Dass Yeter sterben wird, erfahren wir noch bevor wir sie kennengelernt haben. Nach einem kurzen Prolog, den wir sehr viel später noch einmal sehen und erst dann verstehen werden, kommt eine Titeleinblendung: “Yeters Tod”.
Yeter (Nursel Köse) arbeitet als Prostituierte in Bremen. Bei ihrer Arbeit lernt sie den pensionierten Witwer Ali (Tuncel Kurtiz) kennen, der sie nach ein paar Besuchen bittet, als seine Lebensgefährtin zu fungieren – den üblichen Satz werde er ihr bezahlen. Alis Sohn Nejat (Baki Davrak) ist nicht sonderlich begeistert von dieser Aktion seines Alkohol- und Herzkranken Vaters, aber er ist beeindruckt von der Tatsache, dass Yeter einen Großteil ihres Verdienstes in die Türkei schickt, um ihrer Tochter das Studium zu finanzieren. Als Yeter stirbt (s.o.), begleitet Nejat den Sarg in die Türkei und macht sich auf die Suche nach Yeters Tochter Ayten, von der Yeter lange nichts mehr gehört hatte.
Auch von Lotte erfahren wir vor ihrem ersten Auftritt, dass sie sterben wird: “Lottes Tod” steht auf dem Zwischentitel. In der Mensa lernt die junge Frau aus gutem Hause (Patrycia Ziolkowska) Ayten kennen, die vor der türkischen Polizei geflohen ist und in Bremen ihre Mutter sucht. Lotte freundet sich mit Ayten (Nurgül Yeşilçay) an und quartiert sie bei ihrer Mutter Susanne (Hanna Schygulla) ein. Als Ayten in die Türkei abgeschoben wird (ebenso lapidare wie irrige – und wohl leider auch authentische – Begründung: im Zuge des geplanten EU-Beitritts der Türkei werde ihr dort auch als politisch Verfolgte schon nichts passieren), reist Lotte ihr hinterher. Durch Zufall zieht sie bei Nejat, der sich inzwischen in Istanbul niedergelassen hat, ein und kommt wenig später unter tragischen Umständen ums Leben.
Die dritte Episode trägt den Namen, der auch auf den Kinoplakaten steht: “Auf der anderen Seite”. Susanne ist nach Istanbul gereist, um zu erfahren, wo und wie ihre Tochter kurz vor ihrem Tod gelebt hat. Auch sie kommt bei Nejat unter und sie geht den Weg, den Lotte eingeschlagen hat, weiter und holt Ayten aus dem Gefängnis. Ganz nebenbei bringt sie Nejat dazu, sich mit seinem Vater versöhnen zu wollen …
Was beim Lesen vielleicht etwas unübersichtlich, arg konstruiert und unwahrscheinlich wirkt, ist in Fatih Akins fünftem Spielfilm völlig organisch. Es sind die Geschichten dreier Elter-und-Kind-Paare1, wobei der direkte Kontakt zwischen Eltern und Kindern eher gering ist. Die Handlungsfäden sind kunstvoll miteinander verwoben, die Hauptpersonen aber laufen mehrmals knapp aneinander vorbei. Man ahnt das Reißbrett, an dem Akin seine Geschichten nebeneinander aufgezeichnet und hintereinander arrangiert haben muss um den Überblick zu behalten, und trotzdem sind die Geschichten ebenso glaubwürdig wie die Charaktere. Den Drehbuchpreis in Cannes hat er also völlig zu Recht gewonnen.
Neun Jahre nach seinem Regiedebüt “Kurz und schmerzlos” und dreieinhalb Jahre nach dem furiosen “Gegen die Wand” lässt sich leicht zusammenfassen: Fatih Akin kann es einfach. Zwar sind derartige Erzählmuster längst keine Sensation mehr, aber es gibt ja auch genug Regisseure, die schon an einer völlig linearen Handlung scheitern. Nicht so Fatih Akin: Er bringt die ganz großen Themen, ohne dass diese den Film bemüht oder bedeutungsschwanger erscheinen ließen. Er komponiert Bilder und Dialog so geschickt, dass man sich hinterher fragt, ob überhaupt gesprochen wurde.
Fatih Akin sieht seinen Film nicht als einen “politischen” an und vermutlich hat er recht: Auch wenn es am Rande um Abschiebung, türkische Gefängnisse und “Terrororganisationen” geht; auch wenn der Film einer Bremer Demo zum ersten Mai mit Bratwurst essenden Ver.di-Funktionären und Spielmannszug Randale in Istanbul gegenüberstellt: das Politische ist immer nur Hintergrund für die privaten Schicksale. “Auf der anderen Seite” ist aber ein Film über Ideale. Nejat sucht Ayten, weil er ihr auch nach dem Tod der Mutter das Studium ermöglichen möchte; Lotte nimmt Ayten bei sich auf und folgt ihr in die Türkei, weil es ihr wichtig und richtig erscheint, für ihre Freundin zu kämpfen; Susanne macht schließlich weiter, was Lotte nicht zu Ende führen konnte. So wie Ali und Nejat abwechselnd Deutsch und Türkisch miteinander sprechen, so verschwimmen auch die Grenzen zwischen Deutschland und der Türkei im Film, denn wer wo für jemanden kämpft, ist zweitrangig. Der einzige sichtbare Unterschied besteht in den hellen, farbenfrohen Bildern des lebendigen Istanbuls auf der einen, und den kühl und klar strukturiert erscheinenden deutschen Städten Hamburg und Bremen auf der anderen Seite.
Auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind universell: Eltern lügen ihre Kinder an, weil sie nur das Beste für sie wollen; Kinder wollen auf keinen Fall wie ihre Eltern werden und finden sich plötzlich in deren Fußstapfen wieder; Eltern wollen, dass ihre Kinder etwas aus ihrem Leben machen, und sind dann irritiert, wenn die Kinder tatsächlich mal aktiv werden. Gerade Hanna Schygulla spielt die Mutter, die immer wieder über ihre Grenzen geht, erst als hanseatisch-vornehme Dame, die aber die ganze Zeit über ein großes Herz hat und von der man nach und nach erfährt, wie unkonventionell sie eigentlich ist. Außerdem hat sie eine große Nervenzusammenbruch-Szene, die völlig minimalistisch anfängt und dann trotz Auf-dem-Boden-wälzen und Schreien nicht peinlich wird. “Schauspiellegende”, eben.
Die 122 Minuten von “Auf der anderen Seite” kommen einem länger vor. Aber nicht, weil sich der Film so zöge und langatmig würde, sondern weil so viel passiert und es auch neben dem Offensichtlichen noch viel zu entdecken gibt. Fatih Akin schafft es sogar, seine ganz eigene Ringparabel in der Geschichte zu verstauen, indem er Baki Davrak aus dem Koran erzählen lässt, von einem Mann, der Allah seinen Sohn opfern soll. Und wenn Hanna Schygulla an dieser Stelle nicht für das unstudierte Publikum sekundieren müsste: “Die Geschichte gibt es bei uns auch!” (aufmerksame Kindergottesdienstbesucher wissen: Abraham und Isaak), dann wäre das ein richtig weiser und erhellender Moment.
“Auf der anderen Seite” läuft ab heute in Hamburg und ab 27. September in ganz Deutschland.
1 Ich hab keinen Nerv, mir von der deutschen Sprache den Singular für “Eltern” ausreden zu lassen. Wenn nur genug mitmachen, wird “ein Elter” irgendwann normal.