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Literatur

Bruce Banner kauft sich eine neue Hose, geht aber nicht mit mir essen

Es ist Samstagvormittag, eine halbe Autostunde außerhalb Manhattans, an einem der ersten Tage, die sich mehr nach Frühling als nach Winter anfühlen. Bruce Banner stellt sein Auto etwas zu schwungvoll auf dem Parkplatz einer Shopping Mall ab. Der renommierte Nuklearphysiker fliegt morgen zu einer Konferenz nach Kapstadt und muss vorher noch ein paar Bersorgungen machen. Vor allem braucht er eine neue Smoking-Hose: Die letzte sei ihm bei einem bedauerlichen Zwischenfall gerissen, erklärt der groß gewachsene Wissenschaftler mit einem entschuldigenden Schulterzucken.

Banner betritt das Einkaufszentrum durch einen Seiteneingang. Eigentlich möge er solche Orte nicht, sagt er, während er sich ein wenig hilflos umsieht: “Zu viele Menschen, zu viel Hektik!” In der Innenstadt sei es aber noch anstrengender, einzukaufen: “Zu viele Touristen!”

Nach einem skeptischen Blick auf einen Lageplan weiß Banner zumindest, wo er hin muss: Das Geschäft von Brooks Brothers befindet sich im ersten Stock der Mall, etwa 400 Meter nach Süden. “Das sollte zu schaffen sein”, murmelt er und zieht sein Schritttempo etwas an. Wir schaffen es etwa 30 Meter weit, dann erreichen wir die Rolltreppen. Oder genauer: Wir erreichen sie erst mal nicht. Vor uns steht ein junges Pärchen in Multifunktionsjacken, das offenkundig unentschlossen ist, ob es die Rolltreppe nehmen soll oder nicht. Die Frau sagt mit leicht patzigem Unterton, sie wolle jetzt aber “da ho-hoch”, der Mann erweckt den Eindruck, als ob er das Einkaufszentrum am Liebsten fluchtartig verlassen wolle, die möglichen Auswirkungen auf die weitere Wochenendplanung ihn aber noch davon abhalten. Sekunden verstreichen, die sich wie Stunden anfühlen, dann treten die beiden erst einmal zur Seite. Ein Rentnerehepaar drängelt sich an uns vorbei, wir besteigen nach ihnen die Rolltreppe.

“Menschen sind die einzigen Lebewesen, die sich künstliche Umgebungen geschaffen haben, in denen sie sich so unwohl fühlen können wie Tiere, die von ihren Fressfeinden in die Enge getrieben werden”, beginnt Banner zu dozieren, muss dann aber abbrechen, weil die Rentner am Ende der Rolltreppe unvermittelt stehengeblieben sind und wir auf sie auffahren wie Fertigungsgüter in einer Fabrik, deren Produktionsablauf empfindlich gestört wurde. Banner flucht leise und drängelt sich zwischen Rentnerweibchen und -männchen hindurch.

Die nächsten Meter legt der aus Talkshows bekannte Forscher strammen Schrittes zurück, wobei er gelegentlich stehenden oder entgegenkommenden Konsumenten ausweichen muss. Er erledigt dies mit leicht tänzelnden Bewegungen, die bei einem Mann seiner Statur ein wenig fehl am Platze wirken, aber auf eine große Erfahrung schließen lassen. Fast drohe ich, den Anschluss zu verlieren.

Wortlos erreichen wir die Brooks-Brothers-Filiale. Hier ist es bedeutend ruhiger als in den großen Wandelgängen der Mall, das Licht ist gedämpft und auch die Temperatur liegt ein paar grad unter der im Einkaufszentrum. Außer uns ist nur ein einziger weiterer Kunde da, der aber die Aufmerksamkeit beider Verkäufer (ein Gentleman mit grauen, zurück gegelten Locken und eine hübsche Frau Anfang dreißig im Kostüm) zu binden scheint: “Auf dem Weg hierhin hab ich ‘nen Klassenkameraden getroffen”, berichtet der Mann, der bestimmt schon achtzig ist, im Zungenschlag des nördlichen New Jersey. “Also: ehemaligen Klassenkameraden. William Fairbanks. Draußen auf dem Parkplatz. Bestimmt vierzig Jahre nicht gesehen, aber gleich wiedererkannt.” Beide Verkäufer nicken höflich und ich merke, wie Bruce Banner neben mir laut durchschnauft.

“Entschuldigung”, sagt er und hebt zaghaft den rechten Zeigefinger. “Ich brauche eine Smoking-Hose!” Die Verkäuferin blickt ihn an, macht eine entschuldigende Geste gegenüber dem alten Mann und kommt zu uns herüber geschwebt. “Verzeihung”, sagt sie, wiegt ihren Kopf leicht zur Seite und blickt uns mit einem erwartungsfrohen Lächeln an. “Eine Smoking-Hose”, wiederholt Banner, eine Spur zu barsch für die hier vorherrschende Atmosphäre. Ob er wisse, aus welcher Kollektion diese seien soll, fragt ihn die junge Frau ohne ein Anzeichen von Kränkung und führt Dr. Banner mit einer fließenden Bewegung in den hinteren Bereich des Ladenlokals. Ich bleibe vorne zurück, studiere die Inneneinrichtung und lausche noch ein wenig den Ausführungen des alten Mannes.

Nach zehn Minuten kommt Banner zurück, die neue Hose bereits bezahlt und in einer papierenen Tasche verstaut. “Eine Bundgröße mehr als beim letzten Mal”, brummelt er etwas ungehalten. “Schon wieder zugenommen!” Wir verlassen das Geschäft und sind kurz von der Atmosphäre im Inneren der Shopping Mall überwältigt: Der Strom der Menschen scheint noch dichter geworden zu sein, das Gekreische der Kinder (und vereinzelter Ehefrauen) noch eine Spur schriller. Dem frisch neu eingekleideten Wissenschaftler entfährt ein leises Schnauben. “Lassen Sie uns zusehen, dass wir hier schnell rauskommen”, raunzt er mir zu, dann läuft ein kleines Mädchen gegen sein Bein und fällt auf ihren Hintern. Sie blickt sich kurz um, dann fängt sie an zu weinen. Banner seufzt, als eine leicht hysterisch wirkende Blondine, Sorte Trailer-Park-Schönheit, auf uns zustürzt.

“Was haben Sie meiner Tochter getan”, herrscht sie Banner in einer raspelnden Tonlage an. “Nichts”, murmelt Banner und lässt die Schultern hängen. “Wenn’s nichts wäre, würde sie ja wohl kaum heulen”, argumentiert die Frau und bückt sich, um ihre Tochter auf den Arm zu nehmen. “Was hat der böse Onkel gemacht, Janatha-Fay”, fragt sie das vielleicht dreijährige Kind, in dessen Ohrläppchen ich kleine Erdbeerohrstecker entdecke.

Das Wortgefecht geht noch ein wenig weiter, wobei Dr. Banner seine zunächst etwas defensive Haltung schnell aufgibt und die Frau schließlich anschreit, sie solle sich “mit ihrem verdammten Mistblag” gefälligst “verpissen”. Das entspannt die Situation nicht wirklich, sorgt aber dafür, dass die ohnehin schon sehr langsam laufenden Kunden um uns herum nun schlicht stehen bleiben. Wir müssen uns durch eine Traube von Menschen kämpfen, von denen einige Banner kopfschüttelnd hinterherschauen.

“Kommen Sie hier lang”, sagt Banner zu mir und öffnet eine Tür, auf der “Notausgang” steht. “Ich muss dringend eine rauchen!” Während drinnen eine Alarmsirene losheult, stehen wir auf einem Gittergang und sehen uns um. Der Weg führt an der Außenwand des Einkaufszentrums entlang, in 50 Metern führt eine Metalltreppe nach unten. Am Horizont zeichnet sich die Skyline Manhattans ab. Dr. Banner klopft seine Jackentaschen ab, dann entfährt ihm ein Fluch: “Scheiße! Die Kippen sind im Auto!” Er macht Geräusche wie ein Vulkan kurz vor der Eruption, dann stapft er langsam in Richtung der Treppe.

Wir erreichen Banners Auto im Laufschritt, wobei wir auf dem Weg dorthin fast noch von einem SUV überfahren worden wären — ein Zwischenfall, den der renommierte Forscher mit Worten und Gesten kommentierte, die an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden sollen. Der Schweiß steht uns beiden auf der Stirn, auf Banners Kopf sind aber auch die Adern deutlich hervorgetreten. Er öffnet die Beifahrertür, schleudert die Tasche mit der Smoking-Hose (250 Dollar) auf die Rückbank und holt eine Packung Zigaretten aus dem Handschuhfach. Dann schlägt er die Tür wieder zu.

Banner steckt sich eine Zigarette (“Marlboro Red”) in den Mundwinkel und hält mir die offene Schachtel hin, doch ich lehne dankend ab. Er wühlt in seinen Hosentaschen und holt ein Sturmfeuerzeug hervor, das er mit einer lässigen Bewegung aufklappen lässt. Er betätigt das Reibrad mit dem rechten Daumen, aber nichts passiert. “Scheißdinger”, brüllt Banner, “immer ist der verfickte Tank leer!” Er schleudert das Feuerzeug mit einer ausladenden Bewegung von oberhalb seines Kopfes auf den Asphalt und tritt es mit dem Fuß weg. Das Feuerzeug fliegt ein paar Meter durch die Luft und zersplittert die Scheibe eines parkenden Mercedes, dessen Alarmanlage los kreischt.

“Zahlt die Versicherung”, bellt Banner, dessen Gesichtsfarbe auf mich inzwischen einen ungesunden Eindruck macht. Womöglich ist die Forscherlegende unterzuckert. Doch bevor ich ihm anbieten kann, eine Kleinigkeit zum Mittag zu essen, hat Banner schon wieder die Beifahrertür auf- und in diesem Fall auch: aus den Angeln gerissen. Er schwingt sich auf den Beifahrersitz und fuchtelt an der Mittelkonsole herum. Vorsichtig nähere ich mich seinem Auto und beobachte, wie er den Zigarettenanzünder fast aus der Innenausstattung herausreißt. Doch sein Griff scheint nicht fest genug: Für einen Moment wirkt es, als wolle Banner mit dem Zigarettenanzünder jonglieren, dann fällt ihm das Teil mit der glühenden Spirale voran auf den Schoß. Ich höre einen lauten Schrei — und das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ein paar Autos durch die Luft fliegen.

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Literatur

Eine spezielle Begabung

Schon als Alexander ganz klein war, wussten seine Eltern, dass er etwas ganz Besonderes war. Das denken die allermeisten Eltern von ihrem Nachwuchs, aber Alexanders Eltern wussten es. Manchmal vernahmen sie einen ganz leichten Lichtschein, wenn sie nachts an seinem Kinderbett vorbeigingen, doch wenn sie nachsehen wollten, ob die Rollläden vielleicht einen Spalt offen standen, verschwand das Leuchten. Dann wiederum gab es Tage, an denen sie meinten, leise eine Glocke klingen zu hören, wenn Alexander in ihrer Nähe war.

Alexander war ein hübsches Kind mit sanften Zügen, meerblauen Augen und blonden Locken und als seine Großmutter noch lebte, nannte sie ihn immer ihren “Engel”. Doch als er in die Pubertät kam, änderte sich sein Leben: Er begann, Punkrock zu hören, Bier zu trinken und nachts lange weg zu bleiben. Seine Eltern machten sich Sorgen, verhängten Hausverbote, deren Nicht-Einhaltung sie allerdings nicht ahndeten, und erkundigten sich im Bekanntenkreis, wie es um das Verhalten der Gleichaltrigen bestellt war. Aber tief in ihrem Inneren wussten sie, dass Alexander für höhere Aufgaben bestimmt war und sie ihn ziehen lassen mussten.

So folgte Alexander dem Ruf der Großstadt und trieb sich in zwielichtigen Läden herum, in denen britische Punk- und amerikanische Hardcore-Platten gespielt wurden, in denen Männer und Frauen und Männer und Frauen ungeschützten Sex auf den dreckigen Toiletten hatten und in deren Kellern oder Nebenräumen zu besonderen Feiertagen Crack vom Blech geraucht wurde. Alexander liebte die Musik, aber er hatte kaum Sex und nahm keine Drogen. Es reichte ihm, immer ein frisches Bier in der Hand zu halten und die Menschen zu beobachten, die sich um ihn herum gehen ließen. Er wohnte in besetzten Häusern und arbeitete als Aushilfe in Getränkelagern, Druckereien und in den Werkstätten der Städtischen Bühnen. Oft verlor er seine Anstellungen schnell wieder, weil er den Arbeitsplatz während der Dienstzeit verlassen hatte. Was damit zusammenhing, dass Alexander etwas ganz Besonderes war.

Die Götter, seit jeher darauf bedacht, die Menschen mit unterschiedlichen Fertigkeiten zu segnen, hatten Alexander eine etwas spezielle Begabung, ja: Aufgabe, mitgegeben: Wann immer in einer öffentlichen Gaststätte im Umkreis von 20 Kilometern das Wort “Hoden” fiel, klingelte ein Glöckchen in Alexanders Kopf und er eilte auf direktem Wege zu diesem Ort.

Auch die Götter waren sich nicht ganz sicher, warum genau sie Alexander mit dieser Superkraft versehen hatten, die bei Licht betrachtet absolut niemandem etwas nützte. Hinter vorgehaltener Hand mutmaßten sie manchmal, die Geschichte habe irgendetwas mit Rache, einer verlorenen Wette oder einem schrecklichen Missverständnis zu tun. Aber bei den vielen, vielen Menschen, die die Götter in all den Zeitaltern erschaffen hatten, ging eben mitunter etwas schief, und die meiste Zeit waren die Götter glücklich und zufrieden, wenn sie nicht schon wieder einen Diktator, Terroristen oder Fernsehmoderator kreiert hatten. Immerhin hatten sie bei Alexander wie auch bei vielen Künstlern darauf geachtet, den Überschuss an Talent durch eine Unterversorgung mit Sozialkompetenz auszugleichen.

Und so lief Alexander seit vielen Jahren in einer abgewetzten Lederjacke durch die Gegend und tauchte in Kneipen auf, in denen kurz zuvor das Wort “Hoden” gefallen war — was wesentlich öfter vorkam, als man annehmen würde. Wenigstens klingelte das Glöckchen nicht bei Synonymen, dachte Alexander in seinen optimistischeren Momenten und stellte sich vor, wie er sonst von Bordell zu Bordell, von Swinger-Club zu Swinger-Club rennen müsste.

Für den Fall, dass jemand Alexanders besondere Begabung durchschauen würde, hatten die Götter vorgesorgt: Derjenige würde dann ebenfalls ein Glöckchen hören, wenn andere, unverfänglichere Worte gesprochen würden. “Sekt”, zum Beispiel.

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Leben

Alles was Du siehst gehört Dir

Wenn es Weltmeisterschaften im Multitasking gäbe — ich dürfte nicht teilnehmen. Ich würde mich noch nicht einmal für die Bezirksliga qualifizieren. Ich bin so hoffnungslos schlecht im gleichzeitigen Erledigen von mehreren Aufgaben, dass ich noch nicht einmal während des Essens trinken kann.

Jeden Abend finde ich in meinem Browser Tabs, die ich irgendwann gegen Mittag geöffnet und seitdem nicht mehr zu Gesicht bekommen habe. Begonnene E-Mails, denen nur noch eine Grußformel und ein Klick auf den “Absenden”-Button fehlt. Textanfänge in irgendwelchen Editoren, die einmal irgendwas hätten werden können: Journalismus, Literatur, Lyrics. Aber die Idee, der diese Anfänge entwachsen sind, ist längst verglimmt und die Zeilen, die da stehen, irritieren mich selbst am meisten.

Wenn man eine Wohnung mit mehreren Zimmern hat, wird jedes irgendwann zum Tab im Browser des Lebens: In der Küche steht das Wasser in der Spüle und wird langsam kalt, weil ich eben ins Bad rübergegangen war, um die Waschmaschine auszustellen, und dabei gesehen hatte, wie dreckig Waschbecken und Spiegel eigentlich schon wieder sind. Währenddessen steht die nasse Wäsche im Schlafzimmer und wartet darauf, dass sie jemand aufhängt. Dieser Jemand sollte ich sein, aber ich bin gerade im Wohnzimmer, um die E-Mails zu checken. Da mich während meiner Abwesenheit vom Rechner fünf Freunde in drei verschiedenen Chats angeschrieben haben, bleibe ich erst mal am Computer, derweil mein frisch aufgewärmtes Mittagessen in der Mikrowelle wieder erkaltet. Als ich kurz ins Bad gehe, überraschen mich dort ein offenes Fenster und ein halb geputztes Waschbecken.

Neben meinem Bett, in das ich mich regelmäßig viel zu spät zurückziehe, weil ich mich wieder irgendwo aufgehalten habe, liegen drei Bücher: Ein Roman, der mir aber viel mehr Aufmerksamkeit abverlangt, als ich zu so später Stunde zu leisten imstande bin; eine bereits mehrfach gelesene Textsammlung, aus der man kurz vor dem Wegdämmern noch mal eben ein paar Seiten weglesen kann; ein Klassiker, von dem ich niemals nie und unter gar keinen Umständen mehr als die ersten drei Sätze lesen werde. Aber er liegt da ganz gut.

Wenn ich mich mit Freunden treffe, fallen sie zumeist im Rudel ein. Dann sitzen wir in Kneipen, in denen die Musik lauter ist als die Summe unserer Gesprächsfetzen, und führen Gespräche. Mehrere. Gleichzeitig. Manchmal kommen Menschen vorbei, einige kenne ich selbst. Man plaudert kurz, dann müssen diese Menschen zurück in ihre eigenen Gesprächsarrangements. Oder dringend aufs Klo. Die einzigen, die den Überblick behalten, sind die Kellner. Sie haben kleine elektrische Geräte, mit denen sie die Bestellungen aufnehmen können, und die immer wissen, was wohin muss.

Im Heimaturlaub sitze ich meist in meinem alten Kinderzimmer und frage mich, wen ich besuchen könnte. Dann gehe ich kurz in die Küche, wo ich nichts zu essen finde, weswegen ich in den Keller gehe, um im Vorratsraum nachzusehen, wobei ich an unserem alten Probenkeller vorbeikomme und meine E-Gitarre sehe. Während ich sie in die Hand neh…

*pling*

Verzeihung, das ist mein Mittagessen. Glaub ich.

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Literatur

What’s Happening Brother

Ich bin immer noch auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Zwar LIEBE ich mein Apartment am 243 Riverside Drive, aber seit sie neulich zwei Blocks entfernt diesen Geschäftsmann abgestochen haben, möchte ich hier so schnell wie möglich weg. Ich finde, ein bisschen change tut mal ganz gut und so suche ich jetzt mal an der Upper East Side.

Es ist für Deutsche (außerhalb Münchens) vermutlich unvorstellbar, wie schwer es ist, in Manhattan ein geeignetes Apartment zu finden. Zwar ist Dank etlicher foreclosures inzwischen wieder einiges auf dem Markt (anders als vor drei Jahren, als ich hierher kam), aber dafür stehen jetzt auch die Interessenten Schlange. Und wenn Wolfgang Tillmanns, die Tochter von Bobby de Niro oder einer der Petshop Boys sich für ein Apartment interessiert, steht man als kleine Journalistin natürlich blöd da.

Mein guter Freund Bernárd schickte mir kürzlich einen Brief aus Belize. Auf handgeschöpftem Büttenpapier, das ganz leicht, aber auf keinen Fall aufdringlich nach Eau de Cologne duftete, fragte er mich, wie ich eigentlich mit dieser Doppelbelastung als Gesellschaftskolumnistin UND Bestsellerautorin klarkomme.

Ihr müsst wissen: Bernárd ist der Sproß einer französischen Winzerdynastie und hat seine Jugend überwiegend in thailändischen Opiumhöhlen verbracht. Für ihn ist es schon eine große Anstrengung, einmal im Jahr nach Paris zu fliegen und mit seinen Vermögensverwaltern und Geschwistern die Bücher durchzusehen. Die meiste Zeit des Jahres verbringt er mit seinem jugendlichen Liebhaber in der Karibik und genießt dort den Schnee. If you know what I mean.

Zunächst hatte ich überlegt, Bernárd als Antwort auf seine ganz entzückende Frage eine signierte Ausgabe meines neuesten Buches “Die Muschi in der Einkaufstasche” zukommen zu lassen, aber dann fiel mir wieder ein, dass er kein Deutsch versteht. Vielleicht sollte ich mein nächstes Buch (es handelt von einer emanzipierten jungen Frau, die einem älteren Mann den Kopf verdreht und ihn so um Frau, Arbeit und Leben bringt — eine witzige Lektüre für Zwischendurch) direkt auf Englisch schreiben, dann könnte ich vielleicht auch mehr Titel “abverkaufen”, wie sich mein Literaturagent immer ausdrückt. Mein Literaturagent lebt allerdings in Köln, da kann man keine schöne Sprache erwarten.

Nächste Woche ist ja der Jahrestag des Mauerfalls. Ich kann mich noch gut daran erinnern: Ich stand kurz vor meinem Abitur und am nächsten Tag kam unser Geschichtslehrer, so ein alter Nazi, in die Klasse und warf mit großer Geste unser Lehrbuch in die Tonne und sagte, das müsse jetzt alles umgeschrieben werden. Zwei Jahre später tanzte ich jedes Wochenende im Tresor in Berlin und schrieb meine ersten Texte fürs “Zitty”. Das waren Zeiten, als Berlin noch INTERESSANT war …

Vorgestern habe ich mit einem deutschen Radiosender telefoniert, der mich zum ersten Jahrestag von Barack Obamas Wahl zum US-Präsidenten interviewt hat. Das Interview war schlecht vorbereitet und der Moderator sprach immer von “BÄRÄCK OBÄMA”, was mich ganz wahnsinnig gemacht hat, aber anschließend spielten sie “What’s Happening Brother” von Marvin Gaye und da dachte ich, diesen Song muss ich jetzt sofort auch haben. Ich hab das Album noch auf Vinyl, aber das liegt irgendwo in einem Umzugskarton im Keller meines Elternhauses in Unna, und so habe ich mir das Album noch mal bei iTunes gekauft. Früher hätte ich erst in einen record store gehen müssen, wo es entweder gar keine Beratung gibt, oder die langhaarigen, ungewaschenen Verkäufer nur die aktuellen Sachen kennen und VIELLEICHT noch Sonic Youth und the Velvet Underground. Heute geht das alles ganz schnell, direkt auf mein iPhone.

Ich habe mir übrigens schon wieder ein neues iPhone kaufen müssen. Das letzte habe ich ausnahmsweise NICHT im Taxi vergessen (Ihr erinnert Euch), Nein, es ist mir beim Aussteigen aus dem Taxi aus meiner Manteltasche und in den Rinnstein gefallen. “Oh Gosh, not AGAIN”, hab ich gedacht, aber da war es bereits ertrunken. Taxis und iPhones passen anscheinend nicht zusammen, zumindest bei mir.

Nun ja, ich muss Schluss machen, gleich kommt ein Kamerateam von “Titel, Thesen, Temperamente” vorbei und möchte mich beim Joggen durch den Central Park filmen. Die planen ein großes Porträt über mich, das freut mich natürlich. Wo man ja sonst von den deutschen Medien doch eher ignoriert wird. Nach den Dreharbeiten bin ich dann mit einem Freund von Christian Kracht zum lunch verabredet. Ich muss ihn mal fragen, was Christian eigentlich im Moment macht.

Macht’s gut, meine Lieben, wir sprechen uns nächste Woche wieder!

Bussi!

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Gesellschaft

Heidenspaß

Kürbis (Foto: Lukas Heinser)

Beim Blick auf den Kalender wird es so manchem siedend heiß eingefallen sein: Heute ist der 31. Oktober, was bedeutet, dass heute wieder ein Feiertag begangen wird, der vor wenigen Jahren hierzulande noch so gut wie unbekannt war. Die Häuser werden geschmückt, die Kinder verkleiden sich und es herrscht ein buntes Treiben auf den Straßen: es ist Reformationstag.

Wie im ganzen Land, so haben auch die Mütter in Bochum ihren Kleinen spätmittelalterliche Kostüme genäht, damit diese heute Abend rülpsend und furzend (in Erinnerung an das berühmte Luther-Zitat) durch die Nachbarschaft ziehen können. Wie auch schon in den vergangenen Jahren werden sie nur bei Katholiken klingeln und diese mit dem Spruch “Tresen oder Thesen” zur Herausgabe harter Alkoholika auffordern. Weigern sich die Papst-Jünger, nageln ihnen die jungen Reformatoren aufwändig gestaltete Zettel an die Haus- oder Wohnungstür — “Bildersturm” nennen sie diese Aktion.

Calvin, acht Jahre alt und ganz stolz auf die Tonsur, die ihm sein Vater extra für den heutigen Abend geschoren hat, berichtet, dass er im vergangenen Jahr ganze 95 Türen beschlagen hat. Viele Katholiken waren auf den noch jungen Brauch schlicht nicht vorbereitet. Calvin hofft, dass sich das in diesem Jahr geändert hat, denn wegen einer Erkältung hat er in diesem Jahr nur 30 Thesen-Papiere vorbereiten können — außerdem ist ein Nachbar immer noch wütend, weil Calvin und seine Freunde ihm im vergangenen Jahr “die Tür kaputt gemacht” hätten.

Justus Jonas, Soziologe am Bochumer Lehr-Ort für erwähnenswerte Daten, erklärt das noch junge Brauchtum mit der Geschichte des Kirchengelehrten Martin Luther, der vor fast fünfhundert Jahren gegen die katholische Kirche rebelliert haben soll. Andere Quellen sprechen allerdings von außerirdischen Messerstechern, die am 31. Oktober 1978 in Haddonfield im US-Bundesstaat Illinois ein brutales Massaker an heimischen Kürbissen verübt haben sollen. Jonas hat davon gehört, hält das Szenario mit dem wütenden ostdeutschen Pfarrer aber für realistischer.

Nicht alle Deutschen sind begeistert vom Trend “Reformationstag”. Viele Katholiken finden es unverantwortlich, jungen Kindern Alkohol auszuhändigen. Der Nürnberger Philosoph Hans Sachs bezeichnete die kostümierten Jugendlichen als “lutherische Narren” und rief die Bevölkerung zum “Narrenschneiden” auf. Josef Kaczmierczik, Lokführer aus Wattenscheid-Höntrop hat bereits angekündigt, sein Reihenendhaus gegen die jugendlichen Angreifer zu schützen: “Dat wird ein’ feste Burg”, sagte er unserem Reporter.

[Nach einer Idee von Sebastian B. & Thomas K.]

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Digital

Father And Son (ca. 2020)

– “Papa, Papa!”
– “Ja, mein Sohn?”
– “Ich hab gerade in der Encyclopedia Blogia gescrollt …”
– “Oh.”
– “Was ist dieses ‘Spiegel Online’, von dem 2008 so viele Leute geschrieben haben?”
– “Das war damals ein großes Online-Magazin. Erst gab es über viele Jahrzehnte ein angesehenes Printmagazin …”
– “Tote Bäume?”
– “Genau. Das hatte lange einen guten Ruf. Dann hatte es irgendwann einen unfassbar schlechten Ruf – aber nicht beim einfachen Volk. Das hat sowohl die Print- als auch die Online-Version geliebt. ‘Spiegel Online’ war das meistgelesene Online-Medium zu dieser Zeit.”
– “So wie ‘Coffee And TV’ heute?”
– (lacht) “Ja, so ungefähr. Die Leute haben alles geglaubt, was bei ‘Spiegel Online’ stand. Nur die Medienkritiker …”
– “Leute wie Du, Onkel Niggi und Onkel Knüwi?”
– “Solche Leute, genau. Wir haben ‘Spiegel Online’ kritisiert für schlechte Recherche, einseitige Berichterstattung und deren Klick…”
– “Die haben noch Klickhurerei gemacht?!”
– “Wo hast Du denn das Wort schon wieder gelernt?”
– (lacht)
– (grummelt) “Jedenfalls: ja, haben sie.”
– “Oh Mann, wie peinlich!”
– “Du musst wissen: damals galten page impressions noch als heiliger Gral im Internet.”
– (lacht)
– “Na ja, das waren jedenfalls ‘Spiegel’ und ‘Spiegel Online’. 2008 müsste das Jahr gewesen sein, in dem sie gefragt haben, ob das Internet doof macht, und über Twitterer und Blogger gelästert haben.”
– “Aber warum das denn?”
– “Zum einen, weil sie Angst davor hatten – zu Recht, wie wir heute wissen – zum anderen, weil sie sichergehen konnten, dass fast alle Blogger und Twitterer darüber schreiben würden. Und wenn alle über den ‘Spiegel’ schreiben, sieht es noch ein bisschen länger so aus, als sei der ‘Spiegel’ relevant.”
– “Hmmmm. Aber eins versteh ich nicht …”
– “Ja?”
– “Warum haben denn immer alle Blogger und Twitterer darüber geschrieben? Konnte denen das nicht egal sein?”
– “Ja sicher, eigentlich schon.”
– “Oma hat mir mal erzählt, wie sie vor vielen Jahren mit anderen Leuten ein Atu … Autom …”
– “Atomkraftwerk?”
– “Ich glaube ja. Wie sie sowas verhindert haben. Denen war immer egal, was die anderen gedacht, gesagt und in der Zeitung geschrieben haben.”
– “Tja. Die waren damals viel an der frischen Luft um zu demonstrieren, Sauerstoff beruhigt. Wir saßen schlecht gelaunt in unseren Büros und haben uns dann halt aufgeregt. Ab 2009 hat aber keiner – oder kaum noch einer – auf den ‘Spiegel’ reagiert, so dass sie 2010 aufgeben mussten.”
– “2010? Noch vor Zoomer?!”
– “Ja, das ging damals ganz schnell.”
– “Und was ist aus den ganzen Leuten geworden, die da gearbeitet haben?”
– “Das war das lustigste: Als ‘Spiegel Online’ zugemacht hat, kam raus, dass da nur drei verwirrte alte Männer gearbeitet haben: ein Taxifahrer, ein Drogenabhängiger und ein Mann, dem ein wahnsinniger Wissenschaftler ein Brötchen anstelle seines Gehirns eingepflanzt hatte. Alles andere kam aus Computern.”
– “Gruselig.”
– “Ja. Aber nur halb so gruselig wie deren Texte.”
– “Papa?”
– “Ja?”
– “Können wir noch ein bisschen Hologramme gucken?”
– “Was willste denn sehen?”
– “Den Film mit dem Zeitungsmann, der stirbt. Mit dem Schlitten. Das ist sooooo lustig!”

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Kultur

Back Office

Der Klassenraum einer berufsbildenden Schule irgendwo in Berlin. An einem Dutzend Tische sitzen angehende Bäckereifachverkäuferinnen. Vorne stehen der Lehrer und Herr Brödow von der IHK.

Lehrer: Guten Morgen, Mädels! Ihr wisst, heute wird’s ernst! Ich bin aber ganz zuversichtlich, dass Ihr die Prüfung schaffen werdet, Ihr seid ja alle gut vorbereitet. Lasst Euch nicht verrückt machen!
Herr Brödow: Ja, natürlich auch von meiner Seite einen guten Morgen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, ich bin ja nicht hier, um Sie durchfallen zu lassen! (lacht)
Lehrer: Um es möglichst fair zu gestalten, haben wir die Reihenfolge, in der Ihr geprüft werdet, vorab ausgelost. Es geht los mit: Nadine!

Nadine schlägt die Hände vors Gesicht, dann steht sie auf und geht nach vorne.

Herr Brödow: Nadine, machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Noten sind ja allesamt sehr gut, sehe ich. Wir machen ein kleines Rollenspiel: Ich bin Kunde bei einem mittelgroßen Sortiment-Bäcker, Sie bedienen mich. Ich komme dann mal rein.

Herr Brödow geht umständlich zur Tür, öffnet diese aber nicht, und geht wieder auf Nadine zu.

Nadine: Guten Morgen!

Der Lehrer zuckt zusammen, ein Raunen geht durch die Klasse. Herr Brödow hält inne.

Herr Brödow: Nadine, Sie sind aufgeregt, das macht gar nichts. Atmen Sie einmal tief durch, wir beginnen dann noch mal!

Herr Brödow geht wieder Richtung Tür, wartet, bis Nadine sich etwas lockerer hingestellt hat, und geht dann wieder zu ihr.

Herr Brödow: Guten Morgen!
Nadine: Guten Morgen, was …

Der Lehrer schlägt die Hände vors Gesicht, die Mitschülerinnen rutschen ein Stück unter ihre Pulte.

Herr Brödow: Wissen Sie, wir fangen einfach noch ein drittes Mal an. Aller guten Dinge sind ja, haha, drei. Bleiben Sie ganz ruhig und konzentrieren Sie sich. (Er ballt die Faust, eine alberne Motivierungsgeste.) Sie wollen die Bäckereifachverkäuferinnen von Berlin repräsentieren! Wir fangen einfach direkt an: Guten Morgen!

Nadine guckt unsicher zu ihren Mitschülerinnen, die abbremsende Gesten machen. Es entsteht eine peinliche Stille.

Nadine: (brummt) Morgen!

Der Lehrer atmet erleichtert durch, die Mitschülerinnen strahlen.

Herr Brödow: Ich hätte gern einen Buttercroissant, drei Schrippen und … Was ist das da? (Deutet auf imaginäre Backwaren.)
Nadine: Das sind Rosinenschnecken!

Herr Brödow fällt aus seiner Kundenrolle und wird wütend.

Herr Brödow: Also wirklich, ich gebe Ihnen hier die dritte Chance und Sie machen immer noch alles falsch. Sie da (er deutet auf Mandy): Wie lautet die korrekte Antwort?
Mandy: (steht auf) “Steht doch dran!”
Herr Brödow: Sehr richtig! Sie haben schon fast bestanden! (lächelt unangenehm; wendet sich wieder Nadine zu) Also nochmal: Was ist das da?
Nadine: (brummt) Steht doch dran!
Herr Brödow: Dann nehme ich davon zwei!
Nadine: Sonst noch was?

Der Lehrer schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, die Mitschülerinnen seufzen.

Herr Brödow: (wütend) Nadine, wo wollen Sie denn arbeiten? Im Puff oder in der Bäckerei? Sie müssen sich schon konzentrieren! Mit so einer Lari-Fari-Einstellung kommen Sie nicht weit!
Nadine: (brüllt) Jetzt reicht’s mir aber, Sie dummes Arschloch! Sie gucken doch eh nur die ganze Zeit der Mandy auf die Titten! Ich kann das hier sehr wohl, ja? Ich hab nur keinen Bock, für so eine armselige Witzfigur hier so eine Riesenschau abzuziehen wie im Kasperletheater! Ich hab überhaupt keinen Bock mehr auf die ganze Scheiße hier!

Nadine stampft wütend zu ihrem Platz, wo sie sich mit verschränkten Armen niederlässt. Die Mitschülerinnen erheben sich und applaudieren, der Lehrer strahlt.

Herr Brödow: Glückwunsch, Sie haben mit Auszeichnung bestanden!

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Musik Gesellschaft

Die Vergangenheit der Musikindustrie

Die wenigsten Jugendlichen, die heute Musik hören (und das sind laut neuesten Umfragen 98% der Europäer), werden wissen, welches Jubiläum dieser Tage begangen wird: Vor 25 Jahren schloss SonyUniversal, die letzte Plattenfirma der Welt, ihre Pforten. Ein Rückblick.

Es war ein wichtiger Tag für Deutschland, als der Bundestag der Musikindustrie im Jahr 2009 das Recht einräumte, sogenannte “Terrorkopierer” (die Älteren werden sich vielleicht auch noch an den archaischen Begriff “Raubkopierer” erinnern) selbst zu verfolgen und bestrafen. Als unmittelbare Folge mussten neue Gefängnisse gebaut werden, da die alten staatlichen Zuchthäuser dem Ansturm neuer Insassen nicht Herr werden konnten. Dies war die Geburtsstunde der Prisonia AG, dem Konsortium von Bau- und Musikindustrie und heute wichtigstem Unternehmen im EuAX. Die Wiedereinführung der Todesstrafe scheiterte im Jahr darauf nur am Veto von Bundespräsident Fischer – die große Koalition aus FDP, Linkspartei und Grünen hatte das Gesetz gegen die Stimmen der Piratenpartei, damals einzige Oppositionspartei im Bundestag, verabschiedet.

Im Jahr 2011 fuhr der frisch fusionierte Major WarnerEMI den höchsten Gewinn ein, den je ein Unterhaltungskonzern erwirtschaftet hatte. Kritiker wiesen schon damals darauf hin, dass dies vor allem auf die völlige Abschaffung von Steuern für die Musikindustrie und die Tatsache zurückzuführen sei, dass die sogenannten “Klingeltöne”, kleine Musikfragmente auf den damals so beliebten “Mobiltelefonen”, für jede Wiedergabe extra bezahlt werden mussten – eine Praxis, die WarnerEMI zwei Jahre später auch für seine MP5-Dateien einführte.

Die Anzeichen für einen Stimmungsumschwung verdichteten sich, wurden aber von den Unternehmen ignoriert: Der erfolgreichste Solo-Künstler jener Tage, Justin Timberlake, veröffentlichte seine Alben ab 2010 ausschließlich als kostenlose Downloads im Internet und als Deluxe-Vinyl-Versionen im “Apple Retro Store”. Heute fast vergessene Musiker wie Madonna, Robbie Williams oder die Band Coldplay folgten seinem Vorbild. Hohn und Spott gab es in allen Medien für den damaligen CEO von WarnerEMI, als der in einem Interview mit dem Blog “FAZ.net” hatte zugeben müssen, die Beatles nicht zu kennen.

Diese öffentliche Häme führte zu einem umfassenden Presseboykott der Musikkonzerne. Renommierte Musikmagazine in Deutschland und der ganzen Welt mussten schließen, Musikjournalisten, die nicht wie die Redakteure des deutschen “Rolling Stone” direkt in Rente – wie man es damals nannte – gehen konnten, gründeten eine Bürgerrechtsbewegung, die schnell verboten wurde. Die Lunte aber war entfacht.

Im Herbst 2012 kündigte Prof. Dieter Gorny, damals Vorsitzender der “Konsum-Agentur für Runde Tonträger, Elektrische Lieder und Lichtspiele” (K.A.R.T.E.L.L.), seine Kanzlerkandidatur an, worüber der damalige Bundeskanzler Guido Westerwelle alles andere als erfreut war. Er setzte neue Kommissionen für Medien- und Kulturindustrie ein und kündigte eine mögliche Zerschlagung der Musikkonzerne an. Diese fusionierten daraufhin in einer “freundlichen feindlichen Übernahme” am Europäischen Kartellamt vorbei zum Konzern SonyUniversalEMI und drohten mit einer Abwanderung in die Mongolei und damit dem Verlust der restlichen 300 Arbeitsplätze.

Aber weder Kanzler Westerwelle noch das deutsche Volk ließen sich erpressen: Zum 1. Januar 2013 musste MTViva den Sendebetrieb einstellen. Die neugegründete Bundesmedienaufsicht unter Führung des parteilosen Stefan Niggemeier hatte dem Fernsehsender, der als sogenannter Musikkanal galt, die Sendelizenz entzogen, da dieser weniger als die gesetzlich geforderten drei Musikvideos täglich gespielt hatte. Die Castingshow “Europa sucht den Superstar” erwies sich für SonyUniversalEMI als überraschender Mega-Flop, der Wert des Unternehmens brach um ein Drittel ein, das “EMI” verschwand aus dem Namen.

Im Berliner Untergrund gründete sich die Deutsche (heute: Europäische) Musicantengilde. Deren heutiger Ehrenvorsitzende Thees Uhlmann erinnert sich: “Es war ja damals schon so, dass die kleinen Bands ihr Geld ausschließlich über Konzerte machen konnten, die ja dann auch noch verboten werden sollten. Erst haben wir unsere CDs ja selbst rausgebracht, aber als die Musikkonzerne dann die Herstellung von CDs außerhalb ihrer Fabriken unter Strafe stellen ließen, mussten wir auf Kassetten ausweichen.” Heute kaum vorstellbar: Das Magnetband galt damals als so gut wie ausgestorben, nur die kleine Manufaktur “Telefunken” produzierte überhaupt noch Abspielgeräte, die entsprechend heiß begehrt waren.

Am 29. November 2013, heute vor 25 Jahren, war es dann soweit: Der Volkszorn entlud sich vor der SonyUniversal-Zentrale am Berliner Reichstagsufer. Das Medienmagazin “Coffee & TV” hatte kurz zuvor aufgedeckt, dass die Musikindustrie jahrelang hochrangige Mitarbeiter gedeckt hatte, die durch “Terrorkopieren” aufgefallen waren. Während der normale Bürger für solche Verbrechen bis zu sechs Jahre ins Gefängnis musste, waren die Manager und Promoter straffrei ausgegangen. Als nun die Mutter des dreijährigen Timmie zu einem halben Jahr Arbeitsdienst verurteilt werden sollte, weil sie ihrem Sohn ein Schlaflied vorgesungen hatte, ohne die dafür fälligen Lizenzgebühren von 1.800 Euro zahlen zu können, zogen die Bürger mit Fackeln und selbst gebastelten Galgen zum “Dieter-Bohlen-Haus” am Spreebogen.

Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder, dann zog der Mob unter den Augen von Feuerwehr und Polizei weiter zur Zentrale der “GEMA” am Kurfürstendamm (der heutigen Toyota-Allee). Wie durch ein Wunder wurde an diesem Tag niemand ernstlich verletzt. Die meisten Führer der Musikindustrie konnten ins nordkoreanische Exil fliehen, den “kleinen Fischen” wurde Straffreiheit zugesichert, wenn sie ein Berufsverbot akzeptierten und einer dreijährigen Therapie zustimmten.

Drei Tage später fand im Berliner Tiergarten ein großes Konzert statt, die erste öffentliche Musikaufführung in Europa seit vier Jahren. Die Kilians, heute Rocklegenden, damals noch junge Männer, spielten vor zwei Millionen Zuhörern, während die Bilder von gestürzten Dieter-Gorny-Statuen um die Welt gingen.

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Aus den Papierkörben der Weltliteratur (2)

Auf meiner Festplatte habe ich weitere Texte gefunden, die vor mehr als einem halben Jahrzehnt entstanden sind, bei denen ich aber der Meinung bin, dass man sie zumindest noch mal zur Blogverfüllung nutzen kann.

So zum Beispiel der nun folgende Text, der im Deutschunterricht bei eben jener Lehrerin entstand. Die Aufgabe war es, einen Text zu einem Bild zu schreiben, auf dem sich ein Mann mit beiden Händen an einer Art Zaun abstützt, der sich in der Mitte zu öffnen scheint. (Ich hätte dieses Bild gerne eingescannt, habe es aber nicht mehr gefunden.)

Deshalb steht über dem Text auch “Am Zaun”. Der Text und die Fußnoten sind auf dem Stand vom 7. Juni 2001 und wurden nur behutsam an die gängigen Rechtschreibregeln angepasst.

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Aus den Papierkörben der Weltliteratur

Warum sollte es auf meiner Festplatte anders aussehen als in meinem Zimmer? Ich war grad auf der Suche nach etwas völlig anderem, als ich über eine Textdatei stolperte, die meine Aufmerksamkeit erregte. Sie ist ziemlich exakt sechs Jahre alt und mit “drama.txt” betitelt.

Da ich “drama.txt” für ein äußerst interessantes zeithistorisches Dokument halte, möchte ich den Inhalt hier gerne in vollem Umfang und unverändert wiedergeben:

Der Marsch der Institutionen – ein Drama in einem Akt.
Alle Namen sind frei erfunden.
Personen: Frau Händel, Lehrerin; Karl, Schüler; Herr Lingen, Schulleiter; etwa zwei dutzend Schüler
Bühne: Ein schlichter Klassenraum. Wichtig sind das Pult, eine Tür und ein stilisierter Kreml-Turm auf einem Schülertisch.

Die Schüler sitzen umher und reden. Offenbar sollen sie gleich eine Klausur schreiben. Die Lehrerin fehlt noch.
Manfred: Wenn die wirklich die gleiche Klausur nimmt, dann werde ich wahnsinnig.
Ludwig: So doof wird die kaum sein!
Torben: Gib mir noch mal den Text von Friedrich!

Die Tür geht auf, Frau Händel tritt ein. Sie trägt eine übertriebene Perücke und eine große Tasche.

Frau Händel: Hallo Kinder! Hier ist eure Klausur!

Frau Händel teilt ein Papier aus. Die Schüler blicken ungläubig darauf und beginnen dann, laut zu lachen.

Torben: Toll! Und jetzt hab ich das nicht gelesen!
Frau Händel: Was haben Sie nicht gelesen?
Torben: Äh, die Zusammenfassung der stilistischen Mittel, genau!

Frau Händel geht nach vorne. Karl meldet sich.

Frau Händel: Ja, Karl?
Karl: Ihnen ist klar, dass sie diese Klausur letztes Jahr im Grundkurs schon einmal geschrieben haben?!?
Frau Händel: (strahlt) Ja!
Karl: Ihnen ist klar, dass wir Kontakt zu den Schülern dieses Grundkurses haben?!?
Frau Händel: (strahlt) Ja!
Karl: Ihnen ist klar, dass einige von uns Zugang zu dieser Klausur hatten?
Frau Händel: (strahlt) Ja, aber schreiben Sie erstmal so gut, wie die im letzten Jahr!

Die Schüler gucken ungläubig, einige lachen. Karl steht auf und verlässt den Klassenraum.

Torben: Das meinte ich nämlich! Ich habe die Klausur nicht gelesen und jetzt haben die anderen einen Vorteil.
Frau Händel: (murmelt etwas in einer fremden Sprache)

Die Schüler machen sich an die Arbeit und lesen den Text.

Frau Händel: Nicht, dass ihr das Bild interpretiert! Den hab ich nur auf das Blatt kopiert, damit ihr weißt, wie das damals aussah!

Ludwig lässt seinen Kopf neben dem Kremlturm aufs Pult krachen, ehe er das Blatt in zwei Hälften (die eine mit dem Text, die andere mit dem Bild) reißt. Die Tür geht auf, Karl und Herr Lingen betreten die Szene.

Herr Lingen: Frau Händel, kommen Sie mal bitte eben raus?
Frau Händel: (steht auf) Ja, was ist denn?
Herr Lingen: (zu den Schülern) Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie hier still weiterarbeiten?

Die Schüler murmeln ein “Ja”, Herr Lingen und Frau Händel treten vor die Tür. Die Schüler murmeln los.

Bert: Ist das ein fünfhebiger Jambus? Ist das ein fünfhebiger Jambus?!?
Ludwig: Ja, halt die Klappe!

[Anmerkung: hierbei muss deutlich werden, dass es sich natürlich um keinen fünfhebigen Jambus handelt, evtl. trägt Bert ein Affenkostüm o.ä.]

Die Tür wird kurz geöffnet, die Schüler verstummen, die Tür wird wieder geschlossen. Ludwig dreht sich begeistert zu Karl um und streckt ihm beide Daumen entgegen. Karl sitz an seinem blanken Pult. Die Tür öffnet sich erneut, Frau Händel kehrt etwas wacklig zu ihrem Pult zurück, Herr Lingen wendet sich an die Klasse.

Herr Lingen: Also, Sie müssen jetzt über das Thema schreiben, Sie können dann nachher Einspruch einlegen! (ab)

Karl, Ludwig und einige andere Schüler schütteln den Kopf. Frau Händel sagt kein Wort.

Lesen Sie nächste Woche: Meinen Dramenzyklus “Sturmfrei” (bestehend aus “Türen”, “Sitzgruppe” und “Türen 2”), sowie meine “Ämter”-Trilogie (bestehend aus dem Singspiel “Kreiswehrersatzamt”, dem klassischen Drama “Finanzamt” und dem absurden Fragment “Arbeitsamt”).