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Wo Hafer und Korn verloren sind

In den letz­ten Wochen ging ein kur­zes Video viral, das die bei­den Medi­en­per­sön­lich­kei­ten Mar­kus Lanz (* 1969) und Richard David Precht (* 1964) auf dem „Kon­gress Zukunft Hand­werk“ zeigt – ansons­ten aber ganz in ihrem Ele­ment, der gegen­sei­ti­gen Zustim­mung:

Lanz: „[…] so ’ne gefüh­li­ge Gesell­schaft gewor­den. Ja, so ’ne Hafer­milch-Gesell­schaft, so ’ne Gua­ven­dick­saft-Trup­pe, die wirk­lich die gan­ze Zeit auf der Suche nach der idea­len Work-Life-Balan­ce ist.“

[Schnitt.]

Precht: „Also, ich wür­de sogar noch etwas radi­ka­ler sein. Ich wür­de sagen: In der Gene­ra­ti­on mei­ner Eltern, erst recht mei­ner Groß­el­tern, haben sich 90 Pro­zent aller Men­schen, wenn sie gear­bei­tet haben, die Sinn­fra­ge gar nicht erst gestellt. Jetzt sieht es natür­lich so aus, dass nahe­zu alle jun­gen Men­schen ins Leben gehen unter der Vor­stel­lung, das Leben ist ein Wunsch­kon­zert. Was ist die Fol­ge? Ja, Du fängst was an und beim ers­ten lei­sen Gegen­wind denkst Du: Nee, nee, das war das Fal­sche; schmeißt die Flin­te wie­der ins Korn.“

Die­ser Aus­schnitt hat zu einer gan­zen Rei­he öffent­li­cher Äuße­run­gen geführt, hier ist die nächs­te:

Ich habe natür­lich nicht den gan­zen Auf­tritt der bei­den gese­hen, denn wenn ich zwei Män­ner sehen will, die ein­an­der, vor allem aber sich selbst, geil fin­den, gucke ich mir weich­ge­zeich­ne­te Schwu­len-Por­nos an.

Als ers­tes muss man Lanz ver­mut­lich dank­bar sein, dass er nicht von „Algar­ven-Dick­saft“ gespro­chen hat.

Dann muss man aner­ken­nen, dass er sei­nen Barth ziem­lich genau stu­diert hat. „Hafer­milch“ ist in gewis­sen Krei­sen schließ­lich das, was „Schuh­ge­schäft“ in ande­ren ist: eine Abkür­zung zum Geläch­ter, die mecha­ni­sche Aus­lö­sung eines Refle­xes anstel­le einer aus­ge­ar­bei­te­ten Poin­te. Der Dum­me August tritt dem Weiß­clown in den Hin­tern und Grund­schul­kin­der quie­ken ent­zückt auf – wobei wir noch klä­ren müs­sen, wer in die­sem Aus­schnitt eigent­lich wel­che Rol­le ein­nimmt (ich per­sön­lich wür­de sagen: Es gibt außer­halb von Tier­quä­le­rei im Cir­cus nichts Schlim­me­res als den Weiß­clown, von daher sind ein­fach bei­de einer).

Ich möch­te eigent­lich nicht den glei­chen Feh­ler bege­hen wie Lanz, Precht und die Leu­te, die ihnen zustim­men, und gleich ad homi­nem gehen. Nur: So viel ande­res als ihre Per­sön­lich­kei­ten (oder zumin­dest ihre öffent­li­chen per­so­nae) haben die bei­den ja gar nicht zu bie­ten. Bei­de wir­ken wie die Per­so­ni­fi­zie­run­gen des Apho­ris­mus (und fal­schen Karl-Kraus-Zitats), wonach bei nied­rig ste­hen­der Son­ne der Kul­tur auch Zwer­ge lan­ge Schat­ten wür­fen. Sie sind – ob aus Zufall, Kal­kül, Patri­ar­chat oder schlich­tem Ver­se­hen – im Lau­fe der Zeit zu dem gewor­den, was sich sprich­wört­li­che Durch­schnitts­deut­sche unter einem Jour­na­lis­ten und einem Phi­lo­so­phen vor­stel­len. Schon allein das ist unge­fähr so absurd, als ob die­se Pro­to­ty­pen in den 1990er Jah­ren mit Hans Mei­ser und Hel­mut Mark­wort besetzt wor­den wären.

Wenn man sich den Aus­schnitt ganz genau anguckt, wird man den Ein­druck nicht los, dass der Sit-Down-Come­di­an Lanz die Begrif­fe „Hafer­milch-Gesell­schaft“ und „Gua­ven­dick­saft-Trup­pe“ von lan­ger Hand vor­be­rei­tet hat (oder vor­be­rei­ten hat las­sen) und das stol­ze Grin­sen unter­drü­cken muss, als sie beim Publi­kum den erhoff­ten Erfolg erzie­len. Er ist da ganz wie in sei­ner Fern­seh­sen­dung: wahn­sin­nig gut vor­be­rei­tet und des­halb so natür­lich wie ein Ver­si­che­rungs­mak­ler kurz nach Beginn der Aus­bil­dung. Es ist mir ein Rät­sel, wie­so Anna­le­na Baer­bock stän­dig vor­ge­wor­fen wird, wie eine „Schü­ler­spre­che­rin“ auf­zu­tre­ten, Mar­kus Lanz aber immer so eil­fer­tig rum­amtho­ren darf, ohne dass sei­ne Gesprächspartner*innen ihn ein­fach anschrei­en (bzw. natür­lich kein Rät­sel, son­dern ein Patri­ar­chat).

„Hafer­milch“ ist dabei das, was „Soja­milch“ vor zwölf Jah­ren war und davor „Lat­te Mac­chia­to“: ein angeb­lich suspek­tes Getränk, das von Men­schen getrun­ken wird, die man irgend­wie ablehnt.

Schon die­se Milch-Obses­si­on schreit ja eigent­lich direkt nach einer Freu­dia­ni­schen Ein­ord­nung – gera­de bei einem Mann mit so einer Kon­dens­milch-Men­ta­li­tät wie Lanz. Da will man direkt kon­tern: „Ech­te Män­ner sind für mich nur die, die von einer Wöl­fin gesäugt und auf­ge­zo­gen wur­den!“ Oder: „Wenn Du mor­gens um fünf auf­stehst, um oben auf der Alm die Kühe zu mel­ken, kön­nen wir über mei­nen Hafer­milch-Kon­sum spre­chen, aber ansons­ten sei ein­fach still!“ Unlus­ti­ger kann’s eigent­lich nur noch wer­den, wenn als nächs­tes jemand sagt: „Bie­le­feld gibt’s ja gar nicht!“

Humor­theo­re­tisch steht die Hafer­milch dabei in der Tra­di­ti­on des Din­kel-Brat­lings, mit dem Komiker*innen in den 1980er und 90er Jah­ren reüs­sie­ren konn­ten. Man könn­te jetzt erwi­dern, dass vege­ta­ri­sche oder vega­ne Ersatz­pro­duk­te im Lau­fe der Jahr­zehn­te eine Ent­wick­lung durch­ge­macht haben, die man auch dem deut­schen Humor gön­nen wür­de, aber da wür­de man schon wie­der den grund­sätz­li­chen, kapi­ta­len Feh­ler bege­hen und sich in ein argu­men­ta­ti­ves Gespräch stür­zen, wo von der Gegen­sei­te nun wirk­lich kei­nes gewünscht ist.

Lanz hat aber nicht nur sei­nen Barth stu­diert, son­dern auch sei­nen Schmidt: Der eins­ti­ge deut­sche Groß-Humo­rist Harald Schmidt, des­sen Lebens­werk man auch noch mal neu betrach­ten müss­te, seit man weiß, dass es rela­tiv unmit­tel­bar zu Jan Böh­mer­mann geführt hat, war 2019 in einem ORF-Inter­view auf­fäl­lig gewor­den, in dem er moder­ne Väter als „Fami­li­ent­rot­tel“ bezeich­ne­te (damals sehr schön doku­men­tiert und gekon­tert von Mar­tin Ben­ning­hoff im F.A.Z.-Familienblog). Wenn Schmidt von „Dad­dy Weich­ei“ spricht und Lanz mit hör­ba­rer Distan­zie­rung von „Work-Life-Balan­ce“, wüss­te man ger­ne, was deren Kin­der dazu sagen – und hat den Ver­dacht, dass es inter­es­san­ter sein könn­te als das, was ihre Väter seit Jah­ren so von sich geben.

Auch eine Umfra­ge in Prechts Fami­lie wirkt ver­lo­ckend: Viel­leicht hät­ten Eltern und Groß­el­tern „die Sinn­fra­ge“ ja doch ganz ger­ne mal gestellt? Ich hab sicher­heits­hal­ber mal in der Wiki­pe­dia nach­ge­guckt, in was für Ver­hält­nis­sen der Mann auf­ge­wach­sen ist:

Sein Vater, Hans-Jür­gen Precht, war Indus­trie­de­si­gner bei dem Solin­ger Unter­neh­men Krups; sei­ne Mut­ter enga­gier­te sich im Kin­der­hilfs­werk Terre des hom­mes. Richard David Precht hat vier Geschwis­ter; zwei davon sind viet­na­me­si­sche Adop­tiv­kin­der, die sei­ne Eltern 1969 und 1972 als Zei­chen des Pro­tests gegen den Viet­nam­krieg auf­ge­nom­men haben.

Okay, das hät­te ich nach der Anmo­de­ra­ti­on nicht erwar­tet. (Bonus­track des Wiki­pe­dia-Ein­trags: Die Ant­wort auf die Fra­ge, wie man sich eigent­lich das Adjek­tiv „selbst­ge­fäl­lig“ bild­lich vor­zu­stel­len habe.) Irri­tie­ren­der ist aber noch, dass Precht, der ja ger­ne als „Phi­lo­soph“ wahr­ge­nom­men wer­den will, posi­tiv her­vor­hebt, dass nie­mand „die Sinn­fra­ge“ gestellt habe. (Auch das kann natür­lich wie­der Sinn erge­ben: Wenn in sei­ner Fami­lie wirk­lich nicht viel gedacht wor­den wäre, hät­te er mit dem biss­chen, was er so an Selbst­ge­dach­tem prä­sen­tiert, natür­lich ordent­lich auf­trump­fen kön­nen.)

Eigent­lich soll­te man Mit­leid haben mit Men­schen, die so den­ken. Die gesell­schaft­li­chen Fort­schritt nicht als sol­chen begrei­fen, son­dern als Dege­ne­ra­ti­on. Die eine Art Stock­holm-Syn­drom ent­wi­ckelt haben, gegen­über der „Leis­tungs­ge­sell­schaft“ und gegen­über ihren Vor­fah­ren, die sich oft genug der­art abge­rack­tert haben, dass am Ende nicht nur kei­ne balan­ce übrig war, son­dern mit­un­ter auch gar kein life mehr. Wer so denkt, befin­det sich bereits weit unten auf einer abschüs­si­gen Ebe­ne, die mit Schmier­sei­fe ein­ge­rie­ben ist und hin­führt zum Satz: „Manch­mal haben mir mei­ne Eltern auch eine ver­passt, aber das hat mir auch nicht gescha­det.“

Von mei­nem Urgroß­va­ter ist über­lie­fert, dass er als Kind bei Tisch nur spre­chen durf­te, wenn er ange­spro­chen wur­de, und Vater und Mut­ter zu Sie­zen hat­te. Ihre eige­nen Kin­der erzog die­se Gene­ra­ti­on dann auf Grund­la­ge des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Erzie­hungs­rat­ge­bers „Die deut­sche Mut­ter und ihr ers­tes Kind“ von Johan­na Haa­rer, deren größ­te Sor­ge es war, dass das Kind „ver­weich­licht“ – ein Buch, das auch in der Nach­kriegs­zeit noch als Klas­si­ker der Erzie­hungs­li­te­ra­tur galt, ehe es vom nächs­ten Best­sel­ler abge­löst wur­de, der wie­der pro­pa­gier­te, dass man Kin­der am Bes­ten allei­ne lässt, wenn sie Nähe brau­chen. Nahe­lie­gend, dass man, wenn man so auf­ge­wach­sen ist, „gefüh­lig“ für ein Schimpf­wort hält.

Es ist eine Sache, wenn man sich in der Ver­gan­gen­heit geirrt hat: Als die ers­ten Ziga­ret­ten auf­ka­men, konn­te man allen­falls ahnen, wie schäd­lich Rau­chen sein wür­de (damals mut­maß­lich auch nicht schäd­li­cher als die nor­ma­le Atem­luft einer Indus­trie­stadt); Atom­strom galt mal als Ver­spre­chen einer „sau­be­ren Zukunft“ und Hero­in war mal für kur­ze Zeit das Wun­der­me­di­ka­ment der Fir­ma Bay­er. Aber eine Idee, die sich im Nach­hin­ein als schlecht her­aus­ge­stellt hat, noch zu fei­ern, dafür bedarf es schon eini­ger Ener­gie, die man bes­ser ander­wei­tig inves­tiert. (Oder man wählt am Ende doch Fried­rich Merz zum Par­tei­vor­sit­zen­den.)

Es sind schö­ne Erwi­de­run­gen auf Lanz und Precht geschrie­ben wor­den, zum Bei­spiel von Bir­git­ta Stau­ber-Klein (Ein Dop­pel­na­me! Fei­er­tag für alle Hob­by-Komi­ker!) in der „WAZ“ und von Chris­ti­an Spil­ler im Sport­teil von „Zeit Online“. Aurel Merz hat ein schö­nes, kur­zes Video auf einem Jun­ge-Leu­te-Por­tal namens Tik­Tok gepos­tet. Die Begrif­fe „Boo­mer“ (Lanz ist streng genom­men Gene­ra­ti­on X, aber ich sehe bei ihm auch kei­ne Ver­bin­dung zu Ethan Haw­ke) und „deutsch“ tau­chen immer wie­der auf, aber auch „Gene­ra­tio­nen­kon­flikt“.

Und tat­säch­lich gibt es ja genug älte­re Her­ren, die es als Auf­merk­sam­keits­ga­ran­tie (der Begriff „Allein­stel­lungs­merk­mal“ ver­bie­tet sich kom­plett) erkannt haben, onkel­haft über jün­ge­re Men­schen und deren The­men spre­chen. Sie gefähr­den dabei offen­bar ger­ne den eigent­lich posi­ti­ven Ruf, den sie bei den jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen hat­ten, um noch eine viel­leicht letz­te Run­de Schul­ter­klop­fen bei ihren Alters­ge­nos­sen zu ern­ten. (Ich ver­zich­te in die­sem Absatz auf gen­der­ge­rech­te Spra­che – nicht, um die Ner­ven der Ange­spro­che­nen zu scho­nen, son­dern weil es eigent­lich fast immer Män­ner sind. Aus Grün­den der Aus­ge­wo­gen­heit möch­te ich trotz­dem sagen: Ali­ce Schwar­zer, Glo­ria von Thurn und Taxis.) Man kann nun mil­li­ar­den­fach dar­an erin­nern, dass Sati­re sich ja „eigent­lich“ immer gegen „die da oben“ rich­te, aber für Harald Schmidt, Die­ter Nuhr (und im erwei­ter­ten Sin­ne auch: Tho­mas Gott­schalk, Jür­gen von der Lip­pe und am Ende alle Leu­te, die unter einem Arti­kel bei Welt.de kom­men­tie­ren) sieht es so aus, als sei das, was sie irgend­wie falsch, lächer­lich oder bedroh­lich fin­den, gesamt­ge­sell­schaft­lich domi­nant.

Wenn man sich durch bestimm­te Gegen­den deut­scher Groß­städ­te bewegt, wird man dort halt auf „Mitt- bis End­drei­ßi­ger mit Struw­wel­pu­del­müt­ze“ (Schmidt; ich füh­le mich ertappt, kann damit aber gut umge­hen) oder eben „nahe­zu alle jun­gen Men­schen“ (Precht) tref­fen, die dort vor allem des­halb Zeit mit ihren Kin­dern ver­brin­gen, weil es ihnen finan­zi­ell mög­lich ist und sie die oft zu erwar­ten­den Wider­stän­de von Sei­ten der Arbeit­ge­ber aus­zu­hal­ten bereit sind. Aber schon die­ser Ein­druck ist ein Zerr­bild: 2022 haben Frau­en durch­schnitt­lich 14,6 Mona­te Eltern­zeit bean­tragt, Män­ner nur 3,6. Schon ein paar Stra­ßen wei­ter kann es ganz anders aus­se­hen. (Wobei ich da auch vor all­zu ver­ein­fa­chen­den Gedan­ken war­nen möch­te: Viel­leicht ist es in einem eher lin­ken, aka­de­mi­schen Milieu wei­ter ver­brei­tet, auf die eige­nen Bedürf­nis­se und – vor allem – die sei­ner Kin­der zu ach­ten, aber ich erle­be es regel­mä­ßig im Fuß­ball­ver­ein des Kin­des, dass ande­re Eltern, die man der „Arbei­ter­klas­se“ zurech­nen wür­de, eben­falls sehr sen­si­bel auf die Bedürf­nis­se ihrer Kin­der ein­ge­hen und die Leis­tung auf dem Platz nicht im Vor­der­grund steht. Mario Bas­ler wür­de es has­sen.)

Aber klar: Wenn man in ein urba­nes Café geht und da Eltern sit­zen, die ihre Kin­der nicht durch­ge­hend zurecht­wei­sen, und man dazu viel­leicht noch jede Men­ge Wit­ze zu anti-auto­ri­tä­rer Erzie­hung (schlag den Unter­schied nach, Jür­gen!) im Steh­satz hat, sieht man mit jedem Hafer­milch-Kaf­fee den Unter­gang der Welt – wenn nicht gar den der deut­schen Wirt­schaft – auf sich zukom­men. So, wie die Leu­te, die mit der Stra­ßen­bahn zum Job­cen­ter fah­ren, um dort ent­wür­di­gen­de Fra­gen über sich erge­hen las­sen zu müs­sen, auch irgend­wann den­ken, dass das gan­ze Land vol­ler „Aus­län­der“ ist, weil sie in ihrem All­tag eben vor allem Men­schen sehen, die „anders“ aus­schau­en, und sehr weni­ge Rechts­an­wäl­te, die meh­re­re Miets­häu­ser haben, BMW fah­ren und FDP wäh­len.

Lanz‘ Vor­trag in dem Aus­schnitt erin­nert nur an eine unter­durch­schnitt­li­che Büt­ten­re­de, Prechts ver­all­ge­mei­nern­des „Wunschkonzert“-Geblubber macht mich wirk­lich wütend. Dafür habe ich zu vie­le Freund*innen immense Her­aus­for­de­run­gen und Tief­schlä­ge über­win­den sehen, um mir die­se Pau­schal-Belei­di­gun­gen eines Mil­lio­närs anzu­hö­ren, der in jun­gen Jah­ren sicher­lich oft genug gefragt wur­de, ob er eigent­lich stu­die­re, um dann Taxi zu fah­ren. Fehlt wirk­lich nur noch, dass auch er von „Ver­weich­lichlung“ spricht!

Die The­se, dass „frü­her“ alles bes­ser gewe­sen sei, vor allem der Jour­na­lis­mus, wur­de nahe­zu zeit­gleich zum Hafer­milch-Eklat von einem frü­he­ren Jour­na­lis­ten wider­legt, der sich im Ruhe­stand offen­bar so sehr gelang­weilt hat­te, dass er sich für eine letz­te Run­de Applaus von Sei­ten der AfD und ande­rer Reak­tio­när-Kata­stro­phen noch ein­mal in die Mane­ge erbrach. Ich bin ja grund­sätz­lich bereit, über alles zu dis­ku­tie­ren, aber wenn im zwei­ten Absatz das Adjek­tiv „links­grun­zend“ auf­taucht wie in einem „Welt“-Leser-Kommentar, was für eine Dis­kus­si­ons­grund­la­ge soll ich da noch anneh­men? Dafür ist mir dann, Hash­tag Work-Life-Balan­ce, wirk­lich mei­ne Lebens­zeit zu kost­bar.

Und dann ertap­pe ich mich bei dem Gedan­ken, dass so ein biss­chen Gene­ra­tio­nen­kon­flikt viel­leicht gar nicht so schlecht ist – wie soll man denn sonst als Gesell­schaft wei­ter­kom­men? Ich lese gera­de end­lich mal „Die Palet­te“ von Hubert Fich­te; ein Buch, das 1968 erschie­nen ist. Und dann fiel mir auf: Die­ses mys­ti­sche Jahr 1968 ist vom Kriegs­en­de so weit ent­fernt wie wir heu­te vom Jahr 2000. Das ist eini­ge Kri­sen (9/​11, Finanz­kri­se, Ukrai­ne-Krieg, COVID-19-Pan­de­mie) her, aber erscheint selbst mir, der ich damals 16 war, gar nicht so weit weg. Die 20-Uhr-„Tagesschau“ vom 14. August 2000 wur­de von Jens Rie­wa ver­le­sen und ihre The­men waren: das rus­si­sche Mili­tär, ein belei­dig­ter Alt­kanz­ler, Rechts­extre­mis­ten im Inter­net, bes­se­rer Mobil­funk, Umwelt­schutz und Nord­ko­rea. (Okay, das war jetzt der Poin­te wegen etwas ver­ein­facht. Es ging um den Unter­gang des rus­si­schen Atom-U-Boots „Kursk“, die Nicht-Teil­nah­me von Hel­mut Kohl an der Fei­er zum Tag der deut­schen Ein­heit, ein geplan­tes NPD-Ver­bot, die Ver­stei­ge­rung der UMTS-Lizen­zen, die Schlie­ßung einer Blei­schmel­ze im Nord­ko­so­vo, die Ver­bin­dungs­bü­ros zwi­schen Nord- und Süd­ko­rea und noch eini­ge ande­re The­men wie die vor­zei­ti­ge Haft­ent­las­sung des Kauf­haus-Erpres­sers „Dago­bert“.)

Wenn Men­schen und Medi­en heu­te – nicht zuletzt vor dem Hin­ter­grund einer Anek­do­te wie dem Auf­tritt von Lanz und Precht – behaup­ten, eine sol­che gesell­schaft­li­che Spal­tung habe es noch nie gege­ben, bestä­tigt das ein­mal mehr mei­ne The­se, dass wir in Deutsch­land mehr Geschichts­un­ter­richt brau­chen: Stich­wort Wie­der­be­waff­nung, Stich­wort 1968, Stich­wort RAF, Stich­wort Umwelt­be­we­gung. Oder ein­fach über­haupt mal: Rock’n’Roll! (Oder, wie Tho­mas Gott­schalk es nennt: „Noch rich­ti­ge Musik.“) Das waren noch Kon­flik­te, die Fami­li­en aus­ein­an­der­trie­ben!

Deutsch­land ist in 16 Jah­ren unter Ange­la Mer­kel so durch­schnitt­lich und lau­warm gewor­den, dass es man­chen Leu­ten als links­ra­di­kal gilt, die Umbe­nen­nung frag­wür­di­ger Stra­ßen­na­men zu for­dern, und als rechts, Fleisch zu essen. Auch, weil jede Nischen-Posi­ti­on (von denen es immer schon vie­le gab) heu­te medi­al auf­ge­bla­sen und zur Glau­bens­fra­ge hoch­phan­ta­siert wird. Und war nicht mei­ne Gene­ra­ti­on, die Gene­ra­ti­on Y, am Ende viel zu nett? Da ist es doch gut, wenn die Gene­ra­ti­on Z jetzt mal ein biss­chen auf den Tisch haut! Für Leu­te wie Lanz, Precht oder Schmidt sind wir wahr­schein­lich eh alle eine uni­for­me, irgend­wie „jün­ge­re“ Mas­se, die in geschlechts­neu­tra­len Bade­zim­mern mit Aste­ris­ken und Hafer­milch die deut­sche Wirt­schaft schwä­chen.

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Die volkstümliche Schlägerparade

Bis vor drei Wochen gab es in Deutsch­land aus­schließ­lich net­te, klu­ge Jugend­li­che, die zwar viel­leicht ab und zu mal Amok­läu­fe an ihren Schu­len plan­ten, aber das waren ja die Kil­ler­spie­le schuld. Seit Ende Dezem­ber reicht es nicht, dass die Jugend­li­chen in der U‑Bahn nicht mehr für älte­re Mit­men­schen auf­ste­hen, sie tre­ten die­se jetzt auch noch zusam­men. Plötz­lich gibt es in Deutsch­land Jugend­ge­walt – so viel, dass die „Bild“-„Zeitung“ ihr eine eige­ne Serie (Teil 1, Teil 2, Teil 3, …) wid­met. Bei „Bild“ sind aller­dings immer die Aus­län­der schuld.

Mit dem The­ma Jugend­kri­mi­na­li­tät ist es wie mit jedem The­ma, das jah­re­lang tot­ge­schwie­gen wur­de: Plötz­lich ist es aus hei­te­rem Wahl­kampf-Him­mel in den Medi­en und alle haben ganz töf­te Erklä­run­gen dafür und Mit­tel dage­gen. In die­sem kon­kre­ten Fall füh­ren sich die Poli­ti­ker auf wie Eltern, die ihre Kin­der die gan­ze Zeit ver­nach­läs­sigt haben und dann plötz­lich, als sie die nicht mehr ganz so lie­ben Klei­nen auf der Poli­zei­wa­che abho­len muss­ten, „War­um tust Du uns das an?“ brül­len und dem Blag erst­mal eine lan­gen. Nur, dass „Ver­nach­läs­si­gung“ in der Poli­tik eben nicht „kei­ne gemein­sa­men Aus­flü­ge in den Zoo“ und „das Kind allei­ne vor dem RTL-II-Nacht­pro­gramm hocken las­sen“ heißt, son­dern „Zuschüs­se für die Jugend­ar­beit strei­chen“ und „desas­trö­ses­te Bil­dungs­po­li­tik betrei­ben“.

Ich hal­te wenig von Gene­ra­tio­nen-Eti­ket­tie­rung, ein gemein­sa­mer Geburts­jahr­gang sagt zunächst ein­mal gar nichts aus. Auch wenn Phil­ipp Lahm und ich im Abstand von sechs Wochen auf die Welt gekom­men und wir bei­de mit „Duck Tales“, Kin­der-Cola und „Kevin allein zuhaus“ auf­ge­wach­sen sind, wäre der sym­pa­thi­sche klei­ne Natio­nal­spie­ler doch nicht unbe­dingt unter den ers­ten ein­hun­dert Leu­ten, die mir ein­fie­len, wenn ich mir ähn­li­che Per­so­nen auf­sa­gen soll­te.1 Es gibt in jeder Alters­grup­pe (und bei jeder Pass­far­be, Eth­ni­zi­tät, sexu­el­len Ori­en­tie­rung, Kör­per­form, Haar­län­ge und Schuh­grö­ße) sym­pa­thi­sche Per­so­nen und Arsch­lö­cher. Mög­li­cher­wei­se war zum Bei­spiel die Chan­ce, in einer Stu­den­ten-WG an Mit­be­woh­ner zu gera­ten, die sich nicht an den Putz­plan hal­ten und ihre Bröt­chen­krü­mel nicht aus dem Spül­stein ent­fer­nen, vor vier­zig Jah­ren bedeu­tend höher als heu­te, und auch wenn Schlun­zig­keit kein Gewalt­ver­bre­chen ist, so ist doch bei­des sehr unschön für die Betrof­fe­nen.

Doch ich schwei­fe ab: Das Kri­mi­no­lo­gi­sches For­schungs­in­sti­tut Nie­der­sach­sen e.V. mit sei­nem viel­zi­tier­ten und fast zu Tode inter­view­ten Direk­tor Prof. Dr. Chris­ti­an Pfeif­fer hat im ver­gan­ge­nen Jahr eine Stu­die zum The­ma „Gewalt­tä­tig­keit bei deut­schen und nicht­deut­schen Jugend­li­chen“ ver­öf­fent­licht.

Auf Sei­te 4 gibt es einen recht schlüs­sig erschei­nen­den Erklä­rungs­ver­such, war­um gera­de bestimm­te Bevöl­ke­rungs­grup­pen eher zu Gewalt nei­gen als ande­re:

Beson­de­re Rele­vanz für eine erhöh­te Gewalt­tä­tig­keit von Nicht­deut­schen scheint aktu­el­len Stu­di­en zufol­ge bestimm­ten, mit Gewalt asso­zi­ier­ten Männ­lich­keits­vor­stel­lun­gen zuzu­kom­men. Die­sen hän­gen in ers­ter Linie tür­ki­sche, aber auch rus­si­sche Jugend­li­che an (vgl. Enzmann/​Brettfeld/​Wetzels 2004, Strasser/​Zdun 2005). Die Männ­lich­keits­vor­stel­lun­gen resul­tie­ren aus einem Ehr­kon­zept, das sich unter spe­zi­fi­schen gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen her­aus­ge­bil­det hat. […] Der Mann als Fami­li­en­vor­stand muss Stär­ke demons­trie­ren, um even­tu­el­le Angrei­fer bereits im Vor­hin­ein abzu­schre­cken.

Lai­en­haft ver­stan­den und über­spitzt gesagt: Eva Her­mans Ruf nach der Rück­kehr ins Patri­ar­chat wür­de auf lan­ge Sicht dazu füh­ren, dass wir wie­der mehr prü­geln­de Jungs hät­ten, weil die archai­schen Männ­lich­keits­bil­dern anhän­gen und den dicken Lar­ry mar­kie­ren wür­den. Oder anders: In Ober­bay­ern wer­den nur des­halb kei­ne Leu­te in U‑Bahnen zusam­men­ge­schla­gen, weil es dort kei­ne U‑Bahnen gibt.

Noch span­nen­der ist aber wohl der auf Sei­te 5 aus­ge­führ­te Ansatz, wonach der ver­meint­lich hohe Anteil an kri­mi­nel­len Aus­län­dern auch ein Wahr­neh­mungs­pro­blem ist:

Die eti­ket­tie­rungs­theo­re­ti­sche Erklä­rung sieht den Grund für eine höhe­re Kri­mi­na­li­täts­be­las­tung dabei nicht allein auf Sei­ten der Migran­ten, son­dern sie bezieht das Ver­hal­ten der Ein­hei­mi­schen mit ein. So konn­te u.a. gezeigt wer­den, dass die Kri­mi­na­li­sie­rungs­wahr­schein­lich­keit (d.h. die Regis­trie­rung als Tat­ver­däch­ti­ger) bei Aus­län­dern im Ver­gleich zu den Deut­schen dop­pelt bis drei­mal so hoch ist (Albrecht 2001; Mansel/​Albrecht 2003). Zudem exis­tie­ren Befun­de, die bele­gen, dass straf­fäl­lig gewor­de­ne Aus­län­der einer zuneh­mend här­te­ren Sank­ti­ons­pra­xis aus­ge­setzt sind (vgl. Pfeif­fer et al. 2005, S. 77ff). Abwei­chung, so die dar­aus ableit­ba­re The­se, ist nicht nur des­halb unter den eth­ni­schen Min­der­hei­ten ver­brei­te­ter, weil die­se tat­säch­lich öfter ein ent­spre­chen­des Ver­hal­ten zei­gen, son­dern weil die auto­chtho­ne Bevöl­ke­rung bzw. ihre Straf­ver­fol­gungs­or­ga­ne die Abwei­chung von Migran­ten anders wahr­nimmt und auf sie beson­ders sen­si­bel reagiert.

Und wer ein­mal im Gefäng­nis sitzt, lernt dort die fal­schen Leu­te ken­nen, fin­det kei­nen Job mehr und befin­det sich mit­ten­drin in einer Abwärts­spi­ra­le. Der „kri­mi­nel­le Aus­län­der“ ist also zum Teil eine selbst erfül­len­de Pro­phe­zei­hung: Wie oft liest man in der Pres­se von jun­gen Tür­ken, Grie­chen oder Alba­nern, die gewalt­tä­tig gewor­den sind, und wie sel­ten von jun­gen Deut­schen? Bei Deut­schen lässt man in Deutsch­land die Staats­bür­ger­schaft ein­fach weg und der Leser nimmt die Natio­na­li­tät nur wahr, wenn es sich Aus­län­der han­delt. Die Situa­ti­on ist ver­gleich­bar mit den schlecht gepark­ten Autos auf dem Sei­ten­strei­fen, die Sie auch nur wahr­neh­men, wenn eine Frau aus­steigt.

Als ich vor andert­halb Jah­ren für drei Mona­te in San Fran­cis­co weil­te (wo ich mich übri­gens stets sehr sicher fühl­te – auch, weil ich kei­ne loka­len Zei­tun­gen las), wur­de ich eines Tages auf dem Fuß­weg in die Innen­stadt von einem jun­gen Mann ange­rem­pelt. Es war nicht son­der­lich bru­tal, der Mann woll­te nur offen­bar genau dort lang gehen, wo ich stand. So etwas pas­siert einem in deut­schen Fuß­gän­ger­zo­nen nahe­zu täg­lich. Der jun­ge Mann aber war von schwar­zer Haut­far­be und aus dem Fern­se­hen glau­ben wir zu wis­sen: Schwar­ze bege­hen viel mehr Ver­bre­chen als Wei­ße. Ich als auf­ge­schlos­se­ner, ratio­na­ler Mensch muss­te mein Hirn zwin­gen, die­sen Vor­fall nicht als sym­pto­ma­tisch abzu­tun: Nach gröbs­ten sta­tis­ti­schen Schät­zun­gen wur­de ich im Jahr 2006 etwa 42 Mal ange­rem­pelt. In 95% der Fäl­le waren es unfreund­li­che Rent­ner in grau­en Stoff­ja­cken, her­ri­sche Frau­en mit mür­ri­schem Gesichts­aus­druck und dicke unge­zo­ge­ne Kin­der in Deutsch­land. Aber das war All­tag – und in die­sem einen Fall pass­te der Remp­ler auf­grund sei­ner Haut­far­be in ein dif­fu­ses Täter­pro­fil, dass ich im Hin­ter­kopf hat­te. Ich war von mir selbst scho­ckiert.

In San Fran­cis­co wur­de ich noch ein wei­te­res Mal ange­rem­pelt: Als ich an Hal­lo­ween auf der Stra­ße stand, lief eine Grup­pe Jugend­li­cher an mir vor­bei. Jeder ein­zel­ne ver­pass­te mir einen Schul­ter­check, bis ich schließ­lich auf den Geh­weg flog.2 Ihre genaue Eth­ni­zi­tät konn­te ich nicht erken­nen, aber schwarz waren sie nicht. Mei­ne ame­ri­ka­ni­schen Freun­de waren ent­setzt und ver­si­cher­ten mir teils am Ran­de der Trä­nen, dass so etwas in die­ser Gegend sonst nie vor­kä­me. Ich sag­te, ich sei in Dins­la­ken auf­ge­wach­sen, da sei man schlim­me­res gewohnt.

  1. Mei­ne Fuß­bal­ler­kar­rie­re ende­te zum Bei­spiel nach einem ein­ma­li­gen Pro­be­trai­ning in der D‑Jugend. []
  2. Ich beein­druck­te die Fest­ge­mein­de, indem ich bei dem Sturz kei­nen ein­zi­gen Trop­fen Bier aus mei­ner Dose ver­schüt­te­te. Es war das ers­te und ein­zi­ge Mal in mei­nem Leben, dass ich mich als Deut­scher fühl­te. []
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Leben Gesellschaft

Irrtum mütterlicherseits

Babies Of The 80

Ich bin immer sehr vor­sich­tig mit die­sem Gere­de von einer „Gene­ra­ti­on XY“. Einer­seits fin­de ich es absurd, dass alle (oder vie­le) Men­schen, die alle gleich alt sind, mehr gemein haben müss­ten als ihr Geburts­da­tum; ande­rer­seits sind gewis­se äuße­re Ein­flüs­se zu einem bestimm­ten Zeit­punkt natür­lich nicht von der Hand zu wei­sen.

So wür­de ich mal davon aus­ge­hen, dass vie­le (inzwi­schen nicht mehr wirk­lich jun­ge) Män­ner, die Anfang der Acht­zi­ger Jah­re gebo­ren wur­den, unter ande­rem mit fol­gen­den Ansa­gen groß gewor­den sind: Atom­kraft ist doof; Frau­en kön­nen alles genau­so gut wie Män­ner; Kör­ner­bröt­chen sind gesün­der als Toast; man bie­tet alten Men­schen und schwan­ge­ren Frau­en sei­nen Sitz­platz in der Stra­ßen­bahn an; man steht auf, wenn man jeman­dem die Hand gibt; es ist als Mann völ­lig in Ord­nung, zu sei­nen Gefüh­len zu ste­hen, man darf auch ger­ne lan­ge Haa­re haben, aber nie­mals und auf gar kei­nen Fall pin­kelt man im Ste­hen oder lässt die Klo­bril­le hoch­ge­klappt.

Zumin­dest letz­te­res hat man mei­nen Mit­be­woh­nern offen­bar nie erzählt.