Wie schnell so ein Jahr vergeht, merkt man vor allem, wenn man für jeden Monat ein Mixtape zusammenstellt. Jetzt ist 2025 also zu drei Vierteln durch. Okay.
Ich hoffe, die Musik hilft:
Wie schnell so ein Jahr vergeht, merkt man vor allem, wenn man für jeden Monat ein Mixtape zusammenstellt. Jetzt ist 2025 also zu drei Vierteln durch. Okay.
Ich hoffe, die Musik hilft:
Für Günter und Jürgen, die ich ohne dieses Blog nie kennengelernt hätte.
Und für Dörte, die immer alles gelesen hat.
Es war die naheliegendste Idee der Welt: Zum 18. Geburtstag des Blogs wähle ich einen Song aus jedem Jahr aus — fertig ist die Playlist!
Aber nach welchen Kriterien? Einfach das Lied nehmen, das jeweils meine Liste „Song des Jahres“ angeführt hat? Das wäre ja ein bisschen langweilig — und solche Listen gab es auch gar nicht in jedem Jahr.

Also: 18 andere Songs. Welche, die ihr jeweiliges Jahr, aber auch dieses Blog gut repräsentieren; die für mich eine persönliche Bedeutung haben; die ich auch heute noch höre. Eine halbwegs ausgewogene Mischung aus Genres, Geschlechtern und Sprachen, also eben dann doch auch: Kontext.
Und so wurde aus einem kleinen Gimmick zum Jubiläum eine ausufernde Recherche-Aktion im eigenen Leben ’n‘ Werk und einer der längsten Texte, der hier in den letzten 18 Jahren erschienen ist:
2007: Mika – Grace Kelly
Als dieses Blog an den Start geht, sind Gitarrenmusik im Allgemeinen und Indierock im Speziellen noch ein Ding. Bei der damals noch stattfindenden „Leserwahl“ (ein Konstrukt, das wir uns relativ offensichtlich von „Plattentests online“ abgeschaut haben), wird „A Weekend In The City“ von Bloc Party (Wann habt Ihr zuletzt an diese Band gedacht?) zum „Album des Jahres“ gewählt und „Ruby“ von Kaiser Chiefs (Oder an diese Band?!) zum „Song des Jahres“.
Auf meiner Jahresbestenliste ganz vorne ist „Tonight I Have To Leave It“ von Shout Out Louds, das ich auch ewig nicht mehr gehört habe. Und ganz versteckt, auf Platz 22: „Grace Kelly“ von Mika, ein etwas exaltierter over-the-top-Popsong mit Vaudeville- und Musical-Anleihen von einem jungen Mann, den das Adjektiv „androgyn“ begleitet. (Es waren, wie gesagt, andere Zeiten.) Ein Song, den mir „Plan B“, die etwas anspruchsvollere Musiksendung von 1Live (ich unterschied damals noch pubertär zwischen „guter“ Indie- und „schlechter“ Mainstream-Musik; andere Zeiten indeed), in die WG-Küche gebracht hat.
15 Jahre später sitze ich beim Eurovision Song Contest in Turin in der deutschen Kommentatorenkabine, zum neunten Mal als Assistent von Peter Urban, der wegen der ausklingenden COVID-19-Pandemie von Hamburg aus kommentiert. Gelandet war ich bei dieser Veranstaltung überhaupt nur, weil Stefan Niggemeier 2007 meine Kommentare in seinem Blog gelesen und mich gefragt hatte, ob ich mit ihm einen „Grand-Prix-Führer“ schreiben würde. Der Rest ist Geschichte, bzw. BILDblog, Oslog, Duslog, Bakublog, besagter Job als Kommentatoren-Assistent und mein Buch. Und dieser Mika mit seinem Song über Grace Kelly (bzw. darüber, wie man sich anpasst, um den Menschen zu gefallen) moderiert da jetzt diese Veranstaltung gemeinsam mit Laura Pausini und Alessandro Cattelan, er bringt internationalen Glamour in eine (vor allem hinter den Kulissen) eher chaotische TV-Sendung und er singt ein Medley seiner Hits.
Es ist ein seltsamer, rührender full-circle-Moment, der die größte Musikshow der Welt mit meiner alten WG-Küche und allem dazwischen kurzschließt, und in einem Anfall von Geistesgegenwart und emotionaler Überforderung schreibe ich auf jener Social-Media-Plattform, die damals noch Twitter heißt: „Es ist schön, an das Jahr 2007 erinnert zu werden. Es ist noch schöner, dass in meinem Leben heute ungefähr alles besser ist als damals.“ Oder, mit Mikas Worten: „Ca-ching!“
[Songs 2007 von damals]
2008: The Hold Steady – Constructive Summer
Die Leser*innen, die ich damals noch „Leser“ nenne, wählen „Sex On Fire“ von Kings Of Leon zum Song und „Heureka“ von Tomte zum Album des Jahres. Ich sammle die wichtigsten Nazi-Vergleiche (eine Kategorie, der damals noch ein gewisser Unterhaltungsfaktor anzuhaften scheint) und Barack-Obama-Referenzen und arbeite den Rest der Zeit fürs BILDblog.
Meine wichtigste Quelle für neue Musik ist „All Songs Considered“, ein Podcast von NPR, der auch das Vorbild für meine eigene, kurzlebige Musiksendung bei Spotify 2023/24 wird. Hier stoße ich erstmals auf The Hold Steady, eine Band aus Brooklyn (ursprünglich: Minneapolis/St. Paul), die Geschichten von Verlierern und Underdogs in hymnischen Rocksongs erzählt wie sonst nur Bruce Springsteen. Ihr Album „Stay Positive“ bringt mich durch ein Jahr, von dem ich heute so gut wie nichts mehr weiß, deshalb lasse ich mir das Symbol vom Albumcover 2011 auf meine Wade tätowieren.
Auch ihre Musik bleibt: 2009 kaufe ich mir alle Alben und höre sie rauf und runter (wie man es in einer Welt ohne Streaming eben so machte), 2010 rufe ich den „Constructive Summer“ aus: „We’re gonna build something this summer.“ Hier entstehen dann endlich Erinnerungen, die für immer bleiben werden, untermalt von „Boys And Girls In America“, „Stay Positive“ und dem damals neuen Nachfolge-Album „Heaven Is Whenever“.
[Songs 2008 von damals]
2009: Kilians – Hometown
Nach über fünf Jahren im Studentenwohnheim muss ich mir mal langsam eine eigene Wohnung suchen und ich überlege: In Bochum bleiben oder nach Hamburg ziehen? Es ist ein Jahr der großen Gefühle zwischen Welt erobern wollen und zuhause einsperren, begleitet von der ganz großen, unerfüllten Liebe.
Meine Freunde von den Kilians (Bruder, Demo-CD, Thees Uhlmann, Tomte-Tour — you know the story!) veröffentlichen im April ihr zweites Album „They Are Calling Your Name“ und spielen aus diesem Anlass ein Konzert auf dem Hans-Böckler-Platz in Dinslaken, jener Stadt, in der wir alle – die Kilians, ich und die ganz große, unerfüllte Liebe – aufgewachsen waren. Ihr Song „Hometown“ ist das Angebot einer Hymne.
Die Band löst sich 2013 auf, da wird der Hans-Böckler-Platz gerade mit einem Einkaufszentrum überbaut. Wenn man heute „Dinslaken“ sagt, reagieren nicht mehr viele Menschen mit „Aaaah, die Kilians!“ (aber – und das wird die Bürgermeisterin freuen – auch nicht mehr mit „Aaaah, der Wendler!“ oder „Aaaah, die Salafisten!“). Die Stadt hat sogar die Emschermündung verloren. Aber Erinnerungen und Musik werden ja immer bleiben.
(Ich entscheide mich 2009 übrigens für Bochum. My hometown.)
2010: Lena – Satellite
„Irgendwann musst Du Dir das mal vor Ort anschauen“, hatte Stefan Niggemeier 2008 über den Eurovision Song Contest (damals und immer schon: „Eurovision Song Contest“) gesagt, aber weil Moskau schon damals kein Ort ist, an dem man gerne sein möchte, verschieben wir unser Projekt auf das Folgejahr und nach Oslo. Womit wir nicht rechnen: dass in Deutschland ein regelrechter ESC-Hype um eine 18-jährige Abiturientin aus Hannover ausbricht und die diese merkwürdige Quatsch-Veranstaltung tatsächlich gewinnt. (Also: In der ersten Folge des Oslog wette ich natürlich genau das, allerdings ohne auch nur einen anderen Wettbewerbsbeitrag zu kennen.)
Als altes Theater-Kind zieht mich die jährliche Leistungsschau der Bühnentechnik-Industrie sofort in ihren Bann und auch musikalisch ist das alles gar nicht mehr so schlimm, wenn man es nur oft genug gehört hat. Aber trotz der einschneidenden, im Nachhinein lebenswegweisenden Erfahrung in Oslo traue ich mich nicht, „Satellite“ auf meine Jahresbestenliste zu packen. Da sollen auch weiter nur Indie-kredibele Sachen zu finden zu finden sein (und so ignoriere ich offenbar auch das tolle Take-That-mit-Robbie-Album „Progress“ komplett). Das passt zu einem Jahr, in dem ich nicht gerade dadurch auffalle, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, sondern mich lieber vom Großstadt‑, vor allem aber Nachtleben rund um meine neue Wohnung in der Innenstadt mitreißen lasse und als neuer BILDblog-Chef in Talkshows gehe und zu Journalistenkongressen ins Ausland fliege. („It’s physics / There’s no escape.“)
Hier also späte Genugtuung für einen Song und ein Ereignis, ohne die ich heute nicht da wäre, wo ich bin, und ohne die der ESC in Deutschland immer noch als „Schlager-Grand-Prix“ firmieren würde, bei dem man ohnehin nichts reißen kann.
[Songs 2010 von damals]
2011: Thees Uhlmann – 17 Worte
Mein Kumpel Thees Uhlmann ist im Jahr 2011 wie so oft weiter als ich: Vater geworden, Beziehung zerbrochen, dabei, das Glück im Kleinen zu suchen. Ich bin vier bis fünf Abende die Woche im Freibeuter im Bochumer Bermuda3eck und schreibe nebenher das BILDblog voll. Deswegen ignoriere ich Thees‘ selbstbetiteltes Solo-Debüt damals auch rüpelig bei den „Alben des Jahres“ (und lobe lieber das nächste egale Coldplay-Album), obwohl ich es wirklich oft höre.
Aber diese Liste hier ist auch eine Chance auf Wiedergutmachung, denn sechs Jahre später stehe ich beim GHvC-Geburtstag in Hamburg im Nieselregen: Vater geworden, Beziehung zerbrochen, dabei, das Glück im Kleinen zu suchen. Also völlig andere Prioritäten und Prinzipien: „Meine Wahrheit in 17 Worten: / Ich hab ein Kind zu erziehen / Dir einen Brief zu schreiben / Und ein Fußball-Team zu supporten.“ (Bei Erscheinen des Albums hatte ich Thees eine SMS geschrieben, dass das nur 16 Worte wären, weil man „Fußballteam“ zusammenschreibe. Seine Antwort kam natürlich prompt: „Fußball Team!“)
2021 sehe ich Thees Uhlmann und Band live im Burgtheater in Dinslaken (weil: natürlich). Es ist mein erster Konzertbesuch seit anderthalb Jahren, mein Sohn ist an meiner Seite, meine Eltern irgendwo in meinem Rücken, der VfL Bochum ist aufgestiegen. Weite Teile der Öffentlichkeit sind während der immer noch anhaltenden Pandemie dem Wahnsinn anheimgefallen, aber als Thees „17 Worte“ spielt, macht für mich alles Sinn: Wir singen, um uns zu erinnern.
[Songs 2011 von damals]
2012: Carly Rae Jepsen – Call Me Maybe
Dieser bekloppte Eurovision Song Contest hat mich nach Aserbaidschan verschlagen. Ich sitze in Baku im Hotelzimmer, gucke russisches Musikfernsehen und sehe dieses Video. Als der Song zu Ende ist, zappe ich weiter und sehe das gleiche Video auf dem nächsten Kanal direkt noch mal von vorn. „Komische Russen“, denke ich, will den Song bei Facebook posten und stelle fest, dass ich mit „Call Me Maybe“ einen internationalen Hit verpasst habe.
Wahrscheinlich ist es dieser Moment, in dem ich dieses elitär-pubertäre Musik-nur-gut-finden-wenn-sie-sonst-keiner-hört-Dingen aufgebe und endlich frei bin, Dinge gut zu finden, nur weil ich sie gut finde. Um Dinge auch öffentlich gut zu finden (jedenfalls meistens), starten Tom Thelen und ich im Blog unseren Kino-Podcast „Cinema And Beer“.
„Before you came into my life / I missed you so bad“ ist immer noch eine der besten Zeilen, die je über romantische Liebe geschrieben wurde — und das waren ja nun wirklich nicht wenige. Carly Rae Jepsen in der Kölner Essigfabrik ist im Februar 2020 mein letztes Konzert vor dem Lockdown (ist es nicht Magie, wie hier alles ineinandergreift?!) und die fröhliche Stimmung dieses durchaus ESC-tauglichen Publikums trägt mich durch die ersten, dunklen Monate der Isolation.
[Songs 2012 von damals]
2013: Daft Punk feat. Pharrell Williams & Nile Rogers – Get Lucky
Ich sitze in einem Auto, das mich vom Hotel zur Malmö Arena bringt, neben mir: ESC-Kommentatorenlegende Peter Urban. Als wäre das nicht schon absurd genug, wippt dieser 65-jährige Mann zur Musik aus dem Autoradio mit: „Get Lucky“ von Daft Punk, Pharrell Williams und Nile Rogers. Natürlich kennt er das, denn es ist ja ein internationaler Superhit, dem man nur schwer entkommen kann, und Peter würde auch jede Menge deutlich obskurere Songs mitsingen, die in den letzten ca. 50 Jahren erschienen sind, aber irgendwie überrascht es mich in diesem Moment doch, denn Daft Punk, das sind doch die von Viva 2 (wo sie jetzt zugegebenermaßen auch nicht zwingend zur Avantgarde gezählt hatten).
Die Dominosteine, von denen dieses Blog der erste war, haben mich hierher gebracht, ins Epizentrum des Entertainments. Nur einen Monat später sollen sie mich zum Late-Night-Meinungsmagazin „Tagesschaum“ mit Friedrich Küppersbusch führen und von dort zu unserem gemeinsamen Podcast „Lucky & Fred“. Das Leben meint es gut mit mir, beruflich wie privat.
[Songs 2013 von damals]
2014: Andrew McMahon In The Wilderness – High Dive
Ich hätte immer gesagt, dass das Jahr 2014 hier im Blog gar nicht stattgefunden hat, aber es gibt doch einige Einträge aus dieser Zeit — die meisten als Teil der kurzlebigen Serie „Song des Tages“. Ich erinnere mich an nichts, weil ich zu sehr mit anderen Sachen beschäftigt bin: Umzug, neue Jobs, Hochzeit planen und absagen, Vater werden, irgendwie versuchen, meine Beziehung zu retten. Alles Dinge, auf die einen Popkultur nur unzureichend vorbereitet; alles Dinge, die für Popkultur wenig Zeit lassen.
Das erste neue Album, das ich mit meinem Sohn höre, ist das Solodebüt von Andrew McMahon, der mich mit seinen Bands Something Corporate und Jack’s Mannequin jetzt auch schon mehr als zehn Jahre begleitet. Er ist auch gerade Papa geworden, so kann ich die Verarbeitung meiner Lebenswirklichkeit wieder mal auf ihn abwälzen und einfach seine Songs hören. Obwohl wir doch noch jung sind, ist da viel Nostalgie in seinen Texten wie „High Dive“, aber Facebook ersetzt Kneipenabende mit Freund*innen ja auch nur bedingt.
2015: Ben Folds feat. yMusic – Phone In A Pool
2015 ist dann tatsächlich das Jahr, das nicht war, denn ich schreibe sensationelle sieben Blogeinträge, von denen die meisten ursprünglich Facebook-Posts waren. Offenbar schaffe ich es immerhin ein paar Mal ins Kino. (Ach, „The Force Awakens“ ist von 2015?!) Ich kann mich an nichts erinnern und es geht mir wirklich nicht gut.
Ein bisschen Trost kommt von meinem ewigen Helden Ben Folds, der gerade die vierte Scheidung (von inzwischen fünf) hinter sich hat und mit dem Kammermusik-Ensemble yMusic ein Album einspielt, auf dem auch sein erstes Klavierkonzert zu hören ist. (Wir gehen alle unterschiedlich mit Lebenskrisen um.) In „Phone In A Pool“ berichtet er: „Found the love of my life again / Y’all knows what I means / And I’ll be back on the sofa in a puddle in a couple of weeks“. Bei all dem Elend ist es schön, dass jemand, der mich mein halbes Leben lang begleitet, immer noch Songs schreiben kann, die so gut zu meinem eigenen Leben passen. Natürlich gibt es am Ende des Jahres keine Listen — ich hab ja eh viel zu wenig Musik gehört und wann hätte ich die denn noch schreiben sollen?
2016: Weezer – California Kids
Neuanfang in einer eigenen Wohnung und das Vorhaben, das Blog jetzt aber wirklich wieder zu befeuern. Da passt es ganz gut, dass Benjamin von Stuckrad-Barre, dessentwegen ich als Teenager mit dem Schreiben angefangen hatte, ein neues Buch veröffentlicht, ungefähr zeitgleich mit dem neuen Album der von uns hoch verehrten Pet Shop Boys und dem von Weezer. Alle drei Acts eint, dass ihr Schaffen nicht zu jedem Zeitpunkt ihrer Karriere den Ansprüchen des eigenen Publikums genügte, aber jetzt sind sie wieder voll da.
Also eigentlich eine gute Gelegenheit, darüber zu schreiben und über andere Dinge, die mir Freude bereiten, aber das Internet ist damals im wesentlichen Facebook und dort sind wir alle damit beschäftigt, mit irgendwelchen AfD-Anhängern zu diskutieren, die irgendwo etwas Dummes kommentiert haben. Um diesem ganzen Irrsinn zu entfliehen, schreibe ich nicht etwa wieder mehr ins Blog, sondern starte meinen eigenen Newsletter. Da macht das Schreiben immerhin auch Spaß.
Weezer, jedenfalls, kenne ich seit mehr als 20 Jahren, als das Video zu „Buddy Holly“ bei „Hit-Clip“ lief und auf der Windows-95-CD-Rom enthalten war. Jetzt veröffentlichen sie schon das vierte Album namens „Weezer“ (nach dem blauen, dem grünen und dem roten Album jetzt ganz Beatles-mäßig das weiße), das meinen Sohn und mich auf vielen Ausflügen zum Kemnader See begleitet und ihr bestes seit Jahrzehnten ist. Der opening cut „California Kids“ handelt von den glücklichen jungen Menschen aus dem Golden State, die einem das Leben retten. Ich nenne Kalifornien gerne „my home away from home“, was vielleicht etwas prätentiös ist, aber ich hab da halt Familie und es ist auch der einzige Ort außerhalb des Ruhrgebiets, an dem ich je so viel Zeit am Stück verbracht habe. Der Staat bleibt auch nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten das (natürlich eher theoretische) Ideal, das ich bewundere, genauso wie ich Menschen auch lieber aus der Ferne toll finde — California Kids halt.
2017: kettcar – Ankunftshalle
Als dieses Blog an den Start geht, haben kettcar bereits zwei Alben veröffentlicht: ihr Debüt „Du und wieviel von Deinen Freunden“, ein instant classic, und – begleitet von Fernsehauftritten und ganzseitigen Zeitungsartikeln – den Nachfolger „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“. Trotzdem schreibe ich in all den Jahren relativ wenige Texte über diese Band, die mir so wichtig ist. Vielleicht weil ich denke, dass das eh klar ist.
2017 liegt das letzte (eher okaye) kettcar-Album fünf Jahre zurück, Marcus Wiebusch hat in der Zwischenzeit ein (ziemlich gutes) Soloalbum veröffentlicht, aber plötzlich ist die Band wieder ein Machtblock mitten in Europa: Ihre stets klare politische Haltung, die Jahre vorher noch ein bisschen folkloristisch anmutete, ist inzwischen notwendig, aber neben Songs wie „Sommer ’89“, „Wagenburg“ und „Mannschaftsaufstellung“ gibt es auch jene, die sich anfühlen wie Polaroids (oder Insta-Posts) aus dem Alltag. „Die Straßen unseres Viertels“ ersetzt eine ganze Fernsehserie über das Familienleben in Hipster-Vierteln, ohne sich für eine Sekunde Harald-Schmidt-mäßig über Hafermilch lustig zu machen; „Trostbrücke Süd“ ist ein Kameraschwenk durch einen Linienbus voller Menschen, die aufstehen, atmen, sich anziehen und hingehen, und „Ankunftshalle“ der Blog-Eintrag, Newsletter oder Song, den ich immer hatte schreiben wollen: ein Loblied auf die heilende Kraft von Flughafen-Ankunftshallen, wo Menschen sich nach langer Zeit der Trennung wieder in die Arme fallen.
Als kettcar und Thees Uhlmann im August im Hamburger Nieselregen 15 Jahre Grand Hotel van Cleef feiern, ist wenige Tage zuvor meine Oma gestorben, die hier von Anfang an mitgelesen hatte. Ende Dezember liegt mein Opa im Sterben und ich fahre mit meinem Sohn zum Düsseldorfer Flughafen, Menschen in der Ankunftshalle gucken.
[Songs des Jahres 2017 damals]
2018: Rae Morris – Do It
Hatte ich oben – also vor ca. 18.000 Zeichen – nicht noch geschrieben, dass in dieser Liste explizit nicht die jeweiligen Songs des Jahres auftauchen sollen? Well: We make up the rules as we go along!
Rae Morris hat sich ihre Sonderrolle hier im Blog verdient: Weil ich mich 2012 instantly in ihren Song „Don’t Go“ aus dem (eigentlichen) Serienfinale von „Skins“ (der einzigen Fernsehserie neben „Die Brücke“, von der ich alle Folgen gesehen habe) verliebt habe; weil sie der erste (und bis heute einzige) Act in der Geschichte dieses Blogs ist, der in einem Jahr (2018) meinen persönlichen „Song des Jahres“ und mein „Album des Jahres“ veröffentlicht hat (das haben Tomte 2006 zwar auch geschafft, aber halt sechs Wochen, bevor dieses Blog an den Start ging, also zählt das nur an ungeraden Wochentagen ohne Neumond); weil sie der erste (und bis heute einzige) Act ist, der zwei Mal meinen persönlichen Song des Jahres (2012 und 2018) geschrieben hat.
Irgendwie alles trockener Statistik-Kram angesichts eines Songs, der davon handelt, auf die Zweifel zu pfeifen und sich kopfüber in die Liebe zu stürzen. Rae Morris singt das über ihren musikalischen Partner und heutigen Ehemann Fryars und sie macht das so toll, dass ich mit ihr an die große Liebe glauben will, die sich anfühlt wie Feuerwerk aussieht. Doch meine Versuche, „Do It“ in „Joko Winterscheidts Druckerzeugnis“ zum Sommerhit des Jahres zu pushen, scheitern und Menschen wie ich bleiben besser allein.
Aber, so denke ich heute, eigentlich ist dieses Blog hier ja auch nichts anderes als die Umsetzung des Gedankens „We could just do it“: Gestartet als „die Online-Zeitung, die wir gerne lesen würden“ (puh!), konnte ich mich hier an der Tastatur und vor der Kamera austoben, ausprobieren und daran wachsen, um dann für Zeitungen und Fernsehsendungen zu arbeiten, die ich früher nur rezipiert hatte. Wenn man aus 18 Jahren Coffee And TV unbedingt irgendetwas lernen will, dann, dass Selbstermächtigung manchmal (es gehört ja auch bei mir sicherlich einiges an Glück dazu) wirklich funktionieren kann.
[Songs des Jahres 2018 damals]
2019: LOKI – The Girl With No Eyes
Für die, die hier ernsthaft Buch führen (also: für mich), mag es etwas überraschend sein, dass ein Song, der auf Platz 59 einer Jahresbestenliste stand, ein Jahr repräsentieren soll. Nun: Erstens können wir uns glaub ich darauf einigen, dass es eh schon ein ganz kleines bisschen wahnsinnig ist, einen „Platz 59“ auf einer persönlichen Bestenliste zu haben; zweitens habe ich erst bei der Durchsicht meiner diversen Listen, Einträge und Playlists festgestellt, dass ich tatsächlich schon mal Musik von LOKI gehört haben muss, bevor ich sie letztes Jahr beim Festival Sounds Like Sugar in Herne gesehen habe und so begeistert war, dass ich sie beim Bochum Total direkt wieder sehen musste.
Damit steht „The Girl With No Eyes“, dessen Bon-Iver-Haftigkeit mich schon 2019 überzeugt haben muss, nämlich für etwas anderes: Für das wilde Überangebot an Werken (oder: „Content“, wie die Arschlöcher sagen, die in ihrem Leben nicht einen einzelnen genuinen Gedanken hatten), aus dem wir theoretisch wählen können, das aber auch das Risiko birgt, alles beliebig und egal zu machen. Dass es etwas anderes ist, tagelang in physischen Läden nach einer CD zu fahnden und sie dann endlich zu finden, als einfach alles immer sofort (terms and conditions apply) zur Verfügung zu haben, hab ich schon 2016 aufgeschrieben. Es ist seitdem nicht weniger geworden. Wenn ich mich nicht mehr an irgendwelche Acts erinnern kann (natürlich auch, weil ihre Namen nur noch über Bildschirme flimmern und nicht ausgedruckt vor mir liegen, was meinem Gehirn immerhin ein bisschen helfen würde), ist es alles ein bisschen viel.
Ich selbst trage fröhlich zum Überangebot bei: Mit Friedrich Küppersbusch stehe ich jetzt regelmäßig auf Bühnen in Dortmund und Berlin, um „Lucky & Fred“ vor Publikum aufzuzeichnen. Da kommt das Theater-Kind von früher wieder zum Vorschein, Applaus ist immer noch die stärkste Währung. Weil Likes dagegen abstinken und dort eh nichts mehr los ist, lösche ich am Silvesterabend meinen Facebook-Account. Im Nachhinein möchte ich sagen: Ich habe schon dümmere Dinge zu einem schlechteren Zeitpunkt gemacht.
[Songs des Jahres 2019 damals]
2020: Taylor Swift – Epiphany
Alles beginnt so schön mit weiteren Live-Auftritten und Konzertbesuchen bei kettcar, Ider und Carly Rae Jepsen. Und dann endet alles: Konzerte, Kindergarten, Bundesliga, sogar der Eurovision Song Contest wird erstmals abgesagt. „Wegen Corona“ wird ein sogenanntes geflügeltes Wort, was auch irgendwie zu den verdammten Flughunden auf dem Nassmarkt von Wuhan passt, die uns die ganze Scheiße (mutmaßlich) eingebrockt haben.
Popkultur-Freund*innen vergleichen die Straßen mit jenen aus dem Zombiefilm „28 Days Later“ und wir lernen die Wohnzimmer von Kolleg*innen und Rockstars kennen, die von dort aus Mini-Konzerte in die Welt streamen (die Rockstars, nicht die Kolleg*innen). Die Leute erscheinen all das mit erstaunlichem Gleichmut zu ertragen, aber dieses Bild bekommt – um eine weitere Phrase zu vermeiden – schnell Risse: Als sich im April eine Frau, die vor einem Café warten muss, um Kuchen zum Mitnehmen zu kaufen, über die „Gesundheitsdiktatur“ beschwert, bin ich viel zu überrascht und schockiert, ihr vorzuschlagen, dass wir gerne gemeinsam einen Bekannten von mir, der Arzt in Padua ist, anrufen könnten und sie ja mal mit dem sprechen könne, wenn er nicht gerade dabei ist, um Leben zu kämpfen.
Es ist ein Vorgeschmack auf das, was kommt: Weil man sich jetzt nirgendwo mehr in die Augen gucken kann, vergessen nahezu alle, dass sie online mit anderen Menschen diskutieren. Manche von uns nutzen die viele freie Zeit, um sich über Rassismus fortzubilden, andere, um sich zu radikalisieren. Ich schreibe viel in meinen Newsletter und wenig ins Blog, starte aber zusammen mit Sue Reindke immerhin einen neuen Podcast namens „Bist Du noch wach?“
In all das hinein veröffentlicht Taylor Swift, die nach einer abgesagten Welt-Tournee auch zu viel Freizeit hat, ein Album, das sie in den ersten Monaten des Lockdowns mit Aaron Dessner von The National aufgenommen hat, remote. „Folklore“ wird zum Soundtrack des ersten Corona-Sommers und überzeugt selbst jene, die ihrer Musik bisher kritisch gegenübergestanden hatten. Mit „Evermore“ erscheint ein paar Monate später noch so ein großer Wurf. Nach dem großartigen „1989“ von 2014 hab ich endlich die nächste era, in der ich mich einrichten kann. Es ist der Soundtrack zu sehr ausgiebigen Spaziergängen durch die verschiedenen Nachbarschaften hier in Bochum. Und mittendrin ein Song über Soldaten und Menschen im Gesundheitswesen, über das Sterben in Einsamkeit und über das Weitermachen der Überlebenden: „Epiphany“. „Someone’s daughter, someone’s mother / Holds your hand through plastic now“ sind Zeilen, die mir auf ewig die Tränen in die Augen treiben und einen Klos in den Hals drücken werden. Die gute Nachricht: Meine Omi, die mit 94 noch allein in ihrem viel zu großen Haus wohnt, überlebt all das ohne Ansteckung. Das ist nicht ihr Song.
[Songs des Jahres 2020 damals]
2021: Meet Me @ The Altar – Never Gonna Change
2021 ist die etwas öde Fortsetzung des Seuchenjahres, aber als Farce: Hashtag Osterruhe. Die Amtszeit von Donald Trump endet, die von Angela Merkel auch. In Rotterdam, wo der ESC unter Pandemie-Bedingungen stattfindet, lautet der schon 2019 ersonnene Slogan passenderweise „Open Up“. Den Sommer verbringe ich damit, mein Buch über den Song Contest zu schreiben, an Omis Geburtstag und an Weihnachten sind wir wieder alle vereint.
In Aachen treffe ich einen meiner allergrößten Helden: Michael Stipe von R.E.M. Er ist so bezaubernd, wie ich erhofft hatte, und gibt mir das Gefühl, als sei ich der allererste Mensch, der „You’ve changed my life“ zu ihm sagt. Der VfL Bochum steigt nach elf Jahren wieder in die Bundesliga auf. Nature is healing.
Meine aktuelle Lieblingsband heißt Meet Me @ The Altar, queer Women of Color aus den USA, die Pop-Punk zwischen Avril Lavigne, Paramore und Blink-182 machen. Zum ersten Mal hören tue ich von ihnen bei – natürlich – „All Songs Considered“ auf – natürlich – einem meiner langen Spaziergänge, in Erinnerung bleiben mir ihre EP „Model Citizen“ und der Song „Never Gonna Change“ aber vor allem als Soundtrack zu den ersten Besuchen im Fitnessstudio, die jetzt wieder möglich sind.
[Songs des Jahres 2021 von damals]
2022: Maro – Saudade, Saudade
Am Ende wird es das Jahr gewesen sein, das ich so lang gefürchtet hatte: das, in dem meine Omi stirbt. Es werden lange vier Monate des Abschieds, die ihren Kindern alles abverlangen, aber es ist eine Zeit des bewussten, liebevollen Abschieds und der Liebe in ihrer reinsten Form.
All das ahne ich noch nicht, als ich beim ESC in Turin sitze und völlig gebannt (das englische Wort mesmerized kennen wir im Deutschen leider nicht, obwohl es doch auf einen deutschen Arzt zurückgeht) dem Auftritt der portugiesischen Künstlerin folge, die das spezifisch portugiesische Gefühl saudade besingt, das mit „vermissen“ nur unzureichend übersetzt werden kann und das sie nach dem Tod ihres geliebten Großvaters empfindet. „Saudade, Saudade“ erreicht am Ende einen tollen 9. Platz, Deutschland hat auch teilgenommen. Allerspätestens hier in Turin ist der ESC nicht mehr die leicht trashige Quatsch-Veranstaltung, als die er noch galt, als Stefan und ich 2007 erstmalig darüber gebloggt haben. Er ist ein echtes Musikfestival, bei dem man Genres und Acts vorgestellt bekommt, auf die man sonst vielleicht nie gestoßen wäre. Wer hier noch alles doof findet, mag wahrscheinlich einfach keine Musik.
Mein Buch über diese Veranstaltung erscheint quasi zeitgleich mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, was mir eine ordentlich Portion der Freude raubt. Als ich den Release trotzdem mit Freund*innen in meiner Stammkneipe feiere, stecke ich mich (endlich) mit COVID-19 an und bin immer noch reichlich außer Atem, als ich das Buch in einer kleinen großen Liveshow in der Zeche Carl in Essen vorstelle. Irgendwie schaffe ich es sogar, in diesem Jahr noch einen Podcast zu produzieren: die Talksendung „Woher kennen wir uns?“
[Songs des Jahres 2022 damals]
2023: Foo Fighters – Rescued
Omi und Taylor Hawkins sind im selben Jahr gestorben, was insofern besonders tragisch ist, als der Schlagzeuger der Foo Fighters 46 Jahre jünger gewesen war. Dave Grohl hatte zum dritten Mal einen seiner besten Freunde verloren, Monate später seine Mutter. Ob das der Beginn einer etwas verspäteten midlife-crisis war, in deren Verlauf jene Tochter entstand, die „außerhalb meiner Ehe“ geboren wurde, wie er auf Instagram schrieb, vermag ich nicht zu beurteilen — es war zumindest der Auslöser, „But Here We Are“ aufzunehmen, das beste Foo-Fighters-Album seit fast 25 Jahren, auf dem er wieder einmal Trauer in Wut verwandelt und umgekehrt.
„Rescued“ ist einer der ersten Songs, den ich in meiner kleinen Musiksendung spiele, die ich in einem Anfall besonderer Geistesgegenwart auch „Coffee And TV“ genannt habe. Sie ist das, worauf ich Jahrzehnte lang gewartet hatte: die Möglichkeit, Songs in einem Podcast zu spielen, ohne in einem kostspieligen Bürokratiegewitter namens „GEMA“ unterzugehen. Das Ergebnis kann man zwar nur beim finsteren Tech-Konzern Spotify hören, aber entscheidender ist für mich eh, sowas überhaupt machen zu können. Aber wie so oft mit den schönen Dingen im Internet: Nur ein Jahr später zieht Spotify den Stecker und schafft die Möglichkeit, solche Musiksendungen zu bauen, direkt wieder ab.
„But Here We Are“ wird auch 2024 wieder für mich da sein: Als meine geliebte Tante Dörte stirbt, eine großartige Grundschullehrerin, höre ich den Song, den Dave Grohl für seine verstorbene Mutter Virginia geschrieben hat, die ebenfalls Lehrerin gewesen war: „The Teacher“.
2024: Ezra Collective feat. Yazmin Lacey – God Gave Me Feet For Dancing
Das ist mir in all den Jahren auch noch nicht passiert, dass ich – trotz aller Playlisten, Notizen-Apps und Zettel – beim Zusammenstellen der „Alben“ oder „Acts des Jahres“ ein Album bzw. einen Act komplett vergesse. Ob’s am Alter liegt oder dem schon erwähnten Überangebot?
Immerhin habe ich hier die Gelegenheit, den Fehler schnell halbwegs wettzumachen: „God Gave Me Feet For Dancing“ von Ezra Collective und Yazmin Lacey. Ezra Collective sind eine Jazz-Fusion-Band aus London, die Elemente aus Afrobeat, Calypso, Reggae, Hip-Hop, Soul und Jazz verbinden und deren Songs bei BBC Radio 6 Music, meiner aktuellen Hauptquelle für neue Musik, rauf und runter läuft. Es ist diese Musik, die ich mit dem leichtfüßigen Sommer 2024 verbinde, als wir alle denken, dass Kamala Harris US-Präsidentin werden wird, und die Olympischen Spiele in Paris ein Gefühl von Hoffnung, Zuversicht und Gemeinschaft vermitteln, das wir so lange vermisst hatten. Sich ein paar Monate später über die eigene vermeintliche Naivität lustig zu machen, wäre aber auch zynisch.
[Songs des Jahres 2024 von „damals“]
Epilog
„Am Ende wird alles okay sein — und wenn es nicht okay ist, ist es nicht das Ende“, hat der brasilianische Autor Fernando Sabino geschrieben und Weezer nannten ihr 2015er Album „Everything Will Be Alright In The End“. „Schwimm für die Songs, die noch geschrieben werden“, hat Marcus Wiebusch von kettcar auf seinem Soloalbum gesungen — und dabei Andrew McMahon referenziert. Alles hängt immer mit allem zusammen.
Social Media ist, spätestens seit sich die Tech-Oligarchen um Donald Trump scharen, ein dumpster fire, das unsere Seelen und Gehirne verzehrt. Doch das hier sind nur die ersten 18 Jahre und die ersten 18 Songs. Coffee And TV ist mein Zuhause und ich plane zu bleiben, mein Freund.
Denn wie sang einst Graham Coxon in jenem Blur-Song, dessen Titel wir uns damals einfach gemopst haben?
Take me away from this big bad world
And agree to marry me
So we can start over again
(Auf das mit dem Heiraten würde ich nach den oben erwähnten Erfahrungen allerdings gerne verzichten.)
Leute, ich sag’s Euch, wie’s ist: Es gibt Zeiten, die sind einfach so voll mit Dingen, schönen wie unschönen, dass alles nur so vorbei rauscht. Und dann ist plötzlich der Abend des 31. Oktober, Kinder klingeln an der Tür und rufen „Süßes oder Saures!“ und die Begleittexte zum Oktober-Mixtape sind immer noch nicht zur Hälfte fertig.
Aber ich mach das hier alles in meiner Freizeit und unbezahlt (Wenn Ihr meine Arbeit finanziell unterstützen wollt, könnt Ihr meinen Newsletter abonnieren und dafür Geld bezahlen!) und mir ist wichtiger, dass Ihr gute Musik hört, als dass ich mir da jetzt noch ein paar Dutzend Absätze aus den Fingern sauge, von denen ich gar nicht so genau weiß, ob Ihr sie überhaupt lest. *hust*
Jedenfalls: Hier sind 22 Songs, die ich diesen Monat gehört habe. Ich wünsche Euch viel Spaß damit!

Meet Me @ The Altar – You’ve Got A Friend In Me
Wer auch immer bei Disney auf die Idee gekommen ist, ein Album zu veröffentlichen, auf dem Pop-Punk-Bands einige der beliebtesten Songs aus den eigenen Animationsfilmen covern (ein*e Millennial, vermutlich), hat hoffentlich eine fette Gehaltserhöhung. Dabei sing New Found Glory, Simple Plan, Yellowcard, Plain White T’s, Bowling For Soup, Tokio Hotel (!), aber auch Meet Me @ The Altar, die jetzt seit ein paar Jahren zu meinen „neuen“ (also: nicht seit Jahrzehnten mit mir rumgeschleppten) Lieblingsbands gehören.
Die queer POC all-girl band aus Florida covert Randy Newmans „You’ve Got A Friend In Me“ aus „Toy Story“ und drückt damit bei mir sehr viele Knöpfe.
MJ Lenderman – She’s Leaving You
Manchmal gibt es ja so Namen und Alben, von denen man so oft in verschiedenen Zusammenhängen liest, dass man sie einfach hören muss: MJ Lendermans „Manning Fireworks“ ist so ein Album und es ist sogar sogar noch besser, als alle sagen. Die Songs klingen, als würde ich es schon mein halbes Leben kennen. Oder, anders: So, wie wenn The Get Up Kids und The Weakerthans sich vor 20, 25 Jahren in einer Scheune in Montana, in der zufällig noch ein paar Folk-Musiker sitzen, gegenseitig gecovert hätten. (MJ Lenderman wurde vor 25 Jahren geboren.)
„You can put your clothes back on / She’s leaving you“ ist kein ganz schlechter Anfang, es wird danach aber noch besser: Ein Song, der auch Ryan Adams gut zu Gesicht gestanden hätte, wenn wir noch Ryan Adams hören würden.
Rae Morris – Something Good
Wenn man sich die Nachrichten, die sogenannten Sozialen Medien und oft genug auch den eigenen Alltag anschaut, könnte sich der Eindruck verstärken, alles, aber auch wirklich alles, sei absolut furchtbar. Aber ist es nicht immer am Dunkelsten, kurz bevor die Sonne aufgeht?
Rae Morris, die als bisher einziger Act zwei Mal (2012 und 2018) meinen ganz persönlichen Song des Jahres veröffentlicht hat, hat das Gefühl, dass etwas Gutes passieren wird, und singt davon in diesem leicht zappeligen Elektropop-Song. Hoffen wir alle, dass sie recht hat.
Willie Nelson – Do You Realize??
Willie Nelson ist jetzt 91 Jahre alt, hat 101 Studioalben veröffentlicht, war neben Johnny Cash, Waylon Jennings und dem kürzlich verstorbenen Kris Kristofferson Mitglied der Highwaymen, und wird – trotz seines jahrzehntelangen Marihuana-Konsums – einfach nicht müde.
Jetzt hat er sich „Do You Realize??“ von The Flaming Lips vorgenommen, einen Song von ihrem 2002er Album „Yoshimi Battles The Pink Robots“, zu dessen Hintergrund es eine sehr schöne Folge „Song Exploder“ gibt und in dem die Band mit „You realize the sun doesn’t go down / It’s just an illusion caused by the world spinning round“ die Vorlage für Tomtes „Das ist nicht die Sonne, die untergeht / Sondern die Erde, die sich dreht“ („Die Schönheit der Chance“) lieferte.
Long story short: „Do You Realize??“ ist schon im Original ein wunderschöner Song und Willie Nelson arbeitet das Lob der zerbrechlichen Schönheit noch einmal ganz besonders heraus. Auch Wayne Coyne und Steven Drozd von The Flaming Lips sind sichtlich angetan.
Maggie Rogers – In The Living Room
Maggie Rogers hatte eigentlich erst im April ihr drittes Album „Don’t Forget Me“ veröffentlicht, jetzt gibt es schon wieder neue Musik: „In The Living Room“ klingt wie Aimee Mann — und das ist ja nun wirklich nicht das Schlechteste, was man über einen Song sagen kann.
Cecily – Rich
„Im Cecily. Im a young singer / songwriter in Nashville just trying to bring authentic lyrics and feel good melodies into moments that capture who l am and what I believe, while also creating space for you to find out what it means for you too.“ schreibt Cecily über sich selbst.
„Rich“ ist eine Folkballade, dessen Text erst von Sozialer Ungerechtigkeit handelt, dann von Privilegien, ehe sich alles zu einem hymnischen Liebeslied öffnet.
…
Bochum, das musikalische Zentrum der Bundesrepublik: Jana von Janou erzählt uns, was es mit dem neuen Song „Boy Is Broken“ auf sich hat, dann hören wir Philine Sonny, unsere Botschafterin beim SXSW. Außerdem hat Lukas neue Musik von Meet Me @ The Altar, King Princess und Kendrick Scott mitgebracht, wir schwelgen in Erinnerungen und tanzen zum Oscar-prämierten „Naatu Naatu“.
Alle Songs:
Show notes:
Und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später ist es soweit: Making disco a threat again!
Ich habe wieder ein bisschen länger gebraucht, aber ich möchte auf keinen Fall sein wie Spotify und Musikzeitschriften, die schon zwischen Oktober und Nikolaus auf ein Jahr zurückschauen. Sowas braucht ja auch Zeit und muss sich erst mal setzen – und dann muss man sich selber erst mal setzen, Songs in eine Reihenfolge bringen, die einem in dieser einen Millisekunde die richtige erscheint, obwohl es natürlich völlig absurd ist, Musik in irgendeine Rangliste zu bringen.
Jedenfalls: Hier sind wir! Und hier sind sie: Meine Top-25-Songs eines immer noch etwas mühsamen Jahres!
25. Chicago Sinfonietta – Dances In The Canebrakes (Arr. W.G. Still for Orchestra) : No. 3, Silk Hat And Walking Cane
Ich habe beschlossen, dass ich die Regeln für meine Liste selbst bestimmen kann, also gehen auch Klassik-Songs! „Dances In The Canebrakes“ ist eigentlich ein Klavierwerk der Schwarzen US-Komponistin Florence Price (1887–1953), das hier für Orchester arrangiert wurde und auf dem Album „Project W: Works by Diverse Women Composers“ erschien – und zwar schon 2019. Da mir dieser Umstand aber genau gerade eben erst aufgefallen ist und mich das Stück bis dahin so sehr durch mein Jahr 2021 begleitet hatte, dass ich es zwischenzeitlich als theme in dem Film, der mein Leben ist, wahrgenommen habe, ist mir das alles egal! Es ist ein großartiges Werk mit einem beeindruckenden Hintergrund, also steigen wir einfach hiermit ein!
24. Aaron Lee Tasjan – Up All Night
Auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, gab es 2021 doch wieder ein paar Abende, an denen ich angemessen alkoholisiert den Heimweg aus der Innenstadt angetreten habe. Es war stets der perfekte Umstand, um diesen Queer-Folk-Power-Pop-Song in einer Lautstärke zu hören, die einem Apple Health dann hinterher wieder vorwurfsvoll um die Ohren haut.
23. Adam Levine – Good Mood
Ich sage ja immer, dass es keine peinlichen Lieblingslieder geben kann, aber der Sänger von Maroon 5, der den Titelsong zum „Paw Patrol“-Kinofilm singt – das ist schon eine schwere Hypothek, die man sich selbst gegenüber erst mal rechtfertigen muss!
Tatsächlich hatte ich zuerst den Refrain als Werbepausen-Einleitungsmusik bei Fußball-Übertragungen gehört und sofort geliebt, weil ich seine maximale New-Radicals-Haftigkeit mochte. In Wahrheit hat der Songs nichts mit den New Radicals zu tun (anders als die Songs, die Adam Levine in dem sehr charmanten Film „Begin Again“ und dem dazugehörigen Soundtrack singt), aber das war dann auch schon egal. Keinen Song habe ich 2021 auf dem Fahrrad im Fitnessstudio öfter gehört als „Good Mood“ und wenn Ihr bei diesem Groove nicht mit hochspezialisierten Hundewelpen durch die Wohnung tanzen wollt, kann ich Euch auch nicht helfen!
Hey, wie war denn Euer Jahr 2021 so? Genau. Mit Konzerten und Festivals war das ja alles noch so eine Sache, aber Musik war natürlich trotzdem da – und gerade zu Beginn des Jahres, als alles noch so richtig scheiße war (könnt Ihr Euch noch erinnern, dass wir im April eine Ausgangssperre hatten?!), hat sie getröstet und verbunden.
Nachdem ich zu Beginn des letzten Jahres großspurig verkündet hatte, nie wieder eine „Alben des Jahres“-Liste zu veröffentlichen, weil manche Acts gar keine Alben mehr veröffentlichen und andere gleich zwei, brauchte ich irgendeine andere Kategorie, in der ich zu Beginn des nächsten Jahres (ach, komm: is noch Anfang 2022!) Namen sortieren und mir erläuternde Texte aus den Fingern saugen können würde.
Herzlich Willkommen also bei meiner ersten „Acts des Jahres“-Liste, die es mir ermöglicht, ein bisschen über den Tellerrand hinauszuschauen:
10. Måneskin
Dass Italien irgendwann noch mal den ESC gewinnen würde, hatte in den letzten zehn Jahren deutlich in der Luft gelegen. Dass sie es mit einer Rockband tun würden, die klingt und aussieht, als wären ihre Mitglieder die letzten 45 Jahren eingefroren gewesen, nicht unbedingt – aber es hat dann auch nicht weiter überrascht. Womit nun wirklich nicht zu rechnen gewesen war: Dass diese ESC-Sieger*innen zwei Wochen nach dem Song Contest noch nicht vergessen waren; dass „I Wanna Be Your Slave“, die zweite Single aus ihrer EP „Tatro d’ira – Vol. 1“ (RCA/Sony; Apple Music, Spotify), in der sie relativ offen ungefähr alle sexuellen Spielarten durchdeklinieren, ein noch größerer Hit werden würde, der im Radio läuft und von deutschen Grundschulkindern begeistert mitgesungen wird; dass diese Band mit einer vier Jahre alten Coverversion die weltweiten Spotify-Charts anführen würde; dass sie bei Jimmy Fallon und „Saturday Night Live“ auftreten und für die relevantesten Musikfestivals beiderseits des Atlantiks gebucht werden würden.
Kurzum: So etwas hatte es in der 65-jährigen Geschichte des ESC (über die Ende Februar ein sehr lesenswertes Buch erscheint) noch nicht gegeben. Die Band hat den ESC ins 21. Jahrhundert katapultiert (worauf wir bei der neuen Bundesregierung noch warten) und ist nebenbei die erste mir bekannte Rockband seit vielen, vielen Jahren, die derart durchstartet.
So. Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, Sie hätten zwei Wochen lang jeden Morgen zehn Meter von diesen soon to be-Megastars entfernt gefrühstückt und wären nicht einmal auf die Idee gekommen, nach einem gemeinsamen Selfie zu fragen!
9. Weezer
Was Taylor Swift kann, können Weezer schon lange: Zwei Alben in einem Jahr zu veröffentlichen passiert der Band jedenfalls nicht zum ersten Mal. Im September 2019 hatten sie ihr 14. Album „Van Weezer“ (Crush Music/Atlantic; Apple Music, Spotify) angekündigt, das im Mai 2020 erscheinen sollte. Wie so vieles andere wurde auch der Release dieses Albums verschoben – das Tribut an die großen Hair-Metal-Bands (das durch den zwischenzeitlichen Tod von Eddie van Halen eine zusätzliche Ebene erreicht hatte) erschien im Mai 2021 und war okay, aber nicht atemberaubend.
Interessanter war „OK Human“ (Crush Music/WEA; Apple Music, Spotify), das zweite Album, das Weezer zwischen der Fertigstellung und dem verspäteten Release von „Van Weezer“ aufgenommen hatten (was es so gesehen zu ihrem 15. Album macht, chronologisch aber natürlich „Van Weezer“ nach hinten drängt und somit offiziell Nr. 14 ist – aber die Beatles hatten „Abbey Road“ ja auch nach „Let It Be“ aufgenommen und vor diesem veröffentlicht).
Es wurde ohne elektrische Gitarren, aber mit einem 32-köpfigen Orchester eingespielt, was ihm den Sound eines Unplugged-Albums (oder von Ben Folds‘ „So There“) verleiht, nur dass es zwölf brandneue Songs sind und keine neu eingespielten Hits. Es klingt also wärmer, enthält aber ansonsten klassische unwiderstehliche Weezer-Melodien und clevere Texte über das Leben in Zeiten von Gentrifizierung, Smartphones und unzähligen Zoom-Calls. Wenn „New Yorker“-Cartoons Musik wären, wären sie dieses Album!
8. Danger Dan
Ich hatte natürlich noch nie bewusst irgendwas von der Antilopen Gang gehört, als sich mein halber Freundeskreis überschlug, ich müsse jetzt unbedingt diese ZDF-Sendung schauen, in der ein Mann namens Danger Dan, der Mitglied besagter Hip-Hop-Band sei, gemeinsam mit Thees Uhlmann durch die Gegend ziehe und am Klavier seine neuen Solo-Songs spiele. Oooookay! Nicht alle Songs haben mich abgeholt, aber „Lauf davon“ ist natürlich ein Meisterwerk der Melancholie; gleichzeitig Punk und Romantik, als hätte sich Rio Reiser mit Igor Levit zusammengetan. „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ war mir erst einen Tacken zu Jan-Böhmermann-Twitter-ironisch, aber die dritte und vierte Strophe haben mich mit offenem Mund vor dem Fernseher sitzen lassen: Wie er da mit Ken Jebsen, Jürgen Elsässer, Alexander Gauland, AfD, rassistischen Polizisten abrechnet, so etwas hatte ich im Pop selten gehört.
Und dann kam „Eine gute Nachricht“ raus: Ein unendlich poetisches, komplett unpeinliches Liebeslied; eines der besten, das je geschrieben wurde – und das auf Deutsch!
Zum Album, das auch „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ (Antilopen Geldwäsche; Apple Music, Spotify) heißt, habe ich ein gespaltenes Verhältnis – manche Lieder sind mir zu „lustig“, auf ganze Länge ist es mir ein bisschen zu monoton, aber das ist eigentlich egal: Schreibt mal drei Songs, die so unterschiedlich reinhauen, und dann reden wir weiter!
7. Big Red Machine
Beim ersten Album war Big Red Machine noch die Mini-Supergroup von Justin Vernon (Bon Iver) und Aaron Dessner (The National) gewesen, in der Zwischenzeit hatten die beiden mit Taylor Swift für deren Meisterwerke „Folklore“ und „Evermore“ zusammengearbeitet und so kam die Präsidentin des Pop fürs zweite Album „How Long Do You Think It’s Gonna Last?“ (Jagjaguwar/37d03d; Apple Music, Spotify) zum Gegenbesuch vorbei und traf dort unter anderem auf Anaïs Mitchell, die Fleet Foxes (was ist eigentlich aus denen geworden?!), Sharon van Etten, Ben Howard und andere, die gemeinsam mit Vernon und erstaunlich viel Dessner, der zuvor noch nicht groß als Sänger in Erscheinung getreten war, melancholisch-hymnische Lieder anstimmten. (Dass es sich die Band erlauben kann, den gemeinsamen Song mit Michael Stipe gar nicht erst aufs Album zu packen, sagt schon viel aus!)
Nun läuft ein Album bei so vielen Stimmen schnell Gefahr, eher nach Mixtape zu klingen, aber was heißt hier „Gefahr“?! Wenn es ein so stimmungsvolles, in sich geschlossenes Mixtape ist, wer würde sich da beschweren?!
6. The Wallflowers
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Wallflowers neun Jahre nach ihrem letzten Album (das neben einer The-Clash-Huldigungs-Single nicht so richtig viel zu bieten hatte) und nach dem Ausstieg der letzten Bandmitglieder, die nicht Jakob Dylan hießen, überhaupt noch mal ein Album aufnehmen würden. Doch nach ein paar Vorab-Singles war „Exit Wounds“ (New West Records/LLC; Apple Music, Spotify) da und schloss eigentlich nahtlos an ihr 25 Jahre altes Erfolgsalbum „Bringing Down The Horse“ an: Americana-Musik über die ganz großen Themen, bei vier Songs grandios unterstützt durch Shelby Lynne.
Es ist Musik für Männer in Chucks und Karohemden, die langsam, aber sicher auf die 40 zugehen (oder schon lange darüber hinaus sind), aber in Zeiten wie diesen ist es toll, Musik zu haben, die wie ein großer Bruder oder ein junger Onkel zu einem kommt und sagt: „Hier ist ein Bier für Dich, mein Pick-Up-Truck steht vor der Tür – jetzt fahren wir in den Sonnenuntergang, schnacken ein bisschen und alles wird gut!“
5. Wild Pink
Es war wenig überraschend „All Songs Considered“, wo ich erstmals auf die Musik von Wild Pink traf. „A Billion Little Lights“ (Royal Mountain Records; Apple Music, Spotify), das dritte Album der New Yorker Band, erwies sich als die perfekte Frühlingsmusik: ein bisschen pastellig-optimistisch, ein bisschen schläfrig-melancholisch; zwischen Joshua Radin, Rogue Wave und Stars; organisch, mit gelegentlichen Country-Gitarren und cleveren Texten.
Vor zwölf, dreizehn Jahren wäre solche Musik bei „Scrubs“ oder in iPod-Werbespots gelaufen, heute hört man sie allenfalls noch auf dem Haldern-Pop-Festival – wenn es denn stattfindet.
4. Vanessa Peters
Lustig, wie man 2021 Musik entdeckt: Instagram hatte mir im Frühjahr das Video zu einem Song namens „Crazymaker“ als Werbung ausgespielt und ich hab den Song sofort auf meine Playlist gepackt. Im Herbst hab ich dann mal nachgeschaut, was die Sängerin dahinter noch so macht.
Hinter dem Namen „Vanessa Peters“ vermutete ich – deutsch ausgesprochen – erst mal eine Frau, die in irgendeiner frühen DSDS-Staffel mal den dritten Platz belegt hatte und/oder mal Vorletzte beim ESC wurde (man kann ihn aber bequem amerikanisch aussprechen, denn sie stammt aus Texas), und das Roy-Lichtenstein-für-Arme-Cover ihres Albums „Modern Age“ (Idol Records; Apple Music, Spotify) hat mich zunächst auch etwas abgeschreckt.
Oberflächlicher Scheiß, denn die Musik ist toll: Als hätten Aimee Mann, Suzanne Vega und Kathleen Edwards eine Supergroup gegründet. Sehr amerikanisch, obwohl die backing band komplett aus Italienern besteht.
3. Emily Scott Robinson
Ich hatte noch nie von Emily Scott Robinson gehört, als ihr drittes Album „American Siren“ (Oh Boy Records; Apple Music, Spotify) – natürlich – bei „All Songs Considered“ vorgestellt wurde. Das bittersüße Trennungslied „Let ’Em Burn“, das dort lief, repräsentiert das Album als Pianoballade musikalisch einerseits nicht so richtig, andererseits passt es aber auch perfekt in dieses Album mit seinen oft reduzierten Country- und Folksongs mit klugen und gesellschaftskritischen Texten.
Es ist das Album, das Kacey Musgraves 2021 leider nicht gemacht hat, es erinnert an Lori McKenna und Hem und es ist einfach wunderschön!
2. Meet Me @ The Altar
Hat jemand „queer POC all-girl pop-punk band“ gesagt? Count me in!
Natürlich war es auch wieder „All Songs Considered“, wo ich zum ersten Mal von Meet Me @ The Altar gehört habe. Musikalisch kann man sie als Teil des 2000er-Revivals, irgendwo zwischen blink-182 und Paramore, Taking Back Sunday und Avril Lavigne, ansehen (und sie sind eine der wenigen jungen Bands, die beim großen Zu-schön-um-wahr-zu-sein-Emo/Pop-Punk-Festival „When We Were Young“ in Las Vegas spielen werden), aber die Texte sind irgendwie reflektierter als die unserer damaligen Mitgröl-Hymnen.
Das ist die Energie, die ich im vergangenen Jahr gebraucht habe! Nach ihrer EP „Model Citizen“ (Fueled By Ramen; Apple Music, Spotify) hat die Band für 2022 ein Album angekündigt, was bei so jungen Leuten dann doch überraschend ist. Und schön.
1. Sir Simon & Burkini Beach
„Hä? Hast Du jetzt zwei Acts auf Platz 1 gepackt, Lukas?!“
Jau. We make up the rules as we go along.
Aber der Reihe nach: Sir Simon ist natürlich Simon Frontzek, der unter diesem Namen schon 2008 und 2011 zwei ganz tolle Indiepop-Alben veröffentlicht hatte, seitdem aber nichts eigenes mehr. Er spielt seit 2019 in der Band von Thees Uhlmann – und zwar zusammen mit Rudi Maier alias Burkini Beach. Als sie 2020 überraschend viel Zeit hatten, haben die beiden einfach zusammen zwei Alben geschrieben und aufgenommen: eben eins für Simon („Repeat Until Funny“, Comfort Noise; Apple Music, Spotify) und eins für Rudi („Best Western“, Comfort Noise; Apple Music, Spotify). Die sind im August am gleichen Tag erschienen und der letzte Song auf beiden Alben ist jeweils – und ich bin mir sehr sicher, dass es diese geniale, eigentlich total naheliegende Idee in der Musikgeschichte bisher noch nie gegeben hat – „Not Coming Home“, ein Duett zwischen den beiden.
Man kann diese Alben also kaum getrennt voneinander beurteilen – und das muss man auch gar nicht, denn sie sind beide wunderschön geworden und haben mich ab August durchs Jahr getragen. „Repeat Until Funny“ klingt, um mal meinen besten Freund zu zitieren, ein bisschen wie ein bisher unveröffentlichtes Weakerthans-Album, „Best Western“ wie eins von Death Cab For Cutie (und wir meinen nicht, dass es wie ein Abklatsch klingt, sondern dass da zwei Menschen, die Musik wirklich lieben und verinnerlicht haben, im Äther der Musik ihre eigenen Sprachen und Stimmlagen gefunden haben und diese jetzt mit uns teilen). Auch die Texte sind wirklich sehr klug und lustig, was ja bei deutschen Acts, die auf Englisch singen, jetzt auch nicht unbedingt immer der Fall ist. Also: Ja, es sind wirklich zwei gute Alben und weil man sie nicht trennen kann, stehen sie beide hier vorne! („Vorne“ im sonst eher ungebräuchlichen Sinne von „ganz am Ende des Textes“, aber eben auf Platz 1. Hier muss dieser Blog-Eintrag enden.)