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And through it all

Früher waren Leute berühmt, weil sie etwas (z.B. malen, singen, schreiben, Kriege gewinnen) besonders gut konnten. Heute sind sie berühmt, weil sie das Eine gut konnten und jetzt etwas ganz anderes machen (z.B. Fernsehköche, Lena Meyer-Landrut, Donald Trump — wobei: was kann der schon?). Benjamin von Stuckrad-Barre war vor fast 20 Jahren der gefeierte Jung- bzw. Popliterat (“Popjungliterat” ging wohl irgendwie nicht), vor zwei Jahren der geläuterte Held seiner Autobiographie und ist jetzt binnen weniger Monate zum König von Instagram geworden. Gut: Über 18.000 Follower lachen echte Influencer natürlich, aber was er da in kurzer Zeit für eine (uh, ah) Community aufgebaut hat, ist schon beeindruckend. Erwachsene Leute, die sich weigern würden, einer Partei oder auch nur einem Sportverein beizutreten, filmen sich dabei, wie sie den (wirklich extrem catchygen) Titel seines neuen Buchs in die Kamera sagen: “Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen — Remix 3”.

Und so ist dieser Abend hier in der Bochumer Zeche ein bisschen wie die “Glow” im Kleinen. Für Leute, die mehr Bücher als Makeup zuhause haben. Erstmal den Backdrop (auf dem dann doch nur Platz für “Remix 3” war) bei Insta posten! In der Reihe hinter mir sagen Männer den Satz, den Männer im Jahr 2018 so sagen, wenn sie das mit der Rockstar-Karriere wirklich aufgegeben haben und die E-Gitarren als Deko im Pinterest-Wohnzimmer verstauben: “Lass mal ‘nen Podcast zusammen machen!”

Um kurz nach Acht geht das Saallicht aus, ein popkulturelles Maximal-Mashup erklingt und dann, als Aufmarschmusik: “The Heavy Entertainment Show” von Robbie Williams. Das lief aber beim letzten Mal vor zwei Jahren auch schon! Der Popliterat ist von Anfang an voll da und muss erstmal umständlich eine Noel-Gallagher-Fahne am Tisch befestigen (“Es ist halt schon einfacher, wenn man Joko und Klaas ist!”). Die hat er beim Konzert in Hamburg gekauft, von dem er ausführlich via Instagram-Story berichtet hatte — und ich lag im Bett, sah das auf meinem iPhone und fühlte mich ein bisschen, als wäre ich selbst dabei gewesen.

Das Wort “Lesung” hat es bei Stuckrad-Barre noch nie so richtig getroffen, fast wichtiger als die Texte ist das Drumherum, das Rumhibbeln und das Abschweifen. Als er dann trotzdem liest, steigt er direkt mit dem stärksten Text des Buches ein, einem Porträt über Jürgen Fliege, das ich schon bei Erstveröffentlichung in der “Welt” gelesen und gefeiert, danach aber für sechseinhalb Jahre vergessen hatte. Es ist ein Text der Sorte “Unsagbar gut, muss ich jetzt täglich drei Mal lesen, um mir zu merken, wie man eigentlich schreibt!”

Überhaupt: “Remix” (das eine wilde Sammlung von zuvor veröffentlichten Texten enthielt und damals gegen den ausdrücklichen Wunsch des Autors nicht “Remix 1” hieß) war im Sommer vor 18 Jahren das Buch, bei dem es bei mir “Klick” gemacht hat, und nach dem ich angefangen habe, eigene, sehr meinungsfreudige Texte zu schreiben und ins Internet zu stellen (wo sie hoffentlich weniger Leser*innen hatten als ich heute Follower auf Instagram). An “Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft: Remix 2” kann ich mich kaum erinnern (und dem Autor geht es da vermutlich genauso), die Brillanz kam dann erst wieder mit “Auch Deutsche unter den Opfern” zum Vorschein.

All diesen Büchern ist gemein, dass es sich um Textsammlungen handelt, die Themen und vor allem die Qualität also etwas schwanken. Nach dem grandiosen Besuch beim TV-Pfarrer folgt also in der Live-Darbietung ein Text darüber, wie sich Stuckrad und seine Freundin Partnertattoos stechen lassen, weil sie so verliebt sind. Das ist im Buch schon einer der schwächsten Texte (die Faustregel, wonach glückliche Künstler keine gute Kunst erschaffen können, hat leider weiterhin Bestand), wird in der Gegenwart aber auch nur bedingt dadurch aufgewertet, dass Beziehung und Tattoos inzwischen schon wieder Geschichte sind.

Zur Auflockerung sollen danach alle, die auch bei Instagram sind, auf die Bühne, damit er uns fotografieren und hinterher taggen kann. Wir kommen der Aufforderung brav nach, in diesem Moment ist völlig unklar, ob das hier die Gründungsveranstaltung einer neuen Sekte ist und wie viel das noch (wenn überhaupt) mit Ironie zu tun hat. Wir stellen uns also zum ersten Klassenfoto seit 15, 20 Jahren auf und nachdem wir endlich richtig stehen und Stuckrad-Barre sein Foto gemacht hat, bedankt er sich so überschwänglich, dass langsam klar wird: der meint das ernst. Er macht sich ständig über diesen Instagram-Kram und seine Rolle darin lustig, aber er genießt es wirklich, diese Stimmung in die echte Welt zu holen: “Auf Instagram gibt’s keine Nazis, da gibt’s nur Herzen!” Hach.

Die Idee, im Frühjahr 2018 einen Text über die Fußball-WM 2010 zu lesen, ist dann geradezu absurd, aber drumherum kommen wieder so viele Ausschweifungen, dass Jogi Löws babyblauer Babykashmir-Pullovera jetzt wirklich kaum noch was zur Sache tut. Dafür gibt es Geschichten aus dem Chateau Marmont, “in dem ich aus Image-Gründen lebe — zumindest so lange, bis die ganze Kohle aufgebraucht ist und ich wieder auf Lesereise gehen muss”, und eine Diskussion mit einer Zuschauerin über Tocotronic (inkl. Hörprobe und Ausführungen darüber, dass man als Fan die Schuld für das Nicht-mehr-Verstehen eines Idols bei sich selbst suchen sollte). Als Zugabe, für die er aber gar nicht erst von der Bühne geht, dann den wiederum sehr guten Text über ein Madonna-Konzert, bei dem das mit dem ständigen “Remix” jetzt endlich mal Sinn ergibt (oder so ähnlich), weil Stuckrad den Namen “Madonna” (beinahe) konsequent durch “Bettina Böttinger” ersetzt.

Ein Lied habe er noch für uns, sagt er schließlich und aus der augenzwinkernden Popkulturreferenz wird plötzlich Ernst, denn vom Band (sagt man noch “Band”?) läuft jetzt plötzlich eine Live-Version von Robbie Williams’ “Angels” und der Popliterat wird zum Sänger (und das nicht mal schlecht):

Das ist nun plötzlich no surface, all feeling: Anders als niedere Unterhaltungskünstler wie Jan Böhmermann es vielleicht machen würden, ist das hier keine Pose mit Fluchtmöglichkeit auf die Ironie-Ebene. Benjamin von Stuckrad-Barre meint das hier alles völlig ernst: Er singt ein Lied, das er liebt, und ist umgeben von Menschen, die sich freuen, hier zu sein. Um das jetzt doof zu finden, muss man entweder sehr kaltherzig sein oder mit Popkultur so gar nichts anfangen können (was aufs Selbe rauskommt).

Am Bücherstand dürfen wir uns alle selber auf dem Gruppenfoto markieren, der Autor signiert und posiert lange für Fotos, die natürlich alle auf Instagram landen. Falls es so etwas gibt, fühlt es sich an wie die denkbar positivste Version eines Klassentreffens. Auch wenn wir da alle natürlich eigentlich nie hingehen würden.

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Auf der Straße zur Ironie-Hölle

“Irony is over. Bye bye.”
(Pulp – The Day After The Revolution)

In der “Zeit” von letzter Woche beschreibt Nina Pauer zwei postmoderne Phänomene: das der Fremdscham und der Ironie. Anhand von Casting- und Kuppelshows, von “Bad Taste”-Partys und “Bravo Hits” verhandelt sie das Zelebrieren von Dingen, die man eigentlich verabscheut. Die Überschrift “Wenn Ironie zum Zwang wird” verknappt den sehr lesenswerten Artikel leider etwas, denn tatsächlich geht es hier um zwei Phänomene mit ähnlichen Symptomen und einer gewissen Schnittmenge.

Da sind zum einen die Fernsehshows, die ähnlich funktionieren wie der sprichwörtliche Autounfall: Sie ziehen ihre Faszination aus dem “Grauen”, dessen sich der Zuschauer nicht erwehren kann. Castingshows möchte ich mal ausklammern, die sehe ich nicht (mehr). Viele werden offenbar von zutiefst verbitterten Zynikern verantwortet, die im Leben nicht die Eier hätten, sich vor drei Leute (geschweige denn eine Fernsehkamera) zu stellen, um ein Lied zu singen. Ihnen sollen die Fußnägel einwachsen und die Haare ausfallen. ((Außer in den Ohren und den Nasenlöchern, da soll es wuchern wie im Amazonasgebiet.)) Die Partnersuchen bei “Bauer sucht Frau” oder “Schwiegertochter gesucht” mögen ähnlich zynisch produziert sein, lassen meines Erachtens aber auch Raum für mehr.

Wenn sich heute Menschen auf der Couch oder im Internet versammeln, um gemeinsam “Bauer sucht Frau” zu schauen (und vor allem zu besprechen), dann machen sie dabei Dinge, die Menschen seit Jahrtausenden tun: So hoffen sie auf den kathartischen Effekt von “Jammer und Schauder”, den schon Aristoteles in seiner “Poetik” beschrieben hat — nur, dass sich Aristoteles unter “Jammer und Schauder” etwas anderes vorgestellt hat als gelbe Pullover und Zungenwurstbrote. Auch war es in früheren Jahrhunderten ein beliebter Zeitvertreib der Oberschicht, sich die Leute, die in einem damals so genannten “Irrenhaus” einsaßen, anzusehen wie Tiere im Zoo.

Heute sind die Opfer dieser Besichtigungen nicht mehr “irre”, sondern “peinlich”, was ein noch subjektiveres Urteil ist. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde auf die Idee kommen, aufs Land zu fahren um Bauern beim Brautwerben zuzusehen, aber wenn RTL das schon mal gemacht hat, kann man sich das ja mal ansehen. Das Prinzip gleicht dem des “delightful horror”, der sich einstellt, wenn man aus dem Lehnstuhl heraus die Schilderungen von unerklärlichen Phänomenen oder brutalen Verbrechen in den Büchern der Schauerromantik liest — nur, dass wir heute selbst festlegen, wovor es uns schaudert.

* * *

Nina Pauer schreibt:

Pünktlich um 20.15 Uhr formieren sich die Abiturienten, Studenten, Doktoranden oder vielversprechenden Berufseinsteiger zu einem vergnügten Publikum, das bei Chips und Süßigkeiten nichts anderes tut, als sich der lustvollen Konträrfaszination des Schlimmen hinzugeben. “Wie peinlich ist das denn?!”, kreischt der Chor, den Zeigefinger kollektiv auf den Fernseher gerichtet.

Ich bin auch öfters Teil solcher Runden, wenn RTL (wie aktuell) wieder einmal Schwiegertöchter und Bauernfrauen sucht. Alle Teilnehmer würde ich als durchaus aufgeklärte Menschen mit einem reinen Herzen bezeichnen, Zyniker sind keine dabei. Gerade deshalb habe ich mich schon öfter gefragt, ob es moralisch eigentlich verantwortbar ist, diese Sendungen zu gucken und zu kommentieren.

Grundsätzlich könnte man erst einmal sagen, dass es kein Opfer im klassischen Sinne gibt — die Kandidaten kriegen mögliche böse Kommentare ja gar nicht mit. ((Ich glaube auch, dass das, was man zu meiner Schulzeit “Lästern” nannte, nicht grundsätzlich verwerflich ist, solange etwa die Person, über die gelästert wird, davon nichts mitbekommt, und solange man nicht vornerum nett zu jemandem ist, über den man dann hintenrum lästert. Außerdem können andere ja auch über mich lästern, wenn sie wollen. Diese Position hat schon zu langen, unergiebigen Diskussionen geführt.)) Auch das Begucken dieser Menschen erfolgt ja nur aus zweiter Hand — das Kind ist schon in den Brunnen gefallen, also kann man es sich auch ansehen. Letzteres ist natürlich Quatsch: Wenn niemand mehr hinsehen würde, wie RTL Kinder in den Brunnen schmeißt, würde der Sender sicher damit aufhören. Und man muss sich ja auch keine tödlichen Unfälle im Rennsport ansehen, nur weil sie auf Video gebannt sind.

Ich glaube nicht, dass die Geringschätzung anderer die Hauptmotivation ist, solche Sendungen zu sehen — der Reiz entsteht aus dem Gemeinschaftsgefühl heraus, was man als billiges Mittel zur Fraternisierung abtun, aber auch neutral oder positiv werten kann. Kaum jemand möchte oder kann so eine Sendung alleine sehen. Darüber hinaus ist es ja auch so, dass das Stirnrunzeln über Fliesentische, Tiefkühlpizzen und Kosenamen nicht allzu lang eine befriedigende Freizeitbeschäftigung abgibt. Wenn ich eine Sendung nur schlimm fände, würde ich sie nicht gucken. ((Tatsächlich bin ich bei der aktuellen Staffel “Schwiegertochter gesucht” sehr schnell wieder ausgestiegen, weil es außer ausgewalzten Merkwürdigkeiten nicht viel zu sehen gab.)) Bei “Bauer sucht Frau” gibt es aber immer wieder rührende Elemente, in denen das besserwisserische Lachen echtem Mitgefühl weicht. ((Ob die porträtierten Bauern darauf gewartet haben, ist natürlich wieder fraglich.))

Als Vera Int-Veen im Februar den “Regalauffüller” Stefan an die Frau zu bringen versuchte, war das nicht mehr im Mindesten witzig: Der Mann hatte so offensichtliche Probleme, sich zu artikulieren und mit den Situationen zurecht zu kommen, in denen ihn das Produktionsteam platziert hatte, dass die Arschlochhaftigkeit der Macher alles andere überstrahlte. In der aktuellen Staffel von “Bauer sucht Frau” geht der bisher größte Fremdschammoment auf das Konto von Moderatorin Inka Bause: Zum ersten Mal sucht ein homosexueller Bauer einen, ja: Mann und Bause war von der Situation so offensichtlich überfordert, dass sie ihn mit den Worten ansprach: “Du bist ja hier der erste Bauer Deiner Art.” Als der “pfleißige Pferdewirt” ganz locker “Der erste schwule Bauer, ja”, antwortete, fragte Bause noch einmal nach, ob sie “das so sagen” dürfe. So schlimm können zehntausend Zungenküsse bei offenem Mund nicht sein.

* * *

Ich glaube übrigens, dass diese Kuppelshows auch mit Kandidaten funktionieren würden, die den Zuschauern deutlich ähnlicher sind: ((Wobei das eigentlich jetzt schon gelten muss: Es kann ja hierzulande keine acht Millionen Elitisten geben, die es sich auf ihrem hohen Ross bequem gemacht haben, also müssen auch zahlreiche Zuschauer mit Fliesentischen, Tiefkühlpizzen und Kosenamen darunter sein.)) Liebe und vor allem ihre Anbahnung ist nie clever. ((So wie Sex nie ästhetisch ist.)) Im Leben geht es fast nie zu wie bei “Ally McBeal” oder bei “Bridget Jones”, wo sich gutaussehende Menschen im leichten Schneefall auf offener Straße küssen, nachdem sie eine geistreiche Bemerkung gemacht haben.

Vor vielen Jahren, in der Daily Soap “Unter uns”, schrieb die Person der Ute, die damals frisch in die Schillerallee zurückgekehrt war, einen Brief an ihren späteren Ehemann Till, in dem sie erklärte, sie sei derart verliebt, dass sie bei jedem Liebeslied im Radio mitsingen müsse, auch bei den Schlagern, die sie früher immer peinlich und doof gefunden habe. ((Der Brief geriet übrigens in die Hände der Sandra, dargestellt von Dorkas Kiefer, die ihn laut vorlas und sich über Ute lustig machte. Welche Aktion ist peinlicher? Discuss!)) Das, meine Damen und Herren, ist Liebe! Sie ist peinlich, aber ohne wären wir nicht hier.

* * *

Doch zurück zur “Fremdscham” und zum “Peinlichen”, das Nina Pauer beschreibt: Andere Leute peinlich finden ist eine Emotion, die meist in der Pubertät erstmalig auftaucht und dann vor allem gegen die eigenen Eltern gerichtet ist. Das ist von der Natur so gewollt: Das Leben beschert einem so ein paar Jahre unbeschwerter Freiheit und sinnloser Freiheitskämpfe, ehe die Erkenntnis einkehrt, dass biologische Veranlagung und Erziehung mächtiger sind als jedes Schamgefühl und man natürlich wie die eigenen Eltern geworden ist. Als ausgleichende Gerechtigkeit finden einen dann zwanzig Jahre später die eigenen Kinder peinlich.

Sich für eine andere Person zu schämen, ist aber auch eine weitgehend irrationale Reaktion, zumal, wenn man in keinerlei persönlicher Verbindung zu dieser Person steht. Die wissenschaftliche Erforschung dieses Phänomens steht allerdings noch ziemlich am Anfang.

Nina Pauer führt aus:

Als gemeinsames Ritual wirkt die Fremdscham wie eine Kompensation der individuellen Angst, die ansonsten überall lauert. Denn wie schwer ist es, diesem allgegenwärtigen Adjektiv “peinlich”, das unsere Zeit bestimmt, zu entrinnen! Nahezu unmöglich und vor allem furchtbar anstrengend ist es geworden, im weit und subtil verästelten analog-virtuellen Netzwerk stets die Balance aus lässigem Understatement, hübscher Ironie und gleichzeitiger Selbstvermarktung zu pflegen. Die Codes sind unendlich: Mit dem neuesten Smartphone prahlen? Peinlich! Immer noch keines haben? Peinlich! Zuckersüße Pärchenfotos auf Facebook veröffentlichen? Peinlich! Das eigene Mittagessen abfotografieren, den Stolz über den neuen Job allzu offensichtlich zeigen? Zu viele Freunde haben? Zu wenige? Peinlich, peinlich! Musik hochladen, die alle schon kennen? Musik hochladen, die nie irgendwer kennt? PEINLICH!

Wenn tatsächlich alles peinlich ist, man also in jeder Situation nur verlieren kann, ist ja alles wieder völlig nivelliert und man kann nur gewinnen.

Frau Pauer nutzt diese Passage aber, um von der Fremdscham zur “inszenierten Fremdscham” und damit zur Ironie zu kommen. Ironie, das lernt man irgendwann als Kind, ist das Gegenteil von dem zu sagen, was man meint — also eigentlich das, was man vorher als “Lügen” kennengelernt hat und was man nicht tun sollte. Das trifft den Sachverhalt zwar nur zum Teil, ist aber das, was sich die allermeisten Menschen unter “Ironie” vorstellen und es entsprechend praktizieren. Das ist natürlich sterbenslangweilig.

Als Travis im Jahr 2000 anfingen, “Baby One More Time” von Britney Spears auf ihren Konzerten zu covern, gingen viele erst einmal von Ironie aus. Aber Fran Healy, der das Lied mit viel Inbrunst vortrug, sagte, sie hätten den Song einfach nachgespielt, weil sie ihn so schön fanden. Und tatsächlich wäre es auch dann noch ein schönes Lied, wenn Komponist und Texter Max Martin sich beim Schreiben über die Naivität und Dummheit seines Lyrischen Ichs kaputt gelacht hätte.

“Irony is certainly not something I want to be accused of”, hat Craig Finn, der Sänger meiner Lieblingsband The Hold Steady, mal gesagt und ich finde auch, dass Liedtexte möglichst aufrichtig sein sollten. ((Ironie sollte höchstens von Briten als Stilmittel in Songs eingesetzt werden. Die verstehen darunter etwas anderes als “das Gegenteil von dem sagen, was man meint.)) Dann besteht zwar schnell wieder die Gefahr der Fremdscham, aber damit muss man klar kommen. Man kann das Werk verurteilen, sollte dem Künstler aber Respekt zollen.

Die Zeit der ironisch gemeinten Beiträge beim Eurovision Song Contest, die notwendig war, um das schnarchige Schlagerevent der 1990er Jahre zu entstauben, ist ja inzwischen zum Glück auch wieder vorbei. Als ich im Mai von jetzt.de zum Duslog interviewt wurde, war der Reporter sehr versessen darauf, uns eine ironische Haltung zum Grand Prix zu unterstellen. Natürlich kann man die musikalischen Beiträge nicht alle ernst nehmen, ((Gerade nicht “I Love Belarus”, den man aus politischen Gründen als einzigen ernst hätte nehmen müssen.)) aber wenn ich die Veranstaltung in Oslo scheiße gefunden hätte, wäre ich sicher kein zweites Mal hingefahren.

* * *

Natürlich sollte man sich selbst und die Welt nicht zu ernst nehmen, aber man sollte auch nicht bis zur Selbstverleugnung mit den Augen zwinkern. Ich könnte schlicht keine Musik hören, die ich nicht mag, keine Klamotten (oder gar Frisuren oder Gesichtsbehaarungen) tragen und auch nichts in meine Wohnung stellen oder hängen, was ich nicht irgendwie gut finde. “We Built This City” von Starship ist einer der kanonisch schrecklichsten Songs der Musikgeschichte, aber irgendetwas spricht das Lied in mir an — und das meine ich nicht auf die “So schlecht, dass es schon wieder gut ist”-Art. Andererseits würde ich nie in Skinny Jeans rumlaufen, weil ich die einfach mordsunbequem finde.

Benjamin von Stuckrad-Barre hat schon 1999 einen Text über Ironie verfasst, ((Nachzulesen in “Remix”.)) in dem er von der “Drüberlustigmachmühle” schreibt und dann eine Frage aufwirft, die er sich sogleich selbst beantwortet:

Tennissocken sind fürchterlich, keine Frage, aber ist nicht das zwangsverordnete Drüberlachen noch schlimmer? Und dann tragen also Leute wieder Tennissocken, aus Protest, und das ist vielleicht zu verstehen, aber ja auch so krank, weil sie damit also, nur der Abgrenzung wegen, schlimme Socken tragen. Und dann nicht einfach still diese Socken dünnlaufen, sondern tatsächlich ERKLÄREN, warum sie die tragen, um sich zumindest, oh ja, INHALTLICH zu unterscheiden von jenen, die diese Socken nicht schon wieder, sondern immer noch tragen. Irgendwie muß man die Neuzeit ja rumkriegen.

Im “Zeit”-Artikel steht dieses aktuelle Beispiel:

In engen braunen Männerslips über rosa Trainingsanzügen aus Ballonseide trifft man sich, am besten mit einem allein zum Zweck der Party gewachsenen fiesen Schnauzer im Gesicht, zum Dosenstechen in der Küche.

Noch bevor die Hipster so genannt wurden, gab es den “Irony-Schnäuz”. Irgendwann gab es dann die ironisch gebrochenen Hipster, die echte Hipster eigentlich scheiße fanden, aber genauso rumliefen. Der Schnauzbart war zu diesem Zeitpunkt schon mindestens zwei Mal umgedeutet worden, aber da geht sicher noch mehr. Nur: Warum?

In einem Text aus dem Juli 1999 ((“Ein Ort der Eitelkeit” in “Der Krapfen auf dem Sims”.)) beklagt sich Max Goldt über Menschen, die eine goldene Schallplatte oder eine Urkunde auf der Gästetoilette platzieren:

So wird die Toilette zum Ort der Inszenierung von Selbstironie, einer Eigenschaft, die in der westlichen Zivilisation hoch im Kurs steht. Deshalb ist es erheblich eitler, seine Zertifikate in Bad oder WC unterzubringen, als sie naiv und arglos im Wohnzimmer zur Schau zu stellen.

Goldt erklärt auch ((“Mein Nachbar und der Zynismus”, ebd.)) den Unterschied zwischen Zynismus und Sarkasmus:

Zynismus ist eine destruktive Lebensauffassung, während Sarkasmus das Resultat von trotziger Formulierungskunst ist, die über einen spontanen Zorn auf ein Meinungseinerlei hinweghilft. Zynismus ist ein Resultat von Enttäuschung und innerer Vereinsamung. Er besteht im Negieren aller Werte und Ideale, im Verhöhnen der Hoffnung, im Haß auf jedes Streben nach Besserung.

Sind dann die beschriebenen “Bad Taste”-Partys nicht eher zynisch als ironisch?

Ich verstehe den Reiz nicht, der darin liegen sollte, sich so zu kleiden, wie man nie aussehen wollte, und Musik zu hören, die man nie hören wollte. Erstens grenzt das doch an Schizophrenie und zweitens finde ich das unfair gegenüber den Leuten, denen diese Musik etwas bedeutet. Denn auch wenn ich Schlager oder Volksmusik kitschig und doof finden sollte, so gibt es doch Leute, denen diese Musik etwas bedeutet. ((Dass die Texte dieser Lieder mitunter von Leuten geschrieben werden, denen die Inhalte und Hörer ziemlich egal sind, ist eine Meta-Ebene, die ich hier nicht auch noch bespielen möchte.)) Ich finde es auch langweilig, ein Album nur des Verrisses wegen zu verreißen.

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Auch Chuck Klosterman hat sich dem Thema Ironie gewidmet. ((Im Essay “T Is For True” in “Eating The Dinosaur”.)) Er schreibt:

An ironist is someone who says something untrue with unclear sincerity; the degree to which that statement is funny is based on how many people realize it’s false. If everybody knows the person is lying, nobody cares. If nobody knows the person is lying, the speaker is a lunatic. The ideal ratio is 65-35: If a slight majority of the audience cannot tell that the intention is comedic, the substantial minority who do understand will feel better about themselves. It’s an exclusionary kind of humor.

Wenn jeder Depp alles nur noch “ironisch” meint, ist es kein Witz mehr, dann ist es nicht mal mehr Komödie, sondern Tragödie.

Nina Pauer schreibt dazu in der “Zeit”:

Wo potenziell alles peinlich ist, bleibt nichts als der ewige ironische Reflex. Die Ironie wird zum Standard und die Distanz zum Zwang. Dann regieren die Zwinkersmileys, die alles Gesagte, Geschriebene, Getane sofort relativieren, um bloß immer “safe” zu sein. Von der Freude an der Peinlichkeit ist dann nicht mehr viel übrig. Die Lust wird zu ihrem Gegenteil, zur Langeweile.

Es ist nicht nur langweilig, es ist auch wahnsinnig anstrengend.

Klosterman stellt in seinem Essay den Weezer-Sänger Rivers Cuomo, den Regisseur Werner Herzog und den amerikanischen Politiker Ralph Nader nebeneinander, denen er allesamt nachweist bzw. unterstellt, völlig ironiefrei zu sein. Herzog etwa sagt, er habe einen “Defekt”, der ihn daran hindere, Ironie zu verstehen, und Klosterman fügt an, die meisten von uns hätten das gegenteilige Problem: Wir würden auch dort Ironie verstehen, wo gar keine vorhanden ist.

Rivers Cuomo trug das, was man heute “Nerdbrille” nennt, immerhin schon in den frühen Neunzigern, als es grad nicht cool oder lustig war. ((Diese Brille ist tatsächlich ein Problem. Als ich letztes Jahr auf der Suche nach einer neuen war, wollte ich – pubertäre Abgrenzung – um jeden Fall zu vermeiden, auch so eine zu kaufen. Das Problem: Mir stand wirklich nichts anderes. Also dachte ich: “Was soll’s? Ray-Ban gibt’s seit mehr als 50 Jahren und ich weiß ja, wie’s gemeint ist.” (Nämlich gar nicht.) So wie man sich Musik nicht von ihren Hörern kaputt machen lassen darf, sollte man sich auch Mode-Utensilien nicht von ihren Trägern zerstören lassen. Ich würde auch gerne Hemden von Fred Perry tragen, wenn die nicht so unfassbar teuer wären.)) Heute schreibt er Lieder darüber, dass er in Beverly Hills wohnen wolle, und Klosterman ist sich sicher, dass Cuomo das genau so meint. Die Fans wären allerdings enttäuscht, weil sie es für Ironie hielten und sich verarscht fühlten — und das ist dann natürlich auch schon wieder Ironie, und zwar die des Schicksals.

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Die Postmoderne hat, neben Fremdscham und Über-Ironisierung, noch ein weiteres Phänomen hervorgebracht: Ständig hinterfragt man jetzt alles, vor allem aber sich selbst. Wer sich fragt, ob er irgendetwas gut finden dürfe, hat noch nichts verstanden. Er hat die Freiheit (fast) alles gut zu finden, was er gut finden mag. Allenfalls die Auswahl potentiell gut findbarer Dinge und Personen kann einen etwas überfordern.

Das bedeutet natürlich letztlich auch: Man kann auch “Bauer sucht Frau” gucken, ohne sich dafür zu schämen.

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Die brutale Banalität der Tragik

Heute saß ich in der U-Bahn neben einem Maschinenbaustudenten, der seinem Kumpel berichtete, er werde wohl sein Studium schmeißen, falls er die anstehenden Klausuren nicht bestehe. Aber er sei hoch motiviert, wolle in der verbliebenen Zeit ganz viel lernen und dann werde er das schon hinkriegen.

Die Selbstbeschwörungen des jungen Mannes hatten etwas sehr Rührendes, aber irgendwie sah ich seine Chancen in einem Mathematik-lastigen Studienfach deutlich getrübt, als er vorrechnete, bis zu den Klausuren Ende März seien es ja “noch fast viereinhalb Monate”.