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Musik Leben

25 Jahre „Hallo Endorphin“

Dieser Eintrag ist Teil 9 von bisher 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

...But Alive - Hallo Endorphin (abfotografiert von Lukas Heinser)

Dafür, dass ich in den 1990er Jahren in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen bin, fehlt ein wichtiges, eigentlich natürliches, Puzzleteil in meiner Popkultur-Sozialisation: Deutschpunk. Zwischen der ZDF-Hitparaden-Welt meiner Großeltern und dem WDR-2-Pop-Internationalismus meiner Eltern (plus BAP und Grönemeyer) war kein Platz vorgesehen für Fehlfarben, EA 80 oder Wohlstandskinder und auch nicht für WIZO, Dackelblut oder Die Goldenen Zitronen. Natürlich fanden Die Toten Hosen und Die Ärzte im Musikfernsehen und im Radio statt, aber beide Bands haben mich bis heute nie interessieren können (um das mal diplomatisch auszudrücken). Ich meine: Ich lebe seit 20 Jahren in Bochum und hab diesen Sommer zum ersten Mal Die Kassierer live gesehen!

Insofern waren mir auch …But Alive kein Begriff, als im Spätsommer/Herbst 2002 plötzlich alle über kettcar sprachen. Deren Sänger, so lernte ich, hieß Marcus Wiebusch und hatte zuvor bei eben jenen …But Alive und bei Rantanplan gesungen. Und weil kettcar für mich mit „Du und wieviel von Deinen Freunden“ ein Tor in eine neue Welt aufgestoßen hatten (die zu einer jahrzehntelangen Freundschaft zu ihnen, Thees Uhlmann und ihrem Label Grand Hotel van Cleef führen sollte), es aber noch nicht mehr als dieses Debütalbum gab, brauchte ich ein Jahr später Methadon.

„Hallo Endorphin“ war das vierte und letzte Album von …But Alive gewesen und in gewisser Weise das Bindeglied zu kettcar: Musikalisch und textlich schon recht weit von dem eher klassischen Punkrock entfernt, mit dem die Band angefangen hatte. Zwar ging es in manchen Texten immer noch gegen alles, vor allem gegen gleichaltrige Spießer, Pop-Akademiker und Lifestyle-Linke, aber anderes war weniger konkret ausformuliert. Themen wie Selbstermächtigung schauten genauso vorbei wie Trennungen. Über „Entlassen (Vor der Winterpause)“ und „Erinnert sich jemand an Kalle ‘del Haye“, in denen Marcus Fußball als Bildspender für eine gescheiterte Beziehung und entfremdete Freundschaften habe ich ein paar Jahre später in meinem Germanistik-Studium eine ganze Hausarbeit geschrieben.

Hatte das kettcar-Debüt meinen Stehsatz für Liedzitate, die ich im Alltag und in eigenen Texten unterbringen konnte, eigentlich schon bis unter das Dach gefüllt, erwies sich „Hallo Endorphin“ (allein der Albumtitel!) als weiterer Steinbruch für Referenzen. Schon der Song „Beste Waffe“ hat mich auf Jahre mit Formulierungen für Internetforen und ähnliche Orte versorgt: „Und da steht Thomas Helmer — oh nee, doch nicht, sah nur so aus“, „Klar kannst Du Dich mal melden, halt nur nicht bei mir“, „Musikgeschmack wird überbewertet“.

Weil ich mir die …But Alive-Diskografie umgekehrt chronologisch erschlossen habe, blieb „Hallo Endorphin“ immer das Album dazwischen: Der Drumcomputer-Anfang von „Vergiss den Quatsch“ nimmt „Deiche“ vorweg, ein kurzes Gitarrensolo in „Friedlich“ und eine Keyboard-Melodie in „Entlassen (Vor der Winterpause)“ täuschen schon mal die spätere „Landungsbrücken raus“-Hook an. Den Sprechgesang würde Marcus erst auf den späteren kettcar-Alben wieder auspacken, dafür bekommt man bei „Selbstmitleid sells“ noch mal Uptempo-Punkrock und bei „Weniger als 5 Sekunden“ etwas, was man eigentlich nur als Nu-Metal-Energie beschreiben kann — was ja 1999 noch nicht so lachhaft war wie zwei, drei Jahre später.

Wenn ich recht überlege, knallten kettcar und Tomte in ein sehr kurzes Zeitfenster, in dem ich mich überhaupt für deutschsprachige Musik interessieren und erwärmen konnte: Was mit Tom Liwas „St. Amour“ und ein bisschen Nachhol-Programm von Tocotronic und Die Sterne im Jahr 2000 begann, endete eigentlich schon wieder 2005 mit dem zweiten Wir-Sind-Helden-Album. Dass es Marcus Wiebusch mit kettcar geschafft hat, auch 2024 mit „Gute Laune ungerecht verteilt“ ein Album zu veröffentlichen, das zu meinen Highlights des Jahres zählt, und sich die Band seit 2017 eigentlich permanent selbst übertrifft, kann ich ihnen also gar nicht hoch genug anrechnen. Neun und zehn und raus!

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…But Alive – Hallo Endorphin
(B.A. Records/Indigo, 20. September 1999)
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Musik

I’m serious, so come on

Der Frühling ist da: Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel, Vögel und Mädchen sind aus dem Winterschlaf erwacht und es ist wieder an der Zeit, eines meiner absoluten Lieblingsalben zu hören.

Das war Quatsch: Es ist natürlich immer an der Zeit, eines meiner absoluten Lieblingsalben zu hören, aber im Moment macht es noch viel mehr Spaß.

Das Album, um das es geht, stammt von der britischen Band A (ein Name aus der Zeit, als Bandnamen noch nicht suchmaschinenoptimiert waren), heißt “Hi-Fi Serious” und ist vor ziemlich genau zehn Jahren erschienen. Theoretisch müsste ich die Band damals auch bei der Osterrocknacht in der Düsseldorfer Philipshalle gesehen haben, aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern.

Damals hatte ich zunächst allerdings auch nur ein, zwei MP3s von dem Album, wie man das in Zeiten von sogenannten Netzwerktreffen und Tauschbörsen damals eben so hatte. Einer dieser Songs, “Pacific Ocean Blue”, war allerdings auf meinem Mixtape “05/02”, das ich mir nach den letzten schriftlichen Abiturprüfungen aufgenommen hatte und dann ständig gehört habe. Mit Zeilen wie “And the summer is forever / It’s the endless summer” passte der Song allerdings auch wie der sprichwörtliche Arsch auf Eimer zu den naiven Allmachtsphantasien, die man als junger Mensch eben hat, wenn man sechs bis acht Wochen keinen anderen Grund zum Aufstehen hat, außer sich mit seinen Freunden zu treffen, um wahlweise Schwimmen, Grillen oder Trinken zu gehen. ((Theoretisch ist auch alles drei gleichzeitig möglich, aber ich bin am Niederrhein aufgewachsen und der liegt – nun ja – am Rhein.))

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Das ganze Album hatte ich dann erst zwei Jahre später und vielleicht liegt es daran, dass auch damals grad Frühling war, aber “Hi-Fi Serious” ist seitdem mein allerliebstes Sonnenscheinalbum. Schon bei den ersten Takten von “Nothing” möchte ich sofort losgehen und mir ein Skateboard kaufen. ((Ich habe mir mein erstes Skateboard mit 19 gekauft, als ich nach dem Zivildienst wieder nichts zu tun hatte. Nach einigen Fahrversuchen mit meinen gleichaltrigen, etwa gleich talentierten Freunden, die wir alle immerhin unverletzt überstanden, hat sich mein kleiner Bruder das Ding gezockt und ich habe es seitdem nicht mehr probiert.)) Ich könnte über jeden einzelnen Song schreiben, über das verknallte “Something’s Going On”, die niedliche Konsumkritik von “Starbucks” und über “Going Down”, das die letzten Minuten an Bord eines abstürzenden Flugzeugs beschreibt, ((Auch kein Thema, was man im Frühjahr 2002 zwingend in einem Rocksong erwartet hätte.)) oder über das wütende “W.D.Y.C.A.I.”, aber es ist das Album in seiner Gesamtheit, das so großartig ist.

“Hi-Fi Serious” ist ein musikgewordener Sommernachmittag. Ich liebe die positive Energie und die hörbare Spielfreude, die einem aus den Liedern entgegenschlägt und die ich an Künstlern wie The Hold Steady, Andrew W.K. oder eben A so sehr schätze. Die Musik sorgt dafür, dass ich bei fast jedem Song (ein paar ruhigere sind ja auch dabei) durch die Gegend und am Liebsten mit einem lebensgefährlichen Stunt in den nächsten Swimming Pool hüpfen möchte.

Natürlich sind während meiner Jugend musikalisch anspruchsvollere, historisch bedeutsamere Alben erschienen — aber kein Album dieser Welt erinnert mich so daran, wie es sich anfühlt, jung zu sein, wie “Hi-Fi Serious” von A. In den Liner Notes schreibt Sänger Jason Perry über “Pacific Ocean Blue”, für ihn hätten die Beach Boys den Sommer erfunden. Für mich waren es A.

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Literatur

Eine spezielle Begabung

Schon als Alexander ganz klein war, wussten seine Eltern, dass er etwas ganz Besonderes war. Das denken die allermeisten Eltern von ihrem Nachwuchs, aber Alexanders Eltern wussten es. Manchmal vernahmen sie einen ganz leichten Lichtschein, wenn sie nachts an seinem Kinderbett vorbeigingen, doch wenn sie nachsehen wollten, ob die Rollläden vielleicht einen Spalt offen standen, verschwand das Leuchten. Dann wiederum gab es Tage, an denen sie meinten, leise eine Glocke klingen zu hören, wenn Alexander in ihrer Nähe war.

Alexander war ein hübsches Kind mit sanften Zügen, meerblauen Augen und blonden Locken und als seine Großmutter noch lebte, nannte sie ihn immer ihren “Engel”. Doch als er in die Pubertät kam, änderte sich sein Leben: Er begann, Punkrock zu hören, Bier zu trinken und nachts lange weg zu bleiben. Seine Eltern machten sich Sorgen, verhängten Hausverbote, deren Nicht-Einhaltung sie allerdings nicht ahndeten, und erkundigten sich im Bekanntenkreis, wie es um das Verhalten der Gleichaltrigen bestellt war. Aber tief in ihrem Inneren wussten sie, dass Alexander für höhere Aufgaben bestimmt war und sie ihn ziehen lassen mussten.

So folgte Alexander dem Ruf der Großstadt und trieb sich in zwielichtigen Läden herum, in denen britische Punk- und amerikanische Hardcore-Platten gespielt wurden, in denen Männer und Frauen und Männer und Frauen ungeschützten Sex auf den dreckigen Toiletten hatten und in deren Kellern oder Nebenräumen zu besonderen Feiertagen Crack vom Blech geraucht wurde. Alexander liebte die Musik, aber er hatte kaum Sex und nahm keine Drogen. Es reichte ihm, immer ein frisches Bier in der Hand zu halten und die Menschen zu beobachten, die sich um ihn herum gehen ließen. Er wohnte in besetzten Häusern und arbeitete als Aushilfe in Getränkelagern, Druckereien und in den Werkstätten der Städtischen Bühnen. Oft verlor er seine Anstellungen schnell wieder, weil er den Arbeitsplatz während der Dienstzeit verlassen hatte. Was damit zusammenhing, dass Alexander etwas ganz Besonderes war.

Die Götter, seit jeher darauf bedacht, die Menschen mit unterschiedlichen Fertigkeiten zu segnen, hatten Alexander eine etwas spezielle Begabung, ja: Aufgabe, mitgegeben: Wann immer in einer öffentlichen Gaststätte im Umkreis von 20 Kilometern das Wort “Hoden” fiel, klingelte ein Glöckchen in Alexanders Kopf und er eilte auf direktem Wege zu diesem Ort.

Auch die Götter waren sich nicht ganz sicher, warum genau sie Alexander mit dieser Superkraft versehen hatten, die bei Licht betrachtet absolut niemandem etwas nützte. Hinter vorgehaltener Hand mutmaßten sie manchmal, die Geschichte habe irgendetwas mit Rache, einer verlorenen Wette oder einem schrecklichen Missverständnis zu tun. Aber bei den vielen, vielen Menschen, die die Götter in all den Zeitaltern erschaffen hatten, ging eben mitunter etwas schief, und die meiste Zeit waren die Götter glücklich und zufrieden, wenn sie nicht schon wieder einen Diktator, Terroristen oder Fernsehmoderator kreiert hatten. Immerhin hatten sie bei Alexander wie auch bei vielen Künstlern darauf geachtet, den Überschuss an Talent durch eine Unterversorgung mit Sozialkompetenz auszugleichen.

Und so lief Alexander seit vielen Jahren in einer abgewetzten Lederjacke durch die Gegend und tauchte in Kneipen auf, in denen kurz zuvor das Wort “Hoden” gefallen war — was wesentlich öfter vorkam, als man annehmen würde. Wenigstens klingelte das Glöckchen nicht bei Synonymen, dachte Alexander in seinen optimistischeren Momenten und stellte sich vor, wie er sonst von Bordell zu Bordell, von Swinger-Club zu Swinger-Club rennen müsste.

Für den Fall, dass jemand Alexanders besondere Begabung durchschauen würde, hatten die Götter vorgesorgt: Derjenige würde dann ebenfalls ein Glöckchen hören, wenn andere, unverfänglichere Worte gesprochen würden. “Sekt”, zum Beispiel.

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Musik Digital

Ratinger Hofnarren

Lukas: “Was halten wir eigentlich von den Toten Hosen?”
Imaginary Friend: “Uff! Hmmm, na ja …”
Lukas: “… damit aufgewachsen sind wa ja schon. Irgendwie. Nich?”
Imaginary Friend: “Das mag sein. Aber Campino geht doch gar nicht.”
Lukas: “Wenn wir gleich alle deutschen Bands scheiße finden würden, deren Sänger ein zu großes Mitteilungsbedürfnis haben und jede Talkshow und jede Gazette volllabern, dann könnten wa aber nur noch Kraftwerk hören. Sieh’s mal so!”
Imaginary Friend: “Warum verteidigst Du denn hier die Toten Hosen?”
Lukas: “Tu ich gar nicht. Ich wollte nur wissen, was wir von denen halten.”
Imaginary Friend: “Uff …”

Nun, wie dem auch sei: Von den Toten Hosen gibt es inzwischen – wahnsinnig Punkrock-like – eine eigene “SingStar”-Edition. Das ist … ach, das ist halt so und wäre mir sicher keine Erwähnung wert, wenn man beim Uncle-Sally’s-Magazin dieses Computer-Spiel nicht von drei fachkundigen Testern auf Herz und Leber hätte überprüfen lassen: Nagel, Thees Uhlmann und Mille von KreatorCampino bewertet das Ganze. Das alles als Video hier.

Eigentlich ist es ganz schrecklich, aber irgendwie auch sehr unterhaltsam. Anders ausgedrückt: Näher am Punk waren die Toten Hosen in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren nicht.

[via Tomte-Blog]