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Digital

Father And Son (ca. 2020)

– “Papa, Papa!”
– “Ja, mein Sohn?”
– “Ich hab gerade in der Encyclopedia Blogia gescrollt …”
– “Oh.”
– “Was ist dieses ‘Spiegel Online’, von dem 2008 so viele Leute geschrieben haben?”
– “Das war damals ein großes Online-Magazin. Erst gab es über viele Jahrzehnte ein angesehenes Printmagazin …”
– “Tote Bäume?”
– “Genau. Das hatte lange einen guten Ruf. Dann hatte es irgendwann einen unfassbar schlechten Ruf – aber nicht beim einfachen Volk. Das hat sowohl die Print- als auch die Online-Version geliebt. ‘Spiegel Online’ war das meistgelesene Online-Medium zu dieser Zeit.”
– “So wie ‘Coffee And TV’ heute?”
– (lacht) “Ja, so ungefähr. Die Leute haben alles geglaubt, was bei ‘Spiegel Online’ stand. Nur die Medienkritiker …”
– “Leute wie Du, Onkel Niggi und Onkel Knüwi?”
– “Solche Leute, genau. Wir haben ‘Spiegel Online’ kritisiert für schlechte Recherche, einseitige Berichterstattung und deren Klick…”
– “Die haben noch Klickhurerei gemacht?!”
– “Wo hast Du denn das Wort schon wieder gelernt?”
– (lacht)
– (grummelt) “Jedenfalls: ja, haben sie.”
– “Oh Mann, wie peinlich!”
– “Du musst wissen: damals galten page impressions noch als heiliger Gral im Internet.”
– (lacht)
– “Na ja, das waren jedenfalls ‘Spiegel’ und ‘Spiegel Online’. 2008 müsste das Jahr gewesen sein, in dem sie gefragt haben, ob das Internet doof macht, und über Twitterer und Blogger gelästert haben.”
– “Aber warum das denn?”
– “Zum einen, weil sie Angst davor hatten – zu Recht, wie wir heute wissen – zum anderen, weil sie sichergehen konnten, dass fast alle Blogger und Twitterer darüber schreiben würden. Und wenn alle über den ‘Spiegel’ schreiben, sieht es noch ein bisschen länger so aus, als sei der ‘Spiegel’ relevant.”
– “Hmmmm. Aber eins versteh ich nicht …”
– “Ja?”
– “Warum haben denn immer alle Blogger und Twitterer darüber geschrieben? Konnte denen das nicht egal sein?”
– “Ja sicher, eigentlich schon.”
– “Oma hat mir mal erzählt, wie sie vor vielen Jahren mit anderen Leuten ein Atu … Autom …”
– “Atomkraftwerk?”
– “Ich glaube ja. Wie sie sowas verhindert haben. Denen war immer egal, was die anderen gedacht, gesagt und in der Zeitung geschrieben haben.”
– “Tja. Die waren damals viel an der frischen Luft um zu demonstrieren, Sauerstoff beruhigt. Wir saßen schlecht gelaunt in unseren Büros und haben uns dann halt aufgeregt. Ab 2009 hat aber keiner – oder kaum noch einer – auf den ‘Spiegel’ reagiert, so dass sie 2010 aufgeben mussten.”
– “2010? Noch vor Zoomer?!”
– “Ja, das ging damals ganz schnell.”
– “Und was ist aus den ganzen Leuten geworden, die da gearbeitet haben?”
– “Das war das lustigste: Als ‘Spiegel Online’ zugemacht hat, kam raus, dass da nur drei verwirrte alte Männer gearbeitet haben: ein Taxifahrer, ein Drogenabhängiger und ein Mann, dem ein wahnsinniger Wissenschaftler ein Brötchen anstelle seines Gehirns eingepflanzt hatte. Alles andere kam aus Computern.”
– “Gruselig.”
– “Ja. Aber nur halb so gruselig wie deren Texte.”
– “Papa?”
– “Ja?”
– “Können wir noch ein bisschen Hologramme gucken?”
– “Was willste denn sehen?”
– “Den Film mit dem Zeitungsmann, der stirbt. Mit dem Schlitten. Das ist sooooo lustig!”

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Unterwegs Kultur

Hoffentlich ist es Beton

Ruhr-Uni Bochum

Wenn Menschen verreisen, geben sie viel Geld aus um weit weg zu kommen, dorthin, wo’s schön ist. Wenn sie dann wieder heimkehren, denken sie “Ach, schrecklich, wie das hier aussieht”, und die ganze Erholung ist weg. Warum fahren sie also nicht in die nähere Umgebung, gucken sich dort die Tagebaugebiete, Fußgängerzonen und Gefängnisse an und sind ganz entzückt, wenn sie endlich wieder zuhause sein dürfen?

Ich war also am Dienstag in Marl. Die Innenstadt wurde in den 1960er Jahren am Reißbrett entworfen und war damals sicher visionär: ein Einkaufszentrum amerikanischer Bauart, davon ausgehend verschiedene Wohn-Hochhäuser, ein klar strukturiertes, dabei aber luftiges Rathaus, ein künstlicher See. Wenn man in der Dämmerung durch den Nieselregen schlurft (wie Stefan am Montag), wirkt dieser Ort wie der post-apokalyptische Schauplatz einer Architekturschau längst vergangener Epochen, aber man ahnt, wie begeistert die Macher von ihren Ideen waren, wie durchdacht und modern diese Stadt einmal gewesen sein muss. Nur leben wollen die Leute so nicht und ohne Anzüge und Petticoats wirken sie dort auch seltsam deplatziert.

Es ist das Schicksal mindestens einer Generation deutscher Architekten und Stadtplaner, dass ihre hehren Pläne und Konzepte kolossal gescheitert sind. Wie oft höre ich, die Ruhr-Uni Bochum sei ja “so hässlich”, dabei sieht sie kaum anders aus als die Universitätsneubauten in Düsseldorf, Dortmund, Duisburg, Essen, Bielefeld oder Paderborn. Genau genommen ist die Ruhr-Uni sogar von einer viel höheren Qualität: klar strukturiert, ohne Schnörkel und anheimelnde Gemütlichkeit, nur gebaut, um möglichst vielen Arbeiterkindern die Möglichkeit eines Hochschulstudiums zu bieten. Ein Blick in die hell erleuchteten Zimmer des Nachbarhauses bringt hässlicheres zu Tage.

Christuskirche DinslakenIn Dinslaken wurde im vergangenen Jahr die evangelische Christuskirche abgerissen, weil sie zu nah an den anderen Kirchen lag und ihr Erhalt zu teuer war. Der Betonbau aus den späten 1960er Jahren war immer unbeliebt gewesen: groß, kalt, mit der Ausstrahlung einer Mehrzweckturnhalle. Selbst unter Aufbringung von christlicher Nächstenliebe und kulturellem Verständnis war die Kirche hässlich – und doch war zum Beispiel die Idee, bei der Gestaltung der “Fenster”, die eher kleine farbige Lichtlöcher in Betonelementen waren, völlig auf Motive zu verzichten, eine konsequente bauliche Umsetzung des Protestantismus gewesen. Den Vorschlag, einfach die klassizistische Schwesterkirche abzureißen, hätte nie jemand zu äußern gewagt – mal davon ab, dass diese natürlich unter Denkmalschutz steht und gerade frisch restauriert war.

Und so wird zur Zeit in weiten Teilen Deutschlands eine ganze Epoche der Architekturgeschichte aus den Stadtbildern entfernt: die der Nachkriegsarchitektur. Natürlich hatte damals kaum jemand ahnen können, wie schrecklich nackter Beton im Laufe der Zeit aussehen würde, aber diese Architektur war nicht nur unglaublich funktional, sie hatte dabei auch nicht selten tolle Details und die Kunst am Bau. Diese Gebäude, die ja weißgott nicht alle hässlich sind, gehören zur deutschen Geschichte wie römische Siedlungen, Barockschlösser, faschistische Protzbauten und das Bauhaus. Ihr Verschwinden aus den Stadtbildern verzerrt die Geschichte und endet in einem Revisionismus, der sich zum Beispiel in den Bestrebungen zeigt, das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen – oder auf die Spitze getrieben in den Braunschweiger Schlossarkaden.

AT&T Switching Center, New York

Pathetisch gesprochen stehen Marl und all die Städte, die so ähnlich konzipiert wurden, für eine gescheiterte Utopie. Sie sind betongewordene Sozialdemokratie. Die Menschen wollten nicht in Etagenwohnungen mitten in der Stadt wohnen und auf riesige Betonfläche gucken, sie wollten in die Vorstädte, wo sie bizarrerweise nun Häuser bewohnen, die sich untereinander gleichen wie damals die Wohnungen im Hochhaus. Die Berliner Gropiusstadt und Köln-Chorweiler sind in einer Dimension gescheitert, wie sie nur in der Architektur möglich ist, die Stuttgarter Weißenhofsiedlung und die Berliner Wohnmaschine hingegen gelten immer noch als Vorzeigeobjekte. Woran das nun wieder liegt, kann ich mir auch nicht erklären. Vielleicht ist Brasília auch nicht deshalb so schön, weil es von Oscar Niemeyer entworfen wurde, sondern weil dort so häufig die Sonne scheint.

Eines der merkwürdigsten Neubauprojekte, das ich aus der Nähe mitbekommen habe, ist die Neue Mitte Oberhausen, ein künstliches Stadtzentrum mitten in einem früheren Industriegebiet. Das ganze Areal wirkt ein bisschen unnatürlicher als Disneyland, wird aber mit großer Begeisterung angenommen. Wohnhäuser gibt es keine, aber das riesige Einkaufszentrum “CentrO” mit angeschlossener Gastronomie-Promenade. Die seelenlose Beliebigkeit eines internationalen Flughafens scheint den Besuchern nichts auszumachen, aber selbst wenn: auf dem Gelände gibt es einen Irish Pub, der das Konzept Irish Pub sklavisch und bis zur Übertreibung einhält. Junge Menschen können sich in einem völlig künstlichen, aber realistischen Gebäude betrinken, das jünger ist als sie selbst, aber nach jahrhundertealter Tradition aussieht.

Und mit der Frage, ob falsche Gemütlichkeit wirklich echter Kälte vorzuziehen ist, möchte ich Sie in die Nacht entlassen. Allerdings nicht, ohne vorher auf restmodern.de hingewiesen zu haben, wo man sich einen schönen Überblick über die Nachkriegsarchitektur in Berlin verschaffen kann.

Hinterhof in Chicago
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Leben Gesellschaft

Das virtuelle Massengrab der Nischendekadenz

Bei Wind und Wetter stehen auf der Dr.-Gerhard-Petschelt-Brücke, die die Bochumer Stadtbahn-Haltestelle “Ruhr-Universität” mit dem eigentlichen Gelände der Ruhr-Universität verbindet (und die daher zum öffentlichen Raum gehört) Menschen mit einem klapprigen Campingtisch, auf dem Flugschriften ausliegen. Mit wackligen Holzaufstellern, auf denen wirre Forderungen geschrieben stehen, versperren sie den Studenten den Weg zu ihrer Alma Mater. Dies sind die Mitglieder der “Bürgerrechtsbewegung Solidarität”, kurz “BüSo”.

Die meisten Studenten hasten vorbei, nur wenige lassen sich von Botschaften wie “Die Kernschmelze des Weltfinanzsystems ist in vollem Gang!” oder “Killerspiele töten die Seele!” dazu hinreißen, Informationsgespräche zu suchen. Gestern fand ich aber eine ausgelesene “BüSo”-Kampfschrift in einem Seminarraum und meine journalistische Neugier zwang mich dazu, das Werk mit spitzen Fingern (sehr billige Druckerschwärze, saut rum wie sonst was) in Augenschein zu nehmen. Ein Protokoll.

Die Flugschrift, die an eine kleine Zeitung erinnert (“2 € empfohlener Beitrag”), ist zweigeteilt: Aus der einen Richtung beschäftigt sie sich mit der Frage “Steckt der Teufel in Deinem Laptop?” (dazu kommen wir gleich noch ausführlich), dreht man sie um, lacht einen die überraschende Forderung “Bauen wir die Weltlandbrücke!” an.

“BüSo”: “Bauen wir die Weltlandbrücke!”Die “Weltlandbrücke”, das soll ein “genau aufeinander abgestimmtes System von Schnellbahnen, Transrapidstrecken, Autobahnen sowie Wasserwegen” werden, ergänzt durch die “Querung der Beringstraße mit einem 100 km langen Tunnel”. Gebraucht werde dieses völlig neuartige Verkehrsnetz für die Zeit nach dem “gegenwärtig kollabierenden System der Globalisierung” und um eine “neue Friedensordnung” möglich zu machen. Solche Utopien von latentem Größenwahn üben immer eine gewisse Faszination auf mich aus, so wie die das “Globale Wiederaufbauprogramm für dauerhaften Weltfrieden” oder die Pläne für die “Welthauptstadt Germania” (deren zugrunde liegender Größenwahn allerdings nicht mehr latent war).

Die “Weltlandbrücke” basiert auf einem Vorschlag von Lyndon LaRouche, einem amerikanischen Politiker, der vor allem durch den siebenmaligen Versuch, Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden, antisemitische Äußerungen und eine Verurteilung wegen Verschwörung und Postbetrug von sich reden machte. ((LaRouche bezeichnet seine Verurteilung als eine Verschwörung von – halten Sie sich bitte fest! – Henry Kissinger, dem FBI, dem “Wall Street Journal”, NBC, “Reader’s Digest” und der Anti-Defamation League.)) Geschrieben wurde der Artikel von Helga Zepp-LaRouche, der Gattin Lyndon LaRouches und Gründerin des “Schiller-Instituts”, der Parteien “Europäischen Arbeiterpartei” und “Patrioten für Deutschland”, sowie von “BüSo”. In der ganzen Schrift findet sich kein Artikel, der nicht aus der Feder eines der Beiden stammt, sie zitiert oder auf ihre Theorien Bezug nimmt.

Besorgniserregender als die Forderung, eine “Eurasische Landbrücke” zu bauen, ist der andere Teil der Flugschrift, der mit markigen Worten eingeleitet wird:

Historisch betrachtet könnte man dieser Flugschrift vielleicht ebenso viel Wert beimessen wie den Flugblättern der Weißen Rose, die mit Heldenmut den Feind im eigenen Land bekämpften und bis zuletzt das wahre Deutschland Friedrich Schillers verteidigten. Wie im folgenden klar werden wird, kommt Faschismus heute nicht im braunen Gewand daher, sondern mittels subtiler Gleichschaltung/”Vernetzung” einer ganzen Generation, bei der sowohl Joseph Goebbels als auch Aldous Huxley vor Neid erblaßt wären. Diese Flugschrift soll vor allem den jungen Leser befähigen, dies als Krankheit zu erkennen, um sich rechtzeitig davon zu befreien.

“Oh mein Gott, worum geht’s?”, werden Sie sich entsetzt fragen. Oder: “Was kann ich dagegen tun?” Nichts, denn Sie und ich, wir sind schon mittendrin im Elend, im Kampf “Noosphäre contra Blogosphäre”. Was die “Noosphäre” ist, entnehmen Sie bitte der Wikipedia.

Doch worum geht es wirklich? MySpace, Facebook und Killerspiele, die allen Ernstes durchgehend in dieser Dreifaltigkeit genannt werden, sind Schuld daran, dass die Jugend völlig verkommt und zu brutalen Amokläufern wird:

Ob iPod, Laptop, wLAN, Killerspiele, Second Life usw.; wer sich diese Art von Zeitvertreib a la MySpace, StudiVZ oder SchülerVZ mal genauer anschaut, wird schnell feststellen, daß er hier auf ein virtuelles Massengrab gestoßen ist, in dem wirklich jede Form von Dekadenz ihre Nische gefunden hat, bis hin zur Nekro- und Pädophilie.

Hinter all dem stecken das “International Network of Social Network Analysis” (INSNA), das das Internet erfunden hat, um die Menschheit zu unterjochen, und Bill Gates, dessen Firma Microsoft laut Flugschrift unter anderem für “Counterstrike” und “Doom” verantwortlich ist, zwei “Killerspiele”, die in der Welt, die wir für die Realität halten, natürlich von Sierra Entertainment/EA Games bzw. id soft stammen und mit Microsoft so rein gar nichts am Hut haben.

Wir haben aber natürlich alle keine Ahnung, weil wir uns auf Google und die Wikipedia verlassen. In einem ganzseitigen Artikel wird der Versuch unternommen, die Geschichte der Wikipedia zu erklären, die ihrem Gründer Jim Wales unterstellt sei. Der ebenso zentrale wie entlarvende Satz des Artikels lautet:

Stöhnt man stets “Verschwörungstheorie!” und schließt aus, was nicht dem gängigen Konsens entspricht, so verbietet man effektiv, nach Gründen und Ursachen zu forschen, und zwingt andere, sich der Manipulation und Überredung des einfachen Konsens zu unterwerfen.

“BüSo”: “Steckt der Teufel in Deinem Laptop?”Der Satz bezieht sich auf die 9/11-Verschwörungstheorien, die durchs Internet geistern, von LaRouche gerne mal befeuert werden und theoretisch mithilfe der Wikipedia belegt werden können – wenn man ihr denn als Quelle traut. Er sagt aber im Umkehrschluss auch alles über die Verschwörungstheoretiker dieser Welt aus: Hat man nämlich einmal den Gedanken verinnerlicht, dass eine gleichgeschaltete Weltöffentlichkeit einem Informationen vorenthält, dann muss man ja die Informationen, die einem die Verschwörungstheoretiker unterbreiten, schon allein deshalb für bare Münze nehmen, weil man sie ja nirgendwo sonst findet. Und schon befindet man sich mitten in der altbekannten Logikschleife der Paranoiden, die man auch gar nicht mehr stoppen kann, weil man ja systemimmanent keinen Gegenbeweis antreten kann. Deshalb sieht es für mich als Opfer der Verschwörung natürlich auch so aus, als stecke hinter dem Wikipedia-Bashing vor allem gekränkte Eitelkeit, wie dieser Abschnitt suggeriert:

Originalschriften, die von LaRouche oder seiner Bewegung verfaßt wurden, dürfen aus jedem Wikipedia-Artikel, außer den Artikeln “LyndonLaRouche” und anderen eng verwandten, gelöscht werden. Weiterhin werden die Unterstützer LaRouches angewiesen, keine direkten Referenzen zu ihm in Artikel einzufügen, es sei denn dort, wo sie sehr relevant sind. Es soll nichts geschrieben werden, was als “Werbung” für LaRouche wahrgenommen werden könnten.

Es wurde, so erfahren wir weiter, ein Artikel rückgängig gemacht, in dem Lyndon LaRouche als “die dritte große Schule der Kritik an der Frankfurter Schule zitiert wurde”.

In einem vor den üblichen Klischees nur so strotzenden Dreiseiter über Amokläufer soll nachgewiesen werden, dass “die Fakten” “auf der Hand” liegen, was im Klartext heißt: Sie alle haben “Killerspiele” gespielt und Nine Inch Nails (“die Lieblingsband bereits früherer Schulattentäter”) gehört. Inwiefern die Lieblingsbücher eines finnischen Amokläufers (“1984 von George Orwell, Schöne neue Welt von Aldous Huxley und Nietzsches Gesamtwerk“) da hineinpassen sollen, erschließt sich mir als ahnungslosem Außenstehenden zwar nicht, aber Huxley haben wir ja weiter oben schon in einem Atemzug mit Goebbels getroffen.

Ein weiterer Artikel handelt von den “42 Millionen MySpace-Nutzern bzw. -Opfern!”, der “alten anglo-holländischen Politik, die die Kultur lenken und den Geist derjenigen kontrollieren will, die in Zukunft die Führung der Menschheit darstellen” und wartet mit so geistreichen Fakten wie diesen auf:

Wie die Internetseite MyDeathSpace im Nov. 2006 berichtete, gab es 600 Mordopfer und 35 Mörder, die bei MySpace registriert waren.

Das hört sich natürlich spektakulär an. In Deutschland mit seinen 82 Millionen (also fast doppelt so vielen) Einwohnern gab es im Jahr 2006 983 Mordopfer (1,19 Morde pro 100.000 Einwohner). Zieht man zum Vergleich aber die Kriminalitätsrate in den USA heran, die 7,8 Mordopfer pro 100.000 Einwohner zählt, wäre selbst eine Zahl von 600 Mordopfern bei 42 Millionen “MySpace-Opfern” noch die relativ harmlose Mordquote von 1,43 Opfern pro 100.000. Und Berlin wäre froh, wenn sich dort nur 35 Mörder rumtrieben!

Das Geeiere um “Killerspiele und Internetgewalt” wirkt, als hätten die Redakteure von “Frontal 21” und “Süddeutscher Zeitung” einen Eierlikörreichen Nachmittag bei meinen Großeltern auf der Couch verbracht, und das sonstige Weltbild hinter “BüSo” ist so bunt und krude zusammengezimmert, dass selbst L. Ron Hubbard und Eva Herman noch etwas lernen könnten. Das nordrhein-westfälische Innenministerium nennt das ganze “allgemeine politische Theorien, utopische Vorstellungen und z. T. verwirrende Forderungen und Thesen”, die “im Übrigen jedoch keine Kernforderungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Frage stelle”.

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Musik Gesellschaft

Die Vergangenheit der Musikindustrie

Die wenigsten Jugendlichen, die heute Musik hören (und das sind laut neuesten Umfragen 98% der Europäer), werden wissen, welches Jubiläum dieser Tage begangen wird: Vor 25 Jahren schloss SonyUniversal, die letzte Plattenfirma der Welt, ihre Pforten. Ein Rückblick.

Es war ein wichtiger Tag für Deutschland, als der Bundestag der Musikindustrie im Jahr 2009 das Recht einräumte, sogenannte “Terrorkopierer” (die Älteren werden sich vielleicht auch noch an den archaischen Begriff “Raubkopierer” erinnern) selbst zu verfolgen und bestrafen. Als unmittelbare Folge mussten neue Gefängnisse gebaut werden, da die alten staatlichen Zuchthäuser dem Ansturm neuer Insassen nicht Herr werden konnten. Dies war die Geburtsstunde der Prisonia AG, dem Konsortium von Bau- und Musikindustrie und heute wichtigstem Unternehmen im EuAX. Die Wiedereinführung der Todesstrafe scheiterte im Jahr darauf nur am Veto von Bundespräsident Fischer – die große Koalition aus FDP, Linkspartei und Grünen hatte das Gesetz gegen die Stimmen der Piratenpartei, damals einzige Oppositionspartei im Bundestag, verabschiedet.

Im Jahr 2011 fuhr der frisch fusionierte Major WarnerEMI den höchsten Gewinn ein, den je ein Unterhaltungskonzern erwirtschaftet hatte. Kritiker wiesen schon damals darauf hin, dass dies vor allem auf die völlige Abschaffung von Steuern für die Musikindustrie und die Tatsache zurückzuführen sei, dass die sogenannten “Klingeltöne”, kleine Musikfragmente auf den damals so beliebten “Mobiltelefonen”, für jede Wiedergabe extra bezahlt werden mussten – eine Praxis, die WarnerEMI zwei Jahre später auch für seine MP5-Dateien einführte.

Die Anzeichen für einen Stimmungsumschwung verdichteten sich, wurden aber von den Unternehmen ignoriert: Der erfolgreichste Solo-Künstler jener Tage, Justin Timberlake, veröffentlichte seine Alben ab 2010 ausschließlich als kostenlose Downloads im Internet und als Deluxe-Vinyl-Versionen im “Apple Retro Store”. Heute fast vergessene Musiker wie Madonna, Robbie Williams oder die Band Coldplay folgten seinem Vorbild. Hohn und Spott gab es in allen Medien für den damaligen CEO von WarnerEMI, als der in einem Interview mit dem Blog “FAZ.net” hatte zugeben müssen, die Beatles nicht zu kennen.

Diese öffentliche Häme führte zu einem umfassenden Presseboykott der Musikkonzerne. Renommierte Musikmagazine in Deutschland und der ganzen Welt mussten schließen, Musikjournalisten, die nicht wie die Redakteure des deutschen “Rolling Stone” direkt in Rente – wie man es damals nannte – gehen konnten, gründeten eine Bürgerrechtsbewegung, die schnell verboten wurde. Die Lunte aber war entfacht.

Im Herbst 2012 kündigte Prof. Dieter Gorny, damals Vorsitzender der “Konsum-Agentur für Runde Tonträger, Elektrische Lieder und Lichtspiele” (K.A.R.T.E.L.L.), seine Kanzlerkandidatur an, worüber der damalige Bundeskanzler Guido Westerwelle alles andere als erfreut war. Er setzte neue Kommissionen für Medien- und Kulturindustrie ein und kündigte eine mögliche Zerschlagung der Musikkonzerne an. Diese fusionierten daraufhin in einer “freundlichen feindlichen Übernahme” am Europäischen Kartellamt vorbei zum Konzern SonyUniversalEMI und drohten mit einer Abwanderung in die Mongolei und damit dem Verlust der restlichen 300 Arbeitsplätze.

Aber weder Kanzler Westerwelle noch das deutsche Volk ließen sich erpressen: Zum 1. Januar 2013 musste MTViva den Sendebetrieb einstellen. Die neugegründete Bundesmedienaufsicht unter Führung des parteilosen Stefan Niggemeier hatte dem Fernsehsender, der als sogenannter Musikkanal galt, die Sendelizenz entzogen, da dieser weniger als die gesetzlich geforderten drei Musikvideos täglich gespielt hatte. Die Castingshow “Europa sucht den Superstar” erwies sich für SonyUniversalEMI als überraschender Mega-Flop, der Wert des Unternehmens brach um ein Drittel ein, das “EMI” verschwand aus dem Namen.

Im Berliner Untergrund gründete sich die Deutsche (heute: Europäische) Musicantengilde. Deren heutiger Ehrenvorsitzende Thees Uhlmann erinnert sich: “Es war ja damals schon so, dass die kleinen Bands ihr Geld ausschließlich über Konzerte machen konnten, die ja dann auch noch verboten werden sollten. Erst haben wir unsere CDs ja selbst rausgebracht, aber als die Musikkonzerne dann die Herstellung von CDs außerhalb ihrer Fabriken unter Strafe stellen ließen, mussten wir auf Kassetten ausweichen.” Heute kaum vorstellbar: Das Magnetband galt damals als so gut wie ausgestorben, nur die kleine Manufaktur “Telefunken” produzierte überhaupt noch Abspielgeräte, die entsprechend heiß begehrt waren.

Am 29. November 2013, heute vor 25 Jahren, war es dann soweit: Der Volkszorn entlud sich vor der SonyUniversal-Zentrale am Berliner Reichstagsufer. Das Medienmagazin “Coffee & TV” hatte kurz zuvor aufgedeckt, dass die Musikindustrie jahrelang hochrangige Mitarbeiter gedeckt hatte, die durch “Terrorkopieren” aufgefallen waren. Während der normale Bürger für solche Verbrechen bis zu sechs Jahre ins Gefängnis musste, waren die Manager und Promoter straffrei ausgegangen. Als nun die Mutter des dreijährigen Timmie zu einem halben Jahr Arbeitsdienst verurteilt werden sollte, weil sie ihrem Sohn ein Schlaflied vorgesungen hatte, ohne die dafür fälligen Lizenzgebühren von 1.800 Euro zahlen zu können, zogen die Bürger mit Fackeln und selbst gebastelten Galgen zum “Dieter-Bohlen-Haus” am Spreebogen.

Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder, dann zog der Mob unter den Augen von Feuerwehr und Polizei weiter zur Zentrale der “GEMA” am Kurfürstendamm (der heutigen Toyota-Allee). Wie durch ein Wunder wurde an diesem Tag niemand ernstlich verletzt. Die meisten Führer der Musikindustrie konnten ins nordkoreanische Exil fliehen, den “kleinen Fischen” wurde Straffreiheit zugesichert, wenn sie ein Berufsverbot akzeptierten und einer dreijährigen Therapie zustimmten.

Drei Tage später fand im Berliner Tiergarten ein großes Konzert statt, die erste öffentliche Musikaufführung in Europa seit vier Jahren. Die Kilians, heute Rocklegenden, damals noch junge Männer, spielten vor zwei Millionen Zuhörern, während die Bilder von gestürzten Dieter-Gorny-Statuen um die Welt gingen.

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Gesellschaft

Ohne Telefon geht’s schon

Gestern stand ich in einer vollbesetzten U-Bahn (ich wäre ja auch schön blöd, wenn ich in einer leeren U-Bahn stünde) und war dort gezwungen, in einem Maße am Privatleben eines mir völlig unbekannten Menschen teilzunehmen, dass es mir unangenehm war. Er sei kürzlich umgezogen, erfuhr ich, aber die ganzen Klamotten stünden noch im Wohnzimmer, das auch noch nicht tapeziert sei, aber das komme noch alles. Er wisse noch nicht, was er an Silvester mache, Meike und Kai hätten vorgeschlagen, ein Ferienhaus irgendwo an der Ostsee zu mieten und da “mit alle Mann” hinzufahren, aber er sei sich noch nicht sicher, ob die beiden das wirklich organisieren würden und ob er wirklich mitwolle. Jetzt müsse er aber eh erst mal die Zutaten für ein ordentliches Pilzrisotto kaufen, denn gleich bekäme er noch Besuch.

Der junge Mann erzählte diese Sachen nicht mir, er erzählte sie seinem Mobiltelefon – und damit dem gesamten Zug. Wer derart öffentlich lebt, macht sich natürlich keine Gedanken, wenn der Staat seine Telekommunikationsaktivitäten protokollieren lassen und seinen Computer durchsuchen will, dachte ich. Und dann: Telefonieren ist das neue Rauchen.

Diese steile These liegt weniger darin begründet, dass wohl beides ziemliche Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann, sondern ist historisch belegbar: Zigaretten waren einst ein Statussymbol, eine Requisite von Luxus und Dekadenz. Irgendwann rauchte dann jeder Müllmann und obwohl Rauchen noch lange gesellschaftlich geachtet war, war der Anschein des luxuriösen schnell verschwunden. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die ersten Ärzte und Rechtsanwälte, die C-Netz-Autotelefone in ihren S-Klassen spazieren fuhren. Mir sind Menschen bekannt, die sich auf dem Parkplatz ihres Golfclubs zu ihren Freunden, die solche Autotelefone besaßen, ins Auto setzten und ihren eigenen Anrufbeantworter anriefen und besprachen, nur damit sie mal mit so einem “verrückten neuen Gerät” telefoniert hatten. (Ähnliches ist vielleicht heute wieder bei diesen unsäglichen iPhones zu beobachten.) Irgendwann aber hatte fast jeder so ein “Handy”, gerade von sozial schwächeren Personen heißt es häufiger, dass sie im Besitz gleich mehrerer Mobiltelefone seien. Im vergangenen Jahr war erstmals der Punkt erreicht, wo jeder Mensch in meinem Bekanntenkreis inklusive meiner Großeltern über ein Mobiltelefon verfügte. Inzwischen habe ich tatsächlich wieder Menschen ohne ein solches Gerät kennengelernt und die ersten Freunde haben (noch Telefonlose) Kinder bekommen, so dass die Quote wieder leicht unter hundert Prozent gesunken ist.

Analog zu den Nichtraucherabteilen in Zügen und -zonen in Restaurants gibt es bereits “Ruhewagen” in den ICEs der Deutschen Bahn, in denen das Telefonieren unerwünscht ist, und man hat bereits von “handyfreien” Gaststätten gehört. An vielen Schulen wurden Zigaretten und Mobiltelefone gar gleichzeitig verboten.

Ich erkenne darin eine eindeutige Tendenz, die über kurz oder lang dazu führen wird, dass dem mobilen Telefonieren überall und zu jeder Zeit eines Tages eine ähnliche Opposition gegenüberstehen wird, wie es sie heute bereits bei den militanten Nichtrauchern gibt. Noch wird lediglich getuschelt, wenn in einem Kunstmuseum ein peinlicher polyphoner Klingelton die Stille durchbricht und sich eine Mittfünfzigerin hektisch mit den Worten “Ja, wir sind schon oben. Kommt Ihr nach?” meldet. Aber noch werden auch Raucher noch nicht überall gesellschaftlich ausgegrenzt. Ich bin zuversichtlich, noch den Tag zu erleben, an dem die Staats- und Regierungschefs dieser Welt den “Vertrag zur Ächtung von Mobiltelefonen im öffentlichen Raum” unterzeichnen.

Ich bin übrigens seit dreieinhalb Jahren im Besitz eines Siemens ME45, das früher einem Freund gehörte, und habe die Prepaid-Nummer eines Verwandten übernommen. Mal davon ab, dass die Akku-Leistung langsam nachlässt, bin ich mit dieser Lösung recht zufrieden.