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Das Raunen der Alraune

Ges­tern stand ich zum Zwe­cke der Gesichts­ent­fus­se­lung vor dem Bade­zim­mer­spie­gel, als ein Wort vor mein geis­ti­ges Auge bzw. eher vor mein geis­ti­ges Ohr trat.

ALRAUNE.

„Hal­lö­chen“, sag­te ich mit viel Schwie­ger­sän­ger­haf­tem Schla­ger­sohn­tim­bre in der Stim­me, „wo kommst Du denn her? Ken­nen wir uns denn? Pas­si­ver Wort­schatz, akti­ver Wort­schatz? … Hal­lo?“

Trotz frei ver­füg­ba­rem Inter­net und durch­aus exis­ten­ter Nach­schla­ge­wer­ke im eige­nen Bücher­re­gal beschloss ich, dem Wort nicht auf den Grund zu gehen, und es ein wenig in der Groß­hirn­rin­de spa­zie­ren zu tra­gen. Was soll­te schon groß pas­sie­ren? Schlim­mer als ein Frag­ment aus einem Musik­stück, des­sen Titel man frei­lich nicht mal eben ergoo­geln kann, wür­de die spon­tan erschie­ne­ne Voka­bel ja wohl kaum sein.

Pünkt­lich zu dem Zeit­punkt, als ich ein­zu­schla­fen gedach­te, kam das Wort wie­der her­vor. Es hat­te sich in eine Visua­li­sie­rung geklei­det, die einer Pflan­ze ent­sprach: ihre Blät­ter waren zackig wie die eines Ilex, ihre Blü­te war blau wie ein Edel­weiß.

„War­um soll­te denn ein Edel­weiß blau sein?“, klopf­te mein noch nicht ganz ent­schlum­mer­ter Ver­stand an. „Wenn’s blau wär, hieß es doch wohl eher ‚Edel­blau‘, meins­te nicht?“ – „Aber Hei­no hat doch schon …“ – „Jaaaa?“ – „Ach nee, ‚Blau, blau, blau blüht der Enzi­an‘ hat er gesun­gen. Aber doch auch irgend­was mit Edel­weiß, oder nicht?“ – „Die Edel­weiß­pi­ra­ten gab’s, das waren jugend­li­che Wider­ständ­ler im drit­ten Reich …“ – „… und ‚Schwarz-braun ist die Hasel­nuss‘! Das hat er auch gesun­gen …“ – „Wirk­lich? Es ist drei Uhr nachts und wir sind schon wie­der bei Hit­ler?!“ – „Ich war bei Hei­no, Du warst bei Hit­ler …“

In die­sem Moment hat­te sich mein rest­wa­ches Bewusst­sein zum Glück in dem vor weni­gen Sekun­den gedach­ten Wort „Ilex“ ver­bis­sen und mein­te plötz­lich, doch noch ein Lied­frag­ment in die Run­de wer­fen zu müs­sen: irgend­was mit „Ilec­son“, „Elec­son“ und mög­li­cher­wei­se einem „Gene­ral“ davor. Na, herz­li­chen Dank, das wür­de ja eine lus­ti­ge Nacht wer­den.

Doch da trat auch schon der Bru­der von Vat­ter Hein durch die Tür und schick­te mich ins Reich der Träu­me. (Der Tod ist ja bekannt­lich „Schla­fes Bru­der“, also muss der Schlaf auch der Bru­der des Todes sein. Im Fran­zö­si­schen wird aber der Orgas­mus auch als la petit mort, also „der klei­ne Tod“, bezeich­net. Das muss ja eine lus­ti­ge Fami­lie sein, in der glei­cher­ma­ßen getö­tet, gevö­gelt und geschla­fen wird – fast so wie im RTL-Nach­mit­tags­pro­gramm.)

Jeden­falls: Ich schlief, nie­mand starb und nie­mand erreich­te den sexu­el­len Höhe­punkt (was man bei den dün­nen Wohn­heims­wän­den hier in Sams­tag­näch­ten sonst durch­aus schon mal als Ohren­zeu­ge zu ver­fol­gen gezwun­gen sein kan). Ich schlief sogar so gut, dass mir weder Alrau­nen, noch Ile­xe, Edel­wei­ße, Enzia­ne oder Hasel­nüs­se begeg­ne­ten, kein Hit­ler und kein Hei­no, und auch das mys­te­riö­se Musik­stück blieb mir reich­lich schwen­di. Erst der Wecker been­de­te mei­nen stein­glei­chen Schlaf und am Früh­stücks­tisch war ich viel zu sehr mit der exak­ten Koch­zeit von Eiern (sechs­ein­halb Minu­ten für die Grö­ße L, frisch aus dem Kühl­schrank), mei­nen diver­sen Mar­me­la­den und Auf­schnit­ten (Kiwi-Sta­chel­beer, Him­beer, Brenn­nes­sel­kä­se und Pfef­fer­sa­la­mi), sowie mei­nem Kaf­fee (schwachtz) beschäf­tigt, als dass mir Alrau­nen hät­ten ein­fal­len kön­nen. Die kamen erst spä­ter zurück.

Und jetzt habe ich Sie lan­ge genug an den Ereig­nis­sen in mei­nen Hirn­win­dun­gen teil­ha­ben las­sen und auf die Fol­ter gespannt. In die­sem Moment wer­den Sie und ich end­lich gemein­sam erfah­ren, was eine Alrau­ne ist.

Es ist …

eine mehr­jäh­ri­ge krau­ti­ge Pflan­ze, deren Ver­zehr schon in gerin­gen Men­gen zu Atem­läh­mung und zum gran­de mort, also der Begeg­nung mit Vat­ter Hein, dem sen­se­schwin­gen­den gro­ßen Bru­der von Schlaf und Orgas­mus, füh­ren kann.

Na, das war ja mal unspek­ta­ku­lär!

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Gesellschaft

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Die schwei­zer Bank Juli­us Bär ist gericht­lich gegen die Inter­net-Platt­form Wiki­leaks vor­ge­gan­gen, weil auf die­ser Kun­den­da­ten auf­ge­taucht waren, die Geld­wä­sche und Steu­er­hin­ter­zie­hung auf den Cayman Islands bele­gen sol­len. Inzwi­schen ist Wiki­leaks wie­der online.

Da mein Inter­es­se am Finanz­ge­sche­hen eher gering ist, kann­te ich die Bank Juli­us Bär vor­her gar nicht – genau­so wenig wie Wiki­leaks. Eben­so war mir der Begriff für der­art unfrei­wil­li­ge PR bis­her unbe­kannt, aber Dank NPR weiß ich nun, dass man in sol­chen Fäl­len vom „Strei­sand effect“ spricht. Die­ser ist benannt nach der Schau­spie­le­rin Bar­bra Strei­sand, die einen Foto­gra­fen ver­klagt hat­te, dem beim Foto­gra­fie­ren der kali­for­ni­schen Küs­te auch das Haus der Schau­spie­le­rin vor die Lin­se gera­ten war. Bis zu ihrer Kla­ge war das nie­man­dem auf­ge­fal­len, danach war das Foto auf Inter­net­sei­ten und in Zei­tun­gen zu sehen.

Auch in Deutsch­land kennt man Fäl­le, in denen die (ver­such­te) Ver­hin­de­rung von Bericht­erstat­tung sehr viel mehr Auf­merk­sam­keit erzeugt hat als die ursprüng­li­che Bericht­erstat­tung selbst. Aller­dings unter etwas ande­ren Vor­zei­chen:

Da wäre der Nach­rich­ten­spre­cher, der 1998 gericht­lich gegen die Behaup­tung vor­ging, er sei homo­se­xu­ell, und mit die­sem Schritt eine grö­ße­re media­le Auf­merk­sam­keit erreg­te, als es die Nischen-Medi­en, die die Behaup­tung auf­ge­stellt hat­ten, je gekonnt hät­ten.

Oder der dama­li­ge Bun­des­kanz­ler, der vor Gericht zog, weil eine Nach­rich­ten­agen­tur in einem Neben­satz die Behaup­tung einer Image-Bera­te­rin zitiert hat­te, der Poli­ti­ker fär­be sein dunk­les Haupt­haar.

Nun ver­hält es sich in die­sen Fäl­len etwas anders als bei Juli­us Bär und Bar­bra Strei­sand: Gericht­lich bestä­tigt müs­sen wir davon aus­ge­hen, dass der Nach­rich­ten­spre­cher wirk­lich nicht homo­se­xu­ell ist, der Kanz­ler wirk­lich nicht gefärbt hat.

Allein: Das Unter­be­wusst­sein kennt ja angeb­lich kei­ne Ver­nei­nung und spei­chert des­halb den Begriff „schwul“ unter dem Foto des Nach­rich­ten­spre­chers ab und addiert beim (inzwi­schen Alt-)Kanzler „Haa­re fär­ben“. Mal davon ab, dass man als Spit­zen­po­li­ti­ker mit einem klein­li­chen Pro­zess in der Regel mehr blei­ben­den Ein­druck hin­ter­lässt, als eine unbe­kann­te Image-Bera­te­rin mit einem dahin­ge­sag­ten Halb­satz über die Haa­re des Kanz­lers.