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Leben Gesellschaft

Das anderste Weihnachten aller Zeiten

Vor uns liegt ein Weihnachtsfest, das so anders ist, als wir es gewohnt sind — so zumindest der Tenor in Medien, Politiker*innen-Statements und persönlichen Gesprächen. Dabei ist „anders sein“ bei aller Tradition etwas, was Weihnachten ebenso ausmacht wie unverheiratete Großonkel. Klar: Alle glücklichen Weihnachtsfeste gleichen einander, aber wie viel Prozent Übereinstimmung braucht es analog zur DNA-Analyse in der Forensik, damit es ein Weihnachten „wie immer“ ist?

Da war das Jahr, wo ich mich an Heiligmorgen erbrach, nicht mit in die Kirche konnte und Familienessen und Bescherung auf der Couch verbrachte; das letzte Weihnachten in der alten Wohnung und das erste im neuen Haus. Das Jahr, in dem mein Großvater erklärte, dass es ihm zu anstrengend geworden sei, der Verteilung und Entpackung der Geschenke Dritter beiwohnen zu müssen, weswegen es ab da nur noch sorgsam beschriftete Kuverts mit Geldscheinen gab. Oder das letzte „richtige“ Weihnachten, so wie wir es gewohnt waren: drei Kinder, Mama und Papa und die drei Großeltern. Das war im Jahr 2011 und meinem Tagebuch entnehme ich, dass es schon damals „nicht mehr dasselbe“ war, weil der Gemeindepfarrer, der uns alle getauft und konfirmiert hatte, zwischenzeitlich in den Ruhestand gegangen war. Als mein Großvater im Jahr 2017 bei seiner alljährlichen Weihnachtsansprache auf die sonst übliche Schlussformel „… und hoffen wir, dass der Liebe Gott uns nächstes Jahr noch einmal an dieser Stelle hier zusammenführt“ verzichtete, wussten wir alle, dass es das letzte Weihnachtsfest mit ihm sein würde. Was niemand ahnen konnte (außer er selbst, womöglich): 96 Stunden später war er tot.

Für mich ist erst Weihnachten, wenn ich am Nachmittag des Heiligen Abends „Patience“ von Take That gehört habe — ein Song, der nun wirklich unter keinen Umständen ein Weihnachtslied ist. Der Grund dafür ist gleichermaßen banal wie magisch (also wie das Leben selbst): Ende 2006 lief die große Comeback-Single der einstigen Boyband im Radio rauf und runter — so auch auf der Rückfahrt vom Weihnachtsgottesdienst zu unserem Elternhaus im Radio. Ein Jahr später saßen wir Kinder gemeinsam in Mamas altem Ford Fiesta, fuhren wieder von der Kirche zu den Eltern und im Radio lief wieder dieser Song, was – angesichts einer fünfminütigen Autofahrt und einer selbst bei WDR 2 mehr als einstelligen Zahl von Liedern in den Rotationslisten – dann doch mindestens ein erstaunlicher Zufall war. In den Folgejahren ging ich auf Nummer Sicher, brachte den Song auf meinem iPhone mit nach Dinslaken und spielte ihn auf dem Weg von der Innenstadt nach Eppinghoven ab. Das ist vielleicht drei, vier Mal passiert und ich war über 20, als es begann, aber es ist mehr Weihnachtstradition als der Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, von dem ich noch nie in meinem Leben auch nur eine Minute gesehen habe.

Was ich meine ist: Weihnachten ist immer anders und im Grunde genommen dann auch immer ähnlich, weswegen Komödien über Familienweihnachten auch so gut funktionieren: Weil sie die freiwilligen und unfreiwilligen Rituale; die Freude und das Elend; die Wiederholungen, die alle so lange mit den Augen rollen lassen, bis sie nicht mehr stattfinden und die Augen fürderhin nicht mehr gerollt, sondern feucht werden; und den Versuch, Weihnachten „wie immer“ begehen zu wollen, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbrechen und in der tragischen Pointe gipfeln, dass Weihnachten eben leider genauso wird wie immer.

Douglas Adams hatte in den 1980er Jahren die Idee, ein Computerprogramm zu entwickeln, das die stets deckungsgleichen Aussagen des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan von alleine reproduziert, mit dem Fernziel, irgendwann sämtliche wichtigen Politiker*innen durch Künstliche Intelligenzen zu ersetzen, die sich dann miteinander unterhalten. Adams konnte Donald Trump nicht vorhersehen, aber er hat im Grunde genommen Facebook und Twitter vorweggenommen, wo sich jede Menge Bots und einzelne verwirrte, einsame Seelen in einem fortwährenden Nicht-Dialog befinden. Aber wenn die Menschheit ausstürbe (ein Gedanke, der, bei Licht besehen, selten so naheliegend war wie im Jahr 2020), könnten Spotify-Playlisten, Streamingdienste und die zentralen Logistik-Programme der Backwaren-Industrie jährlich ein Weihnachtsfest emulieren. Roboter an verwaisten Produktionsstraßen würden sich mit Tassen voller Glühwein, auf denen „Weihnachtsmarkt Münster 1993“ steht und deren Henkel schon etwas beschädigt sind, zuprosten und sich – wo technisch möglich – gegenseitig unangemessen berühren, während Smart-Home-Geräte die Wohnungen in allen Farben des Regenbogens blinken lassen.

Und irgendwo würde eine Kaffeemaschine beseelt denken: „Alles wie immer!“

Ich wünsche Euch und Euren Lieben trotz allem frohe und besinnliche Weihnachten im kleinen Kreis, Gesundheit und uns allen ein besseres Jahr 2021!

Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter “Post vom Einheinser”, für den man sich hier anmelden kann.

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Rundfunk Politik Gesellschaft

Germany’s Next Topvictim

Sie wollen sich nicht an Corona-Schutzmaßnahmen halten, glauben an Verschwörungstheorien und vergleichen sich mit Opfern des Nationalsozialismus: Mit den sog. „Querdenkern“ stimmt eine ganze Menge nicht.

Aber ist es klug, ihren wirren Ansichten so viel Aufmerksamkeit zu schenken? Warum wird eigentlich immer die NS-Zeit zu haarsträubenden Vergleichen herangezogen? Und was wären Vergleiche, die ein bisschen mehr Sinn ergeben? Ein paar Ideen dazu gibt es hier im Video:

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Leben Gesellschaft

Entsetzen in Dinslaken: Der Wendler dreht durch!

Für Dinslaken, die sympathische Stadt im Grünen, ist es der schwerste Schicksalsschlag seit dem Ende des Steinkohlebergbaus: Der größte Sohn der Stadt ist plötzlich Corona-Leugner! Ein Beitrag über das bisherige Lebenswerk Michael Wendlers und darüber, was sein Meltdown für seine alte Heimat bedeutet.

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Digital Gesellschaft

Bist Du noch wach? — 6. Wie geht noch mal Konzentration?

Worum geht es bei den diesjährigen Nobelpreisen und welche guten Nachrichten gab es in letzter Zeit? Das sind nur zwei der Fragen, denen Sue und Lukas in der neuesten Folge auf den Grund gehen.

Wir wollen wissen, warum man auf Papier besser lesen kann als am Bildschirm, und wie groß die Deutsche Einheit wirklich ist.

Wir zerpflücken den popkulturellen Kanon und sagen endlich die Wahrheit über schlechte Fernsehserien, Bücher und Bands!

Wenn Ihr uns schreiben wollt (zum Beispiel, weil Ihr eigene Fragen habt), könnt Ihr das unter bistdunochwach@coffeeandtv.de tun!

Shownotes:

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Gesellschaft

Bist Du noch wach? — 5. Was bringt Dich zum Lachen?

In der fünften Folge „Bist Du noch wach?“ sprechen Sue und Lukas über Tannenbäume, Tiervideos und lebenswerte Städte.

Lukas verrät exklusiv den lustigsten Witz der Welt und die Schönheit des Ruhrgebiets — außerdem lachen wir sehr viel und es geht sehr viel um Nudeln.

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Musik Gesellschaft

Bist Du noch wach? — 4. Sind wir schon nach Corona?

Zurück aus der kurzen Sommerpause widmen sich Sue und Lukas wieder den elementaren Fragen des Lebens: Wie schenkt man, ohne Fehler zu machen? Wer wird Bundeskanzler*in? Ist Corona endlich vorbei?

Außerdem sprechen die beiden über die Wechselwirkung von Musik und Liebeskummer und darüber, wie man einer midlife crisis begegnet. Außerdem kommt überraschend viel Lavendel vor.

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Gesellschaft

Was ist Zeit?

Joni Mitchell hat ja bekanntlich mal gefragt, ob es nicht so sei, dass man erst wisse, was man habe, wenn es weg sei. Die Frage war rhetorisch gemeint, aber meine Antwort lautet meistens leider: Nein. Ich merke es erst, wenn die Dinge wieder da sind.

Im Frühling bin ich überrascht, welchen positiven Einfluss Sonne und Wärme auf meine Laune haben. Wenn ich ans Meer komme, frage ich mich, warum ich so lange nicht am Meer war. Und wenn ich mit Menschen unterwegs bin, die ich sehr mag, wunder ich mich, dass ich das nicht öfter tue.

Mein Vorteil, auf den ersten Blick: Das Konzept „Vermissen“ ist mir nahezu fremd, ich schlurfe genügsam durch mein Leben. Der Nachteil, natürlich: Ich merke gar nicht, wie meine Laune langsam schlechter wird, dass mir etwas fehlt, dass ich mir mal etwas vornehmen sollte, was mir Freude macht.

Im Moment fragt niemand, ob ich mit auf ein Konzert kommen will (Anzahl proaktiv selbständig besuchter Konzerte in den letzten fünf Jahren: drei), ob wir mal was trinken gehen sollen, ob ich mit zu einer obskuren Kulturveranstaltung möchte, gegen die ich mich erst sträube und von der ich hinterher denke, dass ich sowas viel öfter machen sollte. Im Moment gibt es quasi nichts, was stattfindet.

Willkommene Ablenkung liefern der erste Sommerregen (Es roch wirklich nach Sommerregen, obwohl nur ein leichter Nieselregen bei 14°C runter ging!), der Fliederbusch in unserem Vorgarten (War der schon immer da?) oder das erste „perfekte Spiel“ (also: alle 18 Fragen richtig beantwortet) seit Jahren bei „Quizduell“.

Was es wirklich für mich bedeutet, dass der ESC in diesem Jahr nicht stattfindet, habe ich erst halbwegs verstanden, als ich „Der kleine Song Contest“ mit Andi Knoll im ORF gesehen habe: Da waren neben den Songs, die wir dieses Jahr in Rotterdam hätten hören sollen (und die leider unwiederbringlich aus der ESC-Geschichte rausfallen werden, weil sie nicht für 2021 verwendet werden dürfen, auch wenn viele Länder bereits angekündigt haben, im nächsten Jahr den gleichen Act zu schicken, der für 2020 geplant war), auch jede Menge Ausschnitte aus den letzten Jahren zu sehen und zu hören und das erinnerte mich daran, wie diese Wochen immer aussehen: Viel Arbeit, wenig Schlaf, viele pappige Sandwiches, aber auch wahnsinnig viel Spaß mit dem eigenen Team und den internationalen Kolleg*innen und eine unvergleichliche Show!

Mir wird also dieses Jahr der ESC fehlen, vielen anderen das Festival, Stadtfest oder Sportereignis, das sie teilweise seit Jahrzehnten besuchen — und das auch irgendwie das Jahr strukturiert. Denn neben Weihnachten und Geburtstag (bei jungen Menschen oder deren Eltern noch: die großen Ferien) sind es ja solche Ereignisse, auf die man sich sofort wieder freut, wenn sie gerade vorbei sind.

Ein Jahr ohne Events ist wie ein Tag komplett ohne Uhr: Natürlich kann man sich aufgrund natürlicher Begebenheiten grob orientieren, welche Jahres- oder Tageszeit gerade ist, aber es ist doch irgendwie eine große Strecke Zeit, die da unbehauen vor einem liegt.

Überhaupt nehme ich Zeit gerade völlig neu wahr: Die Wochentage verlieren immer weiter an Bedeutung (aber das tun sie bei mir schon, seit ich keine Stundenpläne mehr habe, an denen ich mich orientieren kann), aber auch die Tage an sich. Wenn man nur noch einmal pro Woche einkaufen geht, ist Zeit etwas völlig anderes, als wenn man spätestens jeden zweiten Tag im Supermarkt steht. Immerhin habe ich so gelernt, mir zu überlegen, was ich in ein paar Tagen essen wollen könnte.

Vor ein paar Tagen ist der Lockdown dann auch in meinen Träumen angekommen: Ich war irgendwo, wo viel zu viele Menschen waren (also: das, was man vor sechs Wochen noch etwas wohlwollend als „belebten Platz“ bezeichnet hätte), und dann fingen die auch noch zu husten und zu niesen an. Da wusste ich: Mein Unterbewusstsein hat es sich wohl schon mal in der neuen Welt bequem gemacht.

Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter “Post vom Einheinser”, für den man sich hier anmelden kann.