des­sen vol­les Aus­maß ich erst im Lauf der Jah­re lang­sam zu erfas­sen begann. Die ers­te Stro­phe han­delt von den Ansprü­chen an sich selbst, vom „Geschenk für die Welt“, an dem man arbei­tet. Die drit­te Stro­phe schleicht sich neben­säch­lich an, um im letz­ten Moment ihre vol­le, fast meta­phy­si­sche Wucht zu ent­fal­ten: „Und dann fahr ich ans Meer raus /​ So wie ich’s immer mach /​ Wenn ich allem ent­flieh’n will /​ Das ich nicht mehr etrag /​ Park den Bus in den Dünen /​ Und setz mich irgend­wo­hin /​ Seh raus aufs Was­ser und war­te /​ Bis ich jemand anders bin“.

Tref­fen­de­re Wor­te sind sel­ten über Män­ner geschrie­ben wor­den. Die­ses gan­ze „Born To Run“-Dingen (also: Motor­rad oder Auto neh­men und los) wird hier ein­mal kurz dekon­stru­iert: Es ist halt ein­fach immer eine ganz bana­le Flucht. Vor dem, was der Mann „nicht mehr erträgt“. Ich ken­ne kaum einen Mann, egal wel­cher Gene­ra­ti­on, auf den die­se Stro­phe nicht pas­sen wür­de: Wenn mei­nem Groß­va­ter sei­ne Fami­lie zu viel wur­de oder ihm Kon­flik­te unlös­bar erschie­nen, fuhr er ein­fach weg. Ich hab mich als Teen­ager auf mein Fahr­rad geschwun­gen und bin zum Rhein­deich gefah­ren; spä­ter, in Bochum, bin ich ins Auto gestie­gen und zum Kem­n­ader See gefah­ren. Das Meer, das mich noch heu­te beru­higt wie sonst nichts auf der Welt, war mir dann doch immer ein biss­chen zu weit weg, aber Haupt­sa­che Was­ser! Ruhe fin­den im Fluss, pan­ta rhei. Das hier ein­mal so aus­for­mu­liert zu fin­den, in sei­ner gan­zen heroi­schen Lächer­lich­keit der Kon­flikt­ver­mei­dung und Kapi­tu­la­ti­on — das hat schon eine sehr ent­waff­nen­de, ernüch­tern­de Macht. Bis heu­te füh­le ich mich oft so, wie es Tom Liwa im Refrain beschreibt: „Für die lin­ke Spur zu lang­sam /​ Für die rech­te Spur zu schnell“. Eigent­lich müss­te es der Slo­gan aller Mil­len­ni­als sein.

In den Jah­ren 2000 und 2001 sahen mein bes­ter Freund und ich Tom Liwa vier Mal live. Meist stand er allein mit sei­ner Akus­tik­gi­tar­re auf der Büh­ne und spiel­te das, was er – in Anleh­nung an die damals popu­lä­ren „Dog­ma 95“-Filme – augen­zwin­kernd als „Dog­ma-Kon­zert“ bezeich­ne­te. Was aus den tol­len bis gran­dio­sen Songs ein rund­her­um groß­ar­ti­ges Album macht, ist jedoch auch die Pro­duk­ti­on Mar­cus Holz­ap­fel, die mir auch Jahr­zehn­te spä­ter noch wahn­sin­nig „undeutsch“ erscheint: sehr klar, alle Instru­men­te haben viel Raum, neben den domi­nie­ren­den Akus­tik- und den beglei­ten­den E‑Gitarren erklin­gen Quer­flö­ten, Vibra­pho­ne, Orgeln und Akkor­de­ons, gleich­zei­tig hat das Schlag­zeug einen fast absur­den Sta­di­on­rock-Appeal. Im Nach­hin­ein den­ke ich, dass die Vor­bil­der für die­sen Sound viel­leicht k.d. lang („Casa­no­vas Rück­kehr zum Pla­net der Affen“ klingt in den ers­ten Tak­ten buch­stäb­lich wie ein „Con­stant Craving“-Cover), Jeff Buck­ley und Wil­co gehei­ßen haben könn­ten. In jedem Fall ist es, neben all sei­nen inhalt­li­chen Stär­ken, immer noch eines der best­klin­gen­den deutsch­spra­chi­gen Alben aller Zei­ten.

Tex­te, die gleich­zei­tig auf magi­sche Art zugäng­lich und sper­rig sind, fand ich auch auf den frü­he­ren Flower­porn­oes-Alben, die ich mir nach und nach erschloss, wäh­rend vie­le Liwa-Alben nach „St. Amour“ oft­mals in buch­stäb­lich sehr ande­ren Sphä­ren spiel­ten. Zwi­schen­durch hat er mal sehr gute Alben beim Grand Hotel van Cleef ver­öf­fent­licht, aber sein Out­put und sei­ne Wech­sel von Labels und Ver­triebs­we­gen haben ähn­lich hohe Schlag­zah­len. Liwas aktu­ells­te Alben sind hoch­ge­lobt, aber weil er es sich erlau­ben kann (oder zumin­dest erlau­ben will), sie aus­schließ­lich außer­halb der Strea­ming­dienst-Aus­schlach­tungs­ket­ten anzu­bie­ten, sind sie ehr­lich gesagt auch ein biss­chen an mir vor­bei gegan­gen. Das weni­ge, was ich im ver­gan­ge­nen Jahr aus „Prim­zah­len aus dem Bar­do“ gehört habe, erin­ner­te aber durch­aus an alte Glanz­zei­ten. „Eine ande­re Zeit“ wur­de von der Redak­ti­on des deut­schen „Rol­ling Stone“ 2022 zum „Album des Jah­res“ gewählt. Klar: Ich käme heu­te sehr viel leich­ter an sei­ne Musik als vor 25 Jah­ren, aber ich bin eben auch Teil des Pro­blems der Musik­in­dus­trie (bzw. hier vor allem: der Künstler*innen), des­sen bin ich mir bewusst.

So ist auch „St. Amour“ bis heu­te nicht zum Strea­men ver­füg­bar. Man kann das Album zwar bei iTu­nes kau­fen, aber weder bei Apple Music noch bei Spo­ti­fy hören. Da sowohl das Label (Det­lef Diede­rich­sens Moll Ton­trä­ger) als auch der Ver­trieb (Ener­gie für Alle) inzwi­schen nicht mehr exis­tie­ren, kann man gebrauch­te CDs im Inter­net bestel­len, aber die Aura des etwas mys­ti­schen, nur mühe­voll zu beschaf­fe­nen, die das Album damals für mich hat­te, umgibt es inter­es­san­ter­wei­se bis heu­te.

Am 7. April 2000 ist es erschie­nen, heu­te vor 25 Jah­ren.