Schon als Alexander ganz klein war, wussten seine Eltern, dass er etwas ganz Besonderes war. Das denken die allermeisten Eltern von ihrem Nachwuchs, aber Alexanders Eltern wussten es. Manchmal vernahmen sie einen ganz leichten Lichtschein, wenn sie nachts an seinem Kinderbett vorbeigingen, doch wenn sie nachsehen wollten, ob die Rollläden vielleicht einen Spalt offen standen, verschwand das Leuchten. Dann wiederum gab es Tage, an denen sie meinten, leise eine Glocke klingen zu hören, wenn Alexander in ihrer Nähe war.
Alexander war ein hübsches Kind mit sanften Zügen, meerblauen Augen und blonden Locken und als seine Großmutter noch lebte, nannte sie ihn immer ihren “Engel”. Doch als er in die Pubertät kam, änderte sich sein Leben: Er begann, Punkrock zu hören, Bier zu trinken und nachts lange weg zu bleiben. Seine Eltern machten sich Sorgen, verhängten Hausverbote, deren Nicht-Einhaltung sie allerdings nicht ahndeten, und erkundigten sich im Bekanntenkreis, wie es um das Verhalten der Gleichaltrigen bestellt war. Aber tief in ihrem Inneren wussten sie, dass Alexander für höhere Aufgaben bestimmt war und sie ihn ziehen lassen mussten.
So folgte Alexander dem Ruf der Großstadt und trieb sich in zwielichtigen Läden herum, in denen britische Punk- und amerikanische Hardcore-Platten gespielt wurden, in denen Männer und Frauen und Männer und Frauen ungeschützten Sex auf den dreckigen Toiletten hatten und in deren Kellern oder Nebenräumen zu besonderen Feiertagen Crack vom Blech geraucht wurde. Alexander liebte die Musik, aber er hatte kaum Sex und nahm keine Drogen. Es reichte ihm, immer ein frisches Bier in der Hand zu halten und die Menschen zu beobachten, die sich um ihn herum gehen ließen. Er wohnte in besetzten Häusern und arbeitete als Aushilfe in Getränkelagern, Druckereien und in den Werkstätten der Städtischen Bühnen. Oft verlor er seine Anstellungen schnell wieder, weil er den Arbeitsplatz während der Dienstzeit verlassen hatte. Was damit zusammenhing, dass Alexander etwas ganz Besonderes war.
Die Götter, seit jeher darauf bedacht, die Menschen mit unterschiedlichen Fertigkeiten zu segnen, hatten Alexander eine etwas spezielle Begabung, ja: Aufgabe, mitgegeben: Wann immer in einer öffentlichen Gaststätte im Umkreis von 20 Kilometern das Wort “Hoden” fiel, klingelte ein Glöckchen in Alexanders Kopf und er eilte auf direktem Wege zu diesem Ort.
Auch die Götter waren sich nicht ganz sicher, warum genau sie Alexander mit dieser Superkraft versehen hatten, die bei Licht betrachtet absolut niemandem etwas nützte. Hinter vorgehaltener Hand mutmaßten sie manchmal, die Geschichte habe irgendetwas mit Rache, einer verlorenen Wette oder einem schrecklichen Missverständnis zu tun. Aber bei den vielen, vielen Menschen, die die Götter in all den Zeitaltern erschaffen hatten, ging eben mitunter etwas schief, und die meiste Zeit waren die Götter glücklich und zufrieden, wenn sie nicht schon wieder einen Diktator, Terroristen oder Fernsehmoderator kreiert hatten. Immerhin hatten sie bei Alexander wie auch bei vielen Künstlern darauf geachtet, den Überschuss an Talent durch eine Unterversorgung mit Sozialkompetenz auszugleichen.
Und so lief Alexander seit vielen Jahren in einer abgewetzten Lederjacke durch die Gegend und tauchte in Kneipen auf, in denen kurz zuvor das Wort “Hoden” gefallen war — was wesentlich öfter vorkam, als man annehmen würde. Wenigstens klingelte das Glöckchen nicht bei Synonymen, dachte Alexander in seinen optimistischeren Momenten und stellte sich vor, wie er sonst von Bordell zu Bordell, von Swinger-Club zu Swinger-Club rennen müsste.
Für den Fall, dass jemand Alexanders besondere Begabung durchschauen würde, hatten die Götter vorgesorgt: Derjenige würde dann ebenfalls ein Glöckchen hören, wenn andere, unverfänglichere Worte gesprochen würden. “Sekt”, zum Beispiel.