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Straßenschäden unter sich

Die Gesell­schaft für deut­sche Spra­che hat heu­te in einer – zuge­ge­be­ner­ma­ßen schön bebil­der­ten – Pres­se­er­klä­rung bekannt­ge­ge­ben, wie ihr „Wort des Jah­res 2024“ lau­tet: „Ampel-Aus“.

Gemeint ist damit das Schei­tern der Bun­des­re­gie­rung aus SPD (rot), FDP (gelb) und Grü­nen (nun …), die im soge­nann­ten Volks­mund als „Ampel-Koali­ti­on“ oder schlicht als „Ampel“ bekannt war.

Nun zöge­re ich als stu­dier­ter Lin­gu­ist, die GfdS (nicht zu ver­wech­seln mit dem „Ver­ein Deut­sche Spra­che“, einer Art Vor­feld-Orga­ni­sa­ti­on der AfD) zu kri­ti­sie­ren, aber ich bin der Mei­nung, dass mit die­ser Aus­zeich­nung eine zuneh­men­de Infan­ti­li­sie­rung der Polit-Kom­mu­ni­ka­ti­on gewür­digt und damit auch wei­ter vor­an­ge­trie­ben wird.

Bei dem legen­där-öden Pres­se­ter­min in der Baye­ri­schen Ver­tre­tung in Ber­lin, auf dem er Fried­rich Merz mit einem mit­tel-enthu­si­as­ti­schen „Ich bin damit fein“ zum Kanz­ler­kan­di­da­ten der Uni­on kür­te, sprach Mar­kus Söder mehr­fach vom „Ampel­scha­den“, als sei er ehren­amt­li­cher Bür­ger­meis­ter einer Klein­stadt, die über eine ein­zi­ge Kreu­zung ver­fügt. Dem Adjek­tiv „staats­tra­gend“ kam der baye­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent damit so nahe wie der Wacht­meis­ter Dimpf­el­mo­ser, aber den wür­de Söders Kern­ziel­grup­pe, der Stamm­tisch (bzw. des­sen Bewoh­ner), wahr­schein­lich auch nach zwei Maß Bier noch freund­lich grü­ßen.

Ampel-Aus-Symbolbild (Foto: Lukas Heinser)

Die „Ampel“, das ist für Men­schen, die auf Social Media ger­ne erklä­ren, dass sie „selbst den­ken“, die Vor­stu­fe zu „rot-grün-ver­sifft“, zum „Kin­der­buch­au­tor“ Robert Habeck, zum müf­fe­li­gen Namens­witz „Gre­ta Thun­fisch“: eine ver­meint­lich ori­gi­nel­le For­mu­lie­rung, die man irgend­wo zwi­schen „Welt“-Kommentarspalte, Gabor Stein­garts Lebens­werk und Face­book auf­ge­le­sen hat, die man als Erken­nungs­zei­chen für Gleich­ge­sinn­te vor sich her­trägt und die ihre eige­ne Replik gleich mit­bringt: „Okay, Boo­mer!“

„Ampelz­off“ war schon 2023 unter den „Wör­tern des Jah­res“ gewe­sen, was eine gewis­se Fixie­rung auf Wör­ter der Duden-Kate­go­rie „ver­al­tend“ nahe­legt (Kun­den, die „zof­fen“ kauf­ten, inter­es­sier­ten sich auch für „pen­nen“, „fun­zen“ und „bum­sen“), ande­rer­seits spre­chen die meis­ten wei­te­ren Begrif­fe aus den Top 10 nicht dafür, dass sich die Gesell­schaft für deut­sche Spra­che an das Luther’sche Dik­tum hält, dem Volk aufs Maul zu schau­en: „Kli­ma­schön­fär­be­rei“, „kriegs­tüch­tig“, „Rechts­drift“, „gene­ra­ti­ve Wen­de“, „SBGG“, „Life-Work-Balan­ce“, „Mes­ser­ver­bot“, „angst­spa­ren“ und „Deckel­wahn­sinn“ wir­ken jeden­falls nicht, als könn­ten sie – um mal ein belie­bi­ges Wort zu ver­wen­den, das 2024 tat­säch­lich viel zu hören war – das popu­lar vote gewin­nen.

Von Gui­do Wes­ter­wel­le ist ein über­ra­schend poe­ti­scher (auch Joa­chim Rin­gel­natz und Ernst Jandl sind Poe­sie) Moment über­lie­fert, in dem er ein­mal erklär­te: „Wir gehen in kei­ne Ampel, Schwam­pel und ande­re Ham­pe­lei­en sind mit uns nicht zu machen.“ Das ist aller­dings so lan­ge her, dass der Fuß­ball­ver­ein, für den Kevin Kampl heu­te spielt, noch gar nicht gegrün­det war.

Die aller­ers­te Regie­rungs­ko­ali­ti­on der Bun­des­re­pu­blik aus CDU/​CSU, FDP und DP hat­te kei­nen Spitz­na­men, der sich bis heu­te erhal­ten hät­te, was auch dar­an gele­gen haben mag, dass man die Far­ben der Deut­schen Par­tei (schwarz-weiß-rot) jetzt viel­leicht nicht mehr als unbe­dingt nötig her­vor­he­ben woll­te. 1953 wur­de die­se Koali­ti­on noch um den Bund der Hei­mat­ver­trie­be­nen und Ent­rech­te­ten erwei­tert, wirk­lich in Erin­ne­rung blieb aber eh nur der Bun­des­kanz­ler: Kon­rad Ade­nau­er. Der konn­te von 1957 bis 1961 allei­ne (also: mit abso­lu­ter Mehr­heit für die Uni­on) regie­ren und saß ab 1961 einer Koali­ti­on vor, die man heu­te „schwarz-gelb“ nen­nen wür­de (oder, für die Teil­zeit-Komi­ker der Haupt­stadt­pres­se: „BVB“), damals aber nicht, weil die FDP Gelb erst seit 1972 ein­setzt. Ent­spre­chend regier­te sie mit der SPD zusam­men auch als „sozi­al-libe­ra­le Koali­ti­on“, was heu­te gera­de­zu rüh­rend aus­sa­ge­kräf­tig wirkt, wo man der­lei Inhalts­an­ga­ben nur noch in bizar­ren Schwund­stu­fen wie dem „Gute-Kita-Gesetz“ begeg­net. Die Regie­run­gen von 1966–1969, 2005–2009 und 2013–2021, die aus Uni­on und SPD bestan­den, nann­te man „gro­ße Koali­ti­on“, weil sie – zumin­dest anfangs – eine erheb­li­che Mehr­heit der Abge­ord­ne­ten abdeck­te.

In den 1980er Jah­ren begann das Far­ben­spiel. Das hat wenig mit dem gleich­na­mi­gen Album von Hele­ne Fischer zu tun, wohl aber mit ihrem Namens­vet­ter Josch­ka. Einer der vie­len unge­schrie­be­nen Arti­kel mei­nes Jah­res hät­te des­halb die Geschich­te die­ses Begriffs zurück­ver­fol­gen sol­len (denn ich lie­be wenig mehr an mei­ner jour­na­lis­ti­schen Arbeit, als mich stun­den­lang durch Archi­ve zu wüh­len, eine erstaun­li­che Men­ge Bei­fang mit mei­nen peers zu tei­len und dar­aus hin­ter­her einen Text zu schnit­zen, bei dem die Redak­ti­on kri­tisch eine Augen­braue hebt und sagt: „Das ist jetzt selbst für Dei­ne Ver­hält­nis­se extrem nerdig!“), bis in die frü­hen 1990er Jah­re und zu einem Mann namens Björn Eng­holm, der für kur­ze Zeit das war, was nach ihm vie­le waren: Der schnell ver­ges­se­ne Hoff­nungs­trä­ger der SPD.

Vor­bei die Zei­ten wie im Novem­ber 1992, als die „Süd­deut­sche Zei­tung“ schrieb:

Fer­tig ist sie, die ‚Ampel­ko­ali­ti­on‘, die wir des­halb in Gän­se­füß­chen set­zen, weil wir uns unter die­sem Gebil­de tech­nisch nichts vor­stel­len kön­nen.

Dass Natur­wis­sen­schaf­ten im öffent­li­chen Dis­kurs eher eine Neben­rol­le spie­len, wis­sen wir spä­tes­tens seit der Covid-19-Pan­de­mie, und zu den Din­gen, die über Eure Vor­stel­lungs­kraft gehen, gehört allen­falls eine Bob­mann­schaft aus, genau: Jamai­ka.

In der media­len Dau­er-Erre­gung schon lang ver­ges­sen ist das Wort „Schwam­pel“ (für: „schwar­ze Ampel“), das Jörg Schö­nen­born am Wahl­abend 2005 mit besorg­nis­er­r­gen­dem Ver­ve in den akti­ven Wort­schatz sei­ner Gesprächspartner*innen und Zuschauer*innen über­füh­ren woll­te. Es klingt, als wür­de es etwas sehr, sehr Ekli­ges beschrei­ben — mut­maß­lich das knor­pe­li­ge Stück Fleisch, das man beim Mit­tag­essen bei der „fei­nen“ Oma plötz­lich im Mund hat und sich nicht aus­zu­spu­cken traut (was, sei­en wir ehr­lich, ande­rer­seits nah dran ist an dem, was man von einer schwarz-gelb-grü­nen Koali­ti­on erwar­ten kann).

Dann hat irgend­je­mand den Flag­gen-Atlas sei­nes Kin­der­gar­ten­kin­des mit in irgend­ei­ne Redak­ti­on gebracht und nach inten­si­vem Stu­di­um und sicher­lich tage­lan­gen Kon­fe­ren­zen wur­de beschlos­sen, für­der­hin den Begriff „Jamai­ka-Koali­ti­on“ zu ver­wen­den. Heu­te könn­te man über die Gleich­set­zung der Begrif­fe „schwar­ze Ampel“ und „Jamai­ka“ noch mal gan­ze post-kolo­nia­le, ras­sis­mus­kri­ti­sche Dis­kur­se auf­sper­ren, aber der Gel­be Wagen, er ist inzwi­schen in jeder Hin­sicht wei­ter­ge­rollt, und es liegt eine fei­ne Iro­nie dar­in, dass die Can­na­bis-Lega­li­sie­rung eben nicht von einer Jamai­ka-Koali­ti­on beschlos­sen wur­de. (Als Led Zep­pe­lin einen Reg­gae-las­ti­gen Song auf­nah­men, nann­ten sie ihn „D’yer Mak’er“, was man [dʒəˈ­meɪkə] aus­spre­chen soll­te, also wie den Insel­staat, was The Hold Ste­ady in ihrem Song „Joke About Jamai­ca“ noch mal the­ma­ti­sie­ren, uns aber lei­der gera­de nir­gend­wo­hin bringt.)

Der Flag­gen-Atlas blieb in der Redak­ti­on und erwies sich als prak­tisch, als schwarz-rot-grü­ne Regie­rungs­bünd­nis­se gebil­det und benamt wer­den muss­ten: „Afgha­ni­stan“ hat­te einen in vie­ler Hin­sicht unglück­li­chen Bei­klang (und nach Gras auch noch Opi­um in die poli­ti­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on ein­zu­füh­ren, hät­te viel­leicht auch merk­wür­dig gewirkt — eine „Kolumbien“-Koalition aus SPD, FDP und AfD scheint wenigs­tens erst­mal aus­ge­schlos­sen), wes­we­gen sich die Medi­en mehr­heit­lich auf „Kenia“ ver­stän­dig­ten.

Die wei­te­ren tek­to­ni­schen Ereig­nis­se in der Par­tei­en­land­schaft stel­len Redak­tio­nen und Par­tei­en vor immer neue Pro­ble­me: Für schwarz-rot-lila hat­te nicht­mal mehr Shel­don Coo­per eine Flag­ge parat, wes­we­gen sich Berich­te aus Thü­rin­gen nun um eine „Brom­beer-Koali­ti­on“ ran­ken. Und anstatt dass irgend­je­mand mal inne­hält und sich (und bes­ten­falls auch ande­re) fragt, ob das nicht lang­sam alles ein biss­chen albern wird, wird wahr­schein­lich schon wert­vol­le Arbeits­zeit mit der Fra­ge ver­schwen­det, was – zum Hen­ker – eigent­lich rot-grün-lila sein könn­te oder schwarz-gelb-lila (Men­schen mit Gas­tro-Erfah­run­gen wis­sen: Erbro­che­nes nach Weih­nachts­markt-Besuch).

Ange­sichts der angeb­li­chen Pola­ri­sie­rung der Gesell­schaft (auch hier hilft ein Blick in Zei­tun­gen von, sagen wir mal: 1968) und der damit ein­her­ge­hen­den Schwarz-Weiß-Ein­tei­lung bie­tet sich als nächs­te Eska­la­ti­ons­stu­fe viel­leicht eine „Pan­da-Koali­ti­on“ an. Oder ein­fach, denn jetzt ist auch alles egal: eine „Koa­la­li­ti­on“.

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Nazi und Indianer

Weder Deut­sche noch Schwei­zer sind bekannt für ihren Humor. Das macht ein Auf­ein­an­der­tref­fen der bei­den Völ­ker meist zu einem gequäl­ten, drö­gen Ereig­nis.

Über­haupt kei­ne Wit­ze ver­ste­hen die Schwei­zer, wenn es ums Geld geht. Nach­dem die Schweiz aus Angst vor einer „schwar­zen Lis­te“ der OECD ange­kün­digt hat­te, in Zukunft stär­ker mit aus­län­di­schen Finanz­be­hör­den zu koope­rie­ren, ließ sich der deut­sche Finanz­mi­nis­ter Peer Stein­brück zu einem aben­teu­er­li­chen klei­nen Ver­gleich hin­rei­ßen:

Stein­brück hat­te am letz­ten Sams­tag am Ran­de des Tref­fens der Finanz­mi­nis­ter der G‑20 in Lon­don die Dro­hung mit einer schwar­zen Lis­te gegen­über der Schweiz mit der «sieb­ten Kaval­le­rie vor Yuma» ver­gli­chen, die man auch aus­rei­ten las­sen kön­ne. «Aber die muss man nicht unbe­dingt aus­rei­ten. Die India­ner müs­sen nur wis­sen, dass es sie gibt», hat­te Stein­brück in einer vom Schwei­zer Fern­se­hen (SF) auf­ge­zeich­ne­ten Stel­lung­nah­me gesagt.

In der Schweiz woll­te man aber nicht mit India­nern ver­gli­chen wer­den und bestell­te den deut­schen Bot­schaf­ter ein.

Das offi­zi­el­le Pro­to­koll der schwei­zer Bun­des­ver­samm­lung notiert für ges­tern dann fol­gen­de Aus­füh­run­gen des Abge­ord­ne­ten Tho­mas Mül­ler aus der christ­lich-demo­kra­ti­sche Frak­ti­on CEg:

Wenn die deut­sche Poli­tik in Schwie­rig­kei­ten steckt, und das tut sie im Moment, dann braucht sie Geld und Sün­den­bö­cke. Peer Stein­brück, das darf man in aller Offen­heit sagen, defi­niert das Bild des häss­li­chen Deut­schen neu. Er erin­nert mich an jene Gene­ra­ti­on von Deut­schen, die vor sech­zig Jah­ren mit Leder­man­tel, Stie­fel und Arm­bin­de durch die Gas­sen gegan­gen sind. (Teil­wei­ser Bei­fall, Unru­he)

Damit wäre zumin­dest geklärt, wie gut der Geschichts­un­ter­richt an schwei­zer Schu­len ist – denn vor sech­zig Jah­ren dürf­te der Anteil der Deut­schen, die mit Leder­man­tel, Stie­fel und Arm­bin­de durch die Gas­sen gin­gen, eher über­schau­bar gewe­sen sein.

Rats­prä­si­den­tin Chia­ra Simo­ne­schi-Cor­te­si wies Mül­ler spä­ter zurecht, über­sah das his­to­ri­sche Detail aber eben­falls:

Herr Natio­nal­rat Mül­ler Tho­mas hat in sei­nem Votum von heu­te Mor­gen gesagt, dass ihn der deut­sche Finanz­mi­nis­ter Stein­brück an die Gene­ra­ti­on von Deut­schen erin­ne­re, die vor sech­zig Jah­ren mit Leder­man­tel, Stie­fel und Arm­bin­de durch die Gas­sen gegan­gen sei­en. Hät­te ich die­se Aus­sa­ge in die­sem Moment rich­tig wahr­ge­nom­men, hät­te ich Herrn Mül­ler zurecht­ge­wie­sen. Sei­ne Aus­sa­ge ist depla­ziert und belei­di­gend. Ich habe es Herrn Mül­ler per­sön­lich gesagt. Ich ent­schul­di­ge mich als Rats­prä­si­den­tin dafür. (Teil­wei­ser Bei­fall)

Herr Mül­ler darf sich damit als Erfin­der der Kate­go­rie „Ver­klei­de­te-Grün­der­vä­ter-der-Bun­des­re­pu­blik-Ver­gleich“ füh­len. Der Ein­fach­heit hal­ber hef­ten wir es hier im Blog aber trotz­dem bei den Nazi-Ver­glei­chen ab.

[Mit Dank auch an Hans Mar­tin U. für den Hin­weis!]

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„Mit größter Präzision“

Mahnmal in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm

Zu den ganz gro­ßen Rät­seln der Mensch­heits­ge­schich­te, die einem den Glau­ben an Zufäl­le eini­ger­ma­ßen madig machen, zählt der 9. Novem­ber. Zu dem Umstand, dass so vie­le wich­ti­ge Ereig­nis­se an jenem 9.11., dem „Schick­sals­tag der Deut­schen“, statt­fan­den (wobei die Ereig­nis­se von 1923 und 1938 natür­lich auf die von 1918 auf­bau­ten), kommt auch noch hin­zu, dass die ame­ri­ka­ni­sche Schreib­wei­se des 11. Sep­tem­bers „9/​11“ lau­tet. Dar­über haben sich über­haupt noch nicht genug Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker Gedan­ken gemacht.

Anläss­lich des sieb­zigs­ten Jah­res­tags der Novem­ber­po­gro­me von 1938 möch­te ich Sie heu­te auf einen Text auf­merk­sam machen, den ich vor eini­ger Zeit im Inter­net gefun­den habe. Yitz­hak Sopho­ni Herz, der zu die­ser Zeit Direk­tor des jüdi­schen Wai­sen­hau­ses in Dins­la­ken war, hat ihn geschrie­ben.

At 9:30 A.M. the bell at the main gate rang per­sis­t­ent­ly. I ope­ned the door: about 50 men stor­med into the house, many of them with their coat- or jacket-col­lars tur­ned up. At first they rus­hed into the dining room, which for­t­u­na­te­ly was emp­ty, and the­re they began their work of des­truc­tion, which was car­ri­ed out with the utmost pre­cis­i­on.

Hier errichteten 1885 die Juden unserer Stadt ein Waisenhaus. Bis zur Zerstörung durch die Naziverbrecher wurden hier jüdische Vollwaisen betreut.

Herz beschreibt dar­in mit erstaun­li­cher Sach­lich­keit die Zer­stö­rung des jüdi­schen Wai­sen­hau­ses und der Syn­ago­ge, also von zwei Gebäu­den, von denen ich nicht viel mehr weiß als dass sie dort stan­den, „wo jetzt die Boh­len-Pas­sa­ge ist“ und „da, wo jetzt die Spiel­hal­le ist“. Und er schreibt über Leu­te, mit denen ich noch im glei­chen Super­markt ein­ge­kauft oder in der glei­chen Kir­che geses­sen haben kann, ohne von ihrer Geschich­te zu wis­sen:

[T]he seni­or poli­ce offi­cer, Frei­hahn, shou­ted at us: „Jews do not get pro­tec­tion from us! Vaca­te the area tog­e­ther with your child­ren as quick­ly as pos­si­ble!“ Frei­hahn then cha­sed us back to a side street in the direc­tion of the back­yard of the orpha­na­ge. As I was unable to hand over the key of the back gate, the poli­ce­man drew his bayo­net and forced open the door. I then said to Frei­hahn: „The best thing is to kill me and the child­ren, then our ordeal will be over quick­ly!“ The offi­cer respon­ded to my „sug­ges­ti­on“ mere­ly with cyni­cal laugh­ter.

Der frühere Standort der Synagoge in DinslakenIch hal­te sol­che Schil­de­run­gen aus der eige­nen Hei­mat­stadt für aus­sa­ge­kräf­ti­ger als jede Tabel­le mit abs­trak­ten Zah­len. Man beginnt zu begrei­fen, was da in der Stadt los war, in der man sel­ber 45 Jah­re spä­ter leb­te.

Aber auch wenn Sie noch nie in Dins­la­ken waren, sei Ihnen „Descrip­ti­on of the Riot at Dins­la­ken“ von Yitz­hak Sopho­ni Herz drin­gend zur Lek­tü­re emp­foh­len.

Eine gekürz­te deut­sche Über­set­zung des Tex­tes und wei­te­re Augen­zeu­gen­be­rich­te aus jener Nacht in Dins­la­ken fin­den Sie auf der Web­site der Städ­te­part­ner­schaft von Dins­la­ken mit dem israe­li­schen Arad.

Wei­te­re Fak­ten zur jüdi­schen Gemein­de in Dins­la­ken gibt es hier, einen Aus­zug aus einem Buch des Dins­la­ke­ner Holo­caust-Über­le­ben­den Fred Spie­gel kön­nen Sie hier lesen.

Das Foto ganz oben zeigt das Mahn­mal für die Opfer der Pogrom­nacht in Dins­la­ken, geschaf­fen von Alfred Grimm.

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Politik Rundfunk

Präsidiales Liveblog

00:00 Uhr: Jetzt geht’s lo-hos!

Blog­ger und Arbeits­platz sind bereit:

Ich gucke seit zehn Minu­ten ARD und bezweif­le jetzt schon, dass ich das wach über­ste­hen wer­de. Was schon mal ein Fort­schritt ist: vor vier Jah­ren saß in die­ser Maisch­ber­ger-Run­de Hen­ryk M. Bro­der.

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Experten

Nun, da wir uns alle ein­mal über den Mann mit dem alber­nen Bart und dem unpas­sen­den Namen erregt haben und die­ser in einem offe­nen Brief an den Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land um Ent­schul­di­gung gebe­ten hat, kön­nen wir uns einer wich­ti­gen Fra­ge wid­men: Wer ist die­ser Hans-Wer­ner Sinn über­haupt?

Ver­mut­lich habe ich in den Nach­rich­ten schon hun­dert­fach von sei­nem Ifo-Insti­tut gehört und als ich in der Wiki­pe­dia vom Ifo-Geschäfts­kli­ma­in­dex las, klin­gel­te es tat­säch­lich. Aber davon mal ab: Wer ist die­ser Mann und was soll­te mich dazu brin­gen, sei­nen Aus­füh­run­gen (wenn sie nicht gera­de von ver­folg­ten Mana­gern han­deln) Glau­ben zu schen­ken?

Wenn ein Medi­um zei­gen will, was mit unse­rer Umwelt pas­siert oder wie man Ener­gie spa­ren kann, wer­den O‑Töne von Clau­dia Kem­fert her­an­ge­schafft, wenn’s etwas seriö­ser sein soll Mojib Latif. Tun Jugend­li­che irgend­wo das, was Jugend­li­che min­des­tens seit Kain und Abel tun, näm­lich zuschla­gen, steht das Tele­fon von Chris­ti­an Pfeif­fer nicht mehr still, und bis vor kur­zem konn­ten Sie sicher sein, Ihre Ernäh­rungs­tipps von Hade­mar Bank­ho­fer zu bekom­men – egal, wel­ches Medi­um Sie nutz­ten.

Braucht ein Jour­na­list ein State­ment zum The­ma Blogs oder Inter­net, wen­det er sich an Ste­fan Nig­ge­mei­er. Der darf auch beim The­ma „Medi­en all­ge­mein“ ran, aber nur, solan­ge sei­ne Mei­nung nicht der Linie des Jour­na­lis­ten zu wider­spre­chen droht – sonst ist Jo Groe­bel dran. Selbst im Fuß­ball, zu dem nun wirk­lich jeder Deut­sche eine Mei­nung hat, muss bei jeder Fern­seh­über­tra­gung ein Exper­te bereit­ste­hen und erklä­ren, was wir gera­de gese­hen, aber nur bedingt ver­stan­den haben. Und Hen­ryk M. Bro­der darf sei­ne Mei­nung sowie­so zu jedem The­ma ver­brei­ten.

Der ein­fa­che Bür­ger weiß ja gar nicht, wer die­se Men­schen sind, die ihm da immer als Exper­ten vor­ge­setzt wer­den. Woher kom­men sie, was haben sie gelernt, wel­che eige­nen Inter­es­sen ver­fol­gen sie gege­be­nen­falls? (Es soll ja gan­ze Talk­show-Run­den geben, die nur mit Mit­glie­dern der „Initia­ti­ve Neue Sozia­le Markt­wirt­schaft“ besetzt sind, einer Lob­by-Ver­ei­ni­gung des Arbeit­ge­ber­ver­ban­des Gesamt­me­tall.) Selbst von mög­li­cher­wei­se hono­ri­gen Pro­fes­so­ren kennt man nur ihre Drei-Satz-Erklä­run­gen aus dem Bou­le­vard­fern­se­hen („Explo­siv“, „Bri­sant“, „Anne Will“) und wenn man sie nur oft genug gese­hen hat, kann man sie sowie­so nicht mehr ertra­gen.

Dabei wäre es ja eigent­lich nur wün­schens­wert, wenn sich tat­säch­lich die ver­dien­tes­ten und klügs­ten Leu­te zu The­men äußern und nicht etwa Ronald Pofalla. Es gibt eher zu weni­ge Den­ker in der Öffent­lich­keit als zu vie­le. Die Zei­ten, in denen sich der Wei­ma­rer Hof mit den wei­ses­ten Her­ren der dama­li­gen Welt schmück­te, sind lan­ge vor­bei. Fach­leu­te wer­den von der Poli­tik zwar noch her­an­ge­karrt, aber sofort wie­der fal­len gelas­sen, wenn ihr Fach­wis­sen sich als unpo­pu­lär her­aus­stel­len könn­te. Fra­gen Sie mal Paul Kirch­hof, den „Pro­fes­sor aus Hei­del­berg“. (Es geht natür­lich noch per­fi­der: Hartz will heu­te ja nun wirk­lich nie­mand hei­ßen.)

Der Grund, war­um Medi­en die­se Exper­ten brau­chen, ist natür­lich klar: Zum einen braucht jedes The­ma ein Gesicht, wes­we­gen Hip-Hop ja auch aus­sieht wie Emi­nem und Indie­rock wie Pete Doh­erty. Zum ande­ren braucht man jeman­den, der Ahnung von einem The­ma hat, mit dem man sich gera­de zum ers­ten Mal beschäf­tigt: Wer mor­gens in der Redak­ti­ons­kon­fe­renz die Bekannt­ga­be des „Vogels des Jah­res“ aufs Auge gedrückt bekommt, kann nicht bis zur Abga­be noch eine Orni­tho­lo­gie-Stu­di­um abschlie­ßen.

Vor eini­ger Zeit behel­lig­te ich einen Geschichts­pro­fes­sor mit der Fra­ge, ob er mir für eine Repor­ta­ge (die immer noch zu schrei­ben ist) eini­ge Ein­stiegs­fra­gen beant­wor­ten kön­ne. Er teil­te mir höf­lich, aber bestimmt mit, dass Pro­fes­so­ren ent­ge­gen der weit­läu­fi­gen Annah­me von Jour­na­lis­ten kei­ne Aus­kunftei­en sei­en, für sol­che Zwe­cke gebe es Fach­li­te­ra­tur. Der Mann hat wis­sen­schaft­lich natür­lich voll­kom­men recht, aber kein Jour­na­list wird im Tages­ge­schäft mal eben ein, zwei, drei Fach­bü­cher lesen kön­nen – und der Pro­fes­sor hat sich frei­lich selbst um eine Kar­rie­re als viel­zi­tier­ter (weil unge­le­se­ner) Exper­te gebracht.

Mehr zum The­ma in die­sem Bei­trag von „Zapp“ aus dem letz­ten Jahr.

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Ich wär wohl euer Präsident

So lang­sam bin ich mir nicht mehr sicher, ob die Par­tei „Die Lin­ke“ nicht viel­leicht doch ein irres Lang­zeit­pro­jekt von … sagen wir mal: Chris­toph Schlin­gen­sief ist. Heu­te jeden­falls hat sie den Schau­spie­ler Peter Sodann als Kan­di­da­ten für das Amt des Bun­des­prä­si­den­ten vor­ge­stellt. War­um auch nicht, den USA ging es unter Ronald Rea­gan ja auch ganz gut und auf einen Kan­di­da­ten mehr oder weni­ger kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Als Wäh­ler fragt man sich natür­lich, war­um es bei der Wahl für ein reprä­sen­ta­ti­ves Amt, an der man selbst aktiv gar nicht teil­neh­men darf, eine grö­ße­re Aus­wahl an Alter­na­ti­ven gibt als bei der Wahl zum deut­schen Regie­rungs­chef.

Sodann ist aber mit­nich­ten der abwe­gigs­te Kan­di­dat, der je Bun­des­prä­si­dent wer­den soll­te, er reiht sich da nur ganz gut ein. Das Poli­tik-und Geschichts­blog Cof­fee And TV fasst die schil­lernds­ten Per­sön­lich­kei­ten zusam­men:

  • Hein­rich Lüb­ke (Prä­si­dent von 1959–1969) Auch wenn der berühm­te Aus­spruch mit den Negern offen­sicht­lich Quatsch ist und der Mann schwer krank war, wird er doch am Ehes­ten als der „lus­ti­ge“ Prä­si­dent in Erin­ne­rung blei­ben.
  • Wal­ter Scheel (Prä­si­dent von 1969–1974) Der Mann des Volks­lieds, der im Fern­se­hen „Hoch auf dem gel­ben Wagen“ gesun­gen hat.
  • Lui­se Rin­ser (Kan­di­da­tin 1984) Kaum durf­ten die Grü­nen jeman­den vor­schla­gen, taten sie es auch: In Form einer links­ka­tho­li­schen Schrift­stel­le­rin, die sich ein­mal als „Freun­din fürs Leben“ von Gud­run Ens­slin bezeich­net hat­te. Hach, so was ging natür­lich gar nicht!
  • Stef­fen Heit­mann (Bei­na­he-Kan­di­dat 1994) Hel­mut Kohl wünsch­te sich einen Ost­deut­schen als Bun­des­prä­si­den­ten und fand ihn in Form eines erz­kon­ser­va­ti­ven Fett­näpf­chen-Sprin­gers. Als der nicht mehr halt­bar war, beka­men wir Roman Her­zog.
  • Hans Hir­zel (Kan­di­dat 1994) Vom Mit­glied der „Wei­ßen Rose“ zum Repu­bli­ka­ner: Ein typisch deut­sches Leben halt.
  • Uta Ran­ke-Hei­ne­mann (Kan­di­da­tin 1999) Bun­des­prä­si­den­ten-Toch­ter, Papst-Kom­mi­li­to­nin, streit­ba­re Theo­lo­gin. Eine klu­ge Frau, die aus Grün­den, die auch nicht wirk­lich nach­zu­voll­zie­hen sind, als „die Frau im tür­ki­sen Kos­tüm“ in die Geschich­te ein­ge­hen wird.

Viel­leicht soll­ten wir in die­sem Zusam­men­hang doch die Akti­on „Be My Kan­di­dat“ noch ein­mal auf­wär­men …

PS: Die Über­schrift ist natür­lich wie­der geklaut. Dies­mal bei Jens Frie­be.

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Literatur Gesellschaft

Don’t party like it’s 1999

Kürz­lich blät­ter­te ich mal wie­der in „Tris­tesse Roya­le“, dem Rea­der der deutsch­spra­chi­gen Pop­li­te­ra­tur der 1990er Jah­re, dem Zeit­do­ku­ment der ers­ten Tage der Ber­li­ner Repu­blik. Und mir wur­de klar: Wer ver­ste­hen will, wie sehr sich unse­re Gesell­schaft und unse­re Welt im letz­ten Jahr­zehnt ver­än­dert haben, der muss nur die­se Pro­to­kol­le der Gesprä­che lesen, die Joa­chim Bes­sing, Chris­ti­an Kracht, Eck­hart Nickel, Alex­an­der von Schön­burg und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re im spä­ten April des Jah­res 1999 im frisch wie­der­eröff­ne­ten Ber­li­ner Hotel „Adlon“ geführt haben.

Neh­men wir nur einen kur­zen Aus­schnitt, der eigent­lich alles sagt:

JOACHIM BESSING Gibt es denn eigent­lich über­haupt noch soge­nann­te gesell­schaft­li­che Tabus?
ALEXANDER V. SCHÖNBURG Die katho­li­sche Kir­che zu ver­tei­di­gen ist zum Bei­spiel ein moder­nes Tabu. Es ist ein All­ge­mein­platz, für die Anti­ba­by­pil­le und gegen die Fami­li­en­po­li­tik des Paps­tes zu sein. Wer heu­te, wie ich, sagt: Ich bin für den Papst und gegen die „Pil­le danach“, bricht ein gesell­schaft­lich ver­ein­bar­tes Tabu. Viel­leicht ist es auch ein ähn­li­cher Tabu­bruch, wenn eine Frau sagt: Ich gehö­re hin­ter den Herd und möch­te ger­ne mei­ne Kin­der erzie­hen. Ich möch­te gar nicht in die Drei-Wet­ter-Taft-Welt ein­tre­ten.

„Tris­tesse Roya­le“, S. 118

Lesen Sie die­se Aus­füh­run­gen ruhig mehr­mals. Und ver­su­chen Sie dann, sich vor­zu­stel­len, dass es eine Welt gab, in der „wir“ noch nicht Papst waren und in der Eva Her­man nur die Nach­rich­ten vor­ge­le­sen hat. Es war eine Welt, in der alles noch so war, wie es war, bevor nichts mehr so war, wie es zuvor gewe­sen war. Eine Welt in einem ande­ren Jahr­tau­send – aber wer heu­te aufs Gym­na­si­um kommt, war damals schon gebo­ren.

Natür­lich ist „Tris­tesse Roya­le“ kein Pro­to­koll einer tat­säch­li­chen Gesell­schaft. Die welt­män­ni­schen Posen der fünf jun­gen, kon­ser­va­ti­ven Her­ren lie­ßen sich auch damals nur schwer­lich mit der Welt­sicht der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung auf eine Line brin­gen. Aber sie pass­ten sti­lis­tisch in die Eupho­rie des Auf­bruchs. Das Buch ist des­halb eine gute Erin­ne­rung an die­se ers­ten Tage der soge­nann­ten Ber­li­ner Repu­blik, als es so aus­sah, als wür­den Ger­hard Schrö­der und die rot-grü­ne Koali­ti­on Deutsch­land allei­ne aus der Kri­se füh­ren. In gewis­ser Wei­se haben sie das getan, aber das Volk hat es ihnen nicht gedankt, weil die als gro­ße „Reform“ anmo­de­rier­te Agen­da 2010 weh tat und sie zu einem nicht uner­heb­li­chen Teil auch unso­zi­al war. Nie­mand fragt, war­um es Deutsch­land unter einer Kanz­le­rin Mer­kel, die bis­her kei­ne ein­zi­ge innen­po­li­ti­sche Ent­schei­dung grö­ße­rer Trag­wei­te getrof­fen hat, plötz­lich so gut gehen soll, wie lan­ge nicht mehr. Nie­mand ist erstaunt, wenn die SPD unter dem Pfäl­zer Ted­dy Kurt Beck plötz­lich wie­der Sozi­al­de­mo­kra­tie der 1960er Jah­re betrei­ben will. Aber alle jam­mern über die­se wahn­sin­ni­gen Teue­rungs­ra­ten und über die Gefahr, schon mor­gen auf dem Koblen­zer Markt­platz Opfer einer isla­mis­ti­schen Atom­bom­be zu wer­den.

Zwi­schen April ’99 und Okto­ber ’07 lag der 11. Sep­tem­ber 2001, der natür­lich viel ver­än­dert hat und der für zwei neue gro­ße Krie­ge auf die­sem Pla­ne­ten ver­ant­wort­lich ist. Aber ich glau­be nicht, dass die­se Ter­ror­an­schlä­ge, so schlimm sie auch waren und so vie­le danach auch noch kamen, der Haupt­grund für die­se Ver­schie­bung gesell­schaft­li­cher Vor­stel­lun­gen ist.

Zwi­schen 1999 und 2007 lag näm­lich auch und vor allem ein Jahr­tau­send­wech­sel, egal ob man den am 1. Janu­ar 2000 oder erst ein Jahr spä­ter begos­sen hat. Wenn wir uns anse­hen, wel­che Aus­wir­kun­gen schon eine schlich­te Jahr­hun­dert­wen­de gehabt hat, dann müs­sen wir erstaunt sein, dass die­ser Über­gang vom zwei­ten zum drit­ten Mill­en­ni­um häu­fig so ein­fach über­gan­gen wird: Das spä­te 19. Jahr­hun­dert hat­te das Fin de siè­cle, das Zeit­al­ter des Deka­den­tis­mus, und genau das fin­den wir auch in „Tris­tesse Roya­le“ und der Gesell­schaft die­ser spä­ten 1990er Tage wie­der. Nicht weni­ge erwar­te­ten für die Sil­ves­ter­nacht 1999/​2000 den sofor­ti­gen Welt­un­ter­gang und ent­spre­chend wur­de auch gefei­ert und gelebt. Die­ser Über­schwung hielt dies­mal aber kei­ne 14 Jah­re, bis ein Ereig­nis die Welt erschüt­ter­te, son­dern die paar Mona­te bis zum Sep­tem­ber 2001.

Als Peter Scholl-Latour am Abend des 12. Sep­tem­ber 2001 in der Talk­show von Michel Fried­man das Ende der Spaß­ge­sell­schaft pos­tu­lier­te, hin­ter­ließ das zwar kei­nen all­zu blei­ben­den Ein­druck bei der Welt­be­völ­ke­rung, aber nach so einer Ansa­ge fie­len die Cham­pa­gner­bä­der in Ber­lin-Mit­te viel­leicht doch zunächst ein biss­chen klei­ner aus. Und ehe man sich’s ver­sah, war auch auf höhe­rer Ebe­ne aus einer apo­li­ti­schen Deka­denz­ge­sell­schaft eine apo­li­ti­sche Bie­der­mei­er­ge­sell­schaft gewor­den, in der man sei­nen dun­kel­haa­ri­gen Nach­barn sofort für einen poten­ti­el­len Mas­sen­mör­der hält, weil der sich drei­mal am Tag die Hän­de wäscht und betet. Ande­rer­seits wird ein alter Kir­chen­mann von Jugend­li­chen wie ein Pop­star ver­ehrt und Fern­seh­mo­de­ra­to­rin­nen erhe­ben das Gegen­teil ihres eige­nen Lebens­we­ges zum Heils­ver­spre­chen für alle Frau­en.

Damit sind wir, auf Umwe­gen, wie­der beim Aus­gangs­zi­tat ange­kom­men. Was machen eigent­lich die­se gro­ßen Män­ner der deutsch­spra­chi­gen Deka­denz heu­te? Nun: Alex­an­der von Schön­burg war kurz­zei­tig Chef­re­dak­teur des Edel­ma­ga­zins „Park Ave­nue“ und kollum­ni­ert für „Bild“; Joa­chim Bes­sing schreibt Bücher, die auf dem „Lebenshilfe“-Tisch der Buch­hand­lun­gen neben denen von Eva Her­man lie­gen; Eck­hart Nickel und Chris­ti­an Kracht grün­de­ten die sehr inter­es­san­te, lei­der aber nicht sehr erfolg­rei­che Lite­ra­tur­zeit­schrift „Der Freund“; Kracht selbst ent­schwebt in sei­nen Repor­ta­gen in immer unzu­gäng­li­che­re Sphä­ren und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war zuletzt als Rosen­ver­käu­fer im neu­en Horst-Schläm­mer-Video zu sehen.