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Katastrophenjournalismus-Mäander

Ich war ein etwas merkwürdiges Kind und legte schon früh eine gewisse Obsession für Journalismus an den Tag, besonders in Katastrophensituationen: als in meinem Heimatdorf ein Gasthaus abbrannte, schnitt mein siebenjähriges Ich in den nächsten Tagen alle Artikel darüber aus der Zeitung aus und editierte sie neu zusammen, um sie in einer von mir selbst moderierten Nachrichtensendung (Zuschauer: meine Stofftiere) zu verlesen.

Mit acht sammelte ich in Zeitungen und Radio alle Informationen über einen Flugzeugabsturz in Amsterdam, derer ich habhaft werden konnte. Nach dem Absturz eines Bundeswehrhubschraubers ((Die Typenbezeichnung Bell UH-1D könnte ich Ihnen ohne nachzudenken nennen, wenn Sie mich nachts um vier aus dem Bett klingelten — was Sie aber bitte in unser beider Interesse unterlassen!)) bei der Jugendmesse “YOU” in Dortmund, nach dem Unfalltod von Prinzessin Diana, nach dem ICE-Unfall von Eschede schaltete ich Fernseher und Videotext ein und wechselte jede halbe Stunde zum Radio, um aus den dortigen Nachrichten mögliche neue Entwicklungen zu entnehmen und – ich wünschte wirklich, ich dächte mir das aus – zu notieren: Soundso viele Tote, Ursache noch unklar, drückte den Hinterbliebenen an der Unfallstelle sein Mitgefühl aus. Den 11. September 2001 verbrachte ich kniend auf dem Wohnzimmerteppich meiner Eltern vor dem Fernseher, am 7. Juli 2005 verließ ich mein Wohnheimszimmer nicht.

Dann wurden im August 2006 in Großbritannien zahlreiche Verdächtige festgenommen, die Anschläge auf Passagiermaschinen geplant haben sollten, und nach etwa einer halben Stunde CNN und BBC schaltete ich den Fernseher aus, ging raus und dachte “Was’n Scheiß!”

Ziemlich exakt seit es mir technisch möglich wäre, mich in Echtzeit selbst über Ereignisse zu informieren, noch während sie passieren, wünsche ich mir, darüber im Geschichtsbuch lesen zu können. Mit allen Erkenntnissen, die im Laufe der Jahre gewachsen sind, mit historischer Einordnung und in genau dem Umfang, der ihnen angemessen ist: Doppelseite, halbe Seite, kleiner Kasten, Fußnote.

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Als ich am vergangenen Freitag die erste Meldung bekam, dass sich in München irgendwas schlimmes ereignet habe, ((Bizarrerweise per Push-Benachrichtigung der BBC-App.)) guckte ich kurz bei Facebook Live und Periscope rein, weil ich ja manchmal auch für aktuelle Informationssendungen arbeite und mir diese Technik mal aus einer professionellen Perspektive ansehen wollte. Ich sah also verwackelte Videobilder, auf denen Menschen mit erhobenen Händen in Richtung von Polizeiautos rannten, und die von einem Mann mit bayrischen Akzent mit anhaltendem “krass, krass” kommentiert wurden. Die Wörter “München”, “Olympia”, “Schüsse” und “Kamera” bildeten in meinem Kopf eine Linie und ich dachte, dass man so Scheiße wie 1972, als die Geiselnehmer dank Live-Fernsehen permanent über die Aktionen der Polizei informiert waren, ja ruhig 44 Jahre später mit Mitteln für den Heimanwender noch mal wiederholen kann. Ich erbrach mich kurz bei Twitter und tat dann das Einzige, was mir an einem solchen Tag noch sinnvoll und sachdienlich erschien: ich ging in die Küche und machte Marmorkuchen und Nudelsalat für einen Kindergeburtstag.

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Der Begriff des “Zeugen” ist in erster Linie ein juristischer. Zeugen haben von den Strafverfolgungsbehörden (und dort von möglichst geschultem Personal) gehört zu werden und sollten nach Möglichkeit nicht vor laufende Kameras gezerrt werden. Schon bei einem harmlosen Verkehrsunfall kann man die widersprüchlichsten Informationen zusammensammeln, bei einer unübersichtlichen Gefährdungslage dürfte die Chance, tatsächlichen Mehrwert zu generieren (der sich anschließend inhaltlich auch noch als zutreffend erweist), genauso groß sein wie wenn der Moderator im Studio einfach mal rät, was passiert sein könnte.

Zu den Leuten, die nach bestem Wissen und Gewissen ausplaudern, was sie gesehen und gehört zu glauben haben, kommen natürlich noch die Idioten hinzu, die sich irgendwas ausdenken, um auf Twitter oder Facebook geteilt zu werden — oder weil es sich ja zufällig als treffend erweisen könnte.

Auf einem der Periscope-Videos aus München sah ich Dutzende Menschen, die alle ihre Handys in Richtung eines nicht näher einzuordnenden Ortes richteten, den ich jetzt einfach mal als “potentielle Gefahrenquelle” bezeichnen würde. Die Geiselnehmer von Gladbeck müssten heute nicht mal mehr warten, dass “Hans Meiser, deutsches Fernsehen” bei ihnen anruft oder der spätere “Bild”-Chefredakteur Udo Röbel zu ihnen ins Auto steigt.

Neben all dem findet man in den Sozialen Netzwerken natürlich auch die Besserwisser: ((Zu denen ich in der Blüte der Arroganz von Jugend und Internetglauben auch gehört habe.)) das Fernsehen soll mehr berichten, das Fernsehen soll weniger berichten, die Politiker sollen sich gefälligst jetzt äußern. Fast würde man diesen Leuten ein “Macht’s besser!”, entgegen schreien wollen, wenn man nicht davon ausgehen müsste, dass sie schon im Glauben sind, auf ihren Profilen genau das zu tun.

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Während etwas geschieht, ist man in aller Regel nicht in der Lage, die Dimension dieses Ereignisses auch einzuschätzen. Das gilt für die erste Begegnung mit der späteren großen Liebe genauso wie für Nachrichten. Es hat sich mir förmlich ins Hirn gebrannt, wie ich mit fünf Jahren versehentlich eine Ausgabe der “Aktuellen Stunde” mitkriegte, die vom Absturz eines US-Kampfflugzeugs in einer Stadt namens Remscheid berichtete. ((Note to self: Niemals Nachrichten gucken, wenn das Kind in der Nähe ist.)) Die Worte “Flugzeugabsturz” und “Remscheid” sind für mich seitdem untrennbar semantisch miteinander verbunden, obwohl ich bis heute nicht sagen könnte, wo Remscheid liegt. ((An der A1 zwischen Wuppertal und Köln, aber was weiß ich, wo die A1 lang führt — und wo zum Henker liegt überhaupt Wuppertal, außer halt südlich des Ruhrgebiets?)) Die allermeisten Menschen, die diese Nachricht damals zur Kenntnis genommen haben und nicht direkt von dem Absturz betroffen waren, dürften sie komplett vergessen haben — die damaligen Moderatoren der “Aktuellen Stunde” inklusive. Für die Stadt Remscheid dürfte der Tag eine deutlich größere Bedeutung haben als für die US Air Force. Und allein die Tatsache, dass ich die Fakten dazu jetzt ganz schnell nachschlagen konnte, gibt dem Unglück ja eine gewisse Wertung: Es ist nicht auszuschließen, dass am gleichen Tag auf den Straßen in NRW mehr Todesopfer bei Autounfällen zu beklagen waren – Anfang Dezember, vielleicht Blitzeis? – als die sieben beim Flugzeugabsturz, aber dazu gibt es halt keinen Wikipedia-Eintrag.

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Als ich noch relativ klein war, lief ein psychisch kranker Mann mit einer Schusswaffe durch die Dinslakener Innenstadt, schoss auf Polizisten und erschoss sich am Ende in einer Garage. Jedenfalls ist es das, woran ich mich sehr dunkel – und ausschließlich auf Erzählungen meiner Mutter an jenem Tag basierend – erinnere. Ich bilde mir ein, dass es im Herbst 1991 gewesen sein müsste, aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung — um das ganze irgendwie verifizieren zu können, müsste ich nach Dinslaken fahren und in den Archiven der Lokalredaktionen von “NRZ” und “Rheinischer Post” meterweise Mikrofilm sichten. Angeblich war auch das Fernsehen vor Ort, vielleicht fände ich etwas im Keller von RTL West.

Nur zehn Jahre später hätte dieses Ereignis zumindest ein paar Artikel in Online-Medien nach sich gezogen, die ich jetzt ergoogeln könnte. Zwanzig Jahre später hätte es vermutlich schon so viel Social-Media-Buzz erzeugt, dass man die Entwicklungen auch in einer fernen Zukunft noch minutengenau nachvollziehen könnte — oder halt beim Nachlesen genauso ahnungslos ist, als wäre man selbst dabei. Und in dieser Woche wäre es nicht unter einem “Brennpunkt” und einer Solidaritätsadresse mindestens eines ausländischen Spitzenpolitikers auf Twitter passiert. Der örtliche Polizeipressesprecher hätte sich auch andere Fragen anhören müssen.

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Schon seit einigen Jahren erwähnt Barack Obama, wenn er wieder mal mit zitternder Unterlippe ein Statement zu einer Massenschießerei in den USA abgeben muss, dass er bereits zu viele Statements zu einer Massenschießerei in den USA abgegeben habe.

Nun bin ich – Gott sei Dank – nicht der US-Präsident und glaube auch nicht, dass es irgendwelche größeren Auswirkungen hat, wenn ich hier meine Meinungen zu Medienberichten nach schrecklichen Ereignissen veröffentliche, aber auch ich habe schon viel zu oft meine Meinung zu Medienberichten nach schrecklichen Ereignissen veröffentlicht:

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Musik

Song des Tages: Ryan Adams – New York, New York

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Zum ersten Mal gehört: Anfang Januar 2002, als ich mir nach mehrfacher Empfehlung endlich “Gold” von Ryan Adams gekauft habe.

Wer musiziert da? Ryan Adams. Nicht Bryan. Der Ex-Sänger von Whiskeytown, dessen aktuelles, selbstbetiteltes Album dieser Tage erscheint.

Warum gefällt mir das? Ich mag den Drive, den Bongos und Orgel erzeugen, und die Atmosphäre, die dieser Song ausstrahlt. Als ich zum ersten Mal in New York war, musste ich natürlich mit diesem Song im Ohr durch die Straßen latschen.
Bonus-Gänsehaut: Das Musikvideo mit diesen Türmen im Hintergrund wurde am 7. September 2001 gedreht.

[Alle Songs des Tages — auch als Spotify-Playlist]

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Leben Politik

Städte, die das möchten

Damit war nicht zu rechnen gewesen, als wir Dirk Elbers zwischen Weißwein (er) und Sekt (ich) ansprachen. Doch der Düsseldorfer Oberbürgermeister antwortete auf meine Frage, ob seine Stadt Eurovision Song Contest, Marathon und eine riesige Industriemesse gleichzeitig locker wegstecken könne, mit einem Satz, der als Glaubensbekenntnis aller Stadtoberen in latent größenwahnsinnigen Kommunen (also quasi überall) gelten kann: “Das ist eine Stadt, die das möchte!”

Nun ist Düsseldorf, eine Stadt, die es sich nicht mal nehmen lässt, einen verdammten Skilanglauf-Weltcup in ihrer Innenstadt auszurichten, ein Extrembeispiel jener Städte, die so gerne eine Metropole wären, aber eben doch nur rein verwaltungsrechtlich eine Großstadt sind — aber beileibe kein Einzelfall.

Zwischen April und Oktober gibt es quasi kein einziges Wochenende, an dem nicht mindestens ein, zwei Buslinien in der Bochumer Innenstadt umgelegt werden müssen, weil die eine oder andere Hauptstraße (oder gleich mehrere davon) gesperrt ist. Da ist natürlich Bochum Total (“Europas größtes innerstädtisches Musikfestival”), aber auch der “Sparkassen-Giro” (ein Radrennen), der “Bochumer Musiksommer” (auch eine Art Musikfestival, aber mehr mit Weinbuden und angegrauten Lehrer-Ehepaaren als Zielgruppe), “Bochum kulinarisch” (keine Musik, noch mehr Weinbuden und Lehrer) und am vergangenen Wochenende erstmalig der “Rewirpower-Halbmarathon” (ein Halbmarathon). Hinzu kommen Veranstaltungen wie “Die Nordsee kommt – Das Weltnaturerbe Wattenmeer zu Gast in Bochum”, das “Kuhhirtenfest”, das Unifest, mehrere Flohmärkte, ein Fischmarkt, sowie diverse “Events” in und um die innerstädtischen Einkaufszentren. Wer keinen Schrebergarten hat, kann eigentlich jedes Wochenende irgendwo hingehen, bevor dann im November endlich der Weihnachtsmarkt eröffnet. Und das alles gibt es in jeder Nachbarstadt hier im Ruhrgebiet selbstverständlich noch einmal.

Verantwortlich sind natürlich viele unterschiedliche Veranstalter. Oft ist das Stadtmarketing dabei, aber nicht immer. Es gibt viele unterschiedliche Zielgruppen und für sich genommen mag jede Veranstaltung ihre Berechtigung und ihren Charme haben. In der Summe gleicht es einer Fünfjährigen, die sich Muttis Schmuck umgehangen hat (und zwar den ganzen) und deren Gesicht unter einer zentimeterdicken Schminkschicht verschwunden ist. ((Außerdem kann die kleine nicht richtig gehen, weil sie in übergroßen Pumps steckt.))

Was uns zum vorläufigen Tiefpunkt bringt, der erreicht war, als “City Point” und “Drehscheibe” (die zuvor erwähnten innerstädtischen Einkaufszentren) kürzlich die “Living Doll 2011” zu küren suchten. Da standen vor den einzelnen Geschäften Menschen, die Produkte aus den jeweiligen Läden trugen und sich nicht bewegen durften. Dazwischen standen andere Menschen, ((Oder waren es die gleichen? Ich hatte mich abwenden müssen.)) die Karaoke sangen. “Nur ein Wort” von Wir Sind Helden, zum Beispiel. Alles, aber auch wirklich alles muss schief gegangen sein, damit so etwas passiert.

Nun ist es natürlich nicht so, dass echte Metropolen völlig auf solcherlei Veranstaltungen verzichten würden. In New York ist an jedem Wochenende vermutlich mehr los, als in ganz NRW in einem halben Jahr. Aber die Stadt ist natürlich bedeutend größer, so dass nicht ständig die gleichen Straßen gesperrt werden müssen, und außerdem gibt es dort Touristen.

Andererseits hat der Veranstaltungswahn zumindest in Bochum den (politisch sicher so gewollten) Vorteil, dass man sich an den Wochenenden eher für das oft unansehnliche Ganze schämt, anstatt ständig für die eigene Stadtspitze. Immerhin hatte es unsere Oberbürgermeisterin für nötig gehalten, sich nach einer durchaus hitzigen öffentlichen Debatte darüber, ob Josef Ackermann im Bochumer Schauspielhaus reden soll (of all places), bei Herrn Dr. Ackermann persönlich “für die unwürdige Diskussion” zu entschuldigen. ((Nicht etwa für die Art der Diskussion, die natürlich als “weitgehend unsachliche Kritik, aber auch die überzogene Berichterstattung in Teilen der Lokalpresse” gegeißelt wurde, sondern gleich für die ganze verdammte Diskussion an sich! Wer schreibt dieser Frau ihre Briefe und Presseerklärungen?!))

Jetzt aber ab heute und bis Sonntag “Bochumer Musiksommer” und die nächste ganz große Peinlichkeit: Am Sonntag wird das Programm auf allen Bühnen von 14.46 Uhr bis 15.03 Uhr unterbrochen. Warum so krumm? Nun, in dieser Zeit läuten in der ganzen Stadt die Glocken zum Gedenken an die Opfer der Anschläge vom 11. September. ((Warum man dafür den Zeitraum zwischen dem Einschlag des ersten und des zweiten Flugzeugs ins World Trade Center gewählt hat, die Abstürze ins Pentagon und in Shanksville und den Einsturz der Türme aber außen vorlässt, weiß vermutlich vor allem der Wind.)) 17 Minuten Betroffenheit bei Bratwurst und Aperol Spritz, dann geht’s weiter mit Musik.

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Politik Gesellschaft

Die Bonner Republik

Das Land meiner Kindheit existiert nicht mehr. Es ist nicht einfach untergegangen wie die DDR, in der ein paar meiner Freunde ihre ersten Lebensjahre verbracht haben, aber es ist auch nicht mehr da.

Früher, als in den Radionachrichten noch die Ortsmarken vorgelesen wurden, gab es dieses Wort, das mehr als ein Wort oder ein Städtename war: “Bonn.” Damals braucht man in den Nachrichten noch keine Soundtrenner zwischen den einzelnen Meldungen, denn es gab dieses Wort, das wie ein Trenner klang, wie der Schlag mit einem Richterhammer. Bonn.

Bonn war die Hauptstadt des Landes, in dem ich lebte, und die Stadt, in der meine Oma damals lebte. Ich glaube nicht, dass ich das eine mit dem anderen jemals in einen Zusammenhang gebracht habe, aber das Land, in dem ich lebte, wurde von alten, grauen Männern in karierten Sakkos regiert und ihre Entscheidungen wurden von gleichermaßen alten, gleichermaßen grauen Männern in gleichermaßen karierten Sakkos verlesen.

Wahrscheinlich wusste ich damals noch nicht, was “regieren” bedeutet und welche Funktion die letztgenannten Männer hatten (außer, dass man als Kind still sein musste, wenn sie zur Abendbrotzeit über den Fernseher meiner Großeltern flimmerten), aber es gab einen dicken Mann mit lustigem Sprachfehler, der immer da war und das war – neben Thomas Gottschalk – der König von Deutschland.

Die Auswirkungen, die die Existenz Helmut Kohls auf ganze Geburtenjahrgänge hatte, sind meines Wissens bis heute nicht untersucht worden. Aber auch Leute, die in den ersten acht bis sechzehn Jahren ihres Lebens keinen anderen Bundeskanzler kennengelernt haben, sind heute erfolgreiche Musiker, Fußballer, Schauspieler oder Autoren, insofern kann es nicht gar so verheerend gewesen sein.

Es passte fast drehbuchmäßig gut zusammen, dass Kohls Regentschaft endete, kurz bevor das endete, was er geprägt hatte wie nur wenige andere alte Männer: die Bonner Republik. Gerhard Schröder wurde Kanzler und plötzlich wirkte die ganze gemütliche Bonner Bungalow-Atmosphäre angestaubt. Schröder zog nach einem halben Jahr in einen grotesken Protzbau, den Helmut Kohl sich noch ausgesucht hatte, der aber magischerweise von der Architektur viel besser zu Schröder passte. Bei Angela Merkel hat man häufig das Gefühl, sie säße lieber wieder in einem holzvertäfelten Bonner Büro.

Die Berliner Republik währte nur drei Sommer. Das hatte ausgereicht für ein bisschen Dekadenz und Fin de Siècle, für einen Kanzler mit Zigarren und Maßanzügen, einen schwulen Regierenden Bürgermeister in Berlin und die vollständige Demontage von Helmut Kohl und weiten Teilen der CDU. In ganz Europa herrschte Aufbruchstimmung: Unter dem Eindruck von New Labour war ganz Europa in die Hände der sogenannten Linken und Sozialisten gefallen, die Sonne schien, alles war gut und nichts tat weh.

Dann kamen der 20. Juli und der 11. September 2001.

Bitte? Sie wissen nicht, was am 20. Juli 2001 passierte? An jenem Tag starb Carlo Giuliani auf den Straßen Genuas. Der 20. Juli hätte der 2. Juni unserer Generation werden können, Giuliani war schon wenige Wochen später als Posterboy der aufkommenden Anti-Globalisierungs-Bewegung auf der Titelseite des “jetzt”-Magazins. Doch 53 Tage später flogen entführte Passagierflugzeuge ins World Trade Center und Giuliani geriet derart in Vergessenheit, dass ich zu seinem 10. Todestag keinerlei Berichterstattung beobachten konnte. In Berlin tagte nun das Sicherheitskabinett, das aber auch in Bonn hätte tagen können, irgendwo in der Nähe des atomsicheren Bunkers im Ahrtal.

Das, was die CDU-Parteispendenaffäre von Helmut Kohl übrig gelassen hatte, wird gerade zerlegt — so zumindest die Meinung verschiedener Journalisten. Zwei Biographien, eine über Hannelore Kohl, eine Auto- von Walter Kohl, enthüllen, was niemand für möglich gehalten hätte: Die ganze schöne Fassade der Familie Kohl war nur … äh … Fassade. ((Und wie sehr das Privatleben von Politikern ihr Vermächtnis trüben können, sieht man ja etwa an John F. Kennedy und Willy Brandt.))

Die Familienfotos der Kohls weisen eine erstaunliche, aber kaum überraschende Deckungsgleichheit mit den Kindheitsfotos meiner Eltern (und mutmaßlich Millionen anderer Familienfotos) auf: Jungs in kurzen Hosen, die Familie am Frühstückstisch, auf dem ein rot-weiß kariertes Tischtuch ruht. ((Es gab damals – was nur die Wenigsten wissen – ein Tischdecken-Monopol in Deutschland: Alle wurden in der Fabrik eines geschäftstüchtigen, aber latent wahnsinnigen Fans des 1. FC Köln produziert. Bitte zitieren Sie mich dazu nicht.)) Das alles in einer heute leicht ins Bräunliche changierenden Optik und obwohl die Anzahl von Gartenzwergen objektiv betrachtet auf den meisten Bildern bei Null liegt, hat man doch, sobald man nicht mehr hinschaut, das Gefühl, mindestens einen Gartenzwerg erblickt zu haben. ((Natürlich ganz ordentliche Gartenzwerge und nicht so ein pfiffiges neumodisches Exemplar mit Messer im Rücken oder entblößtem Genital.)) Meine Kindheitsfotos sahen schon ein bisschen anders aus, verfolgten aber noch das gleiche Konzept. Auf heutigen Kinderfotos sieht man Dreijährige im St.-Pauli-Trikot auf Surfbrettern stehen, Gartenzwerge werden allenfalls von ihnen durch die Gegend getreten.

Die Gemütlichkeit der Bonner Republik ist verschwunden, obwohl ihre Bevölkerung immer noch da ist. Regelmäßig entsorgt man die Kataloge von Billigmöbelhäusern, die Schrankwände Versailler Ausmaße und Pathologie-erprobte Fliesentische anbieten, und regelmäßig fragt man sich, wer außer den Ausstattern von Privatfernseh-Nachmittagsreportagen so etwas kauft. Dann klingelt man mal beim Nachbarn, weil die Regenrinne leckt, und schon kennt man wenigstens einen Menschen, der so was kauft. In Deutschland gibt es 40,3 Millionen Haushalte und Ikea kann nicht überall sein. Ein Blick auf die Leserbriefseite der “Bild”-Zeitung oder in die Kommentarspalten von Online-Medien beweist, dass auch die Aufklärung noch nicht überall sein kann.

Eigentlich hat sich wenig geändert (oder alles, dann aber mehrfach), aber Deutschland wird heute … Entschuldigung, ich wollte gerade “Deutschland wird heute von Berlin aus regiert” schreiben, was völliger Unfug gewesen wäre, weil Deutschland nachweislich nicht regiert wird. Die deutsche Hauptstadt ist also heute Berlin, eine Stadt, die eigentlich gar nicht zum Rest Deutschlands passt: Eine Metropole, von der vor allem Ausländer schwärmen, sie sei der Ort, an dem man jetzt sein müsse. Ganze Landstriche in Schwaben und Ostwestfalen liegen verlassen da, weil ihre Kinder das Glück in der großen Stadt suchen. Von Bonn wurde solches nie berichtet.

Am Samstag war ich nach rund zwanzig Jahren mal wieder in Bonn. Der erste Taxifahrer, zu dem ich mich in Auto setzte, konnte nicht lesen und schreiben, was die Bedienung seines Navigationsgeräts schwierig machte. Der zweite musste seinen Kollegen fragen, wo die gesuchte Straße liegen könnte. Ich wollte in eine Neubausiedlung, erstaunlich, dass es das in Bonn gibt. Ich saß auf dem Beifahrersitz in der freudigen Erwartung eines Deutschlandbildes voller Bungalows und Gartenzwerge, aber Bonn sah eigentlich aus wie überall. Für einen Moment fühlte ich mich sehr zuhause.

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Musik Gesellschaft

We don’t know why / But we know it’s not right

Ich muss Ihnen nicht sagen, welches Datum heute ist. Wenn Sie in den letzten Tagen einen Fernseher eingeschaltet haben, wissen Sie eh, worum es geht.

Frank-Walter Steinmeier wollte mir ja erzählen (aus der Reihe “Seltene Sätze deutscher Sprache”), dass “die Tage, Woche und Monate nach dem 11.9.” in Deutschland “ein bisschen außer Gedächtnis geraten seien. Ich halte das für Quatsch. Ich weiß noch genau, dass ich mich gefragt habe, ob ich meinen 18. Geburtstag zweieinhalb Wochen später noch erleben würde, oder ob wir bis dahin schon alle von Terroristen oder amerikanischen Gegenschlägen getötet sein würden (was man als 17-Jähriger halt so denkt).

Es sind viele, viele Songs geschrieben worden über diese Zeit (unter anderem das ganze “The Rising”-Album von Bruce Springsteen), aber am Besten zusammengefasst wird das alles in einem Song, der unwahrscheinlicherweise von den Funpunkpoppern Goldfinger, Good Charlotte und Mest stammt und irgendwann im Herbst 2001 im Internet verschenkt wurde. Verlust, Orientierungslosigkeit und Angst (auch darüber, was fremd aussehenden Menschen plötzlich blüht) sind auf eine so unmittelbare, naive Art Gegenstand des Textes, dass man acht Jahre später fast ein bisschen pikiert darüber ist. Aber Popmusik ist nun mal gerne ein unreflektiertes Zeitdokument und deshalb auch meistens persönlich packender als ein Geschichtsbuch:

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Das Video ist ein bisschen quatschig, aber ich wollte nicht schon wieder brennende Türme zeigen.

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Unterwegs

New York, New York

Die Freiheitsstatue vor New York

Unsere Autorin Annika fliegt in Kürze nach New York City. Wie schon im Januar mit San Francisco habe ich auch diesmal wieder einen kleinen Reiseführer zusammengestellt — aber weil ich nur vier Tage in New York war, gibt es diesmal nicht drei Teile, sondern nur einen, in dem dafür so ziemlich alles abgeklappert wird, was man in vier Tagen machen kann. Nur der obligatorische Ausflug auf einen der noch stehenden Wolkenkratzer fehlt hier — die waren mir einfach zu teuer.

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Rundfunk

Wenn es passiert

Ich verehre Christian Dassel. Die Reportagen, die er für “Hier und heute” oder die “Aktuelle Stunde” dreht, stechen aus dem sonstigen Elend im deutschen Fernsehen heraus und bescheren mir die wenigen Momente im WDR-Fernsehen, in denen ich meine Rundfunkgebühren nicht für verschwendet halte. Dassel schafft es, ganz normale Menschen und alltägliche Situationen so zu porträtieren, dass man sie als etwas ganz Besonderes wahrnimmt.

Als der WDR eine neue Dokumentarreihe von Dassel ankündigte, in der er Menschen porträtiert, deren Lebenswege sich mit der Weltgeschichte gekreuzt haben (11. September, Mauerfall, Tsunami), war ich mir sicher, dass dabei Großes entstehen würde. Nachdem ich Gelegenheit hatte, die ersten beiden Folgen von “Wo warst Du, als … ?” zu sehen, bin ich enttäuscht — aber nur ein bisschen.

Vermutlich weiß jeder noch, wo er am Nachmittag des 11. September 2001 war, als er zum ersten Mal die Nachrichten aus New York City hörte. Susan Borchert verbrachte den Rest des Tages vor dem Fernseher. Ihr Mann Klaus arbeitete im World Trade Center und sie wusste lange nicht, ob er hinausgekommen war.

Die Geschichte der Borcherts, die von Lars Fiechtner, dessen Schwester Ingeborg vier Wochen nach den Anschlägen an den folgen ihrer Verletzungen starb, oder von Rainer Groß, der durch den Börsencrash nach den Anschlägen sein Vermögen verlor und sich daraufhin entschloss, einen Kaufhauskonzern zu erpressen — sie alle sind spannend, gleichermaßen außergewöhnlich wie alltäglich, und es gibt durchaus genug Raum, sie nebeneinander in einer halben Stunde zu erzählen.

Leider werden sie auf eine Art und Weise erzählt, die einem mitunter tierisch auf die Nerven geht: Schnelle, unmotivierte Schnitte; ein On-Screen-Design das wirkt, als hätten Schüler mit iMovie “Matrix” nachbauen wollen; Rasanz suggerierende Schnurr- und Zirpgeräusche und eine grotesk überdramatisierende Off-Sprecherin machen viel von der Atmosphäre kaputt. Wenn man Dassels andere Arbeiten kennt, ahnt man, was man alles aus dem Rohmaterial hätte herausholen können.

In der zweiten Folge über den Fall der Berliner Mauer passt dann alles ein bisschen besser zusammen: Dassel porträtiert einen Mann, der damals wegen Vorbereitung zur Republikflucht im DDR-Gefängnis saß; eine Frau, die ihre Tochter am 10. November 1989 auf einem Berliner Gehweg zur Welt brachte, und einen Oberstleutnant der Staatssicherheit, der damals am Grenzübergang Bornholmer Straße Wache schob.

Er gibt heute ganz offen zu, 28 Jahre seines Lebens einem Unrechtsstaat gedient zu haben – “mit allen meinen Fähigkeiten” -, aber wenn er vom Befehlsvakuum berichtet, das damals herrschte und die Grenzsoldaten auf sich selbst gestellt zurückließ, kommt auch hier das Menschliche durch. Die Bilder der Grenzer, die jahrzehntelang an ein System geglaubt haben, das innerhalb weniger Stunden vor ihren Augen zerfiel, umweht dann auch eine große Tragik, und die Menschen und die Geschichte treffen sich auf eine ganz andere Weise als in den anderen Erzählsträngen.

Trotz der stilistischen Schwächen sind die Dokumentationen von “Wo warst Du, als … ?” berührend und beeindruckend. Die in ihrer eigentlichen Größe unbegreiflichen Ereignisse werden in den Alltag heruntergebrochen und sind dadurch vielleicht nicht verständlicher, aber greifbarer. Es wäre schön, wenn die Reihe (nach ein paar Korrekturen) fortgesetzt würde.

“Wo warst Du, als … ?”
Erste Folge am Sonntag, 8. Februar um 23:35 Uhr im Ersten, Folge 2 und 3 an den darauf folgenden Sonntagen um 23:30 Uhr.

Überschrift: Wir Sind Helden

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Musik Print Digital

Tower Records

Preisfrage: Was ist das?

a) Ein Plattencover von Wilco.
b) Ein Foto der Marina City in Chicago, IL.
c) Ein Teil einer Bildergalerie bei “RP Online”.
d) Irgendwas mit Elfter September.

Sie brauchen gar nicht lange zu grübeln oder jemanden anrufen: Alle vier Antworten sind richtig.

Aus gegebenem kalendarischen Anlass haben sich “Rheinische Post” und “RP Online” des Themas “Popmusik seit dem 11. September” angenommen. Autor Sebastian Peters beginnt bei Enyas Katastrophenbegleitmusik “Only Time”, erwähnt Songs (“Let’s Roll” von Neil Young) und Alben (“The Rising” von Bruce Springsteen), die unter den Eindrücken der Terroranschläge entstanden sind, und führt dann aus, dass der Pop politischer geworden sei:

Die linke Popkultur von Radiohead bis zu den Dixie Chicks wiederum holte zum Rundumschlag gegen Präsident Bush aus. Und neuerdings üben sich Stars von Kid Rock bis Madonna im Plädoyer für Obama und gegen die Republikaner. Ohne Zweifel ist Popmusik in Amerika nach dem 11. September politischer geworden.

Nun passen Radiohead und “Popmusik in Amerika” nicht unbedingt sooo gut zusammen — noch weniger verständlich ist allerdings, wann sich Kid Rock “für Obama” ausgesprochen haben soll. Das letzte, was der Prollrocker zum Thema Politik gesagt hat, war eigentlich die Aufforderung, dass Prominente im Bezug auf Wahlempfehlungen die Klappe halten sollten.

Peters schreibt über Pop, der “seit dem 11. September auch in Deutschland wieder politisch aufgeladen”sei, und belegt das wie folgt:

Auch die Sportfreunde Stiller sind Stellvertreter dieser x-ten „Neuen Deutschen Welle“. Ihr Lied „54, 74, 90, 2006“ sagt laut Ja zur Heimat, Solche Positionen waren zuvor exklusiv dem Schlager vorbehalten, plötzlich landen sie in der Pop-Mitte.

Jene Sportfreunde Stiller, die im Jahr 2000 eine Single namens “Heimatlied” veröffentlicht haben?

Noch merkwürdiger als der Text ist aber – immerhin reden wir hier von “RP Online” – die dazugehörige Bildergalerie, in der acht Plattencover abgebildet und notdürftig mit Titel und Interpret versehen sind (und das manchmal auch noch fehlerhaft).

Dort findet man:

  • den Sampler “America: A Tribute To Heroes”
  • Bruce Springsteens “The Rising”
  • “Are You Passionate?” von Neil Young
  • “Riot Act” von Pearl Jam (vermutlich wegen des Songs “Bu$hleaguer”)
  • “Gold” von Ryan Adams (vermutlich, weil das Video zur Single “New York, New York” am 7. September 2001 gedreht wurde und das noch intakte World Trade Center zeigt)
  • den Sampler “Love Songs From New York” (keine Ahnung, was das sein soll, Google kennt’s nicht)
  • “Kid A” von Radiohead
  • das oben gezeigte “Yankee Hotel Foxtrot” von Wilco.

Zu möglichen Parallelen von “Kid A” und den Ereignissen vom 11. September gibt es eine recht spannende Abhandlung von Chuck Klosterman in seinem Buch “Killing Yourself To Live”, aber das wird kaum der Grund sein, weshalb dieses, im Oktober 2000 erschienene Album in der Bildergalerie auftaucht. Immerhin werden Radiohead ja im Text erwähnt, ganz anders als Wilco.

Für deren Auftauchen suche ich noch nach der richtigen Erklärung:

a) Weil “Yankee Hotel Foxtrot” ursprünglich am 11. September 2001 veröffentlicht werden sollte, was sich wegen eines Labelwechsels aber bis April 2002 verzögerte.
b) Weil sich auf dem Album ein Song namens “Ashes Of American Flags” befindet, der sich aber (s. das geplante Veröffentlichungsdatum) nicht auf den 11. September bezieht.
c) Weil das Cover die Zwillingstürme eines Hochhauses zeigt, das – im Gegensatz zum World Trade Center – auch heute noch steht.
d) Wieso Erklärung? Da steht’s doch: “RP Online”.

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Unterwegs

Ground Zero, Square One

Vermutlich weiß jeder Mensch, wo er war und was er tat, als am 11. September 2001 die Flugzeuge einschlugen. Ich saß, gerade aus der Schule gekommen, am Küchentisch und aß eine Tiefkühlpizza, als meine Mutter hereinstürmte und sagte, das World Trade Center stehe in Flammen. Den Rest des Tages verbrachte ich vor dem Fernseher und sah die Bilder, von denen jeder sagte, sie seien “wie im Kino”. Zu unvorstellbar waren die Ereignisse und selbst die irgendwann nach unten korrigierten Zahlen von knapp 3.000 Toten waren in einer Größenordnung, die das eigene Hirn überforderte.

Jetzt bin ich zum ersten Mal in meinem Leben in der “Stadt mit Loch”, Thees Uhlmann New York im gleichnamigen Tomte-Song nennt, und auch mit mehreren Jahren Abstand sind die Anschläge von jenem sonnigen Spätsommertag etwas Abstraktes. Tausende Male hat man die Szenen von den explodierenden Flugzeugen und den einstürzenden Türmen seitdem gesehen, die mit Staub bedeckten Straßen und Menschen. Sie sind in der Zwischenzeit popkulturelle Ikonen geworden und damit noch weiter entfernt von der Realität eines westdeutschen Studenten als sie es ohnehin schon waren, als sie damals noch Nachrichtenbilder waren.

Wer das alte, vollständige New York nicht kannte, merkt kaum, das etwas fehlt. Die Skyline ist auch so noch beeindruckend genug, die Stadt ist groß und laut und bunt. Von einer Melancholie oder Lähmung, die manche Journalisten auch nach Jahren noch zu entdecken glauben, ist nichts zu bemerken. Die Stadt ist lebendiger als jede andere Stadt, in der ich bisher war, und wer einen Moment nicht aufpasst als Fußgänger, gefährdet seine eigene Lebendigkeit.

Dass etwas nicht stimmt, merkt man erst, wenn man die Fotos und Gemälde aus der Zeit vor den Anschlägen sieht, die im Battery Park an der Südspitze Manhattans zu Dutzenden an Touristen verkauft werden sollen. Die Twin Towers sind fast doppelt so hoch wie die ohnehin schon beeindruckenden Hochhäuser, die man auch heute noch sehen kann. Ich halte die Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand vor mein Auge, um zwei Türme in die Skyline zu malen. Es klappt nicht: so hohe Häuser liegen außerhalb der eigenen Vorstellung, wenn man am durchweg flachen Niederrhein aufgewachsen ist. Beeindruckt bin ich trotzdem.

Ich gehe nach Norden, in Richtung des Ortes, den alle immer noch “Ground Zero” nennen. Plötzlich brechen die engen Straßenschluchten auf und vor mir liegt ein sonnendurchfluteter Platz, groß sicherlich, aber inmitten von großen Häusern in einer so großen Stadt wirkt er gar nicht so. Selbst die Grube, in der bereits an den Fundamenten des neuen “Freedom Towers” gearbeitet wird, erscheint einem aufgrund der Proportionen eher wie eine beliebige Baustelle in einer beliebigen Innenstadt. Drumherum ein Metallzaun und Schilder, auf denen die Hafenbehörde von New York bittet, diesen “Ort der besonderen Erinnerung” würdevoll zu behandeln, hier nicht zu betteln und hier nichts zu kaufen oder zu verkaufen. Einige Männer bieten Fotoalben mit aus dem Internet ausgedruckten Fotos der Flugzeugeinschläge an, lachende Mädchen lassen sich gemeinsam vor dem Zaun und dem dahinterliegenden Nichts fotografieren. Es ist diese Mischung aus Gedenkstättenhaftigkeit und Tourismus, die man in Berlin an jeder Ecke erleben kann. Drumherum stehen Hochhäuser, deren Fassaden und Fenster teilweise immer noch mit Staub bedeckt sind – nach all den Jahren. Hinter dem ersten Neubau steht ein Haus, dessen halbe Fassade fehlt. Das ist anders als alles, was man kennt.

Die U-Bahn-Station “World Trade Center” gibt es immer noch, sie heißt auch immer noch so. Im ersten Untergeschoss kann man durch einen Zaun in das Loch gucken, das von hier aus schon sehr viel größer wirkt als von oben. Wenn man weitergeht, kommt man an einem Schild vorbei, das einem erklärt, dass die U-Bahn-Station “von hier an” noch die originale Station des World Trade Centers sei. Die Kachelung an der Wand beginnt seltsam zerfranst – die Bruchkante zwischen dem, was früher war, und dem, was jetzt ist. Die Ereignisse sind immer noch so abstrakt wie die Zahl der Todesopfer, aber diese Kacheln sind konkret. Ich bekomme eine Gänsehaut und will nur noch weg.

[geschrieben im November 2006]

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Verschwör dich gegen dich

Kommt ein BILDblogger in die Buchhandlung und stolpert über ein Buch mit dem Untertitel “Was 2007 nicht in der Zeitung stand”. Er blättert ein wenig darin, denkt “Das hört sich ja ganz interessant an”, fragt sich, woher ihm der Name Gerhard Wisnewski bekannt vorkommt und zahlt den sympathischen Preis von sechs Euro.

Und damit lag “Verheimlicht, vertuscht, vergessen” (von nun an: “VVV”) vor mir. Im Vorwort erklärt Wisnewski die Intention seines “kritischen Jahrbuchs”:

Mein Ziel war es, bekannte Themen nochmals unter die Lupe zu nehmen und unbekannte Themen aufzudecken, um das Geschichtsbild dieses Jahres ein wenig zu korrigieren.

Ein hehres Ziel, wenngleich er einen Absatz später immerhin einräumt, nicht im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Gute 300 Seiten später weiß der Leser, wo Wisnewski Korrekturbedarf sieht: Es gibt keine vom Menschen verursachte globale Erwärmung, keine Vogelgrippe und kein Aids; die Anschläge des 11. Septembers 2001 wurden von den Amerikanern selbst geplant (wobei einige Medien im Vorfeld informiert waren) und mit Hilfe von Al Gore soll eine “Klimaplanwirtschaft”, eine “Diktatur mit lächelndem Gesicht, aber mit eisernen Fesseln” installiert werden um die Macht der USA in der Welt weiter auszubauen.

Uff! Da sollte man sich vielleicht erst mal noch mal anschauen, wer dieser “bekannte Erfolgsautor und Enthüllungsjournalist” (so der Verlag) Gerhard Wisnewski eigentlich ist. Er ist Jahrgang 1959, hat Politikwissenschaften studiert, als Journalist gearbeitet und mehrere Sachbücher geschrieben. Zum Beispiel “Lügen im Weltraum” (die Mondlandung hat es so nicht gegeben), “Das RAF-Phantom” (die dritte Generation der RAF hat es so nicht gegeben), “Mythos 9/11” und “Operation 9/11” (den 11. September hat es so nicht gegeben). Über den 11. September hat Wisnewski sogar einen Dokumentarfilm für den WDR gedreht: “Aktenzeichen 11.9. ungelöst” wurde vom “Spiegel” derart zerpflückt, dass der WDR anschließend eine weitere Zusammenarbeit mit Wisnewski und seinem Co-Autor ausschloss.

Vorsichtig ausgedrückt sind Wisnewskis Theorien also mit Vorsicht zu genießen. Und in der Tat sind manche Beweisführungen so krude, manche Quellen so dubios und manche handwerklichen Fehler so offensichtlich, dass es der Glaubwürdigkeit des Buches erheblich schadet. Das ist tragisch, denn in “VVV”, das die Ereignisse von Oktober 2006 bis September 2007 behandelt, gibt es durchaus Kapitel, die lesenswert sind. So ist zum Beispiel eine kurze Rückschau auf die verschiedenen Bundesminister des Inneren in den letzten Jahrzehnten hochinteressant, weil hier eindrucksvoll aufgelistet wird, wie es um die Verfassungs- und Gesetzestreue der jeweiligen Herren so bestellt war. Auch Wisnewskis Kritik an Wahlautomaten, ePässen und RFID-Chips ist weitestgehend fundiert und sinnvoll, seine statistischen Vergleiche der Gefahren von Vogelgrippe und internationalem Terrorismus mit denen im Straßenverkehr sind angenehm Hysterie-bremsend. Einige der Kapitel über ungelöste Kriminalfälle laden zumindest zu einer näheren Beschäftigung mit den Quellen ein, sorgten aber auch dafür, dass ich mich nach der Lektüre fühlte wie als Vierzehnjähriger nach dem “Akte X”-Gucken, als ich bei eingeschaltetem Licht einschlafen musste.

Wisnewski ist davon überzeugt, dass sich die Weltwirtschaft unter amerikanischer Führung gerade im Zusammenbruch befindet (was ich als Wirtschaftslaie nach den Ereignissen vom Montag nicht mal ausschließen kann), vermutet hinter den Vogelgrippe-Fällen in Deutschland eine Verschwörung von Pharma-Industrie, Geflügelgroßbetrieben und dem Friedrich-Loeffler-Institut und wärmt die alte Verschwörungstheorie um die BBC am 11. September 2001 wieder auf. Ihn zu widerlegen erscheint in den meisten Fällen unmöglich, da es ja zum Wesen jeder besseren Verschwörungstheorie gehört, dass ihre Verbreiter dem Rest der Welt unterstellen, selbst Verschwörer oder deren Opfer zu sein. Offizielle Quellen gelten eh nicht, unabhängige Sachverständige sind Teil der Verschwörung und wer die “Gegenbeweise” kritisiert gehört zu denen. Unter dieser Prämisse kann natürlich keine Seite irgendwas beweisen – oder es haben einfach beide Recht.

Ich tue mich schwer damit, “VVV” pauschal als substanzlose Verschwörungstheorie und albernes Gewäsch abzutun, weil in dem Buch einige interessante Denkansätze auftauchen. Auf der anderen Seite steht darin aber auch viel Quark, der bei mir teils für Gelächter, teils für Wutanfälle gesorgt hat:

  • Die alberne RTL-Comedy “Freitagnachtnews” lobt Wisnewski gleich an zwei Stellen als “Satiresendung” bzw. die “zusammen mit Sieben Tage, sieben Köpfe […] einzige Sendung, die man sich im Deutschen Fernsehen überhaupt ansehen konnte”.
  • Das Kapitel über den unter mysteriösen Umständen verstorbenen Felix von Quistorp beginnt Wisnewski mit dem Hinweis, dass in Deutschland jährlich etwa 50.000 Kinder als vermisst gemeldet werden – um ein paar Zeilen später auf Fälle von verwahrlosten und misshandelten Kindern zu sprechen zu kommen und zwischendurch noch Madeleine McCann zu erwähnen, die nun kaum zu den in Deutschland vermissten Kindern zählen dürfte.
  • Wisnewski will Murat Kurnaz dessen Folterbeschreibungen nicht glauben, weil diesem “selbst die Beschreibung schlimmster Folterpraktiken” “keine Gefühlsregungen” entlocke. Eine etwas dünne Logik, wenn man sich vorstellt, welche psychischen Folgen solche Folter auslösen muss.
  • Im Fall des Amoklaufs von Blacksburg zweifelt er die offizielle Version mit der Begründung an, es habe ja gar keine Verbindung zwischen dem vermeintlichen Täter und seinen Opfern gegeben. Dabei dachte ich immer, diese Willkür gehöre zum Konzept des Amok.
  • Das Kapitel über Mark Medlock (bzw. die Praktiken von RTL bei der telefonischen Abstimmung) beginnt er mit dem Klischeesatz jedes Kulturpessimisten

    Das deutsche Showgeschäft erreicht einen neuen künstlerischen und ästhetischen Tiefpunkt.

    um hinzuzufügen, Medlock sehe “schlecht” aus, singe “schlecht” und spreche “schlecht”:

    Dem Wahren, Schönen, Guten setzt DSDS das Unwahre, Hässliche und Schlechte entgegen.

  • Völlig unreflektiert zitiert Wisnewski einen Wissenschaftler, der das “befürchtete Übergreifen der Seuche [Aids, Anm. des Bloggers] auf die heterosexuelle Bevölkerung” in Abrede stellt.
  • Den Status der “Bild”-Zeitung als Hofberichterstatterin im “Arbeiter- und Merkelstaat” will Wisnewski allen Ernstes mit einer Meldung über die Qualität von Billig-Sonnencremes belegen.
  • Zu Eva Herman fällt ihm ein, sie sei Opfer eines böswilligen Komplotts geworden. Ihr viel gescholtenes Zitat sei doch “eindeutig” gewesen. Dabei hatte ich gehofft, man könnte sich inzwischen wenigstens darauf einigen, dass das ganze Elende dieser unseligen Debatte nur entstanden ist, weil sich Frau Herman im freien Vortrag in ihren Nebensätzen verheddert hatte und sich hinterher zu fein war, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Wir haben gesehen, dass man Hermans berühmten Satz in zweierlei Richtungen auslegen kann und genau das sollte doch wohl ein Kriterium für Uneindeutigkeit sein.
  • Wisnewski macht aber zwischendurch auch noch mal selbst die Herman, wenn er die “erheblichen” Unterschiede im Verhalten von Jungen und Mädchen am folgenden Beispiel beweisen will:

    Während Mädchen im Handarbeitsunterricht brav sticken, schweifen Jungen gedanklich ab und gucken aus dem Fenster.

Solche Bücher machen mich ganz gaga, weil ich die meiste Zeit damit beschäftigt bin, mich selbst zu fragen, ob ich dem Autor bei diesem oder jenem Thema überhaupt noch zustimmen kann, wenn ich an anderen Stellen nicht nur nicht seiner Meinung bin, sondern sein Vorgehen mal für falsch, mal für gefährlich halte. Natürlich kann ich das, denn letztlich muss ja sowieso jeder für sich selbst entscheiden, was er glaubt und was nicht. Die Quintessenz der Lektüre kann also nur lauten, allen Quellen mit einer gewissen Grundskepsis zu begegnen. Für diese Erkenntnis brauche ich aber keine 300 Seiten Text.

Der BILDblogger fand dann übrigens zumindest doch noch was: Im Kapitel über die Haftentlassung Brigitte Monhaupts zitiert Wisnewski die “sehr empfehlenswerte, Bild-kritische Website www.bildblog.de”.

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Gesellschaft Literatur

Don’t party like it’s 1999

Kürzlich blätterte ich mal wieder in “Tristesse Royale”, dem Reader der deutschsprachigen Popliteratur der 1990er Jahre, dem Zeitdokument der ersten Tage der Berliner Republik. Und mir wurde klar: Wer verstehen will, wie sehr sich unsere Gesellschaft und unsere Welt im letzten Jahrzehnt verändert haben, der muss nur diese Protokolle der Gespräche lesen, die Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre im späten April des Jahres 1999 im frisch wiedereröffneten Berliner Hotel “Adlon” geführt haben.

Nehmen wir nur einen kurzen Ausschnitt, der eigentlich alles sagt:

JOACHIM BESSING Gibt es denn eigentlich überhaupt noch sogenannte gesellschaftliche Tabus?
ALEXANDER V. SCHÖNBURG Die katholische Kirche zu verteidigen ist zum Beispiel ein modernes Tabu. Es ist ein Allgemeinplatz, für die Antibabypille und gegen die Familienpolitik des Papstes zu sein. Wer heute, wie ich, sagt: Ich bin für den Papst und gegen die “Pille danach”, bricht ein gesellschaftlich vereinbartes Tabu. Vielleicht ist es auch ein ähnlicher Tabubruch, wenn eine Frau sagt: Ich gehöre hinter den Herd und möchte gerne meine Kinder erziehen. Ich möchte gar nicht in die Drei-Wetter-Taft-Welt eintreten.

“Tristesse Royale”, S. 118

Lesen Sie diese Ausführungen ruhig mehrmals. Und versuchen Sie dann, sich vorzustellen, dass es eine Welt gab, in der “wir” noch nicht Papst waren und in der Eva Herman nur die Nachrichten vorgelesen hat. Es war eine Welt, in der alles noch so war, wie es war, bevor nichts mehr so war, wie es zuvor gewesen war. Eine Welt in einem anderen Jahrtausend – aber wer heute aufs Gymnasium kommt, war damals schon geboren.

Natürlich ist “Tristesse Royale” kein Protokoll einer tatsächlichen Gesellschaft. Die weltmännischen Posen der fünf jungen, konservativen Herren ließen sich auch damals nur schwerlich mit der Weltsicht der Mehrheit der Bevölkerung auf eine Line bringen. Aber sie passten stilistisch in die Euphorie des Aufbruchs. Das Buch ist deshalb eine gute Erinnerung an diese ersten Tage der sogenannten Berliner Republik, als es so aussah, als würden Gerhard Schröder und die rot-grüne Koalition Deutschland alleine aus der Krise führen. In gewisser Weise haben sie das getan, aber das Volk hat es ihnen nicht gedankt, weil die als große “Reform” anmoderierte Agenda 2010 weh tat und sie zu einem nicht unerheblichen Teil auch unsozial war. Niemand fragt, warum es Deutschland unter einer Kanzlerin Merkel, die bisher keine einzige innenpolitische Entscheidung größerer Tragweite getroffen hat, plötzlich so gut gehen soll, wie lange nicht mehr. Niemand ist erstaunt, wenn die SPD unter dem Pfälzer Teddy Kurt Beck plötzlich wieder Sozialdemokratie der 1960er Jahre betreiben will. Aber alle jammern über diese wahnsinnigen Teuerungsraten und über die Gefahr, schon morgen auf dem Koblenzer Marktplatz Opfer einer islamistischen Atombombe zu werden.

Zwischen April ’99 und Oktober ’07 lag der 11. September 2001, der natürlich viel verändert hat und der für zwei neue große Kriege auf diesem Planeten verantwortlich ist. Aber ich glaube nicht, dass diese Terroranschläge, so schlimm sie auch waren und so viele danach auch noch kamen, der Hauptgrund für diese Verschiebung gesellschaftlicher Vorstellungen ist.

Zwischen 1999 und 2007 lag nämlich auch und vor allem ein Jahrtausendwechsel, egal ob man den am 1. Januar 2000 oder erst ein Jahr später begossen hat. Wenn wir uns ansehen, welche Auswirkungen schon eine schlichte Jahrhundertwende gehabt hat, dann müssen wir erstaunt sein, dass dieser Übergang vom zweiten zum dritten Millennium häufig so einfach übergangen wird: Das späte 19. Jahrhundert hatte das Fin de siècle, das Zeitalter des Dekadentismus, und genau das finden wir auch in “Tristesse Royale” und der Gesellschaft dieser späten 1990er Tage wieder. Nicht wenige erwarteten für die Silvesternacht 1999/2000 den sofortigen Weltuntergang und entsprechend wurde auch gefeiert und gelebt. Dieser Überschwung hielt diesmal aber keine 14 Jahre, bis ein Ereignis die Welt erschütterte, sondern die paar Monate bis zum September 2001.

Als Peter Scholl-Latour am Abend des 12. September 2001 in der Talkshow von Michel Friedman das Ende der Spaßgesellschaft postulierte, hinterließ das zwar keinen allzu bleibenden Eindruck bei der Weltbevölkerung, aber nach so einer Ansage fielen die Champagnerbäder in Berlin-Mitte vielleicht doch zunächst ein bisschen kleiner aus. Und ehe man sich’s versah, war auch auf höherer Ebene aus einer apolitischen Dekadenzgesellschaft eine apolitische Biedermeiergesellschaft geworden, in der man seinen dunkelhaarigen Nachbarn sofort für einen potentiellen Massenmörder hält, weil der sich dreimal am Tag die Hände wäscht und betet. Andererseits wird ein alter Kirchenmann von Jugendlichen wie ein Popstar verehrt und Fernsehmoderatorinnen erheben das Gegenteil ihres eigenen Lebensweges zum Heilsversprechen für alle Frauen.

Damit sind wir, auf Umwegen, wieder beim Ausgangszitat angekommen. Was machen eigentlich diese großen Männer der deutschsprachigen Dekadenz heute? Nun: Alexander von Schönburg war kurzzeitig Chefredakteur des Edelmagazins “Park Avenue” und kollumniert für “Bild”; Joachim Bessing schreibt Bücher, die auf dem “Lebenshilfe”-Tisch der Buchhandlungen neben denen von Eva Herman liegen; Eckhart Nickel und Christian Kracht gründeten die sehr interessante, leider aber nicht sehr erfolgreiche Literaturzeitschrift “Der Freund”; Kracht selbst entschwebt in seinen Reportagen in immer unzugänglichere Sphären und Benjamin von Stuckrad-Barre war zuletzt als Rosenverkäufer im neuen Horst-Schlämmer-Video zu sehen.

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Alles Elend dieser Welt

In den vergangenen Tagen hat die Militärjunta von Myanmar, dem früheren Burma, friedliche Proteste von buddhistisches Mönchen und Zivilisten mit aller Brutalität niedergeschlagen. Etwa 4.000 Mönche sollen in Gefängnisse im Norden des Landes verschleppt worden sein, meldet die BBC.

Es ist ein wenig überraschend, dass ein Land, in dem solche Verbrechen seit Jahrzehnten an der Tagesordnung sind, plötzlich doch noch in den Focus der Weltöffentlichkeit gerät. Und vielleicht liegt es wirklich am Internet, dass sich die Welt ein Bild von dem machen kann, was in dem südostasiatischen Land so vor sich geht. Zumindest kann man sich Bildergalerien wie diese oder jene ansehen, auch wenn das Land jetzt vom Internet abgeschnitten ist.

Für den 4. Oktober (also Donnerstag) ist im Internet eine Aktion geplant, bei der Blogs, Websites und Webforen einen Tag lang zu allen anderen Themen “schweigen” sollen und so auf die Situation in Burma aufmerksam machen wollen (alle Infos gibt’s hier).

Wie eigentlich immer bei symbolischen Aktionen, kommt sofort die Frage auf, was das bringen soll. Wenn das deutsche Volk von einer Demonstration gegen die Vorratsdatenspeicherung der deutschen Bundesregierung in der deutschen Hauptstadt Dank der Kompetenz der deutschen Nachrichtenagenturen gleichsam nichts mitbekommt – wie beeindruckt werden dann Generäle, die auf ihr eigenes Volk schießen lassen, davon sein, dass irgendwelche Blogger in irgendwelchen Ländern einen Tag lang nichts schreiben? Nun: Dass sie die Militärjunta kaum erreichen werden, wissen die Organisatoren wohl selbst. Aber eine solche Aktion kann auch Leute, die sich bisher gar nicht mit Burma beschäftigt haben (was 95% der Weltbevölkerung sein dürften), auf das Land bzw. Thema aufmerksam machen. Sie kann Hintergründe erklären, z.B. welche Firmen mit den Militärs so Geschäfte machen und welche deutschen Unternehmen in dem Land ihr Geld verdienen. Vor allem kann sie nicht schaden, denn im schlimmsten Fall ändert sich nichts, die Generäle morden weiter wie bisher und in 41 Jahren steht vielleicht Darfur mal für zwei Wochen im Focus der Weltöffentlichkeit.

Das dämlichste und zynischste Argument gegen solche Aktionen aber lautet “Es gibt so viel Elend auf der Welt, warum konzentriert man sich ausgerechnet auf Burma?”. Konsequent zu Ende gedacht, bräuchte man dann auch kein einziges Buch mehr lesen (weil man eh nicht alle Bücher lesen kann), man bräuchte nicht mehr essen (weil Reste übrig bleiben könnten und andere Menschen gar nichts zu essen haben), ja, man bräuchte nicht einmal mehr leben (weil andere Menschen tot sind). Menschen, die so argumentieren, fragten am Morgen des 12. September 2001 “Und was ist mit den Kindern, die in Afrika verhungern?”, und vielleicht stehen sie sogar am offenen Grab ihrer Mutter und sagen etwas wie “Nun ja, jetzt isse tot, aber während wir hier stehen, sterben bei einem bewaffneten Konflikt in Südamerika vierhundert Menschen.”

Als ich Thees Uhlmann von Tomte das erste Mal interviewte, war wenige Monate zuvor sein guter Freund, der Musikjournalist Rocco Clein verstorben. Tomte und andere Bands hatten ein Benefizfestival organisiert, um Geld für Roccos Kinder einzuspielen. Natürlich gab es auch damals wieder Leute, die mit den verhungernden Negerkindern argumentierten und der Meinung waren, dass die Halbwaisen eines “Prominenten” schon genug Geld zum Leben haben müssten. Ich fragte Thees, was er auf dieses Gerede antworten würde, und Thees sagte wie so oft etwas sehr, sehr Kluges:

Menschen funktionieren so. Sie mögen das, mit dem sie zu tun haben oder hatten. Warum ist einem das World Trade Center näher, als wenn irgendwo in Ruanda 120.000 Menschen innerhalb von 90 Tagen abgemordet werden? Weil Ruanda abstrakt ist. In Amerika war jeder schon mal. Und wenn er nicht da war, dann kennt er jemanden, der da war. So funktionieren Menschen. Und das ist schlimm oder egal oder gut, aber das ist einfach so.

Ich weiß noch nicht, ob ich mich an dieser Blogger-Aktion beteiligen werde. Aber ich weiß, dass ich Respekt habe vor denen, die sowas planen, die sich Gedanken machen. Es liegt nun mal offenbar in der Natur des Menschen, dass er nicht an alles Elend der Welt gleichzeitig denken kann – aber würden wir nicht auch wahnsinnig, wenn wir es könnten? Vor zwei Wochen wussten viele nicht, dass ein Land namens Myanmar existiert, heute machen sie sich für die Menschen dort, von denen sie vermutlich keinen einzigen je kennenlernen werden, stark. Das mag man als Aktionismus sehen, aber dann dürfte man auch bei den Adventssammlungen der Kirchen kein Geld mehr geben und müsste Medikamente und Schulen verbieten, weil sie die Chancengleichheit (“Alle haben keine Chance”) der Menschen verzerren. Wer so argumentiert, verfügt über die nötige Portion Zynismus und Menschenverachtung, um einem Militärregime anzugehören.