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That’s how I remember it

Kurt Cobain war tot, damit wollen wir beginnen. Grieselige TV-Bilder einer Garage in Seattle haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, wann.

Ich habe ein sehr merkwürdiges Gedächtnis. Ein „gutes“, würden viele sagen, weil ich mich an so vieles erinnern kann: Daten, Namen, Begebenheiten, Dialoge — alles semantisch miteinander verknüpft und immer auch verbunden mit Bildern. Letzte Woche fielen mir die Namen von Freunden meiner Eltern wieder ein, die ich vor 35 Jahren zwei-, dreimal getroffen hatte. Ich fände es aber hilfreicher und mithin „gut“, mir die Namen von Menschen merken zu können, die ich aktuell brauche.

Die TV-Bilder, also: Ich bin mir absolut sicher, dass ich sie auf dem Grundig Monolith im sogenannten „Bauernzimmer“ meines Großelternhauses sah. Meine Großeltern hatten – die Sentenz von Harald Schmidt bestätigend, dass Geld und Geschmack nur selten Hand in Hand einhergehen – sich in den 1970er Jahren durchaus hochwertige, massivste Bauernmöbel andrehen lassen: einen Esstisch, an dem die Ritter der Tafelrunde alle Platz gefunden hätten, nebst passender Stühle; ein Buffet, in das rund die Hälfte der Teller des Hausstandes passten (und das waren viele); darüber ein Hängeregal, das zur Präsentation von Ziertellern gedacht war (was Bauern halt so tun) und sogar ein Beistelltischchen, auf dem immer die „Kirche + Leben“ und die „Hörzu“ der nächsten Woche lagen (die „Hörzu“ der aktuellen Woche lag meist im richtigen Wohnzimmer, da wo auch die Sofas und Sessel um einen tonnenschweren Couchtisch standen). In diesem „Bauernzimmer“, wo meist zu Abend gegessen wurde, stand der treffend so betitelte Monolith, damit mein Großvater während des Abendessens die „Heute“-Nachrichten und/oder die „Tagesschau“ sehen und so nebenbei die essenden, bitte schweigenden Enkelkinder mit Bildern des hingerichteten Nicolae Ceaușescu, aus den Jugoslawienkriegen und anderen Krisenregionen verstören konnte.

Dort hatte ich, seit wir nebenan wohnten (I’m glad you asked: meine Eltern waren mit uns am 30. Januar 1993 umgezogen — das „Zeitzeichen“ auf WDR 2, das ich an jenem Morgen im besagten Bauernzimmer im Radio gehört hatte, hatte das Thema „60 Jahre Machtergreifung“ gehabt), viele Stunden vor dem Fernseher verbracht. Meine Großeltern hatten nämlich ,anders als meine Eltern, damals schon Satellitenfernsehen gehabt — wobei sich meine Fernseh-Diät, von MTV Europe mal ab, eigentlich auf die Programme beschränkte, die ich auch bei meinen Eltern hätte gucken können: „Hit-Clip“, das WDR-Surrogat für MTV, und „Elf 99“, ein Jugendmagazin, das im September 1989 ursprünglich im Fernsehen der DDR gestartet war, sich dort als durchaus regierungskritisch erwiesen und nach dem Ende des DFF eine kleine Odyssee durch die westdeutschen Sender hinter sich hatte. „Elf 99“ lief seit Mitte November 1993 auf Vox, dem kleinen, sympathischen Privatsender, der mit seinem erratischen, oft anspruchsvollen Programm (allem voran das Medienmagazin „Canale Grande“ mit dem damals noch Dieter genannten Max Moor) wie geschaffen war für einen zehnjährigen Jungen, der sich medial gerne zwei, drei Gewichtsklassen über der eigenen bewegte.

Dafür, dass „Elf 99“ nur wenige Monate auf Vox lief, habe ich wirklich viele Erinnerungen daran — womöglich habe ich fast alle Ausgaben dort gesehen. Ich erinnere mich, dass ein dicker, langhaariger, damals mutmaßlich noch junger Dieter Gorny zu Gast war, um das Konzept seines bald startenden Musiksenders Viva vorzustellen (den wir allerdings noch nicht mal bei unseren Großeltern sehen konnten, weil er anfangs per Kabel ausgestrahlt wurde); an Sendungen, in denen man per Anruf so lange für oder gegen den aktuell laufenden Act abstimmen konnte, bis die Negativstimmenstimmen in der Mehrheit waren (am Längsten liefen – in einer Jugendsendung im Jahr 1993 – Phil Collins und Genesis); an die Ausgabe mit den größten Hits des Jahres 1993, die zwar ausgiebig mit „Go West“ von den Pet Shop Boys betrailert worden war, das dann aber in der schlussendlichen Sendung gar nicht vorkam (auf Platz 1 landeten, wenn ich mich recht erinnere, die damals schon von mir für schrecklich befundenen Ace Of Base).

Anfang des Jahres 1994 war „Elf 99“ vom spätnachmittäglichen Sendeplatz auf einen längeren am Samstagvormittag gewechselt. Hier erinnere ich mich vage an ein Take-That-Special, aber nicht viel mehr. Es ging auch nur einige Wochen gut, dann wurde „Elf 99“ in „Saturday“ umbenannt. Und ab hier wird es kompliziert.

In der Wikipedia steht:

Schließlich wurde der Sendeplatz auf den Samstagnachmittag gelegt und im März 1994 eine Umbenennung in Saturday beschlossen. Tatsächlich lief nur eine Ausgabe unter dem neuen Namen am 26. März 1994. Denn im März 1994 hatten sämtliche Anteilseigner des Senders VOX ihre Beteiligungen gekündigt und eine Finanzierung des Programmbetriebs über den 31. März hinaus in Frage gestellt. Somit fiel neben mehreren Sendungen auch Elf 99/Saturday der VOX-Krise zum Opfer. Ein Neustart auf einem anderen Sender erfolgte nicht mehr.

Ich bin mir absolut sicher (im Sinne von: „ich könnte schwören“), dass ich die grieseligen TV-Bilder in den VOX-Nachrichten sah, die vor „Saturday“ liefen, und dort vom Tode Kurt Cobains hörte. Ich meine mich zu erinnern, dass ich einigermaßen geschockt war, denn Nirvana waren mir natürlich ein Begriff gewesen: Das Video zu „Smells Like Teen Spirit“ hatte ich – auch Jahre nach Veröffentlichung – häufig bei „Hit-Clip“ gesehen, wo die Grunge-Band aus Seattle einigermaßen gleichberechtigt zwischen East 17, 2 Unlimited und Billy Joel vorgekommen war, und auch an das Anton-Corbijn-Video zu „Heart-Shaped Box“ meine ich mich aus jener Zeit erinnern zu können. Mir war wohl auch als 10-Jährigem schon klar gewesen, dass es sich um „andere“, irgendwie sperrigere Musik gehandelt hatte als bei den meisten anderen Videos, die bei „Hit-Clip“ liefen, aber von dem Nihilismus, der Verzweiflung und dem ganzen „Generation X“-Vibe, von dem die deutschen Medien dann nach Cobains Suizid berichteten, hatte ich keine Vorstellung, als ich die Nachricht zum ersten Mal hörte — bei Vox. Und ich könnte schwören, dass zu Beginn der dann folgenden „Saturday“-Ausgabe, deretwegen ich Fernseher und Sender ja eingeschaltet hatte, zwei Moderatoren vor ein Studiopublikum traten, von denen der eine seine Nirvana-Konzertkarte (ich glaube, sie war gelb) vor laufender Kamera zerriss, was der andere mit der Frage kommentierte, ob er eigentlich bescheuert sei, diese Karte hätte doch einmal sehr wertvoll werden können. Aber all das würde ja keinerlei Sinn ergeben, wenn die Wikipedia Recht hätte und die Sendung am 26. März eingestellt worden wäre — Kurt Cobains Leiche wurde bekanntlich am 8. April 1994 entdeckt.

Der hier klaffende Widerspruch beschäftigt mich seit einiger Zeit, aber zum 30. Jahrestag wollte ich ihn endlich in Angriff nehmen. Mein erster Kontakt galt der Vox-Pressestelle, wobei ich eigentlich schon in meiner Anfrage die Segel strich, als ich schrieb, ich wisse, dass bei Vox damals chaotische Zustände geherrscht hätten und vermutlich auch einiges aus dieser Zeit nicht sehr gut dokumentiert sei, was mir die nette Pressesprecherin in weniger als 24 Stunden bestätigte.

Also schrieb ich allen Menschen, die ich kenne und die mal irgendwas mit Musikfernsehen zu tun hatten. Nilz Bokelberg, der damals beim Viva-Start dabei war, brachte mich auf die (zugegebenermaßen nicht soooo abseitige) Idee, nach zeitgenössischen Quellen zu suchen — und lieferte gleich einen online verfügbaren Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 16. März 1994 mit, in dem stand:

Nach viereinhalb Jahren kommt das Aus für das ELF-99-Magazin. Wie die ELF-99-Medienproduktion und Vermarktung GmbH gestern mitteilte, wird das Jugendmagazin am 26. März zum letzten Mal bei VOX zu sehen sein. Am 2. April soll als Nachfolger die Sendung ‘saturday’ auf VOX starten.

Ha! Das ist natürlich etwas ganz anderes, als die Wikipedia behauptet! Und die „Frankfurter Rundschau“ schrieb noch am 28. April 1994:

Seit Ostern produziert die Berliner Firma Elf 99 für Vox das Jugendmagazin “saturday”. Nur bis Ende April ist die Planung sicher. Danach sieht es für “saturday” nach Sonntag aus. Bertram Schwarz, Geschäftsführer von Elf 99, hält den Wechsel eines eingeführten “Produkts” von einem Sender zum anderen für zu schwierig.

[Ostersonntag war 1994 am 3. April]

Okay. Also liegt die Wikipedia falsch. Aber das bestätigt ja immer noch nicht meine Erinnerungen.

Ich habe versucht, Kontakt zum damaligen Redaktionsleiter von „Saturday“ aufzunehmen. Ich habe Menschen (bzw. deren Management) kontaktiert, die laut eigener Aussage „Saturday“ moderiert haben — erfolglos.

Je länger ich über diesen Samstagvormittag nachdenke, desto eindringlicher erscheinen mir meine Erinnerungen: Ich bin mir sicher, dass ich noch ganz nah vor dem Fernseher stand, den ich gerade erst eingeschaltet hatte, und mich noch nicht hingesetzt hatte. Ich sehe das Licht durch die Terrassentür fallen und spüre die Fernbedienungen des Fernsehers in meiner Hand. Klar: Die habe ich ja auch hunderte Male in der Hand gehalten — aber auch am 9. April 1994? Man hört ja immer wieder von falschen Erinnerungen, von Zeugenaussagen, die nicht stimmen können. Aber wo kommen wir hin, wenn wir unseren eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen können? Und ist eine Erinnerung, die wir nicht mit Quellen belegen können, überhaupt real?

Eines der legendärsten Zeitdokumente ist dieser Ausschnitt aus den „Tagesthemen“ vom 9. April 1994 (die – wenig hilfreich – in der YouTube-Beschreibung als „Tagesschau“ vom 8. April bezeichnet werden):

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Als man noch auf Facebook war und dort lustige Links teilte, tat dieses Video mindestens einmal im Jahr das, was man damals „viral gehen“ nannte, weil es auf so beeindruckende Art die geballte Ahnungslosigkeit und Bräsigkeit deutscher Medien zusammenzufassen scheint — und das nicht 1968, sondern 1994: Da ist die konsequent falsche Aussprache von Cobains Nachnamen (die ARD-Aussprachedatenbank empfiehlt inzwischen – ich weiß aber nicht, seit wann – /koʊʹbeɪn/), die falsche „Übersetzung“ der „Lithium“-Textzeilen und dann die Zusammenfassung „Kurt Cobains Lieder sind Ausdruck einer jugendlichen Subkultur; einer Jugend ohne Hoffnung, ohne Job, drogenabhängig und kriminell“, die nicht nur grammatikalisch auf dünnem Eis unterwegs ist. Sowohl der damalige Washington-Korrespondent der ARD, Jochen Schweizer (Jahrgang 1938), als auch Moderatorin Sabine Christiansen (Jahrgang 1957) bemühen sich, so etwas wie Emphase und Faszination auszudrücken, aber der ganze Beitrag strahlt gleichzeitig so viel Alarmismus und Verachtung für „Jugendkulturen“ (falls es irgendjemand vergessen haben sollte: Cobain war 27, als er starb) aus, dass es denkbar erscheint, dass Tausende deutsche Eltern danach Tipper-Gore-mäßig in die Jugendzimmer ihrer Kinder rannten und sicherheitshalber die Nirvana-CDs in den Müll warfen.

Nachdem ich diesen Ausschnitt für diesen Text hier zum wiederholten Male gesehen hatte, beschlich mich das Gefühl, jene „Tagesthemen“-Ausgabe damals, am 9. April 1994, womöglich selbst gesehen zu haben — mit meiner Mutter in ihrem Nähzimmer, in dem sie damals abends oft saß, im Anschluss an „Geld oder Liebe“ mit Jürgen von der Lippe. Es scheint zumindest plausibel.

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Musik Digital

Neue Musik von Pet Shop Boys, Crowded House, Maggie Rogers, Kacey Musgraves

Spotify setzt uns im Juni vor die Tür. Das ist doof, aber nicht überraschend.

Lukas fordert erst zum Sturz der Tech-Konzerne auf und macht dann trotzdem das Beste draus, indem er neue Songs von seinen Lieblingsbands Pet Shop Boys und Crowded House spielt, von Maggie Rogers und Kacey Musgraves und vielen anderen Acts.

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Alle Songs:

  • Pet Shop Boys – Loneliness
  • Morgan Harper-Jones – Boombox
  • Villagers – That Golden Time
  • Maggie Rogers – Don’t Forget Me
  • Le Shiv – Regrets And Happiness
  • Kacey Musgraves – Deeper Well
  • Little Simz – Mood Swings
  • Crowded House – Oh Hi
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Print Sport

Wie der Scorpions-Song

Man vergisst das angesichts immer neuer Verfahren gegen Donald Trump, angesichts von sich überschlagenden und ineinander verkeilender Krisen, schnell, aber es gab mal einen US-Präsidenten, der Barack Obama hieß. Sein (erfolgreicher) Wahlkampf 2008 gründete unter anderem auf dem von Bob, dem Baumeister, entlehnten Slogan „Yes, we can“, der als Mem eine zeitlang die digitale und vor allem analoge Welt beherrschte.

Bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ haben sie ein gutes Gedächtnis (oder Archiv), denn so sah am Montag der Sportteil aus:

Grafik in der F.A.Z.: „Yes we Kane?“

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Gesellschaft Fernsehen

Wo Hafer und Korn verloren sind

In den letzten Wochen ging ein kurzes Video viral, das die beiden Medienpersönlichkeiten Markus Lanz (* 1969) und Richard David Precht (* 1964) auf dem „Kongress Zukunft Handwerk“ zeigt — ansonsten aber ganz in ihrem Element, der gegenseitigen Zustimmung:

Lanz: „[…] so ‘ne gefühlige Gesellschaft geworden. Ja, so ‘ne Hafermilch-Gesellschaft, so ‘ne Guavendicksaft-Truppe, die wirklich die ganze Zeit auf der Suche nach der idealen Work-Life-Balance ist.“

[Schnitt.]

Precht: „Also, ich würde sogar noch etwas radikaler sein. Ich würde sagen: In der Generation meiner Eltern, erst recht meiner Großeltern, haben sich 90 Prozent aller Menschen, wenn sie gearbeitet haben, die Sinnfrage gar nicht erst gestellt. Jetzt sieht es natürlich so aus, dass nahezu alle jungen Menschen ins Leben gehen unter der Vorstellung, das Leben ist ein Wunschkonzert. Was ist die Folge? Ja, Du fängst was an und beim ersten leisen Gegenwind denkst Du: Nee, nee, das war das Falsche; schmeißt die Flinte wieder ins Korn.“

Dieser Ausschnitt hat zu einer ganzen Reihe öffentlicher Äußerungen geführt, hier ist die nächste:

Ich habe natürlich nicht den ganzen Auftritt der beiden gesehen, denn wenn ich zwei Männer sehen will, die einander, vor allem aber sich selbst, geil finden, gucke ich mir weichgezeichnete Schwulen-Pornos an.

Als erstes muss man Lanz vermutlich dankbar sein, dass er nicht von „Algarven-Dicksaft“ gesprochen hat.

Dann muss man anerkennen, dass er seinen Barth ziemlich genau studiert hat. „Hafermilch“ ist in gewissen Kreisen schließlich das, was „Schuhgeschäft“ in anderen ist: eine Abkürzung zum Gelächter, die mechanische Auslösung eines Reflexes anstelle einer ausgearbeiteten Pointe. Der Dumme August tritt dem Weißclown in den Hintern und Grundschulkinder quieken entzückt auf — wobei wir noch klären müssen, wer in diesem Ausschnitt eigentlich welche Rolle einnimmt (ich persönlich würde sagen: Es gibt außerhalb von Tierquälerei im Circus nichts Schlimmeres als den Weißclown, von daher sind einfach beide einer).

Ich möchte eigentlich nicht den gleichen Fehler begehen wie Lanz, Precht und die Leute, die ihnen zustimmen, und gleich ad hominem gehen. Nur: So viel anderes als ihre Persönlichkeiten (oder zumindest ihre öffentlichen personae) haben die beiden ja gar nicht zu bieten. Beide wirken wie die Personifizierungen des Aphorismus (und falschen Karl-Kraus-Zitats), wonach bei niedrig stehender Sonne der Kultur auch Zwerge lange Schatten würfen. Sie sind – ob aus Zufall, Kalkül, Patriarchat oder schlichtem Versehen – im Laufe der Zeit zu dem geworden, was sich sprichwörtliche Durchschnittsdeutsche unter einem Journalisten und einem Philosophen vorstellen. Schon allein das ist ungefähr so absurd, als ob diese Prototypen in den 1990er Jahren mit Hans Meiser und Helmut Markwort besetzt worden wären.

Wenn man sich den Ausschnitt ganz genau anguckt, wird man den Eindruck nicht los, dass der Sit-Down-Comedian Lanz die Begriffe „Hafermilch-Gesellschaft“ und „Guavendicksaft-Truppe“ von langer Hand vorbereitet hat (oder vorbereiten hat lassen) und das stolze Grinsen unterdrücken muss, als sie beim Publikum den erhofften Erfolg erzielen. Er ist da ganz wie in seiner Fernsehsendung: wahnsinnig gut vorbereitet und deshalb so natürlich wie ein Versicherungsmakler kurz nach Beginn der Ausbildung. Es ist mir ein Rätsel, wieso Annalena Baerbock ständig vorgeworfen wird, wie eine „Schülersprecherin“ aufzutreten, Markus Lanz aber immer so eilfertig rumamthoren darf, ohne dass seine Gesprächspartner*innen ihn einfach anschreien (bzw. natürlich kein Rätsel, sondern ein Patriarchat).

„Hafermilch“ ist dabei das, was „Sojamilch“ vor zwölf Jahren war und davor „Latte Macchiato“: ein angeblich suspektes Getränk, das von Menschen getrunken wird, die man irgendwie ablehnt.

Schon diese Milch-Obsession schreit ja eigentlich direkt nach einer Freudianischen Einordnung — gerade bei einem Mann mit so einer Kondensmilch-Mentalität wie Lanz. Da will man direkt kontern: „Echte Männer sind für mich nur die, die von einer Wölfin gesäugt und aufgezogen wurden!“ Oder: „Wenn Du morgens um fünf aufstehst, um oben auf der Alm die Kühe zu melken, können wir über meinen Hafermilch-Konsum sprechen, aber ansonsten sei einfach still!“ Unlustiger kann’s eigentlich nur noch werden, wenn als nächstes jemand sagt: „Bielefeld gibt’s ja gar nicht!“

Humortheoretisch steht die Hafermilch dabei in der Tradition des Dinkel-Bratlings, mit dem Komiker*innen in den 1980er und 90er Jahren reüssieren konnten. Man könnte jetzt erwidern, dass vegetarische oder vegane Ersatzprodukte im Laufe der Jahrzehnte eine Entwicklung durchgemacht haben, die man auch dem deutschen Humor gönnen würde, aber da würde man schon wieder den grundsätzlichen, kapitalen Fehler begehen und sich in ein argumentatives Gespräch stürzen, wo von der Gegenseite nun wirklich keines gewünscht ist.

Lanz hat aber nicht nur seinen Barth studiert, sondern auch seinen Schmidt: Der einstige deutsche Groß-Humorist Harald Schmidt, dessen Lebenswerk man auch noch mal neu betrachten müsste, seit man weiß, dass es relativ unmittelbar zu Jan Böhmermann geführt hat, war 2019 in einem ORF-Interview auffällig geworden, in dem er moderne Väter als „Familientrottel“ bezeichnete (damals sehr schön dokumentiert und gekontert von Martin Benninghoff im F.A.Z.-Familienblog). Wenn Schmidt von „Daddy Weichei“ spricht und Lanz mit hörbarer Distanzierung von „Work-Life-Balance“, wüsste man gerne, was deren Kinder dazu sagen — und hat den Verdacht, dass es interessanter sein könnte als das, was ihre Väter seit Jahren so von sich geben.

Auch eine Umfrage in Prechts Familie wirkt verlockend: Vielleicht hätten Eltern und Großeltern „die Sinnfrage“ ja doch ganz gerne mal gestellt? Ich hab sicherheitshalber mal in der Wikipedia nachgeguckt, in was für Verhältnissen der Mann aufgewachsen ist:

Sein Vater, Hans-Jürgen Precht, war Industriedesigner bei dem Solinger Unternehmen Krups; seine Mutter engagierte sich im Kinderhilfswerk Terre des hommes. Richard David Precht hat vier Geschwister; zwei davon sind vietnamesische Adoptivkinder, die seine Eltern 1969 und 1972 als Zeichen des Protests gegen den Vietnamkrieg aufgenommen haben.

Okay, das hätte ich nach der Anmoderation nicht erwartet. (Bonustrack des Wikipedia-Eintrags: Die Antwort auf die Frage, wie man sich eigentlich das Adjektiv „selbstgefällig“ bildlich vorzustellen habe.) Irritierender ist aber noch, dass Precht, der ja gerne als „Philosoph“ wahrgenommen werden will, positiv hervorhebt, dass niemand „die Sinnfrage“ gestellt habe. (Auch das kann natürlich wieder Sinn ergeben: Wenn in seiner Familie wirklich nicht viel gedacht worden wäre, hätte er mit dem bisschen, was er so an Selbstgedachtem präsentiert, natürlich ordentlich auftrumpfen können.)

Eigentlich sollte man Mitleid haben mit Menschen, die so denken. Die gesellschaftlichen Fortschritt nicht als solchen begreifen, sondern als Degeneration. Die eine Art Stockholm-Syndrom entwickelt haben, gegenüber der „Leistungsgesellschaft“ und gegenüber ihren Vorfahren, die sich oft genug derart abgeracktert haben, dass am Ende nicht nur keine balance übrig war, sondern mitunter auch gar kein life mehr. Wer so denkt, befindet sich bereits weit unten auf einer abschüssigen Ebene, die mit Schmierseife eingerieben ist und hinführt zum Satz: „Manchmal haben mir meine Eltern auch eine verpasst, aber das hat mir auch nicht geschadet.“

Von meinem Urgroßvater ist überliefert, dass er als Kind bei Tisch nur sprechen durfte, wenn er angesprochen wurde, und Vater und Mutter zu Siezen hatte. Ihre eigenen Kinder erzog diese Generation dann auf Grundlage des nationalsozialistischen Erziehungsratgebers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, deren größte Sorge es war, dass das Kind „verweichlicht“ — ein Buch, das auch in der Nachkriegszeit noch als Klassiker der Erziehungsliteratur galt, ehe es vom nächsten Bestseller abgelöst wurde, der wieder propagierte, dass man Kinder am Besten alleine lässt, wenn sie Nähe brauchen. Naheliegend, dass man, wenn man so aufgewachsen ist, „gefühlig“ für ein Schimpfwort hält.

Es ist eine Sache, wenn man sich in der Vergangenheit geirrt hat: Als die ersten Zigaretten aufkamen, konnte man allenfalls ahnen, wie schädlich Rauchen sein würde (damals mutmaßlich auch nicht schädlicher als die normale Atemluft einer Industriestadt); Atomstrom galt mal als Versprechen einer „sauberen Zukunft“ und Heroin war mal für kurze Zeit das Wundermedikament der Firma Bayer. Aber eine Idee, die sich im Nachhinein als schlecht herausgestellt hat, noch zu feiern, dafür bedarf es schon einiger Energie, die man besser anderweitig investiert. (Oder man wählt am Ende doch Friedrich Merz zum Parteivorsitzenden.)

Es sind schöne Erwiderungen auf Lanz und Precht geschrieben worden, zum Beispiel von Birgitta Stauber-Klein (Ein Doppelname! Feiertag für alle Hobby-Komiker!) in der „WAZ“ und von Christian Spiller im Sportteil von „Zeit Online“. Aurel Merz hat ein schönes, kurzes Video auf einem Junge-Leute-Portal namens TikTok gepostet. Die Begriffe „Boomer“ (Lanz ist streng genommen Generation X, aber ich sehe bei ihm auch keine Verbindung zu Ethan Hawke) und „deutsch“ tauchen immer wieder auf, aber auch „Generationenkonflikt“.

Und tatsächlich gibt es ja genug ältere Herren, die es als Aufmerksamkeitsgarantie (der Begriff „Alleinstellungsmerkmal“ verbietet sich komplett) erkannt haben, onkelhaft über jüngere Menschen und deren Themen sprechen. Sie gefährden dabei offenbar gerne den eigentlich positiven Ruf, den sie bei den jüngeren Generationen hatten, um noch eine vielleicht letzte Runde Schulterklopfen bei ihren Altersgenossen zu ernten. (Ich verzichte in diesem Absatz auf gendergerechte Sprache — nicht, um die Nerven der Angesprochenen zu schonen, sondern weil es eigentlich fast immer Männer sind. Aus Gründen der Ausgewogenheit möchte ich trotzdem sagen: Alice Schwarzer, Gloria von Thurn und Taxis.) Man kann nun milliardenfach daran erinnern, dass Satire sich ja „eigentlich“ immer gegen „die da oben“ richte, aber für Harald Schmidt, Dieter Nuhr (und im erweiterten Sinne auch: Thomas Gottschalk, Jürgen von der Lippe und am Ende alle Leute, die unter einem Artikel bei Welt.de kommentieren) sieht es so aus, als sei das, was sie irgendwie falsch, lächerlich oder bedrohlich finden, gesamtgesellschaftlich dominant.

Wenn man sich durch bestimmte Gegenden deutscher Großstädte bewegt, wird man dort halt auf „Mitt- bis Enddreißiger mit Struwwelpudelmütze“ (Schmidt; ich fühle mich ertappt, kann damit aber gut umgehen) oder eben „nahezu alle jungen Menschen“ (Precht) treffen, die dort vor allem deshalb Zeit mit ihren Kindern verbringen, weil es ihnen finanziell möglich ist und sie die oft zu erwartenden Widerstände von Seiten der Arbeitgeber auszuhalten bereit sind. Aber schon dieser Eindruck ist ein Zerrbild: 2022 haben Frauen durchschnittlich 14,6 Monate Elternzeit beantragt, Männer nur 3,6. Schon ein paar Straßen weiter kann es ganz anders aussehen. (Wobei ich da auch vor allzu vereinfachenden Gedanken warnen möchte: Vielleicht ist es in einem eher linken, akademischen Milieu weiter verbreitet, auf die eigenen Bedürfnisse und – vor allem – die seiner Kinder zu achten, aber ich erlebe es regelmäßig im Fußballverein des Kindes, dass andere Eltern, die man der „Arbeiterklasse“ zurechnen würde, ebenfalls sehr sensibel auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und die Leistung auf dem Platz nicht im Vordergrund steht. Mario Basler würde es hassen.)

Aber klar: Wenn man in ein urbanes Café geht und da Eltern sitzen, die ihre Kinder nicht durchgehend zurechtweisen, und man dazu vielleicht noch jede Menge Witze zu anti-autoritärer Erziehung (schlag den Unterschied nach, Jürgen!) im Stehsatz hat, sieht man mit jedem Hafermilch-Kaffee den Untergang der Welt – wenn nicht gar den der deutschen Wirtschaft – auf sich zukommen. So, wie die Leute, die mit der Straßenbahn zum Jobcenter fahren, um dort entwürdigende Fragen über sich ergehen lassen zu müssen, auch irgendwann denken, dass das ganze Land voller „Ausländer“ ist, weil sie in ihrem Alltag eben vor allem Menschen sehen, die „anders“ ausschauen, und sehr wenige Rechtsanwälte, die mehrere Mietshäuser haben, BMW fahren und FDP wählen.

Lanz’ Vortrag in dem Ausschnitt erinnert nur an eine unterdurchschnittliche Büttenrede, Prechts verallgemeinerndes „Wunschkonzert“-Geblubber macht mich wirklich wütend. Dafür habe ich zu viele Freund*innen immense Herausforderungen und Tiefschläge überwinden sehen, um mir diese Pauschal-Beleidigungen eines Millionärs anzuhören, der in jungen Jahren sicherlich oft genug gefragt wurde, ob er eigentlich studiere, um dann Taxi zu fahren. Fehlt wirklich nur noch, dass auch er von „Verweichlichlung“ spricht!

Die These, dass „früher“ alles besser gewesen sei, vor allem der Journalismus, wurde nahezu zeitgleich zum Hafermilch-Eklat von einem früheren Journalisten widerlegt, der sich im Ruhestand offenbar so sehr gelangweilt hatte, dass er sich für eine letzte Runde Applaus von Seiten der AfD und anderer Reaktionär-Katastrophen noch einmal in die Manege erbrach. Ich bin ja grundsätzlich bereit, über alles zu diskutieren, aber wenn im zweiten Absatz das Adjektiv „linksgrunzend“ auftaucht wie in einem „Welt“-Leser-Kommentar, was für eine Diskussionsgrundlage soll ich da noch annehmen? Dafür ist mir dann, Hashtag Work-Life-Balance, wirklich meine Lebenszeit zu kostbar.

Und dann ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass so ein bisschen Generationenkonflikt vielleicht gar nicht so schlecht ist — wie soll man denn sonst als Gesellschaft weiterkommen? Ich lese gerade endlich mal „Die Palette“ von Hubert Fichte; ein Buch, das 1968 erschienen ist. Und dann fiel mir auf: Dieses mystische Jahr 1968 ist vom Kriegsende so weit entfernt wie wir heute vom Jahr 2000. Das ist einige Krisen (9/11, Finanzkrise, Ukraine-Krieg, COVID-19-Pandemie) her, aber erscheint selbst mir, der ich damals 16 war, gar nicht so weit weg. Die 20-Uhr-„Tagesschau“ vom 14. August 2000 wurde von Jens Riewa verlesen und ihre Themen waren: das russische Militär, ein beleidigter Altkanzler, Rechtsextremisten im Internet, besserer Mobilfunk, Umweltschutz und Nordkorea. (Okay, das war jetzt der Pointe wegen etwas vereinfacht. Es ging um den Untergang des russischen Atom-U-Boots „Kursk“, die Nicht-Teilnahme von Helmut Kohl an der Feier zum Tag der deutschen Einheit, ein geplantes NPD-Verbot, die Versteigerung der UMTS-Lizenzen, die Schließung einer Bleischmelze im Nordkosovo, die Verbindungsbüros zwischen Nord- und Südkorea und noch einige andere Themen wie die vorzeitige Haftentlassung des Kaufhaus-Erpressers „Dagobert“.)

Wenn Menschen und Medien heute – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Anekdote wie dem Auftritt von Lanz und Precht – behaupten, eine solche gesellschaftliche Spaltung habe es noch nie gegeben, bestätigt das einmal mehr meine These, dass wir in Deutschland mehr Geschichtsunterricht brauchen: Stichwort Wiederbewaffnung, Stichwort 1968, Stichwort RAF, Stichwort Umweltbewegung. Oder einfach überhaupt mal: Rock’n’Roll! (Oder, wie Thomas Gottschalk es nennt: „Noch richtige Musik.“) Das waren noch Konflikte, die Familien auseinandertrieben!

Deutschland ist in 16 Jahren unter Angela Merkel so durchschnittlich und lauwarm geworden, dass es manchen Leuten als linksradikal gilt, die Umbenennung fragwürdiger Straßennamen zu fordern, und als rechts, Fleisch zu essen. Auch, weil jede Nischen-Position (von denen es immer schon viele gab) heute medial aufgeblasen und zur Glaubensfrage hochphantasiert wird. Und war nicht meine Generation, die Generation Y, am Ende viel zu nett? Da ist es doch gut, wenn die Generation Z jetzt mal ein bisschen auf den Tisch haut! Für Leute wie Lanz, Precht oder Schmidt sind wir wahrscheinlich eh alle eine uniforme, irgendwie „jüngere“ Masse, die in geschlechtsneutralen Badezimmern mit Asterisken und Hafermilch die deutsche Wirtschaft schwächen.

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Film Fernsehen

Streaming-Tipps Juni 2023

Bevor ich mich mutmaßlich bald bei Netflix abmelde, habe ich mal ein paar Sachen von meiner „Das wolltest Du Dir irgendwann vielleicht mal angesehen haben“-Liste geschaut: Den Film „Die Schlacht um die Schelde“, die zweitteuerste niederländische Produktion aller Zeiten, hatte ich aus zwei Gründen sehen wollen: zum einen, um mein Niederländisch zu trainieren, zum anderen, weil die titelgebende Schelde bei Walcheren in die Nordsee mündet, also dort, wo ich seit Jahrzehnten am Liebsten meine Urlaube verbringe. Die Schlacht an der Scheldemündung diente der Befreiung des Hafens von Antwerpen, den die Westalliierten für ihre Nachschubversorgung brauchten, und war insofern eine der vielen entscheidenden Schlachten des 2. Weltkriegs. Zwischen „Der Soldat James Ryan“-ähnliche Schlachtenszenen erzählt der Film eher kleine, alltägliche Dramen, die in keinem Geschichtsbuch vorkommen würden, von denen man aber annehmen muss, dass es sie tausendfach gegeben hat. Unter anderem wird der Topos „charismatischer Nazi“ von Justus von Dohnanyi hier noch mal sehr gruselig neu mit Leben gefüllt. Tatsächlich wird in dem Film weniger Niederländische gesprochen als Deutsch und Englisch (in der deutschen Synchronfassung sprechen mutmaßlich wieder alle die ganze Zeit Deutsch, weil das halt immer so ist), aber ich fand ihn schon recht beeindruckend und bedrückend.

Ebenfalls bei Netflix läuft die 40-minütige Dokumentation „The Martha Mitchell Effect“. Martha Mitchell war die Ehefrau von John N. Mitchell, dem Wahlkampfmanager Richard Nixons und späterem US-Justizminister, und als der Watergate-Skandal begann, begann sie sofort, Präsident Nixon selbst zu beschuldigen. Martha Mitchell wurde von den mächtigen Männern in Washington diskreditiert und als alkoholkranke mad woman abgestempelt. Ihr Ruf und ihre Ehe waren ruiniert, sie starb bald darauf — und fast alle Vorwürfe, die sie erhoben hatte, stellten sich im Nachhinein als wahr heraus (die anderen gelten als noch nicht bestätigt). Auch dieser Film ist beeindruckend und bedrückend und auch handwerklich sehr gut gemacht.

Auch der Dokumentarfilm „Circus Of Books“ läuft auf Netflix. Die Regisseurin Rachel Mason erzählt hier die Geschichte ihrer Eltern Karen und Barry, die als jüdisches Hetero-Paar einen der bedeutendsten Läden für schwule Literatur und Pornografie in LA betrieben haben. Wie es dazu kam, ist absurd; wie sich konservative Politik und die AIDS-Epidemie auf die Arbeit und das Leben der Familie auswirkte, ist erschütternd; und welche Folgen das Internet und Dating Apps für das Geschäft haben, kann man sich ausmalen. Dies alles aus nächster Nähe von der Familie geschildert zu bekommen, ist sehr beeindruckend.

Bei Disney+ schließlich habe ich „In & Of Itself“ gesehen. Ich hatte schon einiges darüber gehört, meist verbunden mit dem Hinweis, dass man nicht erklären könne, was das sei. Das stimmt. Formal ist es der Mitschnitt einer Show des Zauberers Derek DelGaudio, die 552 mal in einem kleinen Theater in New York City zur Aufführung gekommen war. DelGaudio zeigt darin Taschenspielertricks, er erzählt Teile seiner Lebensgeschichte und sorgt später für im vielfachen Sinne magische Momente. Es ist für Zauberei in etwa das, was „Nanette“ von Hannah Gadsby für Comedy ist: eine völlige Dekonstruktion und ein Sprung auf die nächste Daseinsstufe (und das exakte Gegenteil von den Ehrlich Brothers bzw. Mario Barth). Ich kann es leider auch nicht erklären, aber darum geht es ja: Im Sinne von Elisabeth Kübler-Ross bin ich recht schnell von denial zu acceptance gesprungen und habe gar nicht mehr versucht, zu verstehen, wie die Tricks funktionieren könnten. Ich war Fox Mulder: I want to believe. Selbst wenn Euch Zauberei gar nicht interessiert, solltet Ihr Euch „In & Of Itself“ anschauen! (Nicht zuletzt, weil es eine wahnsinnig spannende Erfahrung ist, von einer title card aufgefordert zu werden, sein Handy wegzulegen und alle Ablenkung zu unterlassen.)


Dieser Text erschien zuerst in meinem Newsletter, für den man sich hier anmelden kann.

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Musik Fernsehen

Eurovision-Vorschau 2023

Am 9., 11. und 13. Mai findet in Liverpool der diesjährige Eurovision Song Contest statt. Grund genug für eine kleine, aber intensive Vorschau!

Lukas Heinser, Selma Zoronjić und Peter Urban, der in diesem Jahr zum 25. und letzten Mal den ESC kommentieren wird, stellen ihre persönlichen Highlights vor, sprechen über gesamteuropäische Stimmungen, musikalische Traditionen und wackelnde Baugerüste.

Good evening, Europe! Let the 2023 Eurovision-Vorschau begin!

Hier klicken, um den Inhalt von Spotify anzuzeigen.
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Alle Songs:

  • La Zarra – Évidemment (Frankreich)
  • Mia Nicolai & Dion Cooper – Burning Daylight (Niederlande)
  • Wild Youth – We Are One (Irland)
  • Marco Mengoni – Due Vite (Italien)
  • Blanca Paloma – Eaea (Spanien)
  • Reiley – Breaking My Heart (Dänemark)
  • Teya & Salena – Who The Hell Is Edgar? (Österreich)
  • Mae Muller – I Wrote A Song (Vereinigtes Königreich)
  • Let 3 – Mama ŠČ! (Kroatien)

Shownotes:

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Don’t mention the war

1940 sagte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel über den deutschen Diktator Adolf Hitler, dessen Armee gerade Frankreich und die BeNeLux-Staaten überrannt hatte, dieser sei der „größte Feldherr aller Zeiten“. Nach der verheerenden Niederlage in der Schlacht um Stalingrad machte diese Formulierung in der deutschen Bevölkerung mit eher sarkastischer Konnotation die Runde und Hitler wurde in Anlehnung an den Abkürzungswahn, der Deutsche seit Jahrhunderten umtreibt, zum „GröFaZ“ erklärt.

Man darf davon ausgehen, dass die Formulierung – anders als das „Tausendjährige Reich“ – die Jahrzehnte überdauert hat, denn im November 2007 sagte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble auf dem Höhepunkt der öffentlichen Diskussion um die sog. Vorratsdatenspeicherung laut „taz“:

„Wir hatten den ‘größten Feldherrn aller Zeiten’, den GröFaZ, und jetzt kommt die größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten“

Schäuble schaffte es damit in meine Liste der Nazi-Vergleiche, die es damals zu einer gewissen Popularität in der deutschen Blogosphäre brachte, später mit Ergänzungen in Daniel Erks Buch „So viel Hitler war selten“ für die Nachwelt festgehalten wurde und inzwischen auch schon 15 Jahre alt ist.

Man könnte also schlussfolgern, dass die Formulierung „größter Irgendwas aller Zeiten“ in Deutschland mit einer gewissen Vorsicht verwendet werden sollte. Besonders, wenn es um Deutschland geht. Oder Krieg.

Und damit kommen wir zur gestrigen Berichterstattung von Bild.de über die Oscar-Verleihung und den deutschen Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“:

Holen wir heute unseren größten Oscar aller Zeiten?

Das ist kompositorisch schon nah an der Perfektion (wenn man unter „Perfektion“ auch Dinge versteht wie eine überlaufende Toilette, die die ganze Wohnung in Mitleidenschaft zieht): der Soldat mit Stahlhelm; das fröhlich dummstolze Stammtisch-„Wir“, das „Bild“ immer hervorholt, wenn gerade Fußball-WM ist oder ein Papst gewählt wird; die Formulierung an sich — und natürlich das Gold drumherum.

Im Artikel fasst der Bild.de-Autor seine Eindrücke vom Film so zusammen:

Die Regie genial. Die Kamera anbetungswürdig. Das Szenenbild: Einfach nur krass.

„Okay“, hätte ich gesagt. „Das passiert, wenn man Berufseinsteiger um die 25 Texte schreiben lässt: Die Sprache ist etwas umgangssprachlicher und sie verwenden aus Versehen Formulierungen, für die ihnen im entscheidenden Moment die Goldwaagen-App auf dem Smartphone fehlt.“

Stellt sich raus: Der Text ist von Bild.de-Redakteur Ralf Pörner. Und der müsste inzwischen 60 sein.

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Digital

Woher kennen wir uns?

Seit Jahren sammeln wir Kontakte auf Social Media — zum Teil von Menschen, die wir schon lange im echten Leben kennen, zum Teil, weil man sich bei Projekten oder in anderen Zusammenhängen kennengelernt hat und das „Folgen“ oder „Anfreunden“ den Austausch von Visitenkarten ersetzt hat. Manchmal sind es auch Wildfremde, die man erst im Laufe der folgenden Interaktionen kennenlernt.

In meinem neuen Podcast „Woher kennen wir uns?“ unterhalte ich mich mit diesen „Freund*innen“, um herauszufinden, wie gut wir uns eigentlich kennen, was sie beruflich machen, und welche Rolle Soziale Medien in ihrem Leben spielen.

In der ersten Folge spreche ich mit Susan Link, die sonst das „ARD-Morgenmagazin“ und den „Kölner Treff“ moderiert. Wir unterhalten uns über Aufstehzeiten und über Dinge, die man müde nicht tun sollte. Sie erzählt, dass sie ursprünglich Kriminalkommissarin werden wollte und wie sie stattdessen beim Radio gelandet ist; was Social Media mit Hauswänden gemein hat und was in den Interview-Handwerkskasten gehört — denn von ihr möchte ich lernen, wie man so Interviews überhaupt führt.

Als Bonus erzählen wir uns gegenseitig Backstage-Informationen über Micky Beisenherz und Peter Urban.

„Woher kennen wir uns?“, Folge 1 mit Susan Link

„Woher kennen wir uns?“ erscheint ab heute Freitags auf Apple Podcasts, Spotify, allen anderen gängigen Podcast-Portalen und auf meiner Website. Der Podcast wurde gefördert durch ein Künstlerstipendium im Rahmen der NRW-Corona-Hilfen.

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Digital

15 Jahre Super-Selbstreferentialität

Heute vor 15 Jahren ging hier mein Blog an den Start — oder damals noch „unser Blog“, denn wir hatten das Ding mit einigen Leuten als Gemeinschaftsprojekt geplant (sicherer Lacher: „Dann hat man direkt acht Leser*innen“) und keinen geringeren Anspruch als „das Medium zu machen, dass wir selbst gerne lesen würden“. Das hat alles so mittelgut geklappt.

Coffee And TV 2007 (Screenshot)

Es war die Zeit vor Social Media, Podcasts und so, es gab das Gemeinschaftsgefühl einer sogenannten „Blogosphäre“ und wir waren wirklich so unverfroren zu glauben, dass wir damit die Medienwelt ändern könnten.

Ich habe keine Ahnung, woher ich damals die Energie genommen habe, mich tagein, tagaus an „RP Online“, Nazi-Vergleichen und Barack-Obama-Ranschmissen abzuarbeiten und auch noch jeden Monat Alben, Songs und Filme zu empfehlen. Ich vermute, ich war einfach jung und hatte damals kein besonders aufregendes Leben.

Ohne dieses Blog hätte mich Stefan Niggemeier wahrscheinlich nie gefragt, ob ich mit ihm 42 ESC-Songs besprechen möchte, und er hätte mich nie zum BILDblog geholt. Der Rest ist Geschichte (und ein Buch, das in 18 Tagen erscheint).

Wenn wir daraus also irgendwas lernen können, dann das, was Steve Jobs schon 2005 den Absolvent*innen in Stanford gesagt hatte: „You can’t connect the dots looking forward; you can only connect them looking backward. So you have to trust that the dots will somehow connect in your future.“

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Musik Fernsehen

Peter Urban FAQ 2021

Heute Abend ist es wieder soweit: Mit der Ausstrahlung des 1. Halbfinals (21 Uhr, One) beginnt auch im Fernsehen der Eurovision Song Contest 2021.

Der Blick aus der deutschen Sprecherkabine beim ESC 2021.

Ich sitze seit 2013 neben Peter Urban in der deutschen Sprecherkabine und assistiere ihm bei den Vorbereitungen und während der Sendung. Und weil in den letzten Jahren auf den diversen Social-Media-Plattformen verschiedene Fragen immer wieder gestellt wurden, habe ich diese einfach mal gesammelt und beantwortet.

Good evening, Europe! Here are the results for the Peter Urban FAQ:

Was macht Peter Urban den Rest des Jahres?
Er moderiert die Musiksendung “NDR 2 Soundcheck — Die Peter-Urban Show” und seit Anfang des Jahres den Musik-Podcast „Urban Pop“.

Wann geht Peter Urban in Rente?
Am 26. Juni 2013 wurde Peter beim NDR offiziell in den Ruhestand verabschiedet. Seitdem ist er als freier Mitarbeiter weiter für den Sender tätig, moderiert seine Radiosendungen, den Podcast und kommentiert den ESC.

Was weiß Peter Urban überhaupt von Musik?
Nun: Er hat seine Doktorarbeit über Texte in der Rockmusik verfasst („Rollende Worte – Die Poesie des Rock“, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt, 1979), arbeitet seit mehr als 50 Jahren als Musikjournalist und spielt seit über 40 Jahren in der Band Bad News Reunion.

Liest Peter Urban auf Twitter mit?
Nein. Während der Show hat er für sowas gar keine Zeit. Allerdings twittere ich auf meinem Account live aus der deutschen Sprecherkabine und werfe dabei auch ein Auge auf andere Tweets.
Wenn Peter Urban etwas Ähnliches sagt, wie gerade jemand auf Twitter geschrieben hat, ist das Zufall: manche Kommentare sind eben naheliegend, die meisten von Peters Texten werden aber schon nach den Proben und vor der Liveshow geschrieben und ausgedruckt.

Hat Peter Urban einen Twitter-Account?
Ja, Peter ist auf Twitter. Und auf Instagram. (Allerdings ist er während der Shows natürlich beschäftigt.)

Warum ist Peter Urban dieses Jahr nicht in Rotterdam?
Peter gehört mit Blick auf eine mögliche Covid 19-Infektion zur Hochrisikogruppe und verfügt noch nicht über einen vollständigen Impfschutz. Um keine unnötigen Risiken einzugehen, wird er die drei Sendungen deshalb auf eigenen Wunsch ausnahmsweise von Hamburg aus kommentieren. Wir stehen aber auf verschiedenen Kanälen in engem Austausch und ich fungiere sozusagen als seine Augen und Ohren in der Ahoy Arena.

Kann Peter Urban nicht mal die Klappe halten?
Was ist das denn für ‘ne Frage? Aber wenn Sie die Sendungen ohne Kommentar verfolgen wollen, können Sie das z.B. auf eurovision.de oder eurovision.tv tun.

Der Eurovision Song Contests 2021 aus Rotterdam — die Sendetermine:

  • Dienstag, 18. Mai, 21 Uhr: Erstes Halbfinale auf One, in der ARD-Mediathek und auf eurovision.de
  • Donnerstag, 20. Mai, 21 Uhr: Zweites Halbfinale auf One, in der ARD-Mediathek und auf eurovision.de
  • Samstag, 22. Mai, 20.15 Uhr: Die große Pre-Show im Ersten, ab 21 Uhr dann das Finale, live aus Rotterdam (außerdem in der ARD-Mediathek, auf eurovision.de, im Auslandsprogramm der Deutschen Welle und als „Social-TV“ auf One)
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Print Digital

Blogging like it’s 2007

Nächste Woche wird dieses Blog 14 Jahre alt. Gerade in der Anfangsphase, als hier noch richtig viel los war, es ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der damals sogenannten Blogosphäre gab, und wir alle die Hybris hatten, zu glauben, Blogs könnten den Journalismus verändern (womöglich gar zum Besseren), habe ich mich öfter darüber aufgeregt, dass Online-Medien über Blogs schrieben, ohne sie zu verlinken (und das in einem Tonfall, der sich im Nachhinein allenfalls mit „jugendlicher Übermut“ erklären lässt).

Inzwischen sind „Blogger“ Menschen, die auf Instagram teure Uhren in die Kamera halten; der Journalismus hat ungefähr alles, was am Internet immer schon schlecht war, übernommen; aber immerhin findet man inzwischen selbst in vielen Print-Medien QR-Codes, mit deren Hilfe man auf im Text erwähnte Internetseiten gelangen kann.

So gesehen ist der Text, den der „Spiegel“ vor zwei Wochen über eine Ausstellung über die First Ladies der US veröffentlichte, ziemlich oldschool:

Sie war im November kurz zu sehen, bevor das Museum wegen der Pandemie schließen musste. Die Onlineversion der Schau belegt die Aktualität von Gebräuchen und Phänomenen aus nur vorgeblich alten Zeiten.

Japp: Da wird auf die Onlineversion einer Ausstellung verwiesen und es gibt keinen QR-Code und keine URL, die dorthin führt.

„Die Leser*innen in Deutschland könnten die Ausstellung ja schließlich auch nicht sehen, wenn sie im Museum hängt“, möchte mein 23-jähriges Ich ergänzen.

Mein 37-jähriges Ich ist einfach so nett und schreibt: „Every Eye Is Upon Me: First Ladies of the United States“ ist auf der Seite der National Portrait Gallery zu sehen.

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Rundfunk

Cinema And Beer: Die Folge für 2020

Seit 2012 machen Tom Thelen und Lukas Heinser „Cinema And Beer“: Erst gehen sie ins Kino, dann in eine Kneipe, um beim Bier über das gerade Gesehene zu sprechen. Jedes Jahr gab es mindestens eine Folge dieses Erfolgspodcasts — dann kam 2020 …

… und sie nahmen trotzdem eine auf! Ohne Kino, ohne Bier, aber mit jeder Menge Empfehlungen für Zeugs, was man während der Feiertage und des Lockdowns so bingen kann. „Zwei weiße Dudes reden über Serien — Der Podcast“! Unser Weihnachtsgeschenk für Euch!

Shownotes: