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Was ist Zeit?

Joni Mit­chell hat ja bekannt­lich mal gefragt, ob es nicht so sei, dass man erst wis­se, was man habe, wenn es weg sei. Die Fra­ge war rhe­to­risch gemeint, aber mei­ne Ant­wort lau­tet meis­tens lei­der: Nein. Ich mer­ke es erst, wenn die Din­ge wie­der da sind.

Im Früh­ling bin ich über­rascht, wel­chen posi­ti­ven Ein­fluss Son­ne und Wär­me auf mei­ne Lau­ne haben. Wenn ich ans Meer kom­me, fra­ge ich mich, war­um ich so lan­ge nicht am Meer war. Und wenn ich mit Men­schen unter­wegs bin, die ich sehr mag, wun­der ich mich, dass ich das nicht öfter tue.

Mein Vor­teil, auf den ers­ten Blick: Das Kon­zept „Ver­mis­sen“ ist mir nahe­zu fremd, ich schlur­fe genüg­sam durch mein Leben. Der Nach­teil, natür­lich: Ich mer­ke gar nicht, wie mei­ne Lau­ne lang­sam schlech­ter wird, dass mir etwas fehlt, dass ich mir mal etwas vor­neh­men soll­te, was mir Freu­de macht.

Im Moment fragt nie­mand, ob ich mit auf ein Kon­zert kom­men will (Anzahl pro­ak­tiv selb­stän­dig besuch­ter Kon­zer­te in den letz­ten fünf Jah­ren: drei), ob wir mal was trin­ken gehen sol­len, ob ich mit zu einer obsku­ren Kul­tur­ver­an­stal­tung möch­te, gegen die ich mich erst sträu­be und von der ich hin­ter­her den­ke, dass ich sowas viel öfter machen soll­te. Im Moment gibt es qua­si nichts, was statt­fin­det.

Will­kom­me­ne Ablen­kung lie­fern der ers­te Som­mer­re­gen (Es roch wirk­lich nach Som­mer­re­gen, obwohl nur ein leich­ter Nie­sel­re­gen bei 14°C run­ter ging!), der Flie­der­busch in unse­rem Vor­gar­ten (War der schon immer da?) oder das ers­te „per­fek­te Spiel“ (also: alle 18 Fra­gen rich­tig beant­wor­tet) seit Jah­ren bei „Quiz­du­ell“.

Was es wirk­lich für mich bedeu­tet, dass der ESC in die­sem Jahr nicht statt­fin­det, habe ich erst halb­wegs ver­stan­den, als ich „Der klei­ne Song Con­test“ mit Andi Knoll im ORF gese­hen habe: Da waren neben den Songs, die wir die­ses Jahr in Rot­ter­dam hät­ten hören sol­len (und die lei­der unwie­der­bring­lich aus der ESC-Geschich­te raus­fal­len wer­den, weil sie nicht für 2021 ver­wen­det wer­den dür­fen, auch wenn vie­le Län­der bereits ange­kün­digt haben, im nächs­ten Jahr den glei­chen Act zu schi­cken, der für 2020 geplant war), auch jede Men­ge Aus­schnit­te aus den letz­ten Jah­ren zu sehen und zu hören und das erin­ner­te mich dar­an, wie die­se Wochen immer aus­se­hen: Viel Arbeit, wenig Schlaf, vie­le pap­pi­ge Sand­wi­ches, aber auch wahn­sin­nig viel Spaß mit dem eige­nen Team und den inter­na­tio­na­len Kolleg*innen und eine unver­gleich­li­che Show!

Mir wird also die­ses Jahr der ESC feh­len, vie­len ande­ren das Fes­ti­val, Stadt­fest oder Sport­er­eig­nis, das sie teil­wei­se seit Jahr­zehn­ten besu­chen — und das auch irgend­wie das Jahr struk­tu­riert. Denn neben Weih­nach­ten und Geburts­tag (bei jun­gen Men­schen oder deren Eltern noch: die gro­ßen Feri­en) sind es ja sol­che Ereig­nis­se, auf die man sich sofort wie­der freut, wenn sie gera­de vor­bei sind.

Ein Jahr ohne Events ist wie ein Tag kom­plett ohne Uhr: Natür­lich kann man sich auf­grund natür­li­cher Bege­ben­hei­ten grob ori­en­tie­ren, wel­che Jah­res- oder Tages­zeit gera­de ist, aber es ist doch irgend­wie eine gro­ße Stre­cke Zeit, die da unbe­hau­en vor einem liegt.

Über­haupt neh­me ich Zeit gera­de völ­lig neu wahr: Die Wochen­ta­ge ver­lie­ren immer wei­ter an Bedeu­tung (aber das tun sie bei mir schon, seit ich kei­ne Stun­den­plä­ne mehr habe, an denen ich mich ori­en­tie­ren kann), aber auch die Tage an sich. Wenn man nur noch ein­mal pro Woche ein­kau­fen geht, ist Zeit etwas völ­lig ande­res, als wenn man spä­tes­tens jeden zwei­ten Tag im Super­markt steht. Immer­hin habe ich so gelernt, mir zu über­le­gen, was ich in ein paar Tagen essen wol­len könn­te.

Vor ein paar Tagen ist der Lock­down dann auch in mei­nen Träu­men ange­kom­men: Ich war irgend­wo, wo viel zu vie­le Men­schen waren (also: das, was man vor sechs Wochen noch etwas wohl­wol­lend als „beleb­ten Platz“ bezeich­net hät­te), und dann fin­gen die auch noch zu hus­ten und zu nie­sen an. Da wuss­te ich: Mein Unter­be­wusst­sein hat es sich wohl schon mal in der neu­en Welt bequem gemacht.

Die­ser Text erschien ursprüng­lich in mei­nem News­let­ter „Post vom Ein­hein­ser“, für den man sich hier anmel­den kann.

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Leben

Das Raunen der Alraune

Ges­tern stand ich zum Zwe­cke der Gesichts­ent­fus­se­lung vor dem Bade­zim­mer­spie­gel, als ein Wort vor mein geis­ti­ges Auge bzw. eher vor mein geis­ti­ges Ohr trat.

ALRAUNE.

„Hal­lö­chen“, sag­te ich mit viel Schwie­ger­sän­ger­haf­tem Schla­ger­sohn­tim­bre in der Stim­me, „wo kommst Du denn her? Ken­nen wir uns denn? Pas­si­ver Wort­schatz, akti­ver Wort­schatz? … Hal­lo?“

Trotz frei ver­füg­ba­rem Inter­net und durch­aus exis­ten­ter Nach­schla­ge­wer­ke im eige­nen Bücher­re­gal beschloss ich, dem Wort nicht auf den Grund zu gehen, und es ein wenig in der Groß­hirn­rin­de spa­zie­ren zu tra­gen. Was soll­te schon groß pas­sie­ren? Schlim­mer als ein Frag­ment aus einem Musik­stück, des­sen Titel man frei­lich nicht mal eben ergoo­geln kann, wür­de die spon­tan erschie­ne­ne Voka­bel ja wohl kaum sein.

Pünkt­lich zu dem Zeit­punkt, als ich ein­zu­schla­fen gedach­te, kam das Wort wie­der her­vor. Es hat­te sich in eine Visua­li­sie­rung geklei­det, die einer Pflan­ze ent­sprach: ihre Blät­ter waren zackig wie die eines Ilex, ihre Blü­te war blau wie ein Edel­weiß.

„War­um soll­te denn ein Edel­weiß blau sein?“, klopf­te mein noch nicht ganz ent­schlum­mer­ter Ver­stand an. „Wenn’s blau wär, hieß es doch wohl eher ‚Edel­blau‘, meins­te nicht?“ – „Aber Hei­no hat doch schon …“ – „Jaaaa?“ – „Ach nee, ‚Blau, blau, blau blüht der Enzi­an‘ hat er gesun­gen. Aber doch auch irgend­was mit Edel­weiß, oder nicht?“ – „Die Edel­weiß­pi­ra­ten gab’s, das waren jugend­li­che Wider­ständ­ler im drit­ten Reich …“ – „… und ‚Schwarz-braun ist die Hasel­nuss‘! Das hat er auch gesun­gen …“ – „Wirk­lich? Es ist drei Uhr nachts und wir sind schon wie­der bei Hit­ler?!“ – „Ich war bei Hei­no, Du warst bei Hit­ler …“

In die­sem Moment hat­te sich mein rest­wa­ches Bewusst­sein zum Glück in dem vor weni­gen Sekun­den gedach­ten Wort „Ilex“ ver­bis­sen und mein­te plötz­lich, doch noch ein Lied­frag­ment in die Run­de wer­fen zu müs­sen: irgend­was mit „Ilec­son“, „Elec­son“ und mög­li­cher­wei­se einem „Gene­ral“ davor. Na, herz­li­chen Dank, das wür­de ja eine lus­ti­ge Nacht wer­den.

Doch da trat auch schon der Bru­der von Vat­ter Hein durch die Tür und schick­te mich ins Reich der Träu­me. (Der Tod ist ja bekannt­lich „Schla­fes Bru­der“, also muss der Schlaf auch der Bru­der des Todes sein. Im Fran­zö­si­schen wird aber der Orgas­mus auch als la petit mort, also „der klei­ne Tod“, bezeich­net. Das muss ja eine lus­ti­ge Fami­lie sein, in der glei­cher­ma­ßen getö­tet, gevö­gelt und geschla­fen wird – fast so wie im RTL-Nach­mit­tags­pro­gramm.)

Jeden­falls: Ich schlief, nie­mand starb und nie­mand erreich­te den sexu­el­len Höhe­punkt (was man bei den dün­nen Wohn­heims­wän­den hier in Sams­tag­näch­ten sonst durch­aus schon mal als Ohren­zeu­ge zu ver­fol­gen gezwun­gen sein kan). Ich schlief sogar so gut, dass mir weder Alrau­nen, noch Ile­xe, Edel­wei­ße, Enzia­ne oder Hasel­nüs­se begeg­ne­ten, kein Hit­ler und kein Hei­no, und auch das mys­te­riö­se Musik­stück blieb mir reich­lich schwen­di. Erst der Wecker been­de­te mei­nen stein­glei­chen Schlaf und am Früh­stücks­tisch war ich viel zu sehr mit der exak­ten Koch­zeit von Eiern (sechs­ein­halb Minu­ten für die Grö­ße L, frisch aus dem Kühl­schrank), mei­nen diver­sen Mar­me­la­den und Auf­schnit­ten (Kiwi-Sta­chel­beer, Him­beer, Brenn­nes­sel­kä­se und Pfef­fer­sa­la­mi), sowie mei­nem Kaf­fee (schwachtz) beschäf­tigt, als dass mir Alrau­nen hät­ten ein­fal­len kön­nen. Die kamen erst spä­ter zurück.

Und jetzt habe ich Sie lan­ge genug an den Ereig­nis­sen in mei­nen Hirn­win­dun­gen teil­ha­ben las­sen und auf die Fol­ter gespannt. In die­sem Moment wer­den Sie und ich end­lich gemein­sam erfah­ren, was eine Alrau­ne ist.

Es ist …

eine mehr­jäh­ri­ge krau­ti­ge Pflan­ze, deren Ver­zehr schon in gerin­gen Men­gen zu Atem­läh­mung und zum gran­de mort, also der Begeg­nung mit Vat­ter Hein, dem sen­se­schwin­gen­den gro­ßen Bru­der von Schlaf und Orgas­mus, füh­ren kann.

Na, das war ja mal unspek­ta­ku­lär!

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Leben

Freudlos glücklich

Für den Fall, dass Sie immer schon mal einen Ein­blick in mein Unter­be­wusst­sein haben woll­ten:

Kurz bevor ich heu­te erwach­te, stand ich auf der Besu­che­re­ta­ge des Ber­li­ner Reichs­tags, woll­te aber drin­gend nach unten zum Ein­gang. Also drän­gel­te ich mich in einen der gro­ßen glä­ser­nen Fahr­stüh­le, in dem plötz­lich Frank-Wal­ter Stein­mei­er neben mir erschien und in Jeans und Pull­over einer offen­bar befreun­de­ten Rei­se­grup­pe etwas erklär­te.

Der Fahr­stuhl fuhr hin­ab und hielt an und Stein­mei­er muss­te sei­ne Aus­füh­run­gen unter­bre­chen, weil gera­de das neu­es­te Kunst­werk im Reichs­tags­ge­bäu­de ein­ge­weiht wur­de: ein rie­si­ges höl­zer­nes Trep­pen­haus. Im Fahr­stuhl! Es sprach eine Stim­me, die sich dar­über freu­te, mit einem Haus­kauf die gan­ze Repu­blik gefoppt zu haben, und die erstaun­lich an den öster­rei­chi­schen Gesund­heits­on­kel Hade­mar Bank­ho­fer erin­ner­te. Ange­spro­chen wur­de sie vom Mode­ra­tor des Events aber mit „Herr Fritzl, der größ­te Künst­ler unse­rer Zeit.“

Bit­te ent­schul­di­gen Sie, falls ich heu­te noch ein biss­chen ver­wirr­ter sein soll­te als sonst schon.