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Internetmäander

Ich habe ein wich­ti­ges Jubi­lä­um ver­passt: Irgend­wann Ende Novem­ber, Anfang Dezem­ber muss es sich zum 15. Mal gejährt haben, dass der ers­te von mir geschrie­be­ne Text im World Wide Web ver­öf­fent­licht wur­de. ((Die lächer­li­chen „Home­pages“, die mei­ne Freun­de und ich in den Mona­ten zuvor bei AOL bzw. Tri­pod (Kin­der, fragt Eure Groß­el­tern, was das war) hoch­ge­la­den hat­ten, zäh­len nicht als Text.)) Es han­del­te sich um eine Kri­tik zum Film „Jackie Chan ist Nobo­dy“, an den ich mich heu­te kein biss­chen erin­nern kann, und sie erschien auf „Schrö­ders klei­ne Film­sei­ten“. Weil das Inter­net damals noch ver­ges­sen konn­te, müss­te ich die NSA um eine Siche­rungs­ko­pie des Tex­tes bit­ten, wenn ich ein ent­fern­tes Inter­es­se dar­an hät­te, mei­ne Rezen­si­on noch ein­mal nach­zu­le­sen.

Das heißt auch: In ein paar Mona­ten wer­de ich mein hal­bes Leben ins Inter­net schrei­ben.

Ich glau­be nicht, dass ich das Inter­net damals als Offen­ba­rung, Chan­ce oder Sen­sa­ti­on begrif­fen habe. Mir war damals klar, dass die Zahl mei­ner Leser nicht signi­fi­kant stei­gen wür­de, ver­gli­chen mit den Tex­ten, die ich in den sie­ben, acht Jah­ren zuvor in mei­ne Schreib­ma­schi­ne gehackt habe. Und mei­ne Ver­wand­ten in den USA hät­ten mei­ne Tex­te ja auch lesen kön­nen, wenn ich sie ihnen gefaxt hät­te. Das Inter­net wur­de erst rich­tig cool, als ich begriff, dass ich dort Fotos von mei­nen Lieb­lings­schau­spie­le­rin­nen und obsku­re B‑Seiten mei­ner Lieb­lings­bands her­un­ter­la­den konn­te. Ich fand den Ein­gangs­ka­nal immer beein­dru­cken­der als den Aus­gangs­ka­nal.

Dar­an hat sich auch in den vie­len Jah­ren, die ich auf ver­schie­dens­ten Platt­for­men im Inter­net publi­ziert habe und in denen ich damit teil­wei­se mei­nen Lebens­un­ter­halt bestrit­ten habe, nicht groß geän­dert. Natür­lich weiß ich theo­re­tisch, dass die mehr als 70.000 Zugrif­fe, die etwa unse­re Oslog-Fol­ge mit Lena Mey­er-Land­rut und Hape Ker­ke­ling hat­te, deut­lich mehr sind als die maxi­mal 50, 60 Zuschau­er, die mei­ne Freun­de und ich im Jahr 1999 mit unse­ren selbst gedreh­ten Action­fil­men errei­chen konn­ten. Und 2.000 Zuhö­rer hät­te ich mit mei­nen Bands auch nie erreicht. Aber ich hab die­se Sachen ehr­lich gesagt immer in ers­ter Linie für mich gemacht – ob sie hin­ter­her auch Rezi­pi­en­ten fin­den, war min­des­tens zweit­ran­gig.

Ich habe ins Inter­net geschrie­ben, bevor ich je das Wort „Blog“ gehört hat­te. Mei­ne Schul­freun­de und ich hat­ten eine Sei­te, auf der wir uns über unse­re Erleb­nis­se aus­ge­tauscht haben, lan­ge bevor wir wuss­ten, was ein „Social Net­work“ ist, und bevor Face­book – oder auch nur MySpace ((Kin­der, bit­te wie­der die Groß­el­tern fra­gen.)) – gegrün­det wur­de. Für mich ist das Inter­net so selbst­ver­ständ­lich wie flie­ßend Warm­was­ser und elek­tri­scher Strom und ich habe nie ver­stan­den, war­um man­che ein gro­ßes Gewe­se dar­um machen, das Inter­net zu kri­ti­sie­ren oder zu ver­tei­di­gen. Man kann mit Was­ser sei­ne Hän­de waschen oder sein Kind in der Bade­wan­ne erträn­ken und man kann mit elek­tri­schem Strom Kar­tof­fel­sup­pe nach altem Fami­li­en­re­zept kochen oder „Taff“ auf Pro­Sie­ben gucken – und so ist das Inter­net auch genau das, was man draus macht.

Viel­leicht ist das auch der Grund, war­um ich nie so ein Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl ent­wi­ckelt habe, wie es auf Bar­camps und Tref­fen wie der re:publica ((Allein die Schreib­wei­se schon!)) zele­briert wird. Ich habe das Inter­net immer für ein sehr prak­ti­sches Werk­zeug gehal­ten und ich fin­de es schön, dass ich dort Din­ge machen und kon­su­mie­ren kann, die nie im Fern­se­hen oder Radio lau­fen und nie von einem Ver­lag gedruckt wer­den wür­den, aber ich hal­te auch mein Schwei­zer Taschen­mes­ser, ((Seit Weih­nach­ten 1994 in mei­nem Besitz.)) mei­nen Staub­sauger und mei­nen Dosen­öff­ner für sehr prak­ti­sche Werk­zeu­ge und wür­de den­noch nie zu einem Tref­fen von Taschenmesser‑, Staub­sauger- oder Dosen­öff­ner­fans gehen. ((Das mag frei­lich auch damit zusam­men­hän­gen, dass ich ein grund­sätz­li­ches Pro­blem damit habe, Teil einer Grup­pe zu sein.))

Ich will das hier jetzt gar nicht im Ein­zel­nen auf­drö­seln, aber wenn ich sehe, was Geheim­diens­te, Regie­run­gen und Anwalts­kanz­lei­en mit dem Inter­net ver­an­stal­ten, macht mich das betrof­fen und wütend. Der Gene­ral­ver­dacht gegen­über der Bevöl­ke­rung, der sich in der Samm­lung qua­si aller Kom­mu­ni­ka­ti­ons­da­ten mani­fes­tiert, ist uner­träg­lich und auch irgend­wie unlo­gisch: Schon seit Jahr­zehn­ten wer­den Häm­mer ver­kauft, mit denen man wahl­wei­se Rega­le zusam­men­bau­en oder jeman­den erschla­gen kann, ((In eini­gen Haus­hal­ten soll es zu Situa­tio­nen gekom­men sein, wo bei­des mehr oder weni­ger zeit­gleich statt­ge­fun­den hat.)) von der viel­sei­ti­gen Ein­satz­mög­lich­keit von Mes­sern und Autos ganz zu schwei­gen. Ich bin nicht der Mei­nung, dass man alles über­wa­chen muss, weil Ter­ro­ris­ten „Tech­nik nut­zen“, und ich hän­ge auf der staats­theo­re­ti­schen Ebe­ne der huma­nis­ti­schen Idee an, die Tim Ber­ners-Lee kürz­lich for­mu­liert hat:

Any demo­cra­tic coun­try has to take the high road; it has to live by its prin­ci­ples. I’m very sym­pa­the­tic to attempts to increase secu­ri­ty against orga­nis­ed crime, but you have to distin­gu­ish yours­elf from the cri­mi­nal.

Und weil Tim Ber­ners-Lee der Mann ist, der das World Wide Web erfun­den hat, nut­ze ich die­sen Zir­kel­schluss, um zum Schluss zu kom­men:

Ich mag das Inter­net, macht es nicht kaputt!

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Leben Gesellschaft

Fast ein Held

Das „Zeit-Maga­zin“ wid­met sich in sei­ner aktu­el­len Aus­ga­be dem The­men­kom­plex der „Nuller Jah­re“.

In einem Inter­view fasst der Phi­lo­soph Peter Slo­ter­di­jk zusam­men, was für ihn die Nuller aus­macht (Cas­ting Shows, die Queen Mary 2, Dau­men bei der Bedie­nung elek­tro­ni­scher Klein­ge­rä­te), er kri­ti­siert, dass der „Krieg gegen den Ter­ro­ris­mus“ aus Bür­gern „Sicher­heits­un­ter­ta­nen“ gemacht habe, und ant­wor­tet auf die Fra­ge, wer für ihn die Hel­den die­ses Jahr­zehnts sei­en:

Für mich per­sön­lich ist die Ant­wort evi­dent: die Men­schen, die bei den Sicher­heits­kon­trol­len am Flug­ha­fen aus­ge­ras­tet sind. Im Spie­gel stand neu­lich eine hüb­sche Auf­zäh­lung. Ein Pas­sa­gier hat sei­ne Rasier­was­ser­fla­sche gegen eine Schei­be gewor­fen, ein ande­rer hat eine Kon­trol­leu­rin geohr­feigt. Das sind mei­ne Hel­den, ein­sa­me Kämp­fer gegen den Sicher­heits­wahn.

Ich bin also fast ein Held im Sloterdijk’schen Sin­ne, denn ich wäre um ein Haar mal am Flug­ha­fen Chi­ca­go O’Ha­re ver­haf­tet wor­den. ((Neh­me ich zumin­dest an.)) Und das kam so:

Es begab sich im Okto­ber 2006, dass ich von Chi­ca­go nach Oak­land flie­gen muss­te. Das Wet­ter war schon beim Check-In schlecht gewe­sen und wur­de im Lau­fe des Abends immer schlech­ter. Nach und nach wur­den alle Flü­ge nach hin­ten und an ande­re Gates ver­legt – so lan­ge, bis um kurz nach Elf dann ehr­li­cher­wei­se sämt­li­che Flü­ge als „can­cel­led“ geführt wur­den. Also ver­lie­ßen ein paar Tau­send Men­schen mit Hotel-Gut­schei­nen in der Hand den Abflug­be­reich, um sich ein Nacht­la­ger zu suchen. Sämt­li­che Hotels im Umkreis waren bin­nen Sekun­den aus­ge­bucht, aber man ließ uns auch nicht mehr in den Abflug­be­reich zurück, da das Per­so­nal, das die Sicher­heits­kon­trol­len durch­füh­ren hät­te kön­nen, sei­ne Tages­schicht been­det hat­te und die nächs­te Schicht nicht vor 4:30 Uhr begin­nen wür­de.

Viele Menschen würden gerne eine Umbuchung vornehmen.

An die­ser Stel­le muss ich kurz die fast schon erschüt­tern­de Gelas­sen­heit der Ame­ri­ka­ner loben. In Deutsch­land, wo man ver­gleich­ba­re Aktio­nen etwa jeden zwei­ten Abend an den Haupt­bahn­hö­fen belie­bi­ger Mit­tel­städ­te beob­ach­ten kann, wäre es schon lan­ge unter dem Aus­tausch fra­ter­ni­sie­ren­der Kom­men­ta­re und Bli­cke zu Mob-Bil­dun­gen gekom­men. Aggres­sio­nen hät­ten sich wie üblich aus­schließ­lich an den Bediens­te­ten vor Ort ent­la­den, wäh­rend unter­ein­an­der auf „die fei­nen Her­ren da oben“ geschimpft wird.

All das gab es in Chi­ca­go nicht, dafür gab es Feld­bet­ten von Heils­ar­mee und US Army, auf denen dann eini­ge hun­dert Men­schen neben den Gepäck­ka­rus­sells im Kel­ler des Flug­ha­fens lager­ten. Es war eine Stim­mung wie beim Kir­chen­tag – nur dass man dort nicht um vier Uhr nachts von einem Drill Ser­geant der Army wach­ge­brüllt wird. Ich ver­brach­te zumin­dest einen Teil der rest­li­chen fünf Stun­den bis zum neu­en Abflug­ter­min auf dem (extrem flau­schi­gen) Tep­pich­bo­den in der Lob­by des Flug­ha­fen-Hil­tons.

Viele Feldbetten, kein Korn.

Dann woll­te ich irgend­wann zurück in den Abflug­be­reich und durch die Sicher­heits­kon­trol­len. Und dort pas­sier­te es: Weil ich eine am Vor­abend im Sicher­heits­be­reich gekauf­te und geöff­ne­te Fla­sche Mine­ral­was­ser in mei­nem Ruck­sack ver­ges­sen hat­te, schlu­gen die Sen­so­ren an. Die dazu­ge­hö­ri­ge Geschich­te war der stäm­mi­gen Dame des Sicher­heits­diens­tes herz­lich egal, sie durch­such­te mei­nen Ruck­sack mit einer eher deut­schen Akri­bie, wisch­te ihn mit einem Tuch aus, das sie dann unter einen CSI-mäßi­gen Scan­ner leg­te, um es auf Spreng­stoff-Rück­stän­de zu unter­su­chen, und hat­te ver­mut­lich unter dem Tisch schon auf einen klei­nen unauf­fäl­li­gen Knopf gedrückt.

Mein Deo­stick, der am Vor­abend kein Pro­blem dar­ge­stellt hat­te ((Weil er auf den Scan­ner-Bil­dern nicht zu erken­nen gewe­sen war.)), wur­de kri­tisch beäugt, durf­te aber im Ruck­sack ver­blei­ben, weil er nicht flüs­sig genug war. Die Mine­ral­was­ser­fla­sche, die ich unter kei­nen Umstän­den mit hin­ein­neh­men durf­te, stand zwi­schen uns auf einem Tisch wie ein kon­fis­zier­ter Dil­do. Sie war die Plas­tik­ge­wor­de­ne Respekt­lo­sig­keit mei­ner­seits.

Also griff ich die Fla­sche und warf sie mit einer schwung­vol­len Bewe­gung an der Dame vor­bei in die dafür bereit­ste­hen­de Müll­ton­ne. Wie ein Bas­ket­ball schlug sie innen gegen den Ring und lan­de­te mit einem sehr dump­fen „Plonk!“ in dem Alu­mi­ni­um­ei­mer. Ich hat­te das Gefühl, alle ande­ren Geräu­sche im Ter­mi­nal sei­en plötz­lich ver­stummt und etwa 20.000 Augen sei­en auf mich gerich­tet. Die Frau sah mich mit einem Blick an, der „Ich könn­te Sie inner­halb einer Sekun­de töten. Mit mei­nem klei­nen Fin­ger.“ sag­te. Sie selbst sag­te: „Next time, Sir, I’m gon­na throw this away for you!“

„The­re won’t be a next time“, dach­te ich zum Glück nur und ging wei­ter. Nicht, ohne fast noch mei­ne Arm­band­uhr ((Ich tra­ge Arm­band­uh­ren nur auf Flü­gen, sonst habe ich für sowas mein Han­dy.)) ver­ges­sen zu haben.

Ja, so war er, mein fast-revo­lu­tio­nä­rer Moment. Hät­te ich ein biss­chen weni­ger nor­disch aus­ge­se­hen, wäre ich ver­mut­lich ver­haf­tet wor­den.

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Print Politik

War was?

Wie es der Zufall so will, hat sich die gro­ße Koali­ti­on in Deutsch­land­üb­ri­gens ges­tern dar­auf ver­stän­digt, wie das BKA-Gesetz aus­se­hen soll. Der Weg zu heim­li­chen Online-Durch­su­chun­gen ist damit frei.

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Politik Gesellschaft

Random Facts

Heu­te vor 15 Jah­ren ging ein Poli­zei­ein­satz gründ­lich schief. Es war der GSG-9-Ein­satz in Bad Klei­nen und der GSG-9-Beam­te Micha­el Newr­zel­la, der an die­sem Tag vom RAF-Ter­ro­ris­ten Wolf­gang Grams erschos­sen wur­de, ist das letz­te Todes­op­fer durch Ter­ro­ris­mus auf deut­schem Boden.

Die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung zählt in den letz­ten 15 Jah­ren 85 Todes­op­fer rech­ter Gewalt in Deutsch­land.

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Literatur Gesellschaft

Don’t party like it’s 1999

Kürz­lich blät­ter­te ich mal wie­der in „Tris­tesse Roya­le“, dem Rea­der der deutsch­spra­chi­gen Pop­li­te­ra­tur der 1990er Jah­re, dem Zeit­do­ku­ment der ers­ten Tage der Ber­li­ner Repu­blik. Und mir wur­de klar: Wer ver­ste­hen will, wie sehr sich unse­re Gesell­schaft und unse­re Welt im letz­ten Jahr­zehnt ver­än­dert haben, der muss nur die­se Pro­to­kol­le der Gesprä­che lesen, die Joa­chim Bes­sing, Chris­ti­an Kracht, Eck­hart Nickel, Alex­an­der von Schön­burg und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re im spä­ten April des Jah­res 1999 im frisch wie­der­eröff­ne­ten Ber­li­ner Hotel „Adlon“ geführt haben.

Neh­men wir nur einen kur­zen Aus­schnitt, der eigent­lich alles sagt:

JOACHIM BESSING Gibt es denn eigent­lich über­haupt noch soge­nann­te gesell­schaft­li­che Tabus?
ALEXANDER V. SCHÖNBURG Die katho­li­sche Kir­che zu ver­tei­di­gen ist zum Bei­spiel ein moder­nes Tabu. Es ist ein All­ge­mein­platz, für die Anti­ba­by­pil­le und gegen die Fami­li­en­po­li­tik des Paps­tes zu sein. Wer heu­te, wie ich, sagt: Ich bin für den Papst und gegen die „Pil­le danach“, bricht ein gesell­schaft­lich ver­ein­bar­tes Tabu. Viel­leicht ist es auch ein ähn­li­cher Tabu­bruch, wenn eine Frau sagt: Ich gehö­re hin­ter den Herd und möch­te ger­ne mei­ne Kin­der erzie­hen. Ich möch­te gar nicht in die Drei-Wet­ter-Taft-Welt ein­tre­ten.

„Tris­tesse Roya­le“, S. 118

Lesen Sie die­se Aus­füh­run­gen ruhig mehr­mals. Und ver­su­chen Sie dann, sich vor­zu­stel­len, dass es eine Welt gab, in der „wir“ noch nicht Papst waren und in der Eva Her­man nur die Nach­rich­ten vor­ge­le­sen hat. Es war eine Welt, in der alles noch so war, wie es war, bevor nichts mehr so war, wie es zuvor gewe­sen war. Eine Welt in einem ande­ren Jahr­tau­send – aber wer heu­te aufs Gym­na­si­um kommt, war damals schon gebo­ren.

Natür­lich ist „Tris­tesse Roya­le“ kein Pro­to­koll einer tat­säch­li­chen Gesell­schaft. Die welt­män­ni­schen Posen der fünf jun­gen, kon­ser­va­ti­ven Her­ren lie­ßen sich auch damals nur schwer­lich mit der Welt­sicht der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung auf eine Line brin­gen. Aber sie pass­ten sti­lis­tisch in die Eupho­rie des Auf­bruchs. Das Buch ist des­halb eine gute Erin­ne­rung an die­se ers­ten Tage der soge­nann­ten Ber­li­ner Repu­blik, als es so aus­sah, als wür­den Ger­hard Schrö­der und die rot-grü­ne Koali­ti­on Deutsch­land allei­ne aus der Kri­se füh­ren. In gewis­ser Wei­se haben sie das getan, aber das Volk hat es ihnen nicht gedankt, weil die als gro­ße „Reform“ anmo­de­rier­te Agen­da 2010 weh tat und sie zu einem nicht uner­heb­li­chen Teil auch unso­zi­al war. Nie­mand fragt, war­um es Deutsch­land unter einer Kanz­le­rin Mer­kel, die bis­her kei­ne ein­zi­ge innen­po­li­ti­sche Ent­schei­dung grö­ße­rer Trag­wei­te getrof­fen hat, plötz­lich so gut gehen soll, wie lan­ge nicht mehr. Nie­mand ist erstaunt, wenn die SPD unter dem Pfäl­zer Ted­dy Kurt Beck plötz­lich wie­der Sozi­al­de­mo­kra­tie der 1960er Jah­re betrei­ben will. Aber alle jam­mern über die­se wahn­sin­ni­gen Teue­rungs­ra­ten und über die Gefahr, schon mor­gen auf dem Koblen­zer Markt­platz Opfer einer isla­mis­ti­schen Atom­bom­be zu wer­den.

Zwi­schen April ’99 und Okto­ber ’07 lag der 11. Sep­tem­ber 2001, der natür­lich viel ver­än­dert hat und der für zwei neue gro­ße Krie­ge auf die­sem Pla­ne­ten ver­ant­wort­lich ist. Aber ich glau­be nicht, dass die­se Ter­ror­an­schlä­ge, so schlimm sie auch waren und so vie­le danach auch noch kamen, der Haupt­grund für die­se Ver­schie­bung gesell­schaft­li­cher Vor­stel­lun­gen ist.

Zwi­schen 1999 und 2007 lag näm­lich auch und vor allem ein Jahr­tau­send­wech­sel, egal ob man den am 1. Janu­ar 2000 oder erst ein Jahr spä­ter begos­sen hat. Wenn wir uns anse­hen, wel­che Aus­wir­kun­gen schon eine schlich­te Jahr­hun­dert­wen­de gehabt hat, dann müs­sen wir erstaunt sein, dass die­ser Über­gang vom zwei­ten zum drit­ten Mill­en­ni­um häu­fig so ein­fach über­gan­gen wird: Das spä­te 19. Jahr­hun­dert hat­te das Fin de siè­cle, das Zeit­al­ter des Deka­den­tis­mus, und genau das fin­den wir auch in „Tris­tesse Roya­le“ und der Gesell­schaft die­ser spä­ten 1990er Tage wie­der. Nicht weni­ge erwar­te­ten für die Sil­ves­ter­nacht 1999/​2000 den sofor­ti­gen Welt­un­ter­gang und ent­spre­chend wur­de auch gefei­ert und gelebt. Die­ser Über­schwung hielt dies­mal aber kei­ne 14 Jah­re, bis ein Ereig­nis die Welt erschüt­ter­te, son­dern die paar Mona­te bis zum Sep­tem­ber 2001.

Als Peter Scholl-Latour am Abend des 12. Sep­tem­ber 2001 in der Talk­show von Michel Fried­man das Ende der Spaß­ge­sell­schaft pos­tu­lier­te, hin­ter­ließ das zwar kei­nen all­zu blei­ben­den Ein­druck bei der Welt­be­völ­ke­rung, aber nach so einer Ansa­ge fie­len die Cham­pa­gner­bä­der in Ber­lin-Mit­te viel­leicht doch zunächst ein biss­chen klei­ner aus. Und ehe man sich’s ver­sah, war auch auf höhe­rer Ebe­ne aus einer apo­li­ti­schen Deka­denz­ge­sell­schaft eine apo­li­ti­sche Bie­der­mei­er­ge­sell­schaft gewor­den, in der man sei­nen dun­kel­haa­ri­gen Nach­barn sofort für einen poten­ti­el­len Mas­sen­mör­der hält, weil der sich drei­mal am Tag die Hän­de wäscht und betet. Ande­rer­seits wird ein alter Kir­chen­mann von Jugend­li­chen wie ein Pop­star ver­ehrt und Fern­seh­mo­de­ra­to­rin­nen erhe­ben das Gegen­teil ihres eige­nen Lebens­we­ges zum Heils­ver­spre­chen für alle Frau­en.

Damit sind wir, auf Umwe­gen, wie­der beim Aus­gangs­zi­tat ange­kom­men. Was machen eigent­lich die­se gro­ßen Män­ner der deutsch­spra­chi­gen Deka­denz heu­te? Nun: Alex­an­der von Schön­burg war kurz­zei­tig Chef­re­dak­teur des Edel­ma­ga­zins „Park Ave­nue“ und kollum­ni­ert für „Bild“; Joa­chim Bes­sing schreibt Bücher, die auf dem „Lebenshilfe“-Tisch der Buch­hand­lun­gen neben denen von Eva Her­man lie­gen; Eck­hart Nickel und Chris­ti­an Kracht grün­de­ten die sehr inter­es­san­te, lei­der aber nicht sehr erfolg­rei­che Lite­ra­tur­zeit­schrift „Der Freund“; Kracht selbst ent­schwebt in sei­nen Repor­ta­gen in immer unzu­gäng­li­che­re Sphä­ren und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war zuletzt als Rosen­ver­käu­fer im neu­en Horst-Schläm­mer-Video zu sehen.