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Kultur Gesellschaft

Alles ist Material

Der Künstler Nasan Tur hat eines der außergewöhnlichsten Bücher erstellt, das ich über Street Art im weitesten Sinne kenne: Für “Stuttgart says…” hat er Graffiti nicht abfotografiert, sondern abgeschrieben. Der Medienwechsel wirkt Wunder und verleiht den mutmaßlich eher hässlichen Sprayereien plötzlich den Anschein von absoluter Poesie.

Hier einige Beispiele:

Dein ICH muss deinem Selbst weichen,
Christus ist immer noch im werden!

Geistkrank

I LIKE!

liebe RAF,
ihr habt euch viele neue Freunde gemacht!

Mama ficker

Lan was geht?

Erstaunlich, wie bedeutungsschwer solche Zitate wirken, wenn man sie völlig aus ihrem Kontext herauslöst.

An Turs Buch musste ich denken, als ich heute an einem Haus in meiner Noch-Nachbarschaft vorbeikam. Schon vor Jahren hatte dort jemand, der mutmaßlich noch relativ jung und sehr ungeübt im Umgang mit Spraydosen war, einen … nun ja: Satz an die Wand gesprayt, dem der Linguist in mir stets mit großer Begeisterung begegnet war:

ANNA IST HURE

Dieses Zitat wirft die berechtigte Frage auf, warum wir uns in der deutschen Sprache überhaupt mit Artikeln aufhalten, die schon viele Muttersprachler vor Herausforderungen stellen und das Erlernen des Deutschen für Ausländer unnötig erschweren. Man könnte doch einigermaßen gut auf den Gebrauch von Artikeln verzichten, so wie sich junge Menschen schon seit längerem Präpositionen sparen — auch bei “Bin Engelbertbrunnen” oder “Gehst Du Uni-Center?” weiß jeder, was gemeint ist.

Seit einigen Wochen jedenfalls ist das Haus, an dem der oben genannte Spruch steht, um einige schlechte Graffiti reicher. Darunter eines, das die Geschwindigkeit des Sprachwandels und den Fortschritt der Gleichberechtigung gleichermaßen dokumentiert:

PAUL IS HURE

Und jetzt sagen Sie bitte nicht: “So ein Quatsch — Paul is dead, wenn überhaupt!”

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Unterwegs Musik

Oslog (1)

Wenn man Mitte/Ende Februar mit dem Flugzeug in Oslo landet, hat man zunächst einmal Angst, die Maschine werde gleich die verschneiten Tannenwipfel rasieren. Dann denkt man, man ginge auf einem Acker nieder. Und dann erkennt man, dass genau an der Stelle, an der die Maschine aufsetzt, doch so ein bisschen Landebahn ist. Notdürftig geräumt und schon wieder leicht mit Schnee zugeweht. Wären deutsche Straßen in diesem Zustand, das Verkehrschaos wäre vorprogrammiert.

by:Larm

Die Winter in Norwegen scheinen kalt zu sein, sehr kalt. Alle öffentlichen Gebäude haben Drehtüren, die verhindern sollen, dass kalte Luft von außen hereinkommt. Am Flughafen gibt es sogar zwei Drehtüren hintereinander, eine regelrechte Schleuse gegen die Kälte.

Sooo kalt ist es in Oslo gar nicht: +1°C zeigen die Thermometer an. Aber es weht ein kalter Wind und es fällt unaufhörlich Schnee. Neben den Straßen, auf den Plätzen und Dächern türmt sich die weiße Pracht (Quelle: Synonym-Wörterbuch für Lokalredakteure) meterhoch. Zweimal wäre ich mit meinen schweren Winterstiefeln schon fast auf die Fresse geflogen. Der Kollege vom “Intro” hat nur Turnschuhe mit.

Oslo im Schnee (Foto: Lukas Heinser)

Bei meiner kurzen Runde durch die nähere Umgebung fiel mir (neben den offensichtlichen Wetterverhältnissen) eines auf: die Norweger sind unfassbar hübsch. Alle. Ich war vorgewarnt worden, aber man kann sich das nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst gesehen hat. “The O.C.” war nichts dagegen. Und tadellos gekleidet sind sie auch alle, vom Kindergartenkind bis zur alten Dame, vom Skater (ich habe bisher nur einen gesehen, die Osloer tragen auffallend mehr Langlaufskier mit sich herum als Skateboards) bis zum Arbeiter.

Hier im Hotel, wo der/die/das by:Larm stattfindet, ist es noch schlimmer: Hunderte adretter Indiekinder in viel zu engen Röhrenjeans (die Boys) und Röcken über der Hose (die Girls). Es wirkt ein bisschen wie die Fusion von Viva 2 und “Harper’s Bazaar”.

Aber genug der Äußerlichkeiten. Ich werde mich nun ins bunte Treiben (Quelle: Synonym-Wörterbuch für Lokalredakteure) stürzen und dann beim nächsten Mal inhaltliches berichten. Möglicherweise.

Oslo im Schnee (Foto: Lukas Heinser)

Was es mit dem Oslo-Trip auf sich hat, steht hier.

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Rundfunk Radio Leben

I’m single bilingual

Ich war noch nicht ganz wach und hörte nur mit einem halben Ohr hin, als auf WDR 5 eine Reportage über Singles in Deutschland lief. Dennoch hinterließ die Frau, die tapfer verkündete, sie brauche gar keinen Partner, bei mir bleibenden Eindruck.

Den Grad ihrer inneren Verzweiflung konnte man dem Satz entnehmen, mit dem sie ihre Ausführungen schloss:

Wenn ich total desperate wäre, vielleicht.

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Leben

Die brutale Banalität der Tragik

Heute saß ich in der U-Bahn neben einem Maschinenbaustudenten, der seinem Kumpel berichtete, er werde wohl sein Studium schmeißen, falls er die anstehenden Klausuren nicht bestehe. Aber er sei hoch motiviert, wolle in der verbliebenen Zeit ganz viel lernen und dann werde er das schon hinkriegen.

Die Selbstbeschwörungen des jungen Mannes hatten etwas sehr Rührendes, aber irgendwie sah ich seine Chancen in einem Mathematik-lastigen Studienfach deutlich getrübt, als er vorrechnete, bis zu den Klausuren Ende März seien es ja “noch fast viereinhalb Monate”.

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Digital

Geht die Welt heute unter, geht sie ohne mich

Gestern Nachmittag wurde in der Bochumer Innenstadt eine Zehn-Zentner-Bombe aus dem zweiten Weltkrieg entdeckt. Die Gegend (inklusive des Bermuda3ecks) wurde evakuiert, Straßen und Bahnstrecken gesperrt.

Gerade wollte ich mich mal informieren, ob die Entschärfung denn inzwischen wenigstens vorbei sei und alles gut geklappt hat:

Bombenfund: Klinik und Altenheim evakuiert. Bei Ausschachtungsarbeiten für die neue Kanalisation an der Viktoriastraße in unmittelbarer Nähe der Marienkirche entdeckte heute, 20. Oktober, gegen 15.30 Uhr ein 43 Jahre alter Baggerfahrer einen Blindgänger, der in den Abendstunden entschärft werden soll. mehr... WAZ Bochum, 20.10.2008, Norbert Schmitz

“Der Westen”, das Portal der WAZ-Gruppe, das so gerne “RP Online” als führendes Regionalzeitungsportal ablösen würde, wartet im Bochumer Lokalteil mit einer undatierten Meldung von irgendwann gestern Nachmittag auf, außerdem gibt es eine ebenso undatierte Meldung mit Agenturmaterial auf der Startseite.

Ganz anders die Lokalseite der “Ruhr Nachrichten”:

Aufatmen in der südlichen Innenstadt: Die 500-Kilo-Bombe ist entschärft
BOCHUM Der Bombenalarm in der Bochumer Innenstadt ist aufgehoben. Experten des Kampfmittelräumdienstes haben die 500-Kilo-Bombe am Montagabend um 23 Uhr entschärft. Nach dem Fund des Blindgängers am Nachmittag war die südliche Innenstadt im Umkreis von einem halben Kilometer rund um den Fundort evakuiert worden. 6000 Menschen waren hiervon betroffen, der Verkehr brach zusammen. mehr...

Die hat einen Artikel von 23:23 Uhr, der es mit etwas Glück noch in die Print-Ausgabe schafft und in den ersten zwei Sätzen des Vorspanns alle wichtigen Informationen liefert:

Der Bombenalarm in der Bochumer Innenstadt ist aufgehoben. Experten des Kampfmittelräumdienstes haben die 500-Kilo-Bombe am Montagabend um 23 Uhr entschärft.

Ach, und auf der Startseite von ruhrnachrichten.de ist es im Moment die Top-Meldung.

Nachtrag, 08:14 Uhr: Den Artikel im überregionalen Teil hat “Der Westen” jetzt durch eine dpa-Meldung mit der geistreichen Überschrift “Bombenfund: 6000 Menschen in Bochum evakuiert” ersetzt.

Auf der Bochumer Seite sieht es immer noch so aus wie heute Nacht. Vermutlich ist die Lokalredaktion der “WAZ” einfach mitevakuiert worden und seitdem hat dort kein Mitarbeiter mehr einen Computer gefunden.

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Radio Musik Rundfunk

Merkt ja eh keiner (1)

Es ist ja nicht so, dass ich morgens aufstehe und denke “Was könnte ich heute mal Böses über den WDR schreiben?” Das machen die ja alles selber.

Gestern war Thees Uhlmann zu Gast im “1Live Kassettendeck”, das vom Konzept her eine Super-Radiosendung ist und deshalb um Mitternacht laufen muss: Ein Promi (meist Musiker) stellt eine Stunde lang Songs vor, die ihm sein Leben lang oder gerade jetzt im Moment wichtig sind. Gestern also der Sänger der “umstrittenen Band Tomte” (O-Ton welt.de, wo man auch nicht nach gutem Musikjournalismus suchen sollte).

Thees erzählte also und spielte Songs (Rod Stewart, Kool Savas, Escapado) und sagte nach jedem Lied, wer er ist und was wir da hören (ist ja Radio). Und dann kündigte er wortreich “Rain On The Pretty Ones” von Ed Harcourt an, zitierte noch aus dem Text (“I’m the Christian, that cannot forgive”, “I’m the hunter, who’s killed by his dog”) und sagte “Hier ist Ed Harcourt mit ‘Rain On The Pretty Ones'”.

Und was lief? Ed Harcourt mit “Late Night Partner”. Auch schön, sogar vom gleichen Album, aber ein ganz anderer Song. Auch, wenn er von Thees mit “Das war Ed Harcourt mit ‘Rain On The Pretty Ones'” abmoderiert wurde.

Nun ist es ja nicht so, dass da gestern Nacht ein übernächtiger Thees Uhlmann im 1Live-Studio gesessen und unbemerkt den falschen Track gefahren hätte: Weil man einen Promi kaum eine Stunde im Studio halten kann (dichter Promo-Zeitplan!), lässt man ihn einfach alle Moderationstexte hintereinander aufsagen, wenn er eh grad mal für ein Interview da ist. Dann gibt er einen Zettel mit der Playlist ab und irgendjemand muss die Songs zwischen die Moderationen schneiden. Und dieser Jemand hat offenbar einen Fehler gemacht.

Das ist kein großes Drama, kein Skandal und kein Eklat. Es ist nur ein Beispiel, warum es mir so schwer fällt, Medienschaffende in diesem Land ernst zu nehmen: Weil sie ihre Arbeit selbst nicht ernst nehmen.

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Leben

Total unsymptomatisch

Heute morgen stand ich vor dem Unperfekthaus in Essen um einen völlig idiotischen Aufsager für meinen Videobericht zum Barcamp Ruhr zu drehen (stay tuned for more). Aus dem Augenwinkel sah ich einen Mann, der erst rechts an dem Gebäude vorbei schlich, in der Hofeinfahrt nebenan verschwand und wieder hervorkam, dann links vorbei schlich, dort in einem Hauseingang verschwand, um nach mindestens einer Minute des Suchens dann doch durch die Tür ins Gebäude zu gelangen, durch welche die ganze Zeit über Menschen rein und raus gegangen waren.

“Aha”, dachte ich so für mich, “vielleicht ein Entwickler auf der Suche nach neuen Wegen oder gar ein unbeteiligter Passant. Jedenfalls sicher kein Journalist.”

Bei dem Mann handelte es sich, wie sich später herausstellte, um einen der Abgesandten von derwesten.de.

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Leben

Isses schon wieder soweit?

Das ZDF feiert derzeit den “Anschluss” Österreichs vor siebzig Jahren.

Und im Supermarkt hing heute am Regal mit den Mozartkugeln das Schild “Produkte aus unserer Region”.

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Digital

Grüner wird’s nicht

Vor einer Stunde ist zoomer.de gestartet, das “News-Portal mit Community-Faktor” mit Herausgeber Ulrich Wickert. Zum Angebot selbst und seiner inhaltlichen Qualität will ich mich so früh noch nicht äußern, aber eines fällt ins Auge: das Logo.

zoomer.de (Logo)

Der neongrüne Farbton, der auch den Rest des Layouts dominiert, erinnert ein klein wenig an die Farbe, die seit letzter Woche den Kopf der “Netzeitung” ziert.

netzeitung.de (Logo)

Aber wirklich nur ein wenig. Vielleicht ist es auch das Grün der Wellnessstudio-Kette Elixia:

Elixia (Logo)

Oder das, was die Fluggesellschaft dba verwendet hat, bevor sie 2007 von Air Berlin übernommen wurde:

dba (Logo)

Vermutlich wird dieser kiwiähnliche Neongrünton mit Gelbstich für dieses Jahrzehnt das, was Orange für die Siebziger war.

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Print

Und was ist mit “Vanity Fair”?

Der Zeitschriftenmarkt ist so unübersichtlich, dass man selbst als Leser des Zeitschriftenblogs nicht alles mitbekommen kann. Insofern finde ich es immer besonders interessant, was die Leute im Zug so lesen.

Meine Favoriten:
Fire & Food – Das Barbeque-Magazin
Das Microwave Journal
GolfPunk

PS: Dazu passend: “Galore” gibt’s jetzt mit neuem Layout und neuem Konzept.

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Kultur

Schild-Schelte

Liebe Herren,

eines Tages kommt für jeden von uns der Moment, wo wir den ersten Anzug kaufen müssen. Manchmal anlässlich der ersten heiligen Kommunion oder der Konfirmation, manchmal anlässlich des Examens oder einer Hochzeit (eigene oder andere), manchmal auch erst anlässlich der Einsargung.1

Die Auswahl kann oft sehr lange dauern und für alle Beteiligten sehr erschöpfend sein. Aber ganz egal, für welche Marke Sie sich entscheiden und ob der Anzug am Ende fünfzig oder zweitausend Euro kostet:

Gehen Sie um Himmels Willen sicher, das kleine Herstellerlogo, das beim Kauf am linken Jackettärmel festgenäht ist, vor dem ersten Tragen zu entfernen!!!!!1

Uff!

Danke!

1 Gut, dann müssen wir ihn streng genommen nicht selbst kaufen

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Film Leben

Meine erste Pressevorführung

Ich veröffentliche jetzt seit fast acht Jahren Filmkritiken im Internet. Ich habe bisher hunderte von Filmen in Dutzenden von Kinosälen auf zwei Kontinenten gesehen, war bei Previews dabei, bei Vorpremieren in Anwesenheit von Mitwirkenden und bei Filmfestivals. Aber heute war ich zum allerersten Mal bei einer Pressevorführung.

Das ist in etwa so spektakulär, wie es sich anhört: Man muss zu einer weitgehend abnormen Kinozeit (11 Uhr sei noch spät, hieß es) in einem großen, schmucken Kino antanzen, trägt sich in eine Liste ein, schüttelt Hände mit den lokalen Beauftragten und den Kollegen der anderen “Presseorgane”, kann sich was zu Trinken aussuchen und setzt sich dann mit einem Halbdutzend Cineastensäue in einen riesigen Kinosaal.

Keiner raschelt mit dem Popcorn, kein Handy klingelt und niemand quasselt. Leider hatte auch keiner der Kollegen so einen crazy Leuchtkugelschreiber dabei, die ich bisher für ein unabdingbares Arbeitsinstrument des gemeinen Filmkritikers hielt.

Übrigens tauge ich offenbar noch nicht zum Filmkritiker: Meine Matte mag von der Berufsvereinigung der Musikjournalisten abgesegnet sein, als professioneller Kinogänger müsste ich mein Haar aber grau und 5 Millimeter lang tragen. Und meine Brille hätte ich auch von Anfang an aufhaben müssen, um echt auszusehen. Die habe ich natürlich wieder erst im Saal aufgesetzt, als ich feststellte, dass ich die Leinwand sonst nicht sehen kann.

Einen Film habe ich natürlich auch gesehen, aber die Besprechung dazu gibt’s erst morgen. Ein bisschen Spannung muss hier ja auch mal sein.

Was?

Nein, es war nicht “Kilians – Der Film”. Scherzkeks!

Nachtrag 20. September: Die Filmkritik gibt’s jetzt hier.