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Musik Literatur

And through it all

Früher waren Leute berühmt, weil sie etwas (z.B. malen, singen, schreiben, Kriege gewinnen) besonders gut konnten. Heute sind sie berühmt, weil sie das Eine gut konnten und jetzt etwas ganz anderes machen (z.B. Fernsehköche, Lena Meyer-Landrut, Donald Trump — wobei: was kann der schon?). Benjamin von Stuckrad-Barre war vor fast 20 Jahren der gefeierte Jung- bzw. Popliterat (“Popjungliterat” ging wohl irgendwie nicht), vor zwei Jahren der geläuterte Held seiner Autobiographie und ist jetzt binnen weniger Monate zum König von Instagram geworden. Gut: Über 18.000 Follower lachen echte Influencer natürlich, aber was er da in kurzer Zeit für eine (uh, ah) Community aufgebaut hat, ist schon beeindruckend. Erwachsene Leute, die sich weigern würden, einer Partei oder auch nur einem Sportverein beizutreten, filmen sich dabei, wie sie den (wirklich extrem catchygen) Titel seines neuen Buchs in die Kamera sagen: “Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen — Remix 3”.

Und so ist dieser Abend hier in der Bochumer Zeche ein bisschen wie die “Glow” im Kleinen. Für Leute, die mehr Bücher als Makeup zuhause haben. Erstmal den Backdrop (auf dem dann doch nur Platz für “Remix 3” war) bei Insta posten! In der Reihe hinter mir sagen Männer den Satz, den Männer im Jahr 2018 so sagen, wenn sie das mit der Rockstar-Karriere wirklich aufgegeben haben und die E-Gitarren als Deko im Pinterest-Wohnzimmer verstauben: “Lass mal ‘nen Podcast zusammen machen!”

Um kurz nach Acht geht das Saallicht aus, ein popkulturelles Maximal-Mashup erklingt und dann, als Aufmarschmusik: “The Heavy Entertainment Show” von Robbie Williams. Das lief aber beim letzten Mal vor zwei Jahren auch schon! Der Popliterat ist von Anfang an voll da und muss erstmal umständlich eine Noel-Gallagher-Fahne am Tisch befestigen (“Es ist halt schon einfacher, wenn man Joko und Klaas ist!”). Die hat er beim Konzert in Hamburg gekauft, von dem er ausführlich via Instagram-Story berichtet hatte — und ich lag im Bett, sah das auf meinem iPhone und fühlte mich ein bisschen, als wäre ich selbst dabei gewesen.

Das Wort “Lesung” hat es bei Stuckrad-Barre noch nie so richtig getroffen, fast wichtiger als die Texte ist das Drumherum, das Rumhibbeln und das Abschweifen. Als er dann trotzdem liest, steigt er direkt mit dem stärksten Text des Buches ein, einem Porträt über Jürgen Fliege, das ich schon bei Erstveröffentlichung in der “Welt” gelesen und gefeiert, danach aber für sechseinhalb Jahre vergessen hatte. Es ist ein Text der Sorte “Unsagbar gut, muss ich jetzt täglich drei Mal lesen, um mir zu merken, wie man eigentlich schreibt!”

Überhaupt: “Remix” (das eine wilde Sammlung von zuvor veröffentlichten Texten enthielt und damals gegen den ausdrücklichen Wunsch des Autors nicht “Remix 1” hieß) war im Sommer vor 18 Jahren das Buch, bei dem es bei mir “Klick” gemacht hat, und nach dem ich angefangen habe, eigene, sehr meinungsfreudige Texte zu schreiben und ins Internet zu stellen (wo sie hoffentlich weniger Leser*innen hatten als ich heute Follower auf Instagram). An “Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft: Remix 2” kann ich mich kaum erinnern (und dem Autor geht es da vermutlich genauso), die Brillanz kam dann erst wieder mit “Auch Deutsche unter den Opfern” zum Vorschein.

All diesen Büchern ist gemein, dass es sich um Textsammlungen handelt, die Themen und vor allem die Qualität also etwas schwanken. Nach dem grandiosen Besuch beim TV-Pfarrer folgt also in der Live-Darbietung ein Text darüber, wie sich Stuckrad und seine Freundin Partnertattoos stechen lassen, weil sie so verliebt sind. Das ist im Buch schon einer der schwächsten Texte (die Faustregel, wonach glückliche Künstler keine gute Kunst erschaffen können, hat leider weiterhin Bestand), wird in der Gegenwart aber auch nur bedingt dadurch aufgewertet, dass Beziehung und Tattoos inzwischen schon wieder Geschichte sind.

Zur Auflockerung sollen danach alle, die auch bei Instagram sind, auf die Bühne, damit er uns fotografieren und hinterher taggen kann. Wir kommen der Aufforderung brav nach, in diesem Moment ist völlig unklar, ob das hier die Gründungsveranstaltung einer neuen Sekte ist und wie viel das noch (wenn überhaupt) mit Ironie zu tun hat. Wir stellen uns also zum ersten Klassenfoto seit 15, 20 Jahren auf und nachdem wir endlich richtig stehen und Stuckrad-Barre sein Foto gemacht hat, bedankt er sich so überschwänglich, dass langsam klar wird: der meint das ernst. Er macht sich ständig über diesen Instagram-Kram und seine Rolle darin lustig, aber er genießt es wirklich, diese Stimmung in die echte Welt zu holen: “Auf Instagram gibt’s keine Nazis, da gibt’s nur Herzen!” Hach.

Die Idee, im Frühjahr 2018 einen Text über die Fußball-WM 2010 zu lesen, ist dann geradezu absurd, aber drumherum kommen wieder so viele Ausschweifungen, dass Jogi Löws babyblauer Babykashmir-Pullovera jetzt wirklich kaum noch was zur Sache tut. Dafür gibt es Geschichten aus dem Chateau Marmont, “in dem ich aus Image-Gründen lebe — zumindest so lange, bis die ganze Kohle aufgebraucht ist und ich wieder auf Lesereise gehen muss”, und eine Diskussion mit einer Zuschauerin über Tocotronic (inkl. Hörprobe und Ausführungen darüber, dass man als Fan die Schuld für das Nicht-mehr-Verstehen eines Idols bei sich selbst suchen sollte). Als Zugabe, für die er aber gar nicht erst von der Bühne geht, dann den wiederum sehr guten Text über ein Madonna-Konzert, bei dem das mit dem ständigen “Remix” jetzt endlich mal Sinn ergibt (oder so ähnlich), weil Stuckrad den Namen “Madonna” (beinahe) konsequent durch “Bettina Böttinger” ersetzt.

Ein Lied habe er noch für uns, sagt er schließlich und aus der augenzwinkernden Popkulturreferenz wird plötzlich Ernst, denn vom Band (sagt man noch “Band”?) läuft jetzt plötzlich eine Live-Version von Robbie Williams’ “Angels” und der Popliterat wird zum Sänger (und das nicht mal schlecht):

Das ist nun plötzlich no surface, all feeling: Anders als niedere Unterhaltungskünstler wie Jan Böhmermann es vielleicht machen würden, ist das hier keine Pose mit Fluchtmöglichkeit auf die Ironie-Ebene. Benjamin von Stuckrad-Barre meint das hier alles völlig ernst: Er singt ein Lied, das er liebt, und ist umgeben von Menschen, die sich freuen, hier zu sein. Um das jetzt doof zu finden, muss man entweder sehr kaltherzig sein oder mit Popkultur so gar nichts anfangen können (was aufs Selbe rauskommt).

Am Bücherstand dürfen wir uns alle selber auf dem Gruppenfoto markieren, der Autor signiert und posiert lange für Fotos, die natürlich alle auf Instagram landen. Falls es so etwas gibt, fühlt es sich an wie die denkbar positivste Version eines Klassentreffens. Auch wenn wir da alle natürlich eigentlich nie hingehen würden.

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Digital Gesellschaft

Shut Down Volume 2

Ich habe Menschen, die beruflich so etwas wie “Social-Media-Optimierung” betreiben, schon immer für die Wunderheiler des 21. Jahrhunderts gehalten: Da sitzen sie, in ihren Loft-Büros mit Kickertisch und Fixie an der Wand, sprechen (oder noch schlimmer: schreiben in Slack) über “organische Reichweiten” wie andere Scharlatane über “heilende Steine”, und erklären auf Facebook ungefragt jedem, wie Facebook funktioniere und wie nicht.

Seit dieser Woche wissen wir: Wenn sie sich nur genug Mühe geben und ein bisschen kriminelle Energie mitbringen, kann ihr Hokuspokus funktionieren. Und plötzlich wollen alle anderen ihre Facebook-Accounts löschen.

Facebook (Symbolbild).

Facebook und Mark Zuckerberg eignen sich dabei natürlich wunderbar als James-Bond-Schurken, weil wir alle unsere Ängste auf das Unternehmen projizieren können. Niemand versteht so recht, wie das eigentlich funktioniert, was man da täglich nutzt. Das gilt auch für Flugzeuge und Kernkraftwerke, aber da gibt es Menschen, die was Ordentliches studiert haben und wissen, was sie da tun — und meistens geht ja auch alles gut. Bei Facebook bin ich mir inzwischen sehr unsicher, ob Mark Zuckerberg selbst weiß, was da eigentlich passiert. Und wenn dann weitere Schurkenroman-Motive wie russische Hacker, noch dubiosere Unternehmen mit so geil seriös-unseriösen Namen wie “Cambridge Analytica” und die Wahl von Donald Trump ins Spiel kommen, ist die Science-Fiction-Dystopie komplett.

Dabei geht es bei Facebook eigentlich immer um zwei Fragen: die datenschutzrechtlichen Bedenken, die es immer schon gab, bisher aber gerne von den Anwender*innen ignoriert wurden, und “Was bringt mir das noch außer schlechter Laune und täglicher Volksverhetzung?” Jetzt kommt aber beides auf unheilvolle Weise zusammen.

In meinem Facebook-Feed sind eigentlich fast nur noch Kolleg*innen, die “was mit Medien” machen und ihre aktuellsten Arbeiten anpreisen, und entfernte Verwandte oder frühere Mitschüler*innen, die fröhlich die Persönlichkeitsrechte ihrer Kleinkinder verletzten, indem sie Fotos von denen online stellen. Freund*innen und Verwandte, die seriöse Berufe ergriffen haben, gucken da immer noch rein, was man an deren Reaktionen auf eigene Posts sehen kann, posten aber selbst nichts mehr. Das war mal anders.

Wenn man Facebook jetzt mit dem großen, roten Knopf abschalten würde, den ich mir manchmal wünsche, würden die Leute, die mit den Frühformen des Internets aufgewachsen sind, wieder in ihre IRC-Channels und zu jetzt.de zurückkehren. Die ganzen Extremisten verschiedenster Coleur, die sich dort rumtreiben, würden sicherlich auch schnell eine neue Plattform finden. Aber diese ganzen Leute zwischen 45 und 60, die sich dort angemeldet haben, um mit ihren groß gewordenen Kindern in Kontakt zu bleiben, die Profilfotos voller Rosen oder Motorräder und deutlich zu viel Tagesfreizeit haben und deshalb unter jedem Zeitungsartikel oder Fernsehbeitrag kommentieren und die Schuld für alles Elend dieser Welt bei Angela Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik suchen und finden, die würden dann vielleicht einfach nur noch “Candy Crush” auf ihren Smartphones spielen.

Nun ist es sicherlich so, dass man in manchen Berufen, vor allem in den Medien, auf Facebook sein muss — auch, wenn man kein Schamane mit Breitband-Anschluss in der Agentur ist. Weil man den Facebook-Auftritt des Unternehmens oder der Behörde befüllt, weil man mit Kunden oder Bürgern in Kontakt treten soll, oder mal schauen können muss, “was das Netz so sagt”. Eigentlich müsste der Arbeitgeber da zusätzliches Schmerzensgeld zahlen.

Aber auch privat kann man dem Elend gar nicht so leicht entkommen: Versuchen Sie mal, ohne Facebook und/oder WhatsApp mit einer größeren Gruppe Menschen (Elternrat in der Kita, Einladung zum Osterfrühstück, Organisation von Geburtstagsgeschenken oder – gerne nicht – Junggesellenabschieden) zu kommunizieren! Das geht vielleicht, wenn alle ein iPhone haben und iMessage nutzen können, oder wenn man ausschließlich Nerd-Freunde hat, die Dienste wie Threema oder Telegram nutzen.

Und WhatsApp gehört ja genauso zu Facebook wie Instagram und Facebook selbst. Wenn man da einmal einen Haken falsch gesetzt hat, hat man der Firma die Daten all seiner Kontakte übermittelt. WhatsApp funktioniert sowieso nur noch, nachdem man das getan hat — und sich damit nach Ansicht vieler Datenschützer und Juristen strafbar gemacht hat, weil man diese Daten niemals hätte weitergeben dürfen.

Welcher Fluchtpunkt bleibt uns noch? Vor drei Wochen war Vero – ironisch gebrochen – das große Ding. Dahinter stecken ein libanesischer Milliardär, der vorher als Bauunternehmer erfolgreich wurde, indem er seine Arbeiter nicht bezahlte, und jede Menge russische Entwickler, was für viele gleich ein Alarmsignal war wegen der russischen Umtriebe bei Facebook und Twitter. Andererseits könnte man sagen: Bei Vero steht wenigstens schon “schön dubios” dran.

Wenn Leute (gerne natürlich: Journalist*innen) jetzt auf Facebook schreiben, man könne Facebook doch nicht einfach so hinter sich lassen – die vielen Lese-Empfehlungen, die netten Kontakte -, scheinen sie vergessen zu haben, dass es mal eine Zeit gab im Internet, als wir alle noch nicht bei Facebook unterwegs waren. Sondern z.B. in Blogs.

Dieser Text besteht aus Gedanken, die ich mir gemacht habe, bevor ich mit Bremen Zwei über Facebook gesprochen habe, die aber nicht alle im Gespräch Platz fanden.

Außerdem habe ich heute (hoffentlich) sämtliche Facebook-Interaktions-Tools aus dem Blog geworfen.

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Gesellschaft Digital

Straßenbahn des Todes

Dies ist kein Abschied, denn ich war nie willkommen
Will auf und davon und nie wiederkommen
Kein Lebewohl, will euch nicht kennen
Die Stadt muss brennen

(Casper – Im Ascheregen)

Ich hab in diesem Jahr schon mehrfach Social-Media-Pausen gemacht, die “digital detox” zu nennen ich mich scheue: Als mein Sohn Kita-Ferien hatte, wenn wir mal übers Wochenende oder etwas länger weggefahren sind, hab ich Facebook und Twitter einfach ausgelassen. Zum einen, weil die iPhones-Apps im Vergleich zur richtigen Nutzung (ich bin vermutlich der einzige Mensch Mitte Dreißig, für den ein Computer mit Bildschirm, Tastatur und Browser die “richtige” Anwendung ist und ein Smartphone maximal eine hilfreiche Krücke für unterwegs, aber das ist mir – wie so vieles – egal) einfach noch unpraktischer sind (und das will schon was heißen), zum anderen, weil ich gemerkt habe, dass Social Media mir schlecht Laune macht.

Jetzt war ich übers Wochenende am Meer, hab gerade wieder den Laptop aufgeklappt, kurz in Facebook reingeguckt und schon wäre die ganze wunderbare Erholung (Strahlend blauer Himmel, knallende Sonne und 24 Grad Mitte Oktober! 17 Grad Wassertemperatur! In der Nordsee!) fast wieder weg gewesen.

Und dann traf mich die Erkenntnis und ich hatte endlich einen Vergleich bzw. eine Metapher für das gefunden, was mich an Social Media so sehr nervt, dass ich geradezu von “krank machen” sprechen würde: Es ist, als säße man in der Straßenbahn und könnte die Gedanken jedes einzelnen Menschen mithören. Da sitzt ein Mann, der gerade seinen Job verloren hat und nicht weiß, wie es weitergehen soll. Dort ist eine Frau, die gerade auf dem Weg in die Klinik ist: Ihre Mutter hat Krebs im Endstadium. Hier sitzt ein 16-jähriges Mädchen, dessen Freund, ihre erste große Liebe, gerade Schluss gemacht hat und schon mit einer anderen zusammen ist. Und da drüben ein kleiner Junge, dessen Hamster gestern gestorben ist.

Natürlich sitzen da auch welche, denen es gut geht: Eine Familie auf dem Weg in den Zoo. Ein alter Mann, der gerade seinen neugeborenen Urenkel besucht hat und sich gleich eine Dose Linsensuppe warmmachen wird, sein Leibgericht. Eine junge Frau auf dem Weg zum ersten Date — sie weiß es noch nicht, aber sie wird den Mann später heiraten und eine glückliche Familie mit ihm gründen. Doch ihre Gedanken sind nicht so laut, weil sie nicht immer nur um das eine schlechte Ding kreisen, sondern sie entspannt und glücklich in sich ruhen. Eher das Schnurren einer zufriedenen Katze — und damit unhörbar im Vergleich zu dem Geschrei einer Metallstange, die sich in einem sehr großen Getriebe verkantet hat.

Aber mehr noch: Nicht nur ich kann all diese Gedanken hören — alle können einander hören. Und die, die selbst schon völlig durch sind, schreien dann die anderen an: “Sie sind eh unfähig, völlig klar, dass Sie entlassen wurden!”, “Interessiert mich nicht mit Deiner Mutter, jeder muss mal sterben!”, “Dumme Schlampe! Was lässt Du Dich auch mit so einem Typen ein? Schlechter Männergeschmack und keinerlei Menschenkenntnis!”, “Hamster sind eh hässlich und dumm!”

Das ist kein Ort, an dem ich gerne wäre. Da möchte ich nicht mal fehlen.

Und doch setze ich mich dem regelmäßig freiwillig aus — oder glaube, es tun zu müssen. Weil ich beruflich wissen muss, “was das Netz so sagt”. Bei Facebook sieht die Wahrheit eher so aus: Journalistenkollegen berichten Journalistenkollegen, was in der Welt so Schlechtes los ist. “Normale” Menschen aus meinem Umfeld posten schon kaum noch bei Facebook. Und, klar: Es ist die Aufgabe von Journalisten, zu berichten — auch und vor allem über Schlechtes. Aber dann doch vielleicht in einem Medium? Facebook war mal als digitales Wohnzimmer gestartet, inzwischen weiß niemand mehr, was es genau sein soll/will, nur, dass es so gefährlich ist, dass es mutmaßlich durch externe Manipulation die US-Wahl mit entschieden haben könnte. Die wenigsten Dinge starten als leicht schrammelige Wohnzimmer-Couch und landen als Atombombe.

Und natürlich: Es sind extreme Zeiten. Der Brexit, die US-Wahl, der Aufstieg der AfD, jetzt die Wahl in Österreich — wenn die Offenbarung von der Redaktion des “Economist” geschrieben worden wäre, kämen darin vermutlich weniger Schafe und Siegel vor und mehr von solchen Schlagzeilen. Die letzten Tage waren geprägt von immer neuen Enthüllungen über den ehemaligen Filmproduzenten und hoffentlich angehenden Strafgefangenen Harvey Weinstein, dessen Umgangsformen gegenüber Frauen allenfalls mit denen des amtierenden US-Präsidenten zu vergleichen sind. Nach zahlreichen Frauen, die von Weinstein belästigt oder gar vergewaltigt wurden, melden sich jetzt auch viele zu Wort, die in anderen Situationen Opfer von beschissenem Verhalten widerlicher Männer geworden sind. Und, Spoiler-Alert: Es sind viele. Verdammt viele. Mutmaßlich einfach alle.

Auftritt weitere Arschlöcher: “PR-Aktion!”, “Dich würde doch eh niemand anpacken!”, “Habt Ihr doch vor vier Jahren schon gepostet, #aufschrei!” Und während man sich mit der Hoffnung retten kann, dass sich diesmal vielleicht wirklich etwas ändern könnte (einiges deutet darauf hin, dass Harvey Weinstein tatsächlich von jener Hollywood-Gesellschaft ausgeschlossen werden könnte, die sich allzulang in seinem Licht gesonnt hatte), kommen die nächsten Kommentare rein und man zweifelt daran, ob da überhaupt noch irgendwo irgendwas zu retten ist.

Nimm einen ganz normalen Typen, so wie er im Buche steht
Gib diesem Typen Anonymität
Gib ihm Publikum, das nicht weiß, wer er ist
Du kriegst das dümmste Arschloch, das man nicht vergisst

(Marcus Wiebusch – Haters Gonna Hate)

Es gibt verdiente Kollegen wie Sebastian Dalkowski, die sich wirklich die Mühe machen, denen, die sich nicht für Fakten interessieren, weiterhin Fakten entgegenzusetzen. Die all den kleinen und großen Scheiß, den die so apostrophierten Besorgten Bürger und ihre medialen Fürsprecher so von sich geben, gegenchecken — und dafür wieder nur Hass und Spott ernten. Für Menschen wie ihn haben kettcar “Den Revolver entsichern” geschrieben, den klugen Schlusssong des grandiosen neuen Albums “Ich vs. Wir”, in dem sie auch die vielleicht zentralste Frage unserer Zeit stellen: “What’s so funny about peace, love, and understanding?”

Aber selbst, wenn Sebastian ein oder zwei Menschen überzeugen sollte (was ich, so viel Optimismus ist durchaus noch da, einfach mal hoffe), muss ich jeden Morgen bei ihm lesen, welche Sau jene Leute, die Vokabeln wie “Gutmenschen” und “Banhofsklatscher” verwenden, um damit Menschen zu bezeichnen, die noch nicht ganz so viel Welthass, Pessimismus und Misanthropentum in ihren Herzen tragen wie sie selbst, jetzt wieder durchs Dorf getrieben haben. Und ich weiß, dass man es als “ignorant” und “unprofessionell” abtun kann, wenn ich all das nicht mehr hören und lesen will, aber: krank und verbittert nütze ich der Welt noch weniger. Ich hab sechs Jahre BILDblog gemacht — wenn ich heute wissen will, was in Julian Reichelts Kopf wieder schief gelaufen ist, kann ich das bei den Kollegen nachlesen, die unsere Arbeit dankenswerterweise immer noch weiterführen. Ich muss das nicht zwischen den vereinzelten Kinderfotos entfernter Bekannter in meinem Facebook-Feed haben. Das gute Leben findet inzwischen eh bei Instagram statt.

Ich wollte nie große Ansagen machen wie “Ich hab mich jetzt bei Twitter abgemeldet” — muss ja jeder selbst wissen, kann ja jeder halten, wie er/sie will, wirkt auch immer ein bisschen eitel. Nur: Facebook und Twitter haben mittlerweile eine Macht, die ihren Erfindern kaum klar ist. Sie kommen nicht mehr klar mit dem Irrsinn, der dort abgeht. Und dazu kommt noch der ganze Quatsch, dass richtige Medien ihre Inhalte dort abkippen, um wenigstens ein paar Krümel abzubekommen. Natürlich interessiert es Facebook und Twitter kein bisschen, wenn ihnen ein unbedeutender Blogger aus Bochum alle verfügbaren Mittelfinger zeigt, aber: Hey, immerhin bin ich Blogger! Immerhin hab ich hier ein Zuhause im Internet. Und wenn mir einer auf den Teppich pisst, kann ich ihn achtkantig rauswerfen.

Ich weiß, dass Teile der Welt immer schlecht waren, sind und sein werden — ich brauche nicht die tägliche Bestätigung. Wie können es uns hier so gemütlich machen, wie es in dieser Welt (die übrigens auch ganz viele wundervolle Teile hat) eben geht. Und dann hab ich ja auch noch meinen Newsletter.

Ich hab ein Kind zu erzieh’n,
Dir einen Brief zu schreiben
Und ein Fußball Team zu supporten.

(Thees Uhlmann – 17 Worte)

PS: Am Meer war es übrigens wirklich wunderschön, das kriegt kein Social Media dieser Welt kaputt!

Gestern am Strand von Scheveningen

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Digital Leben

Feedbackschleife

Ich mag WhatsApp nicht — ich kann noch nicht mal genau sagen, warum. Vielleicht ist es das Design, vielleicht der Hinweiston, vielleicht auch der Umstand, dass es jahrelang keine Möglichkeit gab, die Funktionen der App auf einem richtigen Computer zu nutzen. Jedenfalls fand ich WhatsApp schon doof, bevor die App ((Nachdem ich jetzt vier Mal “App” geschrieben habe, halte ich es auch für möglich, dass ich WhatsApp deshalb doof finde, weil ich den Begriff “App” so super-doof finde.)) neue AGBs veröffentlicht hat, die fordern, dass man nicht nur die Daten aller Kontakte auf seinem Telefon mit der WhatsApp-Mutter Facebook teilt, sondern man auch noch erklären soll, dass man die Genehmigung hat, diese Daten weiterzugeben — was eine lustige, große Abmahnwelle auslösen könnte.

Mal davon ab, dass ich E-Mail immer noch für das sinnvollste Kommunikationsmedium halte (so man denn rudimentär in der Lage ist, dieses vernünftig zu nutzen), war ich aber auch immer ein großer Fan von ICQ. In den Blütezeiten von BILDblog, Oslog und co haben Stefan Niggemeier und ich vermutlich Tausende von Stunden über ICQ kommuniziert und dabei zahlreiche Sternstunden des Humors produziert.

Ich kann mich aber seit längerem nicht mehr bei ICQ einloggen, weil alle potentiellen Passwörter, die ich jemals verwendet habe, nicht funktionieren und auch die “Passwort zurücksetzen”-Funktion auf der ICQ-Website für meinen Account aus irgendwelchen Gründen nicht zur Verfügung steht.

Ich schrieb also im April dieses Jahres eine E-Mail an den ICQ-Support mit der Bitte um Hilfe:

Hallo, liebe Menschen,

ich habe seit ca. 1998 ein ICQ-Konto (Nr. XXX), das ich in den letzten Jahren nicht benutzt habe. Weil Facebook, WhatsApp und co alle schrecklich sind, wollte ich mein Konto reaktivieren, aber alle Passwörter, die ich womöglich mal verwendet habe, passen nicht mehr. Auch ein Zurücksetzen des Passworts klappt aus irgendwelchen obskuren Gründen nicht. Könnt Ihr mir vielleicht helfen?

Vielen Dank und beste Grüße,
Lukas Heinser

Die Antwort aus dem Hause mail.ru, zu dem ICQ seit 2010 gehört, kam erstaunlich schnell — und war erstaunlich umfangreich:

Hallo,
Vielen Dank, dass Du uns kontaktiert hast!
Wir benötigen so viel wie möglich Informationen, um sicherzustellen, dass das Konto auch dir gehört:
1. Geschätztes Datum der Registrierung
2. Die dem Konto verknüpfte E-Mail-Adresse
3. Die mit dem Konto verknüpfte Telefonnummer
4. Falls Du eine Sicherheitsfrage hattest, welche und wie lautet die Antwort?
5. Geschätztes Datum, an dem Du das Problem herausgefunden hast
6. Bitte geben Sie die ICQ-Nummern Kontakte in Ihrer Kontaktliste waren
7. IP-Adressen, von denen Sie Zugriff auf das Netzwerk in den letzten Jahren.
8. Handy-Modell und das Betriebssystem , auf dem Sie die Anwendung installieren.
Die kompletten Informationen erlauben uns, den Zugriff auf Dein Konto wiederherzustellen.
Mit freundlichen Grüßen,
Dein ICQ-Support-Team
Bitte zitiere bei einer Antwort die gesamte Unterhaltung.

Ich tat mein Möglichstes, um wenigstens einen Teil dieser Fragen zu beantworten. Da ich mich mit der ICQ-App, die auf meinem antiquierten iPod Touch installiert ist, sogar noch einloggen kann (Passwort herausfinden oder ändern geht leider nicht), war es mir sogar möglich, die ICQ-Nummern von Menschen herauszufinden, mit denen ich vor vielen Jahren via ICQ kommuniziert hatte.

Ich bekam eine Antwort, die mich in nicht mehr ganz so verständlichem Deutsch darum bat, Kontakt mit den Inhabern dieser ICQ-Nummern aufzunehmen, damit diese unter Angabe einer Berichtsnummer Kontakt mit ICQ/mail.ru aufnehmen, um zu bestätigen, dass ich ich bin. Mit zwei dieser Menschen war ich zum Glück immer noch befreundet und konnte sie so bitten, sich an ICQ zu wenden, was sie auch taten.

Die nächsten vier Monate hörte ich: nichts. Als dann die Nachricht von den neuen WhatsApp-AGBs kam, fiel mir wieder ein, dass ich ja meinen ICQ-Account reaktivieren wollte, und hakte noch mal nach:

Guten Tag!

Im April hatte ich versucht, meinen ICQ-Account zu reaktivieren. Ist dies inzwischen irgendwie möglich?

Beste Grüße,
Lukas Heinser

Ich bekam diese Antwort:

Hallo,

Bitte geben Sie Ihre gültige Handy-Nummer, die nicht an ICQ-Account verbunden ist.
Diese Zahl werden wir auf Ihr Konto legen.

Da ich vermutete, dass die Nachfrage meiner Handynummer galt, schickte ich diese als Antwort.

Daraufhin schrieb mir ICQ:

Hallo,

Überprüfen Sie die Richtigkeit Telefonnummer einzugeben.

Ich interpretierte das als Aufforderung, mich auf der ICQ-Website mit meiner Handynummer einzuloggen, scheiterte bei dem Versuch aber kläglich:

Hello,

I just tried to login with my phone number (+49 XXX) but I got logged into the account number XXX and not mine (XXX).

Als Antwort bekam ich:

Hallo,

Diese Telefonnummer +49 XXX ist ungültig. Es bleibt noch eine Ziffer einzugeben.

Das war … merkwürdig, denn mein Handynummer besteht seit langer, langer Zeit aus einer vierstelligen Vorwahl und einer siebenstelligen Durchwahl. Noch glaubte ich deshalb an eine lösbare Aufgabe:

Hallo,

diese Nummer ist seit 15 Jahren meine Telefonnummer, Sie können gerne anrufen.

Ich weiß nicht, ob sie die Nummer mit oder ohne 0 nach der Länderkennung (+49) brauchen, also ist es entweder

0XXX

oder +49XXX.

Vielen Dank!

Das sah der Customer Support bei ICQ aber anders:

Hallo,

Wir können diese Telefonnummer nicht anhängen, es fehlt eine Ziffer.

Mit freundlichen Grüßen,
Dein ICQ-Support-Team
Bitte zitiere bei einer Antwort die gesamte Unterhaltung.

Ich gebe zu, dass ich langsam genervt war, als ich am Freitag antwortete:

Hallo,

ich verstehe nicht, wo das Problem liegt: 0XX-XXX ist meine Telefonnummer. Mehr Ziffern gibt es nicht. Wenn Ihr System diese gültige Telefonnummer nicht anerkennt, stimmt etwas mit Ihrem System nicht.

Viele Grüße,
Lukas Heinser

Nun kam gerade eine E-Mail aus Russland, die uns überraschend vier Monate zurückwarf:

Hallo,
Leider ohne Bestätigung Ihrer Kontakte, können wir Ihnen nicht helfen.

Ich werde es aber weiter versuchen. Vielleicht schaffen die es ja, meinen Account zu reaktivieren, solange ICQ noch mindestens einen weiteren Nutzer hat!

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Schwarm, wir müssen reden!

Vor ziemlich genau zehn Jahren habe ich mit dem Bloggen angefangen. Erst drüben in unserem damaligen Auslandssemester-Blog und später dann hier. Mit einer kleinen Truppe von AutorInnen wollten wir “die Zeitung machen, die wir selber gerne lesen würden” — was bei Licht besehen auch damals schon etwas vermessen war, aber wir wollten einfach mal gucken, was so passiert.

Es wurde sehr schnell ein Blog, in dem ich mich vor allem über Medien und Journalisten ausließ — was daran lag, dass ich damals vor allem das Blog von Stefan Niggemeier und das BILDblog gelesen habe. Es wäre aber falsch, Stefan und Christoph Schultheis die Schuld an meinem altklugen, übellaunigen Geblogge zu geben — ich dachte, glaube ich, wirklich, dass sie bei “RP Online” irgendwann mit ihren Klickstrecken aufhören würden, wenn ich mich nur oft genug darüber aufrege. Inzwischen gibt es BuzzFeed und Social Media und ich sehe ein, dass “RP Online” allenfalls einen vorläufigen Tiefpunkt dargestellt hat.

Blogs waren damals noch etwas anderes, nämlich die mutmaßliche Zukunft. Wir lasen gegenseitig unsere Blogs, verlinkten unsere Einträge untereinander, führten Debatten weiter und machten uns gegenseitig auf nervige, aber auch auf tolle Dinge aufmerksam. Dann kamen Facebook und Twitter und inzwischen redet ungefähr niemand mehr über Blogs, wenn es um die Zukunft des Journalismus geht. ((Okay: So richtig redet niemand mehr über die Zukunft des Journalismus.)) YouTube ist der neue heiße Scheiß und die gleichen Medien, die ein Leistungsschutzrecht einführen wollten, weil Google News Teile ihrer Texte zitiert, entsorgen ihren Content heute direkt bei Facebook, in der Hoffnung, wenigstens noch ein paar Krümel abzubekommen.

Während Facebook früher noch das digitale Wohnzimmer war, wo man Freunde und Bekannte um sich sammelte und lustige Videos mit ihnen teilte, sind inzwischen alle Seitenwände abgebaut worden wie weiland im “Torn”-Video und wir können sehen, dass nebenan der Stammtisch tobt, den man früher nie wahr- oder gar ernstgenommen hätte, und ein merkwürdiger Mob jede Nachricht kommentiert, so dass man anschließend glaubt, die Welt sei voller rechtschreibschwacher Menschenhasser, die wiederum glauben, die Welt sei voller Terroristen und “linksgrün-versiffter Gutmenschen”. Menschen mit ausgedachten Berufsbezeichnungen sind derweil damit beschäftigt, jede Woche eine neue App zu finden, die angeblich “das neue Facebook” sei.

Kurzum: Ich bekomme richtig schlechte Laune, woraufhin ich richtig übellaunige Sachen bei Facebook und Twitter poste, wo es daraufhin aussieht, als sei ich ein richtig übellauniger Mensch. Zum Bloggen komme ich nicht, weil ich die ganze Zeit mit Social Media beschäftigt bin und deshalb leider nicht mehr aufschreiben kann, was mir eigentlich gute Laune macht und was ich gerade toll finde.

Dieses Dilemma hatte ich vor zwei Jahren schon einmal zu beheben versucht, indem ich jeden Tag einen “Song des Tages” posten wollte. Kleiner Haken: Durch die Festlegung auf dieses Format wurde die schöne Idee bald zur lästigen Aufgabe, die mir – korrekt! – schlechte Laune machte.

Sue Reindke, deren Blog ich früher sehr gerne gelesen habe und die ich heute (s.o.) eigentlich nur noch über Social Media mitbekomme, hat letzte Woche ein Experiment gestartet: Sie will ungefähr jede Woche einen Newsletter verschicken mit Dingen, die sie beschäftigen. Ich hatte früher schon öfter über das Medium Newsletter nachgedacht und finde die Idee richtig gut: Statt die Inhalte alle bei Facebook zu verballern, wo Facebook damit auch noch Geld macht und wo sie – vor allem außerhalb eines Webbrowsers – auf technisch grauenhafteste und unbrauchbarste Art irgendwo ins Nirwana diffundieren, kann man sie auch per E-Mail schicken, dem ungefähr einzig brauchbaren Kommunikationsweg, den das Internet jemals hervorgebracht hat. Die Produktion geht nicht so schnell und impulsiv vonstatten wie die eines Tweets und man kann die E-Mail in Ruhe lesen, wenn man mal Zeit hat. Das will ich direkt auch mal probieren!

Ich werde mein Privatleben weiter weitgehend aus dem Internet raushalten, aber statt weiter bunte Papierschmetterlinge in Pinkelrinnen zu werfen, will ich versuchen, positive oder zumindest interessante Dinge an einem Ort zu versammeln: Musik, Trailer, empfehlenswerte Texte, Podcasts oder Videos und ein paar eigene Gedanken. Gleichzeitig will ich versuchen, wieder mehr in diesem Blog zu machen (immerhin feiert das im Februar seinen zehnten Geburtstag), aber das alles ohne Zwang.

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So lange schon mal: mein aktuelles Lieblingslied!

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Digital Gesellschaft

Old man yells at cloud

Seit meine Familie ihre Sommerurlaube in den Niederlanden verbringt (also seit kurz nach Ende des Wiener Kongress), ist es lieb gewonnene Tradition, bei Ausflügen ins Nachbarland die dortigen Supermärkte aufzusuchen und all jene kleinen Köstlichkeiten in gerade noch haushaltsüblichen Mengen rauszuschleppen, die in Deutschland rätselhafterweise nicht zu haben sind: Pindakaas, Pasta Choca, Krentenbollen, Vla und Hagelslag. Erst letzten Monat nutzte ich eine Familienfeier im Grenzgebiet, um anschließend noch mal ordentlich was fürs holländische Bruttoinlandsprodukt zu tun. ((Wie das ungefähr aussieht, hatte ich vor sieben Jahren hier im Blog schonmal gezeigt.)) In Zeiten der Globalisierung sind diese grocery shopping sprees allerdings zunehmend symbolischer geworden: Schokoladenstreusel bekommt man hier schon lange, seit einiger Zeit auch Vla und seit kurzem bekommt man bei jedem Discounter abgepackte Rosinenbrötchen, die den niederländischen Originalen zumindest in Konsinstenz und Optik zum Verwechseln ähneln. Das nimmt den Produkten den Reiz der begrenzten Verfügbarkeit und sorgt nebenher für so ernüchternde Erkenntnisse wie die, dass ich eigentlich gar keinen Pudding mag.

Holländische Spezialitäten.

Ich habe Probleme, mich zu entscheiden. Deswegen meide ich Restaurants mit großen Karten, ((Ich verfüge nämlich auch nicht über eine dieser Lebensmittelunverträglichkeiten, die einem die Auswahl massiv eingrenzt — solange keine Walnüsse im Essen sind oder es sich um gefüllte Nudeln handelt, kann und mag ich alles essen.)) Kaufhäuser und diese Bars mit 246 Sorten Gin. Noch schlimmer sind Frühstücksbüffets und “All you can eat”-Läden, weil ich da immer das Gefühl habe, ich müsste jetzt wirklich alles probieren und verzehren — ich hab ja schließlich dafür gezahlt und das Zeugs steht da jetzt rum und darf eh nicht zurück in die Küche. Und während ich beim Betreten von Buchhandlungen seit jeher leicht depressive Schübe bekomme, weil ich denke: “Das werde ich bis zum Ende meines Lebens niemals alles lesen können”, sind Leihbüchereien noch schlimmer, denn da kann ich ja nicht mal mehr auf eine Intervention meines Kontostands hoffen. Lauter offene Türen, also Zeit, klaustrophobisch zu werden.

Und so komme ich dann auch mit dem Konzept “Streaming” überhaupt nicht klar: Seit ich Kunde bei Musikstreamingdiensten bin (erst Spotify, dann Apple Music) habe ich weniger Musik gehört als je zuvor in meinem Leben. Jede Woche werden mir dutzende neue Songs und Alben angezeigt, von denen ein Algorithmus glaubt, dass sie mir gefallen könnten — also höre ich lieber das, was ich kenne, und kaufe die neuesten Werke der Künstler, von denen ich sonst schon alles habe. ((Tolle neue Alben von Weezer und den Pet Shop Boys, übrigens!)) Natürlich auf CD, denn das ist ja mein anderes Dilemma: Ich will den ganzen Kram natürlich auch besitzen. Ins Regal stellen. Anfassen können. Haben. MP3s waren irgendwie auch noch okay, denn da “habe” ich ja die Datei auf der Festplatte. Streaming ist da wie Auto leasen: zahlen, aber am Ende nichts besitzen.

Gleiches Dilemma bei Fernsehserien: Weil ich es mag, wenn meine Amazon-Bestellungen noch am selben Tag verschickt werden, damit ich sie am übernächsten Werktag im Postamt abholen kann, bin ich “Prime”-Kunde — und bekomme ungefragt die Option, hunderte Fernsehserien jederzeit kostenlos anschauen zu können. So könnte ich die Stunden, in denen ProSieben keine Wiederholungen von “The Big Bang Theory” zeigt, mit Wiederholungen von “The Big Bang Theory” überbrücken. Wenn ich denn “The Big Bang Theory” gucken wollen würde — oder irgendeine andere Fernsehserie.

Fernsehen ist für mich wie für andere Leute Sport: Wenn jemand mitkommt und mich dazu zwingt, ist es meist ganz okay. Alleine fallen mir meist hundert Sachen ein, die ich dringender erledigen müsste. ((Sport, zum Beispiel.)) Dann möchte ich aber gerne auch, dass die Programmplaner mir gnadenlos vorgeben, was ich wann zu gucken habe. So wie früher, als ich jeden Montagabend zu meinen Großeltern gegangen bin, um “Akte X” zu gucken, weil meine Eltern keine Satellitenschüssel hatten. Der 50 Meter lange Rückweg durch einen nächtlichen Garten gewinnt für einen 12-Jährigen deutlich an Spannung, wenn er sich vorher mit Aliens, Zombies oder Verschwörungen beschäftigt hat. Wenn ich Fernsehen nicht linear (oder, wie ich es nenne: “normal”) gucken kann, will ich es gar nicht sehen. Und dann diese Mengen! “Guck Dir ‘Breaking Bad’ an!” — alles klar: 62 Folgen, ((Und damit noch für amerikanische Serien noch vergleichsweise wenig.)) sehe ich aus, als hätte ich so viel Zeit?! Ich habe bei meinen Eltern noch einen laufenden Meter VHS-Kassetten mit über hundert Folgen “Nash Bridges” stehen, die ich Ende der 1990er Jahre auf Vox mitgeschnitten habe!

Diese modernen Fernsehserien sind aber eh nichts für mich: Handlungsstränge, die sich über Wochen und Monate entfalten, “horizontales Erzählen”, Chronologiesprünge — urgs! Genauso schlimm wie diese unendlichen Kinofilme von Christopher Nolan und Zack Snyder! Ich lese auch am liebsten Bücher mit weniger als 300 Seiten, dann kann ich mehr verschiedene lesen. Wie dem älteren Herrn im Wartezimmer beim Arzt, der sehr detailliert, aber völlig pointenfrei erzählt, was er neulich im Wartezimmer beim Bürgerbüro erlebt hat, möchte ich sonst immer rufen: “Komm zum Punkt!” Aber ich schweife ab.

Neulich wollte ich “Solsbury Hill” von Peter Gabriel hören. Zu Schulzeiten hätte ich dazu erst meinen Vater befragt und wäre dann in die Stadtbibliothek gefahren. ((Musik aus der Stadtbibliothek ging übrigens immer total in Ordnung, die konnte man ja erst auf Kassette und später dann auf die Festplatte kopieren, also “haben” — versuchen Sie das mal mit einem Buch!)) Wenn das entsprechende Album dort auch nicht verfügbar gewesen wäre, hätte ich nacheinander die – mittlerweile natürlich alle geschlossenen – Plattenläden meiner Heimatstadt abklappern müssen. Ich erinnere mich, wie ich Anfang 2000 bei bitterer Kälte mit meinem Fahrrad jeden Ort in Dinslaken ansteuerte, an dem ich Tonträger hätte käuflich erwerben können — sogar den Karstadt und die drei Videotheken. ((Videotheken! “Wie Netflix, nur mit Kosten für Miete und Personal.”)) Nirgendwo gab es den Soundtrack zu “Fight Club”. Anderthalb Wochen später fuhr ich mit meinen Freunden mit dem Zug nach Essen, um die CD dort, in der großen Stadt, endlich zu erwerben. Das gleiche ein paar Monate später mit dem Album “St. Amour” von Tom Liwa. Was meinen Sie, wie euphorisch ich jeweils war, als ich die CDs endlich nach hause schleppen und dort hören konnte? Heute: drei Klicks — Mega-Spannungsbogen! Und so habe ich dann neulich auch blitzschnell das (wirklich phantastische) erste selbstbetitelte Album von Peter Gabriel ((Oder “Car”, wie wir Nerds sagen.)) hören können. Und seitdem nie wieder, denn es wäre ja theoretisch jederzeit verfügbar, genauso wie fast jedes andere Album der Musikgeschichte. Kein “Ich hab das jetzt gekauft, da muss ich es auch jeden Tag hören”-Rechtfertigungszwang mehr, kein “Ich hab doch nur soundso viele CDs”-Ressourcenmangel. Kein Wunder, dass Konzepte wie Polyamorie und Offene Beziehung plötzlich näher liegen als auf dem Dorf.

Musiksammlung.

Douglas Adams hat über das Verhältnis von Menschen und Technologie geschrieben:

I’ve come up with a set of rules that describe our reactions to technologies:

1. Anything that is in the world when you’re born is normal and ordinary and is just a natural part of the way the world works.

2. Anything that’s invented between when you’re fifteen and thirty-five is new and exciting and revolutionary and you can probably get a career in it.

3. Anything invented after you’re thirty-five is against the natural order of things.

Die Zahl “thirty-five” kann man bei mir bequem durch “twenty-five” ersetzen. Mit 13 war ich online, ((Wenn auch anfangs nur sehr wenig, sehr langsam, dafür aber sehr teuer.)) es ist für mich so normal wie elektrischer Strom oder analoges Antennenfernsehen. Mit 15 habe ich meine ersten Texte ins Internet geschrieben und das war so, wie eine eigene Zeitung herauszugeben: toll. Deswegen habe ich dann mit 23 einen Blog aufgemacht. Und obwohl ich hier in den nach unten offenen Kommentarspalten ((Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an dieses Bonmot aus der guten, alten Zeit.)) einige Freunde gefunden habe, muss ich zugeben, dass ich diesen Rückkanal gar nicht zwingend gebraucht hätte. Und hier sind ja zumeist total vernünftige Leute unterwegs! Stellen Sie sich mal vor, Sie arbeiten für die “Tagesschau”, halten Ihre Zuschauer für einigermaßen aufgeklärt und müssen dann erleben, was die auf Ihrer Seite oder gar bei Facebook kommentieren. Da wird der Betreuungsschlüssel nahegelegener Therapieeinrichtungen schnell überreizt!

Ich hätte deshalb gerne mein Internet von 2010 zurück: Blogs statt Facebook, ICQ statt WhatsApp und E-Mail statt Slack. Auch die Computer waren damals noch besser: MacBooks hatten verschiedene Anschlüsse für verschiedene Geräte und ein CD/DVD-Laufwerk, Mobiltelefone passten noch in Hosentaschen und auch die Betriebssysteme waren noch bedeutend besser als nach dem 17. Upgrade. “Online gehen” setzte, wenn schon nicht mehr die leicht umständliche Einwahl per Modem, so doch zumindest einen Computer voraus, der zumeist auch noch an einen Platz gebunden war. Heute “geht” man ja nicht mehr online, man ist es. Immer, überall. Kein drinnen und draußen mehr. ((Viele Leute wissen dabei nicht mal, dass sie das Internet nutzen, die nutzen nur Facebook.)) Das Foto, gerade gemacht, ist jetzt schon auf allen Geräten, die mit dem Konto verbunden sind — oder, wenn Sie prominent sind, beim Hacker.

Neuester Trend: Live-Videos. Journalisten, gleichermaßen geblendet vom Moment des Dabeiseins und den neuen technischen Möglichkeiten, streamen wie besoffen von Parteitagen, Konferenzen und Festivals, ((Wenn’s gut läuft. Wenn’s schlecht läuft, streamen sie live aus Polizeioperationen.)) die sie eigentlich besuchen, um zu beobachten, zu analysieren und einzuordnen. Positiver Nebenaspekt von so viel Live-Leben allerdings: Der früher oft so gefürchtete Dia- oder Videoabend nach einer großen (oder auch kleinen) Reise ist zurecht fast komplett ausgestorben.

Mag sein, dass andere Menschen mit dieser permanenten Verfügbarkeit von allem, inkl. ihrer selbst, besser klarkommen als ich. Gespräche mit Psychologen und Soziologen legen allerdings nahe, dass dem nicht so ist. Aber man kann sich ja jederzeit sein Entschleunigungs-Magazin mit Landhausflair und Lavendelduft auf dem iPad angucken oder die Meditations-App starten. Oder halt einfach durchdrehen, die Möbel aus dem Fenster schmeißen und den Kopf gegen die Wand schlagen.

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Rundfunk Digital

Dieser Text soll wütend machen

Ich habe angefangen, einen Text zu verfassen. Unglaublich, was dann passierte.

Man weiß ja eigentlich, dass eine Sache popkulturell durch ist, wenn die Parodien darauf anfangen, einem massiv auf den Sack zu gehen. ((Das ist in der Regel der Moment, in dem Radiosender anfangen, die betreffende Sache in ihr “Comedy”-Repertoire aufzunehmen.)) Die Nummer mit dem “Heftigstyle” ist also eigentlich durch.

Der “Heftigstyle” ist benannt nach dem “stilistischen” Vorbild heftig.co, einer Internetseite, die es sich zum Ziel gesetzt hat, bunte Meldungen von anderen, internationalen Trash-Portalen zusammenzuklauben, diese grob ins Deutsche zu übersetzen und mit plumpen Anreißertexten in Sozialen Netzwerken zu streuen. Ungefähr alles, was man über diese Website wissen muss, die vom guten Anstand über die Prinzipien des Kapitalismus bis hin zum geringsten sprachlichen Empfinden einfach alles beleidigt, hat der Herm schon vor drei Monaten aufgeschrieben. In meinen eigenen Social-Network-Feeds tauchen Meldungen von “Heftig” auffallend selten auf, was ich sehr gut finde, aber die Seuche greift um sich — immer mehr (meist ebenfalls unseriöse) Internetportale beteasern ihre Artikel in “Heftig”-Manier. Einen groben Überblick über diese Hölle liefert der inzwischen schon wieder etwas verwaist erscheinende tumblr “heftigstyle”.

Formulierungen wie “Dieser Elfmeterschütze möchte besonders angeben. Doch was dann folgt, ist einfach zum Lachen.” machen mich so unfassbar aggressiv wie sonst nur tropfende Wasserhähne über Edelstahlspülen. Ich brauchte ein paar Wochen mit mir und meinen Gefühlen um zu begreifen, warum das so ist. Dann wurde mir klar: Es ist die völlige Bevormundung des Lesers. Er soll schon vor der Lektüre des ganzen (meist lächerlich kurzen) Artikels wissen, wie er zu reagieren hat — im konkreten Fall Lachen. Mal davon ab, dass die wenigsten als besonders lustig angepriesenen Geschichten die entstandene Erwartungshaltung erfüllen können, ist das für mich auf eine Art ausgeprägte Menschenverachtung. Es ist irgendwie noch schlimmer als Fast-Food-Verpackung, auf die groß “Lecker!” gedruckt ist, es ist die maximale Unterforderung des Rezipienten.

Das Law-and-Order-Format “Achtung Kontrolle” auf Kabel Eins arbeitet mit den gleichen rhetorischen Mitteln, wenn die laienschauspielernden Polizisten oder Steuerfahnder ebenso leb- wie lieblos Satzkonstruktionen ablesen, die ungefähr so gehen: “Ich habe den Mann dann noch mal aufgesucht und was ich dann sah, hat mich wirklich überrascht.” Darauf folgt die nachgestellte Szene, in der der Ordnungshüter den Mann noch einmal aufsucht und dann etwas sieht, was ihn wirklich überrascht. Normal entwickelte Fünfjährige würden diesen Ablauf korrekt verstehen und einordnen, aber für die angeblich erwachsenen Zuschauer, die die Macher dieser Sendung offenbar für lernbehinderte Matschkartoffeln auf dem heimischen Sofa halten, wird das schön erklärt — und nach der Werbepause noch mal vom Off-Sprecher wiederholt.

Klar, wir Akademiker könnten uns jetzt schön zurücklehnen und sagen: “Das ist halt Trash-TV fürs Trash-Volk. Bildungsferne Schichten, Hartz IV, Dosenbier — die sind halt doof.” Also genau das, was sich die Produzenten solcher TV-Sendungen in all ihrer Überheblichkeit – und der daraus folgenden Menschenverachtung – auch denken. Aber ich weigere mich, das zu glauben. Billy Wilder hat mal gesagt, ((Sinngemäß, ich finde das Zitat leider auf die Schnelle nicht mehr wieder, es ist aber irgendwo im Wilder-Buch von Hellmuth Karasek zu finden.)) man dürfe den Zuschauer nicht unterschätzen bzw. unterfordern, er sei schlau genug, eins und eins selbständig zusammenzuzählen.

Bei “Tagesschaum” hatten wir spaßeshalber mal das Mission Statement “Wir wollen den Zuschauer auf mehreren Ebenen überfordern” formuliert — und dieses Versprechen sicherlich auch oft genug eingelöst. ((Und, klar: Unsere Quoten konnten nicht mit denen von “Achtung Kontrolle” mithalten.)) Ich habe erst mit der Zeit begriffen, dass es beim Fernsehen wirklich außergewöhnlich ist, gewisse Fakten als bekannt vorauszusetzen und den Zuschauer vor allem mal eigene Schlüsse ziehen zu lassen. Man kann ja heute kaum noch eine Nachrichtensendung schauen, in denen Aufnahmen von hungernden Kindern, vertriebenen Menschen oder den Auswirkungen von Naturkatastrophen nicht als “schlimme Bilder” anmoderiert werden — ganz so, als wäre das Publikum nicht selbst in der Lage, das Gezeigte als schlimm einzuordnen.

Womöglich bin ich da alleine, aber ich fühle mich von solchen Erklärungen immer bevormundet — genauso übrigens wie von den meisten Auflösungen in Krimis. Da haben die Autoren im ersten und zweiten Akt schön ihre Fährten gelegt und Hinweise gegeben, ((Inzwischen muss man ja schon froh sein, wenn das noch halbwegs natürlich geschieht und nicht irgendwelche Einblendungen aufpoppen, auf denen “Achtung! Diese Information wird gleich noch wichtig!” steht.)) und dann wird im dritten Akt noch mal eine Rückblende abgefeuert, damit auch der größte Depp (aus Sicht der Macher: der Zuschauer an sich) begreift, was ambach ist.

Ich möchte hier noch mal in Betracht ziehen, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, dem es so geht, aber ich denke bei Filmen oder Romanen lieber “Das habe ich jetzt nicht verstanden, da hätte ich besser aufpassen müssen, mein Fehler!” als “Ja-haaa! Ich hab’s verstanden!”. Ich weiß noch, wie wütend ich beim Sehen von Quentin Tarantinos “Inglourious Basterds” an einer Stelle wurde: In einer Gaststätte hatte sich ein Brite als Deutscher ausgegeben, tadelloses Deutsch gesprochen und war doch aufgeflogen. Er hatte beim Bestellen von drei Gläsern Scotch den Zeige-, Mittel- und Ringfinger hochgehalten — ein echter Deutscher würde die Zahl Drei aber mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger anzeigen. Man sieht in der Szene, wie August Diehl Michael Fassbenders Finger anstarrt und sein Gehirn rattert. Selbst wenn man nicht mit den kulturellen Unterschieden des finger-countings vertraut ist, gehen an dieser Stelle quasi alle Sirenen an und der Satz “Hier stimmt etwas nicht, Ihr seid aufgeflogen!” läuft in Laufschrift über Diehls Stirn. ((Damit wir uns nicht falsch verstehen: August Diehl macht in diesem Film einen phantastischen Job. Ich fand ihn fast noch besser als Christoph Waltz.)) Und trotzdem hielt Tarantino (womöglich: hielten die Produzenten) es für notwendig, die Sache mit den Fingern später noch einmal im Dialog aufzulösen. Damit auch der Letzte begreift, warum die Tarnung aufgeflogen ist.

Man hört ja immer wieder davon, dass viele Menschen, allen voran natürlich Schulkinder, nicht mehr in der Lage seien, einfache Texte sinnentnehmend zu lesen. Klar: Wenn ich daran gewöhnt bin bzw. werde, dass eine überraschende Wendung als solche gekennzeichnet wird oder dass traurige Musik anschwillt, wenn etwas trauriges passiert, dann wird es schwierig, wenn sich plötzlich der Asphalt vor mir auftut und der Tagebruch nicht “Überraschung!” schreit und die Musik ausbleibt, wenn der Hamster stirbt. Da bedarf es schon ein bisschen Vorwissen und Transferleistung, um das von selber auf die Kette zu kriegen.

Verschwörungstheoretiker würden jetzt erklären, dass es Wunsch und Auftrag von Regierung und/oder Werbekunden sei, das Volk dumm zu halten, aber ich fürchte, die Erklärung ist wie so oft viel einfacher, also schlimmer: Irgendwelche Controller haben in irgendwelchen Umfragen herausgefunden, wie man mit noch weniger eigenem Aufwand noch mehr Leute erreichen kann, die sich schon so sehr daran gewöhnt haben, für Toastbrot gehalten zu werden, dass es sie gar nicht mehr aufregt.

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Gesellschaft Politik

#2013

Vor zwei Wochen habe ich mir angeschaut, wie die Sendung “30 Jahre RTL” produziert wird. Die Aufzeichnung dauerte nicht ganz so lange, wie der Titel versprach (aber fast), und wird am 3. Januar ausgestrahlt.

Deutlich schneller ging die Produktion eines eher namenlosen Podcasts vonstatten, zu der ich mich gestern mit Friedrich Küppersbusch getroffen habe: 99 Tage nach der Bundestagswahl und 101 Tage nach dem letzten Tagesschaum haben wir über das Jahr 2013 meditiert — und das Ergebnis können Sie sich schon jetzt anhören!

Mit dabei: Angela Merkel, Edward Snowden, Hashtags und Omma & Oppa.

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Kommen Sie gut ins Neue Jahr!

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Digital

Internetmäander

Ich habe ein wichtiges Jubiläum verpasst: Irgendwann Ende November, Anfang Dezember muss es sich zum 15. Mal gejährt haben, dass der erste von mir geschriebene Text im World Wide Web veröffentlicht wurde. ((Die lächerlichen “Homepages”, die meine Freunde und ich in den Monaten zuvor bei AOL bzw. Tripod (Kinder, fragt Eure Großeltern, was das war) hochgeladen hatten, zählen nicht als Text.)) Es handelte sich um eine Kritik zum Film “Jackie Chan ist Nobody”, an den ich mich heute kein bisschen erinnern kann, und sie erschien auf “Schröders kleine Filmseiten”. Weil das Internet damals noch vergessen konnte, müsste ich die NSA um eine Sicherungskopie des Textes bitten, wenn ich ein entferntes Interesse daran hätte, meine Rezension noch einmal nachzulesen.

Das heißt auch: In ein paar Monaten werde ich mein halbes Leben ins Internet schreiben.

Ich glaube nicht, dass ich das Internet damals als Offenbarung, Chance oder Sensation begriffen habe. Mir war damals klar, dass die Zahl meiner Leser nicht signifikant steigen würde, verglichen mit den Texten, die ich in den sieben, acht Jahren zuvor in meine Schreibmaschine gehackt habe. Und meine Verwandten in den USA hätten meine Texte ja auch lesen können, wenn ich sie ihnen gefaxt hätte. Das Internet wurde erst richtig cool, als ich begriff, dass ich dort Fotos von meinen Lieblingsschauspielerinnen und obskure B-Seiten meiner Lieblingsbands herunterladen konnte. Ich fand den Eingangskanal immer beeindruckender als den Ausgangskanal.

Daran hat sich auch in den vielen Jahren, die ich auf verschiedensten Plattformen im Internet publiziert habe und in denen ich damit teilweise meinen Lebensunterhalt bestritten habe, nicht groß geändert. Natürlich weiß ich theoretisch, dass die mehr als 70.000 Zugriffe, die etwa unsere Oslog-Folge mit Lena Meyer-Landrut und Hape Kerkeling hatte, deutlich mehr sind als die maximal 50, 60 Zuschauer, die meine Freunde und ich im Jahr 1999 mit unseren selbst gedrehten Actionfilmen erreichen konnten. Und 2.000 Zuhörer hätte ich mit meinen Bands auch nie erreicht. Aber ich hab diese Sachen ehrlich gesagt immer in erster Linie für mich gemacht — ob sie hinterher auch Rezipienten finden, war mindestens zweitrangig.

Ich habe ins Internet geschrieben, bevor ich je das Wort “Blog” gehört hatte. Meine Schulfreunde und ich hatten eine Seite, auf der wir uns über unsere Erlebnisse ausgetauscht haben, lange bevor wir wussten, was ein “Social Network” ist, und bevor Facebook – oder auch nur MySpace ((Kinder, bitte wieder die Großeltern fragen.)) – gegründet wurde. Für mich ist das Internet so selbstverständlich wie fließend Warmwasser und elektrischer Strom und ich habe nie verstanden, warum manche ein großes Gewese darum machen, das Internet zu kritisieren oder zu verteidigen. Man kann mit Wasser seine Hände waschen oder sein Kind in der Badewanne ertränken und man kann mit elektrischem Strom Kartoffelsuppe nach altem Familienrezept kochen oder “Taff” auf ProSieben gucken — und so ist das Internet auch genau das, was man draus macht.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich nie so ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt habe, wie es auf Barcamps und Treffen wie der re:publica ((Allein die Schreibweise schon!)) zelebriert wird. Ich habe das Internet immer für ein sehr praktisches Werkzeug gehalten und ich finde es schön, dass ich dort Dinge machen und konsumieren kann, die nie im Fernsehen oder Radio laufen und nie von einem Verlag gedruckt werden würden, aber ich halte auch mein Schweizer Taschenmesser, ((Seit Weihnachten 1994 in meinem Besitz.)) meinen Staubsauger und meinen Dosenöffner für sehr praktische Werkzeuge und würde dennoch nie zu einem Treffen von Taschenmesser-, Staubsauger- oder Dosenöffnerfans gehen. ((Das mag freilich auch damit zusammenhängen, dass ich ein grundsätzliches Problem damit habe, Teil einer Gruppe zu sein.))

Ich will das hier jetzt gar nicht im Einzelnen aufdröseln, aber wenn ich sehe, was Geheimdienste, Regierungen und Anwaltskanzleien mit dem Internet veranstalten, macht mich das betroffen und wütend. Der Generalverdacht gegenüber der Bevölkerung, der sich in der Sammlung quasi aller Kommunikationsdaten manifestiert, ist unerträglich und auch irgendwie unlogisch: Schon seit Jahrzehnten werden Hämmer verkauft, mit denen man wahlweise Regale zusammenbauen oder jemanden erschlagen kann, ((In einigen Haushalten soll es zu Situationen gekommen sein, wo beides mehr oder weniger zeitgleich stattgefunden hat.)) von der vielseitigen Einsatzmöglichkeit von Messern und Autos ganz zu schweigen. Ich bin nicht der Meinung, dass man alles überwachen muss, weil Terroristen “Technik nutzen”, und ich hänge auf der staatstheoretischen Ebene der humanistischen Idee an, die Tim Berners-Lee kürzlich formuliert hat:

Any democratic country has to take the high road; it has to live by its principles. I’m very sympathetic to attempts to increase security against organised crime, but you have to distinguish yourself from the criminal.

Und weil Tim Berners-Lee der Mann ist, der das World Wide Web erfunden hat, nutze ich diesen Zirkelschluss, um zum Schluss zu kommen:

Ich mag das Internet, macht es nicht kaputt!

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Musik Unterwegs

Luki Waits

Ich hab das Gefühl, ich hab das alles schon tausendmal erzählt:

Wie ich 1999, als ich Ben Folds Five gerade für mich entdeckt hatte, nicht zur “Rolling Stone Roadshow” gefahren bin, weil ich dachte, die Band würde schon demnächst mal wieder nach Deutschland kommen. Und wie sich die Band dann ein Jahr später aufgelöst hatte.

Wie im Jahr 2001 das erste (offizielle) Soloalbum von Ben Folds erschien und ich das Releasedate schon Monate vorher groß im Kalender markiert hatte: den 11. September.

Wie ich an einer Online-Petition teilnahm, die Ben Folds mit seinen damaligen Begleitmusikern im Jahr 2005 endlich wieder nach Deutschland brachte.

Wie Ben Folds Five im September 2008 tatsächlich ein einzelnes Reunion-Konzert spielten, das blöderweise in Chapel Hill, NC stattfand. Und wie sie dann im vergangenen Jahr doch noch ankündigten, wieder zusammen ein Album aufzunehmen und auf Tour zu gehen.

“The Sound Of The Life Of The Mind” ist tatsächlich ein sehr gutes Album geworden, nicht nur gemessen an meinen (zugegebenermaßen sehr niedrigen) Erwartungen und meinem Fandom, sondern einfach ein sehr gutes Album. Im Sommer waren die ersten Festival-Auftritte der wiedervereinten Band auf YouTube zu sehen, dann kamen die Tour-Termine raus — auf denen Deutschland fehlte. Aber nach 13 Jahren Warten haben Ländergrenzen, Kosten und abwegige Ideen völlig ihre Bedeutung verloren, so dass ich mir nur noch Begleitung suchen musste und dann Flug nach, Hostel in und Konzerttickets für Manchester gebucht habe.

Ben Folds Five im O2 Apollo Manchester

Manchester ist keine Stadt, die einen mit Schönheit überwältigt. Mit Hässlichkeit allerdings auch nicht. Je mehr ich in Deutschland und der Welt rumkomme, desto mehr verschwimmen all dieses Städte sowieso vor meinem geistigen Auge zu einer bzw. zweien — einer deutschen und einer internationalen. In der internationalen gibt es dann Läden wie HMV und Waterstone’s und in ihren Supermärkten kann man HP Sauce und Schokolade von Cadbury kaufen und was braucht der Mensch eigentlich mehr?

Außerdem waren wir ja eh primär aus einem Grunde in der Stadt. Ich war in den Tagen vor dem Konzert nicht aufgeregt, es war nicht so wie als Teenager, als ich Tage vorher nur noch die CDs der auftretenden Bands gehört habe und mit Herzklopfen in den Zug gestiegen bin, selbst wenn es zum Konzert von Slut nach Dortmund ging. Aber in der Nacht vor dem Konzert habe ich dann doch von zwei Ben-Folds-Five-Songs geträumt. So was war mir noch nie passiert.

Viel zu früh standen wir letztlich vor den noch verschlossenen Toren des O2 Apollo, das sich große Mühe gegeben hatte, die tatsächlichen Zeitpunkte für Einlass und Konzertbeginn geheim zu halten. Eine weitere Stunde fiel der Vorband und Umbaupause zum Opfer: Ich habe vor Ben Folds’ Solokonzerten bisher immer nur Acts gesehen, die bestenfalls okay waren, häufig auch sehr speziell. Aber so anstrengend wie Bitter Ruin war tatsächlich noch keiner von ihnen gewesen. Aber was sind 25 Minuten Gekreische gegen 13 Jahre?

Gut. Diese verdammten 13 Jahre bedeuteten natürlich auch, dass ich mir vorher schon sicher sein konnte, dass das Konzert meine Erwartungen nicht würde erfüllen können. Also: Meine Erwartungen von damals. Heute hatte ich ja irgendwie keine mehr. Als Ben Folds, Robert Sledge und Darren Jessee die Bühne betraten, war das dann auch kein “Endlich!”-Moment mehr. Es war einfach der Beginn eines Konzertes. Aber eines guten.

Ben Folds Five im O2 Apollo Manchester

Die Setlist war klug zusammengestellt, die Band definitiv in Spiellaune. In einzelnen Momenten drohten Songs rhythmisch aus dem Leim zu gehen, obwohl die drei eigentlich Top-Musiker sind, aber die Harmoniegesänge waren in jedem Moment grandios und zählten sicher zu Besten, was es in dem Bereich seit Ende der Sechziger gegeben hat. ((Vergessen Sie Mumford & Sons, vergessen Sie Fleet Foxes!)) Neue Songs (gleich sieben) wechselten sich mit alten Hits ab, aus Folds’ Solophase gab es nur “Landed” zu hören, bei dem sich Bassist Robert Sledge und Schlagzeuger Darren Jessee etwas zurückhaltend zeigten.

Als ich dann “Brick” zum ersten Mal in meinem Leben live hörte, stellte sich tatsächlich ein kleiner Gänsehautmoment ein. So ein gestrichener Kontrabass wirkt quasi direkt auf die kleinen Härchen auf den Armen und im Nacken und das vermutlich schönste Lied, das je über eine Abtreibung geschrieben wurde, tut natürlich sein Übriges. Beinahe erwartbar improvisierten die Drei spontan den Song “Rock This Bitch In Manchester”, dessen Text so bescheuert war, dass sogar Folds beim Singen lachen musste. Und die Bläser-Passage aus “Army” können aufmerksame Konzertbesucher inzwischen natürlich im Schlaf mitsingen.

Nach 113.976 Stunden des Wartens und ziemlich exakt zwei Stunden Konzert war dann Schluss — für Ben-Folds-Verhältnisse etwas früh, aber – hey! – auch das ist England. Dann eben kein “Magic”, kein “Philosophy”, “Don’t Change Your Plans”, “Eddie Walker”, “Lullabye” oder “Away When You Were Here”, der beste Song des neuen Albums. Es war ein wirklich tolles Konzert, aber wirklich besonders hat es sich für mich dann leider doch nicht angefühlt. So ist das also, wenn man sich die Spielzeugeisenbahn zum 50. Geburtstag endlich selbst kauft.

Am nächsten Tag zeigte sich dann wieder einmal, wie nutzlos das Internet sein kann: Während wir in Manchester via Facebook-Timeline ausführlich darüber informiert wurden, dass die Zeitschrift “Brigitte” irgendetwas über Skateboards geschrieben hatte, ((Leute, jetzt mal im Ernst: Get. A. Fucking. Life.)) war irgendwie völlig an uns vorbeigegangen, dass Ben Folds am Mittwoch seine einzige Fotoausstellung während der gesamten Tour eröffnet hatte. In Manchester. Mit Band. In einer Galerie, zwei Blocks vom Hostel entfernt.

Story of my life.

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Digital Print

Papier ist geduldig

Gestern gab es gleich zwei schlechte Nachrichten im Mediensektor: Das Stadtmagazin “Prinz” wird im Dezember zum letzten Mal als gedruckte Ausgabe erscheinen und die “Frankfurter Rundschau” meldete Insolvenz an.

Sofort ging das Geraune wieder los, Print sei tot. Wahrscheinlich konnte man auch wieder das Idiotenwort “Totholzmedien” lesen. Gerne würde ich diesen Leuten ins Gesicht schreien, dass sie Unrecht haben. Das Problem ist: Ich würde mir selbst nicht glauben. Das Problem bin ich selbst.

Das letzte Mal, dass ich ein Printerzeugnis gekauft habe, war die September/Oktober-Ausgabe der “Spex”. Davor hatte ich in diesem Jahr vielleicht fünf, sechs andere Zeitungen und Zeitschriften gekauft. Nicht, weil ich die Produkte scheiße fände, im Gegenteil, aber: Wann soll ich die denn lesen?

Vielleicht liegt es daran, dass ich von zuhause aus arbeite — mein Weg vom Frühstücks- zum Schreibtisch beträgt sieben Meter, der Gang zur Tageszeitung im Briefkasten wäre ein Umweg. Als ich im ersten Semester meines Studiums noch täglich von Dinslaken nach Bochum gependelt bin, habe ich in dieser Zeit jeden Monat “Musikexpress”, “Rolling Stone”, “Visions” und “Galore” gelesen, dazu zahlreiche Bücher und an manchen Tagen gar Zeitungen. Tatsächlich habe ich alle Zeitschriften, die ich 2012 gekauft habe, in Bahnhofskiosken erworben. Aber auf Zugfahrten kann ich auch endlich mal in Ruhe Podcasts hören oder ein Buch lesen — oder halt die ganze Zeit auf den Bildschirm meines iPhones starren.

Es ist bescheuert, Texte auf einer Fläche lesen zu wollen, die kleiner ist als mein Handteller, und wir werden vermutlich eines Tages alle dafür bezahlen. Aber es ist auch so herrlich praktisch, in der S-Bahn, im Café oder morgens noch vor dem Aufstehen im Bett zu lesen, was gerade in der Welt passiert. Ein Buch würde ich so nie lesen wollen, aber Nachrichten? Warum nicht!

Gemessen daran ist die Tageszeitung, die ich auf dem Weg zum Bäcker kaufen könnte, natürlich alt. Dass sie deshalb überflüssig sei, ist natürlich auch so ein Quatsch-Argument der Internet-Apologeten: Schon vor 30 Jahren konnte es einem passieren, dass die “Tagesschau” um 20 Uhr berichtete, was man schon im “Morgenmagazin” auf WDR 2 gehört hatte. Es geht ja nicht nur um die reine Nachricht, sondern auch um deren Aufbereitung. Und selbst wer den ganzen Tag am Internet hängt, wird nicht alles mitbekommen haben, was sich an diesem Tag ereignet hat. Andererseits ist der Nutzwert einer Zeitung, die fast ausschließlich die gleichen Agenturmeldungen bringt, die am Vortag schon auf zweitausend Internetseiten zu lesen waren, tatsächlich gering. Das gilt leider auch für eine Lokalzeitung, die ihre schönen Enthüllungen schon vorab im eigenen Webportal veröffentlicht hat.

Natürlich liest man Zeitungen ganz anders als Webseiten: Das Auge streift Meldungen, Überschriften und Fotos, nach denen man nie gesucht hätte, die einen aber dennoch ansprechen können — nicht selten zur eigenen Überraschung. Ich liebe gut gemachte Zeitungen, trotzdem lese ich sie nicht. Ich weiß auch, was gutes Essen ist, trotzdem geht nichts in der Welt über Burger, Currywurst und Pizza. Aber warum bin ich, warum sind wir Menschen so?

Es kann mir niemand erzählen, dass die Lektüre eines Textes auf einem Bildschirm (egal ob Smartphone, Tablet oder Monitor) mit der eines Buchs vergleichbar ist. Der Text ist derselbe, aber “Lektüre” ist dann offenbar doch etwas anderes als schlichtes Lesen. Schon ein Taschenbuch fühlt sich nicht so wertig an wie eine gebundene Ausgabe mit Lesebändchen, die digitale Textanzeige ist dagegen ein Witz. ((Anderseits kann eine Volltextsuche schon sehr, sehr praktisch sein.)) Aber offensichtlich gibt es Menschen, denen das an dieser Stelle dann vielbeschworene sinnliche Leseerlebnis nicht so wichtig ist. Ich würde ja auch keine 20 Euro für eine Flasche Wein bezahlen.

Mein Verhältnis zu Vinyl-Schallplatten ist eher theoretischer Natur: Ich habe nur ein paar, das meiste sind Singles, die ich aus einer Mischung von Schnäppchenjagd, Witz und Sammelleidenschaft erworben habe. ((Eine spanische Pressung von “September” von Earth, Wind And Fire? Klar! Die Originalauflage von Sandie Shaws “Puppet On A String”? Brauch ich als ESC-Fan natürlich dringend!)) Ich besitze nicht mal eine ordentliche Stereoanlage, auf der ich die Dinger abspielen könnte, weiß aber natürlich um den legendären Ruf von Vinyl. Meine Sozialisation fand mit CDs statt und ehrlich gesagt frage ich mich manchmal schon, warum anfällige Schallplatten besser sein sollen als die dann doch recht robusten Silberscheiben. Und natürlich sind CDs für mich viel wertiger als MP3s, auch wenn ich viele CDs nur einmal aus der Hülle nehme, um sie in MP3s zu verwandeln. Aber MP3s sind für mich immer noch besser als Streaming-Dienste wie Spotify: Da “habe” ich ja wenigstens noch die Datei. Bei einem Streaming-Dienst habe ich Zugang zu fast allen Tonträgern der letzten 50 Jahre, wodurch jedes Album quasi völlig wertlos wird, auch wenn ich im Monat zehn Euro dafür bezahle, alles hören zu können. Dennoch nutze ich Spotify, wenn auch eher für Klassische Musik und zum Vorhören von Alben, die ich mir dann später kaufe. Ich gucke auch DVDs auf einem Laptop, dessen Bildschirm ungefähr Din-A-4-Größe hat und dessen Auflösung höher ist als die der DVD selbst.

Schadet es also dem Produkt, wenn das Medium als weniger wertig empfunden wird? Ich finde ja. Ich habe im Internet grandiose Texte gelesen, die ich glaub ich noch besser gefunden hätte, wenn ich sie auf Papier gelesen hätte. Nur, dass ich sie auf Papier nie gelesen hätte, weil ich sie dort nie gesucht und gefunden hätte. Und weil ich zu wenig Zeit habe, noch bedrucktes Papier zu lesen, weil ich fast den ganzen Tag vor dem Internet sitze. Es ist bekloppt!

Die meisten Menschen, die ich kenne, haben kein besonderes Verhältnis zu Pferden oder Autos, sie wollen nur möglichst schnell an irgendeinem Ziel ankommen. Das Auto ist schneller als das Pferd — basta! Das war vor hundert Jahren schlecht für die Pferdezüchter und Hufschmiede, aber so ist das. Der Automobilindustrie ginge es auch noch bedeutend schlechter, wenn wir endlich alle Raketenrucksäcke hätten oder uns beamen könnten.

Die meisten Menschen wollen auch einfach nur Musik hören. Von den Arschlöchern mal ab, denen es egal ist, ob die Musiker dafür auch entsprechend entlohnt werden, ist das völlig legitim, sie brauchen keine sieben CD-Regale in der Wohnung und Deluxe-Boxsets. Ihre Umzüge sind mutmaßlich auch weniger anstrengend.

Es gibt offensichtlich Menschen, die Bücher lesen, die keine Bücher mehr sind. Auch das ist legitim und beim Umzug von Vorteil. Ich kann das nicht verstehen, aber ich kann schon nicht verstehen, wie man sich Romane aus der Bücherei ausleihen kann: Wenn mir ein Buch gefällt, will ich Stellen unterstreichen und es anschließend, als Trophäe und zum Wiederhervorholen, im Regal stehen haben.

Die meisten Menschen brauchen aber offenbar auch keine gedruckten Zeitungen und Zeitschriften mehr — außer, sie ziehen gerade um. Ich würde das gern ebenfalls merkwürdig finden. Aber ich bin ja offenbar genauso.

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Digital Gesellschaft

Kein Kommentar

Markus Beckedahl hat bei netzpolitik.org einen Artikel über Blogkommentare veröffentlicht, den ich selbstverständlich nicht gelesen habe, so wie Blogkommentatoren in den allermeisten Fällen die Artikel nicht lesen (oder zumindest offenkundig nicht verstehen), unter denen sie kommentieren.

Als ich angefangen habe zu bloggen und plötzlich Leute anfingen, die Kommentarfunktion zu nutzen, gab es in den Kommentaren Zustimmung, andere Denkansätze, Lob, Kritik, Humor, irgendwann Running Gags. Mit einigen treuen Kommentatoren dieser Anfangsphase verbinden mich inzwischen enge Freundschaften.

Dann kam Facebook. Lesenswerte Artikel wurden nicht mehr verlinkt, Blogs rekurrierten nicht mehr aufeinander, die ganze Idee der “Blogosphäre” fiel in sich zusammen. Lesenswerte Artikel werden heute bei Facebook geteilt und ebenda auch diskutiert, bei den allermeisten im überschaubaren Rahmen ihrer Facebook-“Freunde”. Das führt einerseits dazu, dass das Meinungsspektrum nicht mehr ganz so groß ist ((Ich zum Beispiel habe keinen einzigen offen homophoben oder nationalistisch eingestellten Facebook-Kontakt, worüber ich sehr froh bin und worauf ich auch sehr achte.)), andererseits funktionieren Anspielungen und Running Gags viel besser, manche trauen sich gar wieder ans Stilmittel der Ironie. In seltenen Fällen kommt es zu Reibungspunkten, wenn Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit die Facebook-Bekanntschaft mit mir ist, unglücklich aufeinanderprallen, aber meistens verläuft alles harmlos und harmonisch.

Das bedeutet aber auch, dass die allermeisten Menschen, die heute noch Blogbeiträge kommentieren, entweder die letzten treuen Seelen sind — oder die letzten Irren. Die Leute, die einem Artikel einfach nur zustimmen, klicken auf “Gefällt mir” (bzw. “Empfehlen”) oder verlinken ihn anderweitig bei Facebook (bzw. um das Wort einmal geschrieben zu haben: auf Twitter) und sind dann wieder weg. Wer in die Kommentare unter dem Text guckt, bekommt den Eindruck, dass Blogs ausschließlich von Menschen gelesen werden, die mit der Meinung des Autoren nicht übereinstimmen. ((In den Kommentaren des Newsportals “Der Westen” entsteht bisweilen der Eindruck, die WAZ-Gruppe würde Freischärler beschäftigen, die Menschen mit Waffengewalt dazu zwingen, die dort online gestellten Artikel zu lesen und anschließend zu kommentieren. Das ist allerdings immer noch harmlos verglichen mit den nach unten offenen Kommentarspalten von “Welt Online”, in denen sich offensichtlich jene Stammtischgänger versammeln, gegen die der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband DeHoGa ein bundesweites Kneipenverbot ausgesprochen hat.)) In einigen Fällen könnte man darüber hinaus glauben, die Kommentare bezögen sich auf einen ursprünglich dort geposteten Artikel, in dem der Autor vom Geschlechtsverkehr mit Tieren geschwärmt hatte und den er anschließend durch einen etwas weniger kontroversen ersetzt hat. So entsteht ein seltsames Zerrbild der Realität.

Manchmal sind Kommentare natürlich auch ein Gewinn. Nicht nur, wenn man explizit um Hilfe gebeten hat, sondern auch, wenn es um das gemeinsame Schwelgen in Erinnerungen geht. Wenn das Thema aber nur geringfügig kontrovers ist, ist das Desaster programmiert. Und wenn dann noch durch irgendwelche Verlinkungen viele Leser von außerhalb angespült werden, die vielleicht mit Autor, Blog und Restkommentatoren nicht vertraut sind, wird es spätestens ab Kommentar #20 so lustig wie an einem schlechten Tag im Nahen Osten.

Ein weiteres Problem ist natürlich, dass in Deutschland keine Diskussionskultur existiert wie im angelsächsischen Raum. Mehr noch, im Fernsehen bekommen wir täglich – und ich wünschte, “täglich” wäre hier eine Übertreibung – gezeigt, wie man mit Menschen umgeht, die anderer Meinung sind: Unterbrechen, Anschreien, alle Argumente für nichtig erklären. Rhetorische Grundprinzipien werden in die Tonne gekloppt, auf der dann laut rumgetrommelt wird. Was übrigens noch viel leichter geht, wenn man dem Gegenüber dabei nicht in die Augen gucken muss, weil es an einer Computertastatur ganz woanders sitzt.

Wenn eine konstruktive Diskussion also eh unmöglich ist, können wir uns alle die Mühe auch sparen. Es bringt nichts, den islamophoben Verschwörungstheoretikern in ihren Wahnsinnsforen mit Fakten, Argumenten oder Verweisen auf die Wirklichkeit entgegentreten zu wollen, aber es bringt noch ein bisschen weniger, unter einen Artikel, der islamophoben Verschwörungstheoretikern mit Fakten, Argumenten oder Verweisen auf die Wirklichkeit entgegentritt, zu schreiben, diese Leute seien aber echt dumme Nazis und hätten kleine Pimmel. Das mag ja stimmen, aber es hilft dennoch niemandem. Außer vielleicht für einen kurzen Moment dem Kommentator.

Natürlich wird einem jeder alte Zeitungshase bestätigen, dass Leserbriefe schon immer zu maximal zehn Prozent aus Zustimmung bestanden (außer, es geht gerade gegen Kindermörder) und zu mindestens hundert Prozent aus galletriefenden Abo-Kündigungen, aber ein Blogkommentar ist noch leichtfertiger in die Tastatur erbrochen als das Wort “Schreiberling” in Sütterlin aufs Büttenpapier getropft. Und während hierzulande tatsächlich niemand dazu gezwungen wird, ein bestimmtes Medium zu konsumieren, verhält es sich bei den Leserkommentaren genau umgekehrt: Die müssen, schon aus Selbstschutz des Blogbetreibers, von irgendjemandem auf mögliche Verstöße gegen die guten Sitten und gegen bestehende Gesetze überprüft werden. Die Verstöße gegen Logik und Rechtschreibkonventionen würde eh niemand nachhalten wollen.

Es ist nicht mehr 2007. Blogs sind jetzt einfach da und gehen auch nicht mehr weg. Aber sie sind nicht ganz das geworden, was wir uns vielleicht mal erhofft hatten. “Wir” sind nicht das geworden. Menschen, die alle eine Blogsoftware benutzen, haben grundsätzlich erst mal genau diese eine Gemeinsamkeit. Wer will, kann sich mit Menschen, die auch irgendwie ins Internet schreiben, treffen, wer nicht will, nicht. Wer seine Sicht auf die Welt für so wichtig hält, dass andere davon erfahren sollten, sollte nicht irgendwo Kommentare hinterlassen, sondern mit dem Bloggen anfangen.