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Germany’s Next Topvictim

Sie wollen sich nicht an Corona-Schutzmaßnahmen halten, glauben an Verschwörungstheorien und vergleichen sich mit Opfern des Nationalsozialismus: Mit den sog. „Querdenkern“ stimmt eine ganze Menge nicht.

Aber ist es klug, ihren wirren Ansichten so viel Aufmerksamkeit zu schenken? Warum wird eigentlich immer die NS-Zeit zu haarsträubenden Vergleichen herangezogen? Und was wären Vergleiche, die ein bisschen mehr Sinn ergeben? Ein paar Ideen dazu gibt es hier im Video:

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Lucky & Fred: Episode 20

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Die Unterhaltungsindustrie wird erschüttert von einer Reihe von Enthüllungen: Männer wie Harvey Weinstein haben ihre Macht missbraucht, um Frauen sexuell zu belästigen. Lucky und Fred wollen über das Thema sprechen und weil in letzter Zeit genug Männer über Frauen geredet haben, soll auch eine Frau mitreden: Sabine Brandi!

Zu dritt geht es dann auch noch um den Polit-Praktikanten Christian Lindner, den potentiellen Groko-Vernichter Glyphosat und die Suche nach dem deutschen Donald Trump.

Aber es war ja auch nicht alles schlecht!

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Wieder die Political Correctness!

Seit Donald Trump aufgrund eines sehr komplizierten Wahlsystems als nach Wählerstimmen klar unterlegener Kandidat zum US-Präsidenten gewählt wurde, tobt die große feuilletonistische Debatte darüber, wie das passieren konnte, was sich ändern muss und warum Menschen eigentlich jemanden wählen, der permanent lügt, seine Meinung ändert und sexistische und rassistische Sprüche in Mengen unters Volk haut, die bei Sonderangeboten im Supermarkt nicht mehr unter den Begriff “haushaltsüblich” fallen würden.

Das Schöne an dieser weltweiten Debatte ist, dass sich die Diskutanten über die Frage, ob und wie man jetzt mit diesen Menschen sprechen müsste, derart gegenseitig selbst zerfleischen, dass sie sicher sein können, auf absehbare Zeit nicht mit diesen Menschen sprechen zu müssen. Willkommen im größten SoWi-LK der Welt!

Immer wieder hört man, die “Political Correctness” sei schuld. Wenn weiße Männer in den besten Jahren, die einen Arbeitsplatz und eine gesunde Familie haben, nicht mehr “Neger” sagen und fremden Frauen an den Hintern fassen dürfen, wählen sie die AfD. (Weiße Männer in den besten Jahren, die Kolumnen gegen “Politcal Correctness” schreiben, würden in ihrer bekannt jovialen Art vermutlich hinzufügen wollen, dass Männer in den besten Jahren auch AfD wählen, weil “ihre Alte sie nicht mehr ranlässt”, hätten dann aber wahrscheinlich doch zu viel Angst vor den Reaktionen zuhause.)

Die Kolumne von Mely Kiyak bei “Zeit Online” ist der 792. Text, den ich seit dem 9. November zu diesem Thema gelesen habe, aber da steht noch einmal viel Kluges drin. Zum Beispiel:

Wenn Politiker in Zeiten von brennenden Asylheimen und Angriffen auf Minderheiten fordern, es müsse erlaubt sein, offen Probleme der Integration zu benennen, dann wird es düster und unverschämt: Wir haben in Deutschland viele Probleme, aber sicher keines damit, dass man sich nicht jederzeit rassistisch, widerwärtig und primitiv im öffentlichen Raum äußern dürfe. Die öffentlichen Talkshows wären ohne die permanente Infragestellung von Minderheiten und ihrer angeblichen Integrationsfähigkeit aufgeschmissen.

Immer wieder hört man ja seit Jahrzehnten den Satz “Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!” und jedes Mal möchte man antworten: “Man darf es sogar sagen. Das ist ja das Tolle an der Meinungsfreiheit! Du darfst es sagen, Deine Freunde können Dich dafür feiern, aber sei darauf vorbereitet, dass es vielleicht nicht jeder gut findet und einige lieber nichts mit Dir zu tun haben wollen!” Diese Menschen wollen ja aber gar keine Meinungsfreiheit — jedenfalls nicht für die, die anderer Meinung sind als sie.

In der aktuellen “Zeit” gibt es einen Text über den aktuellen Zustand des Feminismus von Elisabeth Raether, der, so Raether, immer stiller wird:

Statt sich mit all seinem Gewicht am Kampf der freien Gesellschaften gegen die rasend schnell wachsenden autoritären Bewegungen zu beteiligen, liefert er sich amüsante Wortgefechte mit Kolumnisten wie Jan Fleischhauer und Harald Martenstein – Männern, von denen doch eine eher überschaubare Gefahr ausgeht.

Ja, könnte man so sehen.

Das sind jetzt nur zufälligerweise genau solche weißen Männer in den besten Jahren, die Kolumnen gegen “Politcal Correctness” schreiben, und damit jenen weißen Männer in den besten Jahren, die einen Arbeitsplatz und eine gesunde Familie haben, aber nicht mehr “Neger” sagen und fremden Frauen an den Hintern fassen dürfen, aus dem Herzen sprechen. Auch wenn man dort beim Sprechen vermutlich seinen eigenen Atem sieht.

Es folgen einige Absätze, in denen auch ein richtige Gedanken stecken, und dann das hier:

Das Jahr 2013 haben Feministinnen damit verbracht, dem FDP-Politiker Rainer Brüderle auf kleinlichste Weise ein misslungenes Kompliment vorzuhalten. Herbst 2016: Ein Mann wird ins Weiße Haus gewählt, für den sexuelle Gewalt eine ausgefallene Flirttechnik ist.

Doch jetzt ist die Sprache der Moral aufgebraucht. Der Vorwurf des Sexismus wurde so oft gemacht, dass es inzwischen ein Leichtes ist, ihn zu relativieren. Löst man so oft Fehlalarm aus, wird einem nicht mehr geglaubt, wenn das Haus wirklich brennt. Nicht nur das Wort Feminismus hat seinen Schrecken verloren – dem Begriff Sexismus ist seine moralische Kraft abhandengekommen und damit die Schutzfunktion, die er mal hatte.

Ja, könnte man so sehen.

Man könnte sich aber auch kurz an die seligen Zeiten des Jahres 2013 erinnern, als wir glaubten, ernsthaft Grund zu der Annahme zu haben, Rainer Brüderle sei ein Sexismus-Dinosaurier: Ein leicht schmieriger, leicht unbeholfener Onkel-Typ, dem man kurz das 21. Jahrhundert erklären müsste, dessen Art aber ohnehin bald weg ist. Vielleicht brannte nicht das Haus, aber wenn man bei einem Schwelbrand die Feuerwehr ruft, ist das kein Fehlalarm. Man kann ja nicht ahnen, dass drei Jahre später eine Feuerwalze apokalyptischen Ausmaßes auf das Haus zuhalten wird.

(Gleiches gilt übrigens auch für Rassismus: Nur weil es Donald Trump gibt, wird das “Jim Knopf”-Blackfacing bei “Wetten dass..?” im selben Jahr 2013 ja nicht weniger schlimm.)

Da kommen wir aber auch wieder zu einem Differenzierungsproblem, über das seit Jahren diskutiert wird: Ist jeder, der etwas sexistisches sagt, ein Sexist? Jeder, der etwas rassistisches sagt, ein Rassist? Je nach Tagesform und konkretem Fall habe ich da sehr unterschiedliche Meinungen.

Über etwas anderes kann es aber kaum unterschiedliche Meinungen geben: Wenn eine Frau nicht auf eine bestimmte Art angesprochen, angeguckt oder gar angefasst werden will, sollte man als Mann – je nach eigener Disposition – wahlweise vor Scham im Boden versinken oder wenigstens die Klappe halten. Analog bei rassistischen Vorkommnissen. “Ich finde das aber witzig”, ist ein Ausdruck von Meinungspluralität, aber kein Argument.

“Political Correctness” ist letztlich auch nur ein anderes Wort für “Anstand” oder “Höflichkeit”, was mich zum dritten Text bringt, den ich heute zu diesem Themenkomplex gelesen habe: einer Kolumne von Jagoda Marinic bei süddeutsche.de.

Ihr Thema ist die Höflichkeit:

Mag sein, dass Höflichkeit ein gestriger Wert ist, aber es ist einer, auf den wir schon viel zu lange verzichten, ohne uns gegen sein Verschwinden zur Wehr zu setzen. Stattdessen bahnen sich Menschen den Weg in die Öffentlichkeit, die Unverschämtheit für eine rhetorische Leistung halten. Unverschämtheit ist jedoch nichts weiter als ein aus den Fesseln geratenes Ego.

Diese Entfesselung des unverschämten Egos hat nicht in der Sphäre der Politik begonnen, sondern in der Fernsehwelt, genannt Unterhaltung. Die TV-Macher wollten raus aus den langweiligen Familiensendungen wie “Wetten, dass ..?” und erfanden stattdessen die Talentsuche, in der Spott über mangelndes Talent für mehr Quote sorgt als die Freude an Talent.

Dieter Bohlen ist das deutsche Aushängeschild dieses Gehabes. Der Erfolg gibt ihm recht, heißt es, wenn man das verbale Austeilen der Jury kritisiert. Eine weitere Variante dieses Spottens sind Fernseh-Teams, die sich über die Unwissenheit von Passanten in Einkaufspassagen belustigen.

Ich vertrete schon länger die Theorie, dass Simon Cowell, Juror und Produzent bei “American Idol”, “X Factor” und “Britain’s Got Talent”, und sein deutsches Pendant Dieter Bohlen einen Stein ins Rollen gebracht haben, der am Ende Donald Trump mit einem Erdrutsch (hier stimmt die Formulierung ausnahmsweise mal, wenn man darunter eine Bewegung großer Gesteinsmassen in Folge von Niederschlägen versteht, die mit sehr viel Schmutz und Dreck einhergeht) ins Weiße Haus gebracht hat: Da saßen im Fernsehen (und Trumps Popularität begann ja erst so richtig mit “The Apprentice”) diese weißen Männer in den besten Jahren, die Dinge sagten, die andere weiße Männer in den besten Jahren sich nicht (“mehr”) zu sagen trauten. Roger Willemsen, Dieter Bohlen — so hat jeder seine Role Models.

Dass ausgerechnet Multimillionäre, die in der aller-allerkünstlichsten Atmosphäre einer “Reality”-Fernsehsendung hoffnungsvolle, normale Menschen runterputzen, als authentisch, volksnah und vertrauenswürdig gelten, sagt entweder viel über die Sozial- und Medienkompetenz der Zuschauer aus oder über die Außenwirkung hart arbeitender Fachleute in der Politik. Vielleicht auch über beides, aber darüber schreibe ich dann beim nächsten Mal.

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Musik Rundfunk

What’s the use in trying / All you get is pain

Ich lehne Casting-Shows nicht grundsätzlich ab. “Germany’s Next Topmodel” schaue ich aus mir selbst nicht ganz nachvollziehbaren Gründen regelmäßig und “Bully sucht die starken Männer” finde ich sogar sehr gelungen und mit viel Liebe gemacht, ebenso natürlich Stefan Raabs “SSDSDSSWEMUGABRTLAD”.

“Deutschland sucht den Superstar” aber meide ich wie sonst nur Polittalkshows und das Tagesprogramm der privaten Fernsehsender. Dieter Bohlen ist mir persönlich nicht bekannt, aber ich sehe wenig Grund daran zu zweifeln, dass ich ihn nicht mögen würde. Die Art und Weise, wie Schülerinnen und Schüler dazu gebracht werden sollen, ihr komplettes Taschengeld und die Einkünfte aus ihren Ferienjobs der nächsten drei Sommerferien für Televoting auszugeben, ist mir mindestens suspekt. Insofern kann ich auch nicht beurteilen, wie der Auftritt irgendwelcher “Superstar”-Kandidaten in ihrer Heimatstadt zu bewerten ist.

Noch weniger als “Deutschland sucht den Superstar” schaue ich “American Idol”, was hauptsächlich daran liegt, dass ich hier in Deutschland kein Fox empfange. Allerdings würde ich es wohl selbst dann nicht schauen, wenn ich technisch dazu in der Lage wäre.

Wer will schon derart desaströse Darbietungen von “I’m A Believer” hören?

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Die hoffnungsvolle Sängerin heißt übrigens Brooke White, aber Sie brauchen sich diesen Namen nicht zu merken: sie ist in der letzten Sendung rausgeflogen.

[via All Songs Considered blog]

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Musik Gesellschaft

Die Vergangenheit der Musikindustrie

Die wenigsten Jugendlichen, die heute Musik hören (und das sind laut neuesten Umfragen 98% der Europäer), werden wissen, welches Jubiläum dieser Tage begangen wird: Vor 25 Jahren schloss SonyUniversal, die letzte Plattenfirma der Welt, ihre Pforten. Ein Rückblick.

Es war ein wichtiger Tag für Deutschland, als der Bundestag der Musikindustrie im Jahr 2009 das Recht einräumte, sogenannte “Terrorkopierer” (die Älteren werden sich vielleicht auch noch an den archaischen Begriff “Raubkopierer” erinnern) selbst zu verfolgen und bestrafen. Als unmittelbare Folge mussten neue Gefängnisse gebaut werden, da die alten staatlichen Zuchthäuser dem Ansturm neuer Insassen nicht Herr werden konnten. Dies war die Geburtsstunde der Prisonia AG, dem Konsortium von Bau- und Musikindustrie und heute wichtigstem Unternehmen im EuAX. Die Wiedereinführung der Todesstrafe scheiterte im Jahr darauf nur am Veto von Bundespräsident Fischer – die große Koalition aus FDP, Linkspartei und Grünen hatte das Gesetz gegen die Stimmen der Piratenpartei, damals einzige Oppositionspartei im Bundestag, verabschiedet.

Im Jahr 2011 fuhr der frisch fusionierte Major WarnerEMI den höchsten Gewinn ein, den je ein Unterhaltungskonzern erwirtschaftet hatte. Kritiker wiesen schon damals darauf hin, dass dies vor allem auf die völlige Abschaffung von Steuern für die Musikindustrie und die Tatsache zurückzuführen sei, dass die sogenannten “Klingeltöne”, kleine Musikfragmente auf den damals so beliebten “Mobiltelefonen”, für jede Wiedergabe extra bezahlt werden mussten – eine Praxis, die WarnerEMI zwei Jahre später auch für seine MP5-Dateien einführte.

Die Anzeichen für einen Stimmungsumschwung verdichteten sich, wurden aber von den Unternehmen ignoriert: Der erfolgreichste Solo-Künstler jener Tage, Justin Timberlake, veröffentlichte seine Alben ab 2010 ausschließlich als kostenlose Downloads im Internet und als Deluxe-Vinyl-Versionen im “Apple Retro Store”. Heute fast vergessene Musiker wie Madonna, Robbie Williams oder die Band Coldplay folgten seinem Vorbild. Hohn und Spott gab es in allen Medien für den damaligen CEO von WarnerEMI, als der in einem Interview mit dem Blog “FAZ.net” hatte zugeben müssen, die Beatles nicht zu kennen.

Diese öffentliche Häme führte zu einem umfassenden Presseboykott der Musikkonzerne. Renommierte Musikmagazine in Deutschland und der ganzen Welt mussten schließen, Musikjournalisten, die nicht wie die Redakteure des deutschen “Rolling Stone” direkt in Rente – wie man es damals nannte – gehen konnten, gründeten eine Bürgerrechtsbewegung, die schnell verboten wurde. Die Lunte aber war entfacht.

Im Herbst 2012 kündigte Prof. Dieter Gorny, damals Vorsitzender der “Konsum-Agentur für Runde Tonträger, Elektrische Lieder und Lichtspiele” (K.A.R.T.E.L.L.), seine Kanzlerkandidatur an, worüber der damalige Bundeskanzler Guido Westerwelle alles andere als erfreut war. Er setzte neue Kommissionen für Medien- und Kulturindustrie ein und kündigte eine mögliche Zerschlagung der Musikkonzerne an. Diese fusionierten daraufhin in einer “freundlichen feindlichen Übernahme” am Europäischen Kartellamt vorbei zum Konzern SonyUniversalEMI und drohten mit einer Abwanderung in die Mongolei und damit dem Verlust der restlichen 300 Arbeitsplätze.

Aber weder Kanzler Westerwelle noch das deutsche Volk ließen sich erpressen: Zum 1. Januar 2013 musste MTViva den Sendebetrieb einstellen. Die neugegründete Bundesmedienaufsicht unter Führung des parteilosen Stefan Niggemeier hatte dem Fernsehsender, der als sogenannter Musikkanal galt, die Sendelizenz entzogen, da dieser weniger als die gesetzlich geforderten drei Musikvideos täglich gespielt hatte. Die Castingshow “Europa sucht den Superstar” erwies sich für SonyUniversalEMI als überraschender Mega-Flop, der Wert des Unternehmens brach um ein Drittel ein, das “EMI” verschwand aus dem Namen.

Im Berliner Untergrund gründete sich die Deutsche (heute: Europäische) Musicantengilde. Deren heutiger Ehrenvorsitzende Thees Uhlmann erinnert sich: “Es war ja damals schon so, dass die kleinen Bands ihr Geld ausschließlich über Konzerte machen konnten, die ja dann auch noch verboten werden sollten. Erst haben wir unsere CDs ja selbst rausgebracht, aber als die Musikkonzerne dann die Herstellung von CDs außerhalb ihrer Fabriken unter Strafe stellen ließen, mussten wir auf Kassetten ausweichen.” Heute kaum vorstellbar: Das Magnetband galt damals als so gut wie ausgestorben, nur die kleine Manufaktur “Telefunken” produzierte überhaupt noch Abspielgeräte, die entsprechend heiß begehrt waren.

Am 29. November 2013, heute vor 25 Jahren, war es dann soweit: Der Volkszorn entlud sich vor der SonyUniversal-Zentrale am Berliner Reichstagsufer. Das Medienmagazin “Coffee & TV” hatte kurz zuvor aufgedeckt, dass die Musikindustrie jahrelang hochrangige Mitarbeiter gedeckt hatte, die durch “Terrorkopieren” aufgefallen waren. Während der normale Bürger für solche Verbrechen bis zu sechs Jahre ins Gefängnis musste, waren die Manager und Promoter straffrei ausgegangen. Als nun die Mutter des dreijährigen Timmie zu einem halben Jahr Arbeitsdienst verurteilt werden sollte, weil sie ihrem Sohn ein Schlaflied vorgesungen hatte, ohne die dafür fälligen Lizenzgebühren von 1.800 Euro zahlen zu können, zogen die Bürger mit Fackeln und selbst gebastelten Galgen zum “Dieter-Bohlen-Haus” am Spreebogen.

Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder, dann zog der Mob unter den Augen von Feuerwehr und Polizei weiter zur Zentrale der “GEMA” am Kurfürstendamm (der heutigen Toyota-Allee). Wie durch ein Wunder wurde an diesem Tag niemand ernstlich verletzt. Die meisten Führer der Musikindustrie konnten ins nordkoreanische Exil fliehen, den “kleinen Fischen” wurde Straffreiheit zugesichert, wenn sie ein Berufsverbot akzeptierten und einer dreijährigen Therapie zustimmten.

Drei Tage später fand im Berliner Tiergarten ein großes Konzert statt, die erste öffentliche Musikaufführung in Europa seit vier Jahren. Die Kilians, heute Rocklegenden, damals noch junge Männer, spielten vor zwei Millionen Zuhörern, während die Bilder von gestürzten Dieter-Gorny-Statuen um die Welt gingen.

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Here we are now, entertain us!

“TV Total” ist nicht mehr so gut, wie es früher einmal war. Das wissen wir spätestens seit Peer Schaders Artikel für die FAS (und, äh: die WAZ). In der Tat taucht fast nichts mehr von dem, was die Sendung früher ausmachte (und ihr ihren Namen gab) in den heutigen Shows auf.

Auf der anderen Seite gilt: Stefan Raab ist besser denn je. Beinahe unbemerkt hat er bei Pro 7 all die Posten besetzt, für die andere Sender eine halbe Fußballmannschaft, wenigstens aber Thomas Gottschalk, Harald Schmidt, Dieter Bohlen, Günther Jauch, Ralph Siegel und, äh: Axel Schulz brauchen. Er hatte als Musiker bisher acht Top-Ten-Hits, schickte drei Acts (darunter sich selbst) zum Schlager-Grand-Prix, erfand hernach aus Trotz über die erfolglosen Teilnahmen den Bundesvision Song Contest, ist Wok-Weltmeister und Grimme-Preis-Träger, sowie mehrfach wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte verurteilt worden. Zuletzt sorgte er für eine Renaissance der Samstagabendshow und wenn er demnächst seine Casting-Show “SSDSDSSWEMUGABRTLAD” startet, kann man sicher sein, dass auch dies ein Erfolg und eine wichtige Unterstützung des Musiknachwuchs sein wird.

In der letzten Zeit legt Raab bei “TV Total” das Verhalten an den Tag, das bei Harald Schmidt zu beobachten war, als der noch von allen (und vor allem: zu Recht) gut gefunden wurde: Er wirkt immer mehr, als interessiere ihn die Sendung gar nicht mehr, und setzt dadurch neue Akzente. So verbrachte er vor einigen Monaten die Hälfte der Sendung auf einem Segway stehend und wie wild durchs Studio rollend – eine Aktion, für die Schmidt gleich drei Grimmepreise bekommen hätte.

Gestern zeigte Stefan Raab mal wieder eine neue Seite: Bei “TV Total” war der Pianist Martin Stadtfeld zu Gast, mit dem sich Raab ein zunächst etwas zickig wirkendes, dann aber höchst unterhaltsames Gespräch lieferte. Je länger sich die Beiden unterhielten, desto offenkundiger wurde Raabs Faszination auch für die klassische Musik. Er warf mit Mozart und Bach um sich, schaffte es aber anfangs noch gekonnt, den Gast als Feingeist und sich selbst als albernen Halb-Intellektuellen zu inszenieren. Als er sein Publikum im Saal und vor den Fernsehgeräten dann vollends verloren hatte, war er aber mit so viel Freude dabei, dass ein weiterer angekündigter Gast schlichtweg auf seinen Auftritt verzichten musste. Stattdessen gab es – wohl erstmalig in der Geschichte von Pro 7 – Bach (Johann Sebastian, nicht Dirk oder Bodo) auf dem Konzertflügel.

Seit diesem Auftritt (der Stadtfelds aktuelle CD in den Amazon-Verkaufsrängen nach oben schießen ließ), frage ich mich, wie Raab wohl ohne sein Publikum wäre. Ohne den ewigen “Showpraktikanten” Elton und ohne die pubertären Scherze, die die Zuschauer erwarten. Was zum Beispiel passierte, wenn man ihm eine Sendung bei 3Sat gäbe (Absurde Idee? Oliver Pocher wechselt zur ARD!).

Man kann von Stefan Raab halten, was man will, aber er ist wahrscheinlich einer der fünf wichtigsten Medienmenschen in Deutschland. Was er macht, zieht er mit einem mitunter beunruhigenden Ehrgeiz und Ernst durch. Und er schafft es heutzutage noch, medienwirksame “Skandale” auszulösen, die nur indirekt etwas mit TalentshowJurys zu tun haben. Eigentlich könnte er “TV Total” doch einfach ganz Elton überlassen …