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Katastrophenjournalismus-Mäander

Ich war ein etwas merkwürdiges Kind und legte schon früh eine gewisse Obsession für Journalismus an den Tag, besonders in Katastrophensituationen: als in meinem Heimatdorf ein Gasthaus abbrannte, schnitt mein siebenjähriges Ich in den nächsten Tagen alle Artikel darüber aus der Zeitung aus und editierte sie neu zusammen, um sie in einer von mir selbst moderierten Nachrichtensendung (Zuschauer: meine Stofftiere) zu verlesen.

Mit acht sammelte ich in Zeitungen und Radio alle Informationen über einen Flugzeugabsturz in Amsterdam, derer ich habhaft werden konnte. Nach dem Absturz eines Bundeswehrhubschraubers ((Die Typenbezeichnung Bell UH-1D könnte ich Ihnen ohne nachzudenken nennen, wenn Sie mich nachts um vier aus dem Bett klingelten — was Sie aber bitte in unser beider Interesse unterlassen!)) bei der Jugendmesse “YOU” in Dortmund, nach dem Unfalltod von Prinzessin Diana, nach dem ICE-Unfall von Eschede schaltete ich Fernseher und Videotext ein und wechselte jede halbe Stunde zum Radio, um aus den dortigen Nachrichten mögliche neue Entwicklungen zu entnehmen und – ich wünschte wirklich, ich dächte mir das aus – zu notieren: Soundso viele Tote, Ursache noch unklar, drückte den Hinterbliebenen an der Unfallstelle sein Mitgefühl aus. Den 11. September 2001 verbrachte ich kniend auf dem Wohnzimmerteppich meiner Eltern vor dem Fernseher, am 7. Juli 2005 verließ ich mein Wohnheimszimmer nicht.

Dann wurden im August 2006 in Großbritannien zahlreiche Verdächtige festgenommen, die Anschläge auf Passagiermaschinen geplant haben sollten, und nach etwa einer halben Stunde CNN und BBC schaltete ich den Fernseher aus, ging raus und dachte “Was’n Scheiß!”

Ziemlich exakt seit es mir technisch möglich wäre, mich in Echtzeit selbst über Ereignisse zu informieren, noch während sie passieren, wünsche ich mir, darüber im Geschichtsbuch lesen zu können. Mit allen Erkenntnissen, die im Laufe der Jahre gewachsen sind, mit historischer Einordnung und in genau dem Umfang, der ihnen angemessen ist: Doppelseite, halbe Seite, kleiner Kasten, Fußnote.

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Als ich am vergangenen Freitag die erste Meldung bekam, dass sich in München irgendwas schlimmes ereignet habe, ((Bizarrerweise per Push-Benachrichtigung der BBC-App.)) guckte ich kurz bei Facebook Live und Periscope rein, weil ich ja manchmal auch für aktuelle Informationssendungen arbeite und mir diese Technik mal aus einer professionellen Perspektive ansehen wollte. Ich sah also verwackelte Videobilder, auf denen Menschen mit erhobenen Händen in Richtung von Polizeiautos rannten, und die von einem Mann mit bayrischen Akzent mit anhaltendem “krass, krass” kommentiert wurden. Die Wörter “München”, “Olympia”, “Schüsse” und “Kamera” bildeten in meinem Kopf eine Linie und ich dachte, dass man so Scheiße wie 1972, als die Geiselnehmer dank Live-Fernsehen permanent über die Aktionen der Polizei informiert waren, ja ruhig 44 Jahre später mit Mitteln für den Heimanwender noch mal wiederholen kann. Ich erbrach mich kurz bei Twitter und tat dann das Einzige, was mir an einem solchen Tag noch sinnvoll und sachdienlich erschien: ich ging in die Küche und machte Marmorkuchen und Nudelsalat für einen Kindergeburtstag.

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Der Begriff des “Zeugen” ist in erster Linie ein juristischer. Zeugen haben von den Strafverfolgungsbehörden (und dort von möglichst geschultem Personal) gehört zu werden und sollten nach Möglichkeit nicht vor laufende Kameras gezerrt werden. Schon bei einem harmlosen Verkehrsunfall kann man die widersprüchlichsten Informationen zusammensammeln, bei einer unübersichtlichen Gefährdungslage dürfte die Chance, tatsächlichen Mehrwert zu generieren (der sich anschließend inhaltlich auch noch als zutreffend erweist), genauso groß sein wie wenn der Moderator im Studio einfach mal rät, was passiert sein könnte.

Zu den Leuten, die nach bestem Wissen und Gewissen ausplaudern, was sie gesehen und gehört zu glauben haben, kommen natürlich noch die Idioten hinzu, die sich irgendwas ausdenken, um auf Twitter oder Facebook geteilt zu werden — oder weil es sich ja zufällig als treffend erweisen könnte.

Auf einem der Periscope-Videos aus München sah ich Dutzende Menschen, die alle ihre Handys in Richtung eines nicht näher einzuordnenden Ortes richteten, den ich jetzt einfach mal als “potentielle Gefahrenquelle” bezeichnen würde. Die Geiselnehmer von Gladbeck müssten heute nicht mal mehr warten, dass “Hans Meiser, deutsches Fernsehen” bei ihnen anruft oder der spätere “Bild”-Chefredakteur Udo Röbel zu ihnen ins Auto steigt.

Neben all dem findet man in den Sozialen Netzwerken natürlich auch die Besserwisser: ((Zu denen ich in der Blüte der Arroganz von Jugend und Internetglauben auch gehört habe.)) das Fernsehen soll mehr berichten, das Fernsehen soll weniger berichten, die Politiker sollen sich gefälligst jetzt äußern. Fast würde man diesen Leuten ein “Macht’s besser!”, entgegen schreien wollen, wenn man nicht davon ausgehen müsste, dass sie schon im Glauben sind, auf ihren Profilen genau das zu tun.

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Während etwas geschieht, ist man in aller Regel nicht in der Lage, die Dimension dieses Ereignisses auch einzuschätzen. Das gilt für die erste Begegnung mit der späteren großen Liebe genauso wie für Nachrichten. Es hat sich mir förmlich ins Hirn gebrannt, wie ich mit fünf Jahren versehentlich eine Ausgabe der “Aktuellen Stunde” mitkriegte, die vom Absturz eines US-Kampfflugzeugs in einer Stadt namens Remscheid berichtete. ((Note to self: Niemals Nachrichten gucken, wenn das Kind in der Nähe ist.)) Die Worte “Flugzeugabsturz” und “Remscheid” sind für mich seitdem untrennbar semantisch miteinander verbunden, obwohl ich bis heute nicht sagen könnte, wo Remscheid liegt. ((An der A1 zwischen Wuppertal und Köln, aber was weiß ich, wo die A1 lang führt — und wo zum Henker liegt überhaupt Wuppertal, außer halt südlich des Ruhrgebiets?)) Die allermeisten Menschen, die diese Nachricht damals zur Kenntnis genommen haben und nicht direkt von dem Absturz betroffen waren, dürften sie komplett vergessen haben — die damaligen Moderatoren der “Aktuellen Stunde” inklusive. Für die Stadt Remscheid dürfte der Tag eine deutlich größere Bedeutung haben als für die US Air Force. Und allein die Tatsache, dass ich die Fakten dazu jetzt ganz schnell nachschlagen konnte, gibt dem Unglück ja eine gewisse Wertung: Es ist nicht auszuschließen, dass am gleichen Tag auf den Straßen in NRW mehr Todesopfer bei Autounfällen zu beklagen waren – Anfang Dezember, vielleicht Blitzeis? – als die sieben beim Flugzeugabsturz, aber dazu gibt es halt keinen Wikipedia-Eintrag.

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Als ich noch relativ klein war, lief ein psychisch kranker Mann mit einer Schusswaffe durch die Dinslakener Innenstadt, schoss auf Polizisten und erschoss sich am Ende in einer Garage. Jedenfalls ist es das, woran ich mich sehr dunkel – und ausschließlich auf Erzählungen meiner Mutter an jenem Tag basierend – erinnere. Ich bilde mir ein, dass es im Herbst 1991 gewesen sein müsste, aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung — um das ganze irgendwie verifizieren zu können, müsste ich nach Dinslaken fahren und in den Archiven der Lokalredaktionen von “NRZ” und “Rheinischer Post” meterweise Mikrofilm sichten. Angeblich war auch das Fernsehen vor Ort, vielleicht fände ich etwas im Keller von RTL West.

Nur zehn Jahre später hätte dieses Ereignis zumindest ein paar Artikel in Online-Medien nach sich gezogen, die ich jetzt ergoogeln könnte. Zwanzig Jahre später hätte es vermutlich schon so viel Social-Media-Buzz erzeugt, dass man die Entwicklungen auch in einer fernen Zukunft noch minutengenau nachvollziehen könnte — oder halt beim Nachlesen genauso ahnungslos ist, als wäre man selbst dabei. Und in dieser Woche wäre es nicht unter einem “Brennpunkt” und einer Solidaritätsadresse mindestens eines ausländischen Spitzenpolitikers auf Twitter passiert. Der örtliche Polizeipressesprecher hätte sich auch andere Fragen anhören müssen.

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Schon seit einigen Jahren erwähnt Barack Obama, wenn er wieder mal mit zitternder Unterlippe ein Statement zu einer Massenschießerei in den USA abgeben muss, dass er bereits zu viele Statements zu einer Massenschießerei in den USA abgegeben habe.

Nun bin ich – Gott sei Dank – nicht der US-Präsident und glaube auch nicht, dass es irgendwelche größeren Auswirkungen hat, wenn ich hier meine Meinungen zu Medienberichten nach schrecklichen Ereignissen veröffentliche, aber auch ich habe schon viel zu oft meine Meinung zu Medienberichten nach schrecklichen Ereignissen veröffentlicht:

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“Haha”, said the clown

Wenn sich der Mann, der in der Nacht zum Freitag in einem Kino in Colorado 12 Menschen erschossen und 58 weitere verletzt hat, für eine andere Vorstellung entschieden hätte, wäre alles anders: “Ice Age 4”, der Katy-Perry-Konzertfilm, schon “The Amazing Spider-Man” hätte alles geändert, aber der Mann ging in die Mitternachtsvorstellung von “The Dark Knight Rises” — ob gezielt, ist noch nicht klar.

dapd schreibt:

Der Polizeichef von New York, Raymond Kelly, sagte, der Verdächtige habe seine Haare rot gefärbt und gesagt, er sei der “Joker”, ein Bösewicht aus den “Batman”-Filmen und -Comicbüchern. “Das ist meines Wissens nach nicht wahr”, sagte hingegen der örtliche Polizeichef Dan Oates, erklärte aber mit Kelly gesprochen zu haben.

Der Polizeichef einer 2.800 Kilometer entfernten Stadt sagt etwas, was der örtliche Polizeichef nicht bestätigen kann oder will — das kann man aufschreiben, wenn man die ohnehin ins Kraut schießenden Spekulationen weiter anheizen will, muss es aber sicher nicht.

Das heißt: Als Nachrichtenagentur im Jahr 2012 muss man es wahrscheinlich schon, weil die Kunden, allen voran die Onlinedienste, ja sonst selbst anfangen müssten, irgendwelche mutmaßlichen Details aus dem Internet zusammenzutragen. Dabei gibt es kaum welche!

“Spiegel Online” kommentiert den Umstand, dass der Mann offenbar nicht bei “Facebook, Twitter, irgendein Social Network herkömmlicher Strickart” angemeldet war, dann auch entsprechend so:

Bei den Fahndern wirft das Fragen auf, während es bei jüngeren Internetnutzern für Fassungslosigkeit sorgt. Ihnen erscheint [der Täter] wie ein Geist. Wie kann das sein, dass ein 24 Jahre junger amerikanischer Akademiker nicht vernetzt ist? Mit niemandem kommuniziert, Bilder tauscht, Status-Aktualisierungen veröffentlicht, sich selbst öffentlich macht?

Man hätte es also wieder einmal kommen sehen müssen:

Dass [der Täter] im Web nicht präsent ist, macht ihn heute genauso verdächtig, wie er es als exzessiver Nutzer wäre. Im Januar 2011 veröffentlichte ein Team um den Jugendpsychologen Richard E. Bélanger eine Studie, die exzessive Internetnutzung genau wie Internet- und Vernetzungs-Abstinenz bei jungen Leuten zu einem Warnsignal für mentale Erkrankungen erklärte.

Erst an dieser Stelle, in den letzten Absätzen, wendet sich Autor Frank Patalong gegen die von ihm bisher referierten Thesen:

Man muss sich einmal vorstellen, was es für uns alle bedeuten würde, wenn das Konsens würde: Dann wäre nur noch der unverdächtig, der ein “normales” Online-Verhalten zeigt, Selbstveröffentlichung per Social Network inklusive.

Doch vielleicht braucht man aus […] fehlender Online-Präsenz kein Mysterium zu machen. Vielleicht ist […] einfach nur ein ehemaliger Überflieger, der mit seinem eigenen Scheitern nicht zurechtkam. Ein Niemand, der jemand werden wollte, und sei es mit Gewalt auf Kosten unschuldiger Menschen.

Es gibt allerdings berechtigte Hoffnung darauf, dass die Talsohle bereits erreicht wurde — womöglich gar bis zum Ende des Jahres oder dem der Welt.

Beim Versuch, mögliche Zusammenhänge zwischen den “Batman”-Filmen und dem Massenmord im Kino als haltlose Spekulation zurückzuweisen, lehnt sich Hanns-Georg Rodek bei “Welt Online” nämlich derart weit aus dem Fenster, dass er fast schon wieder im Nachbarhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite (vierspurige Straße mit Parkbuchten am Rand und Grünstreifen in der Mitte) ankommt.

Aber leider nur fast:

[Der Täter] flüchtete durch den Notausgang und wurde, ohne Widerstand zu leisten, bei seinem Auto gefasst. Dabei soll er “Ich bin der Joker, der Feind von Batman” gesagt haben.

Daraus lässt sich eine erste wichtige Folgerung ziehen: Der Attentäter hat den Film nicht gesehen, auch nicht im Netz, weil dort keine Raubkopien kursierten, und er kann sich den Inhalt nur bruchstückhaft zusammengereimt haben, wobei allerdings Allgemeinwissen war, dass der Joker gar nicht auftritt.

Laut Rodek war der Joker also da, wo sich die Leser seines Artikels wähnen: im falschen Film. Er hätte nicht die erste Vorstellung von “The Dark Knight Rises” stürmen müssen, sondern eine der (zum Start des Films zahlreich angebotenen) Wiederaufführungen des zweiten “Batman”-Films von Christopher Nolan, “The Dark Knight”. Denn da hätte ja der Joker mitgespielt.

Aber das ist eh alles egal, so Rodek:

Auf jeden Fall hätte [der Täter], wäre seine Stilisierung ernst gemeint gewesen, sich die Haare nicht rot färben müssen, sondern grün. Der Joker trägt grünes Haar, weil er einmal in ein Fass mit Chemikalien fiel, das weiß in Amerika jedes Kind.

Die Leute von dpa wussten es nicht, aber die sind ja auch keine amerikanischen Kinder. Und das, wo Rodek den Jugend- und Teenager-Begriff schon ausgesprochen weit fasst:

US-Teenager – [der Täter] ist 24 – wissen ziemlich gut über diese Figur Bescheid.

Rodek hingegen weiß über Massenmorde ziemlich gut Bescheid:

Das Century-Kino war die perfekte Bühne – Hunderte Menschen, zusammengepfercht, ihm in Dunkel und Gasnebel ausgeliefert. Ein Ort, besser noch für sein Vorhaben als eine Schule, ein Einkaufszentrum oder eine bewaldete Insel.

Ein Kino ist beim Amoklauf-Quartett also unschlagbar, quasi der … äh: Joker.

Viel kann man zum jetzigen Zeitpunkt aber eh noch nicht sagen:

Genaue Gründe für seine Mordlust werden die Psychologen erforschen, sie dürften irgendwo zwischen persönlicher Vereinsamung und der Unfähigkeit der Gesellschaft liegen, ihm trotz seiner anscheinenden Intelligenz mehr als einen McDonald’s-Job zu bieten.

Das steckt natürlich ein weites Spektrum ab. Der Satz “Alles andere wäre zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation” ist an dieser Stelle mutmaßlich dem Lektorat zum Opfer gefallen.

Tatsächlich geht es aber um etwas ganz anderes:

Sich mit allen Mitteln in Szene zu setzen, ist heute erste Bürgerpflicht, in der Schule, in der Clique, bei der Superstar-Vorauswahl, bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle. [Der Täter] hat diese Lektion hervorragend gelernt.

Er hat also nicht nur die “perfekte Bühne” gewählt, sondern auch die Selbstdarstellungslektion “hervorragend gelernt”. Da ist es doch tatsächlich fraglich, warum so ein offenkundig brillanter Mann wie dieser Massenmörder bei McDonald’s arbeiten musste.

Gerade, wo er auch bei der Wahl des richtigen Kinofilms die richtige Entscheidung (gegen “Ice Age 4”, wir erinnern uns) getroffen hat:

Er hat den Abend der ersten Vorführung des meisterwarteten Films des Jahres gewählt (zwei Wochen später hätte er genauso viele umbringen können, nur der Aufmerksamkeitseffekt wäre geringer gewesen), und er hat sich das Label “Joker” selbst verpasst, das die Medien von nun an verwenden werden.

Ja, manche menschliche Gehirne wären an dieser Stelle auf Notaus gegangen. Der Versuch zu erklären, warum der Täter nichts mit dem Joker zu tun hat (er hat ja offenbar nicht mal die Filme gesehen!), ist an dieser Stelle jedenfalls endgültig gescheitert. Selbst beim Anschreiben gegen den medialen Wahnsinn ist Rodek in eine der klassischen Fallen getappt, die solche Massenmörder gerne auslegen um darin schlagzeilengeile Journalisten im Rudel zu fangen: Die Medien begehen die finale Beihilfe zur Selbstinszenierung. Es ist also so wie immer.

“Spiegel Online” hat das auch beeindruckend unglücklich hinbekommen: Der Artikel darüber, dass der Gouverneur von Colorado sich weigert, den Namen des Täters auszusprechen, und dass US-Präsident Obama sagte, später werde man sich nur an die Opfer, nicht aber an den Täter erinnern, beginnt mit dem Namen des Täters, der im weiteren Artikel noch ganze 21 Male vorkommt.

Doch zurück zu “Welt Online”, zum “Joker”, der nicht der Joker ist:

Wäre er wirklich auf merkwürdige Art vom Joker besessen, hätte er sich ihm auch nachkostümiert. Aber nein, er war “professionell” eingekleidet, mit schusssicherer schwarzer Weste und Atemmaske, wie die gruseligen Gestalten der Sondereinsatzteams von Polizei und Armee. Vielleicht sollte man eher dort nach verhängnisvollen Vorbildern suchen.

Na, viel Spaß dabei!

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Die zwei Bedeutungen von “Erinnerung”

Wenn man sich tagein, tagaus mit den kleinen und großen Fehlern von Medien beschäftigt, sieht man irgendwann überall Merkwürdigkeiten. Ich bin mir daher nicht sicher, ob ich nur übersensibilisiert bin, oder ob der folgende Absatz tatsächlich ein bisschen gaga ist:

Carla June Hochhalter, 48, nahm sich am 22. Oktober 1999 das Leben. Das Datum ihres Selbstmords war kein Zufall. Fast genau sechs Monate zuvor war ihre Tochter Anne Marie bei dem Massaker in der Columbine High School so schwer verletzt worden, dass sie seither an den Rollstuhl gefesselt war.

“kein Zufall” und “fast genau” in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen?!

Das Gute ist: Wir müssen uns gar nicht mit diesen zwei Sätzen aufhalten, wenn es um den Artikel geht, den Marc Pitzke für “einestages” geschrieben hat, das Zeitgeschichtsportal von “Spiegel Online”. Es gibt viel spannendere Fragen.

Der zehnte Jahrestag von Columbine, wie die Tragödie hier nur heißt, dürfte viele der alten Wunden neu aufreißen.

schreibt Pitzke. Und wer sich das nicht vorstellen kann, wie sich das Aufreißen alter Wunden ungefähr vorstellt, der kann zwei Absätze in diesem Absatz auf einen Link klicken:

News-Moderatoren waren sprachlos angesichts der Szenen des Grauens, wie etwa die Bilder von Patrick Ireland, 17, der sich, blutüberströmt, in den Kopf getroffen und halb gelähmt, aus dem zerschossenen Fenster der Cafeteria im ersten Obergeschoss in die Arme des Sondereinsatzkommandos der Polizei stürzte. “Ein Alptraum”, erinnerte sich Pauline Rivera vom lokalen TV-Sender KMGH später. Sie nannte es den Tag, “als die Unschuld starb”.

Der Link führt zu einem Video, in dem sich Patrick Ireland, 17, blutüberströmt, in den Kopf getroffen und halb gelähmt, aus dem zerschossenen Fenster der Cafeteria im ersten Obergeschoss in die Arme des Sondereinsatzkommandos der Polizei stürzt. Und wenn der Link mit den Worten “bloody as hell” anmoderiert worden wäre, sie hätten nicht zu viel versprochen.

Ein paar Absätze später kann man sich anhören, wie das klingt, wenn am anderen Ende einer Telefonleitung Menschen hingerichtet werden:

Allein [in der Bibliothek] kamen zehn Schüler um, zwölf wurden verletzt. Dieses Morde wurden live über Telefon mitangehört: Lehrerin Patti Nielson hatte den Notruf gewählt, die Telefonistin hielt sie die ganze Zeit in der Leitung.

Ich habe den Autor Marc Pitzke vor zwei Tagen per E-Mail gefragt, ob es seine Idee war, die verstörenden Dokumente zu verlinken, und ihn gefragt, ob solche Bild- und Tondokumente nicht eventuell dazu beitragen könnten, alte Wunden neu aufzureißen. Bisher habe ich keine Antwort erhalten.

Aber wie schon im letzten Jahr, als der 20. Jahrestag des Gladbecker Geiseldramas anstand, frage ich mich, ob die Presse auf alle historischen Quellen zurückgreifen sollte, die ihr zur Verfügung stehen. Klar: Wir haben alle ein paar Dutzend Mal gesehen, wie “Hindenburg” und “Challenger” explodierten, wie John F. Kennedy in den Kopf geschossen wurde und die Bilder von den Flugzeugen, die ins World Trade Center krachen, sind weltweit öfter über die Bildschirme geflimmert als die Videos zu “Thriller”, “Smells Like Teen Spirit” und “Baby One More Time” zusammen. (Die Bilder allerdings, auf denen die verzweifelten Menschen aus den brennenden Türmen in den sicheren Tod springen, sind für amerikanische Medien weitgehend tabu.) Aber helfen mir diese Bilder als Zuschauer weiter?

Ich weiß die Antwort auf diese Fragen wirklich nicht. Ich hatte die Idee, dass es vielleicht einen Unterschied macht, wie viele Opfer es gab und in welcher Form die Täter aufgetreten sind. Aber nach längerem Nachdenken war mir auch nicht mehr klar, warum es da Unterschiede geben sollte. Dann fielen mir wieder die Begriffe “Aufklärung” und “Nachahmung” ein: Während uns die Bilder aus den frisch befreiten Konzentrationslagern daran erinnern sollen, dass so etwas nie wieder passieren darf, und die Chancen eher gering sind, dass morgen ein durchgeknallter Schüler anfängt, seine eigenen Gaskammern zu mauern, sieht es bei school shootings, die in der Regel von Einzeltätern begangen werden, genau andersherum aus: Wir können fast nichts dagegen unternehmen, dass sie sich nicht wiederholen (außer die Waffengesetze zu verschärfen, uns mehr um gesellschaftliche Außenseiter zu kümmern und unsere Schulen zu sozialeren Orten machen), aber jede Wiederholung der Bilder kann als Inspiration für Nachahmer dienen.

Pitzkes Text ist wirklich nicht schlecht, er beschreibt in einzelnen Momentaufnahmen, wie die Opfer und ihre Angehörigen mit den Folgen des Amoklaufs in Littleton umgingen und wie dieser die ganze Gemeinschaft belastete, sowie die Hilflosigkeit bei der Suche nach einem Tatmotiv. Und dennoch werden den Lesern auch die Namen der Täter wieder ins Gedächtnis gerufen — für den Fall, dass sie diese vergessen haben sollten. Am 26. April wird man wieder den Namen des Erfurter Amokläufers lesen können und nächstes, übernächstes Jahr am 11. März den des Massenmörders aus Winnenden. Und das wirft für mich die Frage auf: Kann man sich auch an die Opfer eines Verbrechens erinnern, ohne an das grausame Verbrechen selbst und – vor allem – an die Täter zu erinnern?

Der “Spiegel” selbst hat mit seinem Titelbild, das den Amokläufer zeigt, dazu beigetragen, ein morbides Denkmal zu errichten. So entsteht jene posthume, mediale Unsterblichkeit, die für junge Menschen, die das Gefühl haben, sie hätten eh nichts mehr zu verlieren, ein Anreiz sein kann, den extremen letzten Schritt zu gehen.

Nun kommt natürlich gleich die Frage auf, ob es irgendetwas ändert, die Namen der Täter zu verschweigen. Der Psychologe und Kriminologe Park Dietz findet, man solle sie nicht ins Zentrum der Berichterstattung stellen, und ich würde mir wünschen, die Medien würden auf ihn hören. Denn ändert es etwas, ob wir den Namen des Täters, sein Gesicht und sein Lieblingsessen kennen? Gewiss: Es mag für die Bewertung der Tat einen gewissen Unterschied machen, ob es sich um einen gemobbten Außenseiter oder um einen sozial integrierten psychisch Kranken gehandelt hat. Andererseits: Er ist in der Regel tot, seine Opfer sowieso, und zur Früherkennung von Amokläufern haben die diversen Erkenntnisse, die wir in den letzten zehn Jahren über ihre Privatleben erlangt haben, auch nicht beigetragen.

Zuletzt sehe ich einen guten Grund, zumindest den Nachnamen von Tätern zu verschweigen: die Angehörigen. Ich habe gerade “In seiner frühen Kindheit ein Garten” von Christoph Hein gelesen, ein sehr empfehlenswertes Buch über ein Elternpaar, deren Sohn als Terrorverdächtiger gilt und bei der versuchten Verhaftung erschossen wird. Neben dem Schmerz über den Tod des Kindes kommt die öffentliche Aufmerksamkeit hinzu, die Last, die plötzlich auf dem Nachnamen liegt.

Als Timothy McVeigh hingerichtet wurde, der beim Bombenanschlag von Oklahoma City 168 Menschen getötet hatte, veröffentlichte die “Chicago Tribune” eine Liste mit den Namen aller Opfer und erzählte ein bisschen was über sie. Chuck Klosterman schrieb dazu, dass man außerhalb des eigenen Freundeskreises jeden Menschen mit einem Satz zusammenfassen könne, und dass dieser Umstand Menschen dazu motiviere, Kinder zu kriegen, weil man dann wenigstens greifbare Spuren hinterlassen habe. Das gehe aber nicht immer gut:

Which is why the most depressing thing about the Oklahoma City bombings is that there’s now an innocent woman whose one-sentence newspaper bio will forever be, “She was Timothy McVeigh’s mother.”

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Homegrown Terror

Vorhin hatte ich noch zwei Absätze über meine Schule und die Folge von Amokläufen geschrieben.

Was ich nicht ahnen konnte: Zu diesem Zeitpunkt war das Theodor-Heuss-Gymnasium in Dinslaken in heller Aufregung. Im Internet (aha!) hatte jemand mit einem Amoklauf gedroht — “Wahrscheinlich ein Nachahmungstäter”, wie die “Rheinische Post” berichtet.

Während sich bei derwesten.de Kommentare besorgter Eltern sammeln, habe ich meinen Bruder Justus, der in diesem Jahr am THG sein Abitur macht, gebeten, mir seine Eindrücke vom Vormittag zu schildern:

Als ich heut morgen zur Schule lief, war ich spät dran. Von weit weg habe ich zwei Polizeiautos gesehen. Erst dachte ich, die Polizei würde wieder armen Schülern Geld für das Fahren auf der falschen Straßenseite abnehmen, aber als ich dann noch 2 Mannschaftswagen sah dachte ich mir, es muss was größeres sein.

Die ersten beiden Stunden verliefen normal, nach der 1. großen Pause blieben jedoch alle Schüler auf dem Schulhof, da fiel erst auf, dass sich kein Lehrer auf dem Schulhof befand. Diese haben in der Zwischenzeit, im Lehrerzimmer eingeschlossen, einen Crashkurs in Sachen Amokverhalten bekommen. In der Situation hat man sich gefragt: “Wenn alle Lehrer und Polizisten im Lehrerzimmer sind, wer passt dann hier auf, falls wirklich einer Amok laufen sollte?”

Eine halbe Stunde später ging der Unterricht weiter und unser Lehrer hat uns mitgeteilt, dass in einem Chat im Internet ein Schüler des THGs eine Amokwarnung geschrieben hat. Als Vorsichtsmaßnahme sollen die Türen abgeschlossen werden und bei einem bestimmten Codewort durch die Lautsprecher sollten Tische umgeworfen werden und die Schüler sich flach auf den Boden legen.

In der Freistunde danach wurde bekannt, dass der Username irgendwas mit Marcus wäre und jeder Marcus der Schule verhört wurde. Bei manchen soll die Polizei sogar zuhause gewesen sein. Als ich mit einem Freund den Schulhof verlassen wollte, wurde uns mitgeteilt, dass wir beim Wiederbetreten des Schulhofs unseren Ausweis vorzeigen müssen. Allgemeiner Unterrichtsschluss war um 13.15 Uhr, damit die Polizisten Feierabend machen können. Nächsten Montag und Dienstag soll die Schule ebenfalls überwacht werden.

Alles in allem waren 2 Motorradpolizisten im Stadtpark, 2 Mannschaftswagen, 4 Streifenwagen und auch noch ein Zivilfahrzeug rund ums Schulgelände positioniert.

Wir hatten nicht wirklich Angst. Eher kamen Scherze von allen Seiten zu den Markusen unserer Schule. Keiner ist wirklich davon ausgegangen das was passieren würde, bis auf ein paar junge Lehrerinnen.

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Digital

Klickbefehl (17)

Der Amoklauf von Erfurt fand am 26. April 2002 statt, unserem allerletzten Schultag. ((Am anderen Dinslakener Gymnasium waren die Abiturienten an diesem Morgen – wenn ich das richtig im Kopf habe – mit Wasserpistolen durch die Klassenräume gezogen, um ihren letzten Schultag zu feiern.)) Ich habe daher nie erfahren, wie Schulen auf solche Vorfälle reagieren. Während einer unserer Abi-Klausuren wurde zwar 200 Meter weiter eine Weltkriegsbombe entschärft, aber ansonsten waren wir nur Normalität gewöhnt.

Ich bin mir sicher, dass meine Schulzeit anders ausgesehen hätte, wenn das alles nicht nach uns passiert wäre. Wir waren die Nerds, wir haben “Half Life” gespielt, Metal oder Punkrock gehört (auch Pop, aber wen hätte das interessiert) und gerade ich hatte den Ruf, ein bisschen wahnsinnig zu sein. ((Der Ruf war nicht ganz unbegründet.)) Wir waren also komisch — wie alle Teenager. Und wir wären potentiell verdächtig gewesen.

Die Muschelschubserin hat einen sehr lesenswerten Text darüber geschrieben, wie das so war, als Teenager in einer Kleinstadt aufzuwachsen.

Schon damals – in Zeiten ohne Internet, Handys und Ballerspielen – hat niemand gemerkt, was wir wirklich tun, was uns wirklich bedrückt, wie ausgeschlossen wir uns gefühlt haben, wie sehr uns die Gesellschaft ins Gesicht gespuckt hat, dass sie mit uns nicht viel anfangen kann. Wir alle hatten damals einen starken Trieb, der sich manchmal in Aggressivität geäußert hat. Und obwohl wir uns ausgeschlossen fühlten und es gewissermaßen auch waren, wurden die meisten von uns in letzter Konsequenz immer aufgefangen, unterstützt, behütet. Genau deshalb waren wir trotz allem durchschnittliche Jugendliche, nicht auffälliger als andere. Und genau deshalb sind wir heute vermutlich alle ganz normale Menschen.

Einiges davon kenne ich aus eigener Erfahrung, anderes kann ich zumindest gut nachvollziehen. Und ich glaube, das kann jeder, der mal jung und nicht Mitglied der Jungen Union war.

Auch Johnny Haeusler hat sich bei Spreeblick Gedanken darüber gemacht, wie das eigentlich so ist, als Jugendlicher in Deutschland. Wer sich für einen interessiert und wie die Medien reagieren, wenn dann mal wieder was passiert ist:

Wie laut muss man als Jugendlicher eigentlich sein, um gehört zu werden?
Noch lauter als eine Beretta?

Und weil’s grad zum Thema Kinder passt, will ich Ihnen auch noch einen Eintrag aus dem F.A.Z.-Fernsehblog ans Herz legen.

Darin geht es unter anderem um eine Mutter, die das Folgende in eine Fernsehkamera sagte:

Ich versteh die Welt nicht mehr. Meine Tochter war in der zehnten Klasse, die hat das alles live miterlebt. Die sitzt jetzt zuhause, zittert und weint. Sie sind aus dem Fenster gesprungen, sie und ihre Freundin.

Der Frage, warum sie es in diesem Moment für klüger hielt, die Weltöffentlichkeit darüber zu informieren, statt bei ihrer Tochter zu sein, möchte ich mich gerne anschließen.

Auf eine Frage mehr oder weniger kommt’s ja auch nicht mehr an.

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Rundfunk Digital

Nicht zynisch werden

Ich habe heute zwei Texte für mein Blog bei freitag.de geschrieben: Einen gestern begonnenen über die Nichtexistenz des Musikfernsehens in Deutschland und einen aktuellen über die mediale Unsterblichkeit von Mördern.

Bizarrerweise treffen sich beide Inhalte jetzt auf der anderen Seite wieder, denn MTV und Viva haben sich (wie schon am 11. September 2001) entschlossen, ihr Trash-Programm auszusetzen und bis auf weiteres Musikvideos zu senden, die der Stimmung angemessen sind.

Es fällt schwer, da nicht zynisch zu werden.

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Der blutige Weg in die Unsterblichkeit

Während ich diese Zeilen tippe, stehen irgendwo in Süddeutschland Polizisten vor Haustüren und üben Sätze, die beginnen mit “Wir müssen Ihnen leider mitteilen …”. Gerichtsmediziner besehen sich Einschusslöcher an toten Körpern und ein Elternpaar wird von der Kriminalpolizei verhört. Viele Menschen machen sich Sorgen, einige Vorwürfe und über all das könnte ich bestens – oder wenigstens höchst spekulativ – informiert sein, wenn ich nicht vorhin alle Nachrichtenkanäle gekappt hätte.

Auf das, was die Boulevardpresse “Tragödie” nennt, reagiere ich entweder mit dokumentarischer Obsession (dann verbringe ich Stunden vor dem Fernseher) oder mit für mich selbst merkwürdig anmutender Gleichgültigkeit. Heute will ich nichts wissen. Der Fernseher ging aus, als ein Reporter auf n-tv salbaderte, der Nachbar des Amokläufers habe ihm gesagt, der Täter habe oft “Ballerspiele”. twitter hatte ich da schon lange abgestellt. Das ist zum einen meiner sehr kindlichen Einstellung geschuldet, wonach Dinge, von denen ich nichts mitbekomme, nie passiert sind; zum anderen weiß ich, dass der mediale Overkill mich wahnsinnig und wütend zurückließe.

Ich kann also nur mutmaßen, dass “Bild” gerade das MySpace-Profil des Täters entdeckt hat; dass irgendein CDU-Politiker gerade wieder ein Verbot von irgendetwas, was er nicht versteht, fordert und dass in irgendeiner Redaktion gerade Bilder von weinenden Jugendlichen, Kerzen und Blumen mit der Musik von Moby oder Enya unterlegt werden. Den Menschen, die das mutmaßlich gerade tun, kann ich nur raten, sich einen ordentlichen Job zu suchen. Die Städte sind voll von Müll und meine Schuhe müssten dringend geputzt werden.

Vor allem frage ich mich aber, ob wir irgendetwas über den Täter wissen müssen. Amokläufe sind – auch das könnte ich sicher wieder überall nachlesen – zumeist die Taten von Menschen, die an ihrer Umwelt gescheitert sind. Das (wahllose) Töten von Menschen ist die letzte und einzige Dominanzgeste, zu der sie fähig sind. Und genau diese Dominanzgeste, die Selbsterhebung zum Richter über Leben und Tod, wird von den Medien ins Unermessliche überhöht und für die Ewigkeit festgehalten.

Ohne nachzusehen könnte ich Ihnen die berühmtesten Schul-Amokläufer der letzten zehn Jahre nennen: Dylan Klebold, Eric Harris, Robert Steinhäuser. Gemeinsam haben sie (das musste ich jetzt doch nachgucken) 28 Menschen und sich selbst getötet, aber auch nach langem Grübeln wäre mir kein einziger Name auch nur eines Opfers eingefallen.

Dass wir Namen wie Mark Chapman (erschoss John Lennon), Sirhan Sirhan (erschoss Robert F. Kennedy) und John Wilkes Booth (erschoss Abraham Lincoln) kennen, ist bei Licht besehen schon merkwürdig genug. Ihre einzige “Leistung” bestand daraus, einen berühmten Menschen aus dem Leben zu schießen. Amokläufer treiben dieses Phänomen auf die Spitze, denn ihr Bekanntheitsgrad richtet sich nicht zuletzt nach der Zahl ihrer Opfer. (Von Bastian B., der vor zweieinhalb Jahren an einer Schule in Emsdetten Amok lief, dabei aber nur sich selbst tötete, habe ich beispielsweise nie den Nachnamen gelesen.)

Die Täter bleiben im Gedächtnis, sie werden gerne mal – so grausam ist die Welt – zu Popkultur-Ikonen. Wir wissen fast alles über sie, aber das hilft uns weder zu verstehen, noch kann es verhindern, dass weitere Schüler-Gehirne auf overload umstellen (ein Bild, das dem Boomtown-Rats-Song “I Don’t Like Mondays” entstammt, der – natürlich – von einem Schulmassaker handelt). Vermutlich wüsste niemand mehr den Namen von Silke Bischoff, die beim Geiseldrama von Gladbeck ums Leben kam, wenn sich nicht eine Band nach ihr benannt hätte. Die Täter? Klar: Rösner und Degowski.

Der kleine, ausgestoßene Teenager, der von der Gesellschaft ignoriert wird (und vermutlich Marilyn Manson hört und “Counterstrike” spielt), sieht die Fotos von Harris, Klebold, Steinhäuser und whateverhisnamemaybe auf den Zeitungen und nach jedem weiteren Amoklauf im Fernsehen. Wenn genug äußere Umstände und frei zugängliche Waffen zusammenkommen, könnte es die Aussicht auf genau diese posthume Hall of Fame der durchgedrehten Schüler sein, die ihn letztlich zur Tat schreiten lässt.

Soll das heißen, die Medien sollten sich selbst zensieren? Vielleicht.

Soll das heißen, die Medien sollten man ein bis zwei Gänge runterschalten? Auf jeden Fall!

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Leben Gesellschaft

Das virtuelle Massengrab der Nischendekadenz

Bei Wind und Wetter stehen auf der Dr.-Gerhard-Petschelt-Brücke, die die Bochumer Stadtbahn-Haltestelle “Ruhr-Universität” mit dem eigentlichen Gelände der Ruhr-Universität verbindet (und die daher zum öffentlichen Raum gehört) Menschen mit einem klapprigen Campingtisch, auf dem Flugschriften ausliegen. Mit wackligen Holzaufstellern, auf denen wirre Forderungen geschrieben stehen, versperren sie den Studenten den Weg zu ihrer Alma Mater. Dies sind die Mitglieder der “Bürgerrechtsbewegung Solidarität”, kurz “BüSo”.

Die meisten Studenten hasten vorbei, nur wenige lassen sich von Botschaften wie “Die Kernschmelze des Weltfinanzsystems ist in vollem Gang!” oder “Killerspiele töten die Seele!” dazu hinreißen, Informationsgespräche zu suchen. Gestern fand ich aber eine ausgelesene “BüSo”-Kampfschrift in einem Seminarraum und meine journalistische Neugier zwang mich dazu, das Werk mit spitzen Fingern (sehr billige Druckerschwärze, saut rum wie sonst was) in Augenschein zu nehmen. Ein Protokoll.

Die Flugschrift, die an eine kleine Zeitung erinnert (“2 € empfohlener Beitrag”), ist zweigeteilt: Aus der einen Richtung beschäftigt sie sich mit der Frage “Steckt der Teufel in Deinem Laptop?” (dazu kommen wir gleich noch ausführlich), dreht man sie um, lacht einen die überraschende Forderung “Bauen wir die Weltlandbrücke!” an.

“BüSo”: “Bauen wir die Weltlandbrücke!”Die “Weltlandbrücke”, das soll ein “genau aufeinander abgestimmtes System von Schnellbahnen, Transrapidstrecken, Autobahnen sowie Wasserwegen” werden, ergänzt durch die “Querung der Beringstraße mit einem 100 km langen Tunnel”. Gebraucht werde dieses völlig neuartige Verkehrsnetz für die Zeit nach dem “gegenwärtig kollabierenden System der Globalisierung” und um eine “neue Friedensordnung” möglich zu machen. Solche Utopien von latentem Größenwahn üben immer eine gewisse Faszination auf mich aus, so wie die das “Globale Wiederaufbauprogramm für dauerhaften Weltfrieden” oder die Pläne für die “Welthauptstadt Germania” (deren zugrunde liegender Größenwahn allerdings nicht mehr latent war).

Die “Weltlandbrücke” basiert auf einem Vorschlag von Lyndon LaRouche, einem amerikanischen Politiker, der vor allem durch den siebenmaligen Versuch, Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden, antisemitische Äußerungen und eine Verurteilung wegen Verschwörung und Postbetrug von sich reden machte. ((LaRouche bezeichnet seine Verurteilung als eine Verschwörung von – halten Sie sich bitte fest! – Henry Kissinger, dem FBI, dem “Wall Street Journal”, NBC, “Reader’s Digest” und der Anti-Defamation League.)) Geschrieben wurde der Artikel von Helga Zepp-LaRouche, der Gattin Lyndon LaRouches und Gründerin des “Schiller-Instituts”, der Parteien “Europäischen Arbeiterpartei” und “Patrioten für Deutschland”, sowie von “BüSo”. In der ganzen Schrift findet sich kein Artikel, der nicht aus der Feder eines der Beiden stammt, sie zitiert oder auf ihre Theorien Bezug nimmt.

Besorgniserregender als die Forderung, eine “Eurasische Landbrücke” zu bauen, ist der andere Teil der Flugschrift, der mit markigen Worten eingeleitet wird:

Historisch betrachtet könnte man dieser Flugschrift vielleicht ebenso viel Wert beimessen wie den Flugblättern der Weißen Rose, die mit Heldenmut den Feind im eigenen Land bekämpften und bis zuletzt das wahre Deutschland Friedrich Schillers verteidigten. Wie im folgenden klar werden wird, kommt Faschismus heute nicht im braunen Gewand daher, sondern mittels subtiler Gleichschaltung/”Vernetzung” einer ganzen Generation, bei der sowohl Joseph Goebbels als auch Aldous Huxley vor Neid erblaßt wären. Diese Flugschrift soll vor allem den jungen Leser befähigen, dies als Krankheit zu erkennen, um sich rechtzeitig davon zu befreien.

“Oh mein Gott, worum geht’s?”, werden Sie sich entsetzt fragen. Oder: “Was kann ich dagegen tun?” Nichts, denn Sie und ich, wir sind schon mittendrin im Elend, im Kampf “Noosphäre contra Blogosphäre”. Was die “Noosphäre” ist, entnehmen Sie bitte der Wikipedia.

Doch worum geht es wirklich? MySpace, Facebook und Killerspiele, die allen Ernstes durchgehend in dieser Dreifaltigkeit genannt werden, sind Schuld daran, dass die Jugend völlig verkommt und zu brutalen Amokläufern wird:

Ob iPod, Laptop, wLAN, Killerspiele, Second Life usw.; wer sich diese Art von Zeitvertreib a la MySpace, StudiVZ oder SchülerVZ mal genauer anschaut, wird schnell feststellen, daß er hier auf ein virtuelles Massengrab gestoßen ist, in dem wirklich jede Form von Dekadenz ihre Nische gefunden hat, bis hin zur Nekro- und Pädophilie.

Hinter all dem stecken das “International Network of Social Network Analysis” (INSNA), das das Internet erfunden hat, um die Menschheit zu unterjochen, und Bill Gates, dessen Firma Microsoft laut Flugschrift unter anderem für “Counterstrike” und “Doom” verantwortlich ist, zwei “Killerspiele”, die in der Welt, die wir für die Realität halten, natürlich von Sierra Entertainment/EA Games bzw. id soft stammen und mit Microsoft so rein gar nichts am Hut haben.

Wir haben aber natürlich alle keine Ahnung, weil wir uns auf Google und die Wikipedia verlassen. In einem ganzseitigen Artikel wird der Versuch unternommen, die Geschichte der Wikipedia zu erklären, die ihrem Gründer Jim Wales unterstellt sei. Der ebenso zentrale wie entlarvende Satz des Artikels lautet:

Stöhnt man stets “Verschwörungstheorie!” und schließt aus, was nicht dem gängigen Konsens entspricht, so verbietet man effektiv, nach Gründen und Ursachen zu forschen, und zwingt andere, sich der Manipulation und Überredung des einfachen Konsens zu unterwerfen.

“BüSo”: “Steckt der Teufel in Deinem Laptop?”Der Satz bezieht sich auf die 9/11-Verschwörungstheorien, die durchs Internet geistern, von LaRouche gerne mal befeuert werden und theoretisch mithilfe der Wikipedia belegt werden können – wenn man ihr denn als Quelle traut. Er sagt aber im Umkehrschluss auch alles über die Verschwörungstheoretiker dieser Welt aus: Hat man nämlich einmal den Gedanken verinnerlicht, dass eine gleichgeschaltete Weltöffentlichkeit einem Informationen vorenthält, dann muss man ja die Informationen, die einem die Verschwörungstheoretiker unterbreiten, schon allein deshalb für bare Münze nehmen, weil man sie ja nirgendwo sonst findet. Und schon befindet man sich mitten in der altbekannten Logikschleife der Paranoiden, die man auch gar nicht mehr stoppen kann, weil man ja systemimmanent keinen Gegenbeweis antreten kann. Deshalb sieht es für mich als Opfer der Verschwörung natürlich auch so aus, als stecke hinter dem Wikipedia-Bashing vor allem gekränkte Eitelkeit, wie dieser Abschnitt suggeriert:

Originalschriften, die von LaRouche oder seiner Bewegung verfaßt wurden, dürfen aus jedem Wikipedia-Artikel, außer den Artikeln “LyndonLaRouche” und anderen eng verwandten, gelöscht werden. Weiterhin werden die Unterstützer LaRouches angewiesen, keine direkten Referenzen zu ihm in Artikel einzufügen, es sei denn dort, wo sie sehr relevant sind. Es soll nichts geschrieben werden, was als “Werbung” für LaRouche wahrgenommen werden könnten.

Es wurde, so erfahren wir weiter, ein Artikel rückgängig gemacht, in dem Lyndon LaRouche als “die dritte große Schule der Kritik an der Frankfurter Schule zitiert wurde”.

In einem vor den üblichen Klischees nur so strotzenden Dreiseiter über Amokläufer soll nachgewiesen werden, dass “die Fakten” “auf der Hand” liegen, was im Klartext heißt: Sie alle haben “Killerspiele” gespielt und Nine Inch Nails (“die Lieblingsband bereits früherer Schulattentäter”) gehört. Inwiefern die Lieblingsbücher eines finnischen Amokläufers (“1984 von George Orwell, Schöne neue Welt von Aldous Huxley und Nietzsches Gesamtwerk“) da hineinpassen sollen, erschließt sich mir als ahnungslosem Außenstehenden zwar nicht, aber Huxley haben wir ja weiter oben schon in einem Atemzug mit Goebbels getroffen.

Ein weiterer Artikel handelt von den “42 Millionen MySpace-Nutzern bzw. -Opfern!”, der “alten anglo-holländischen Politik, die die Kultur lenken und den Geist derjenigen kontrollieren will, die in Zukunft die Führung der Menschheit darstellen” und wartet mit so geistreichen Fakten wie diesen auf:

Wie die Internetseite MyDeathSpace im Nov. 2006 berichtete, gab es 600 Mordopfer und 35 Mörder, die bei MySpace registriert waren.

Das hört sich natürlich spektakulär an. In Deutschland mit seinen 82 Millionen (also fast doppelt so vielen) Einwohnern gab es im Jahr 2006 983 Mordopfer (1,19 Morde pro 100.000 Einwohner). Zieht man zum Vergleich aber die Kriminalitätsrate in den USA heran, die 7,8 Mordopfer pro 100.000 Einwohner zählt, wäre selbst eine Zahl von 600 Mordopfern bei 42 Millionen “MySpace-Opfern” noch die relativ harmlose Mordquote von 1,43 Opfern pro 100.000. Und Berlin wäre froh, wenn sich dort nur 35 Mörder rumtrieben!

Das Geeiere um “Killerspiele und Internetgewalt” wirkt, als hätten die Redakteure von “Frontal 21” und “Süddeutscher Zeitung” einen Eierlikörreichen Nachmittag bei meinen Großeltern auf der Couch verbracht, und das sonstige Weltbild hinter “BüSo” ist so bunt und krude zusammengezimmert, dass selbst L. Ron Hubbard und Eva Herman noch etwas lernen könnten. Das nordrhein-westfälische Innenministerium nennt das ganze “allgemeine politische Theorien, utopische Vorstellungen und z. T. verwirrende Forderungen und Thesen”, die “im Übrigen jedoch keine Kernforderungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Frage stelle”.

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Rundfunk

Mehr Sauerstoff!

Bevor ich morgens das Haus verlasse, schaue ich gerne ein wenig unverfängliches Fernsehprogramm. Heute Morgen blieb ich bei “Volle Kanne” im ZDF hängen, wo das Volksmusikantenduo Marianne & Michael zu Gast war. In dieser gänzlich unvolkstümlichen Atmosphäre waren mir die beiden – er der Typ oberkorrekter Hotelier, sie die leicht überdrehte Mutter daneben – auf Anhieb sympathisch.

Nach kurzem Geplänkel über die Verleihung der “Goldenen Hennen” ging Moderatorin Andrea Ballschuh gleich zum trostlosen Tagesgeschehen über und bald entspann sich ein Gespräch voller Überraschungen und Weisheit über Sauerstoff, Klappmesser und den Überwachungsstaat.

Ein Protokoll:

Ballschuh: “Eine Sache, über die heute jeder spricht, Sie haben’s sicher auch in den Nachrichten gehört: Die Polizei vereitelt ein Massaker an einer Kölner Schule. Und das ist ja nicht das erste gewesen: Am Donnerstag wurde aus Angst vor ‘nem Amoklauf ‘ne Schule in Mainz geschlossen, in Syke bei Bremen gab’s Drohungen an einer berufsbildenden Schule, wir denken alle auch noch an diesen schrecklichen Amoklauf in Finnland, wo ein achtzehnjähriger Schüler acht Menschen erschossen hat. Da greift man sich doch annen Kopf und fragt sich: Was ist hier mit dieser Jugend los, was passiert da? Ihr seid ja auch Eltern von zwei erwachsenen Söhnen …”
Michael: “Ja!”
Ballschuh: (seufzt)
Michael: “Man redet nicht mit denen.”
Ballschuh: “Ja, nee, das isses wohl?”
Michael: “Ich glaube, dass die sich unverstanden fühlen, dass vielleicht auch die andern in der Diskussion nicht die Ruhe haben um zuzuhören und das auseinander zu klabustern, was das tatsächlich ist, sondern man nimmt halt dann Alkohol.”
Marianne: “Oder sie wachsen in einer Welt auf, in Videodimensionen, sie sehen irgendetwas und haben dann noch dieses falsche Umfeld, falsche Freunde und … äh, ja, man, die Eltern, des ist einfach ‘ne schwierige Zeit, reden mit den Kindern net, verstehen sie auch nicht, ham gar kei’ Zeit womöglich und … öh …”
Michael: “Sie können sich auch nicht ausarbeiten.”
Marianne: “… da natürlich …”
Michael: “Also körperlich. Die Betätigung, die man körperlich normalerweise macht, …”
Marianne: “Sport fehlt jetzt auch!”
Michael: “In der Schule fehlt der Sport, in der Schule fehlt Gesang, Musik, was auch immer. ‘s ist ganz wichtig, weil das macht frei. Da kommt genügend Sauerstoff in die Zellen, das macht dann lockerer, leichter und vielleicht auch nicht so aggressiv.”
Ballschuh: “Wie seid Ihr mit Euern, ich mein Eure Söhne sind inzwischen erwachsen, ja …”
Marianne: “Es war auch ‘ne schwierige Zeit, eine ganz schwierige Zeit.”
Ballschuh: “Inwiefern?”
Marianne: “Ja, die war’n natürlich auch aufmüpfig gegen uns und … Na klar, und wir hatten auch unsere Sorgen und Nöte und waren froh, als sie wieder vernünftig wurden, dass sie diese Zeit einigermaßen unbeschadet überstanden haben. Äh, da kommt auch ‘n schlechter Einfluss von Freunden, da kannst Du dich gar net wehren, wenn die die wollen, wenn die mit diesen Leuten rumrennen, äh, und …”
Michael: “Ja und die Kinder sind ab Achtzehn volljährig, das heißt sie sind für alles selbst haftbar, das heißt sie können machen, was sie wollen. Obwohl sie …”
Ballschuh: “Aber Ihr seid zumindest noch durchs Reden an sie rangekommen?”
Michael: “Ja!”
Ballschuh: “Genau, darum geht’s: das Reden.”
Michael: “Das ist mir auch ganz, ganz wichtig!”
Marianne: “Ach, es ist ganz schwierig, also es ist ganz, ganz schwierig und ich kann mir auch vorstellen, die Situation jetzt in den Schulen, die werden ja alle überwacht, mir ham ja jetzt a’ schon Überwachungsstaat, …”
Michael: “Ja.”
Marianne: “… jetzt sind die Videokameras schon, Du musst ja schon Angst haben, was Du sagst!”
Michael: “Nein, nein, sondern man nimmt jetzt ja jeden Jugendlichen in irgendeiner Form ins Visier und sagt da, jeder ist a potentieller Geg… äh: Täter.”
Marianne: “Des ist a Katastrophe!”
Ballschuh: “Mmmm-hhhhh …”
Michael: “Des find ich auch a bissl, also total für mich übertrieben, also ich glaube, dass da scho’ was dran war, aber so, so, so Softpistolen oder sonst irgendwas, also da san die meisten Kinder und Jugendlichen, die dieses Ding dahoam ham, entweder kaufen’s die Eltern oder Oma und Opa, oder sie kaufen’s vom Taschengeld, also …”
Marianne: “Ich kann mi no’ erinnern, da ging’s um dieses komische Klappmesser.”
Michael: “Ja.”
Marianne: “Was ham wir mit unseren Buben damals in der Pubertät diskutiert, aber jeder wollte so ‘n deppertes Klappmesser haben, was da so raus …”
Michael: “Ja, alle hatten eins, also auch meine.”
Ballschuh: “Ja, heute hat man kein Klappmesser, heute hat man Pistolen, ja?”
Marianne: “Ja, furchtbar …”
Michael: “Ja ja, so ungefähr.”

Den ganzen Talk kann man sich auch noch einmal in der ZDF-Mediathek ansehen.

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Bloody April

Gestern wurden auf dem Campus der Universität von Blacksburg, Va. mehr als 30 Menschen von einem Amokläufer erschossen. Das ist unglaublich schrecklich, eine sehr, sehr traurige Geschichte. Viele Menschen rund um die ganze Welt sind entsetzt und sprachlos – und es wäre wirklich wünschenswert, wenn auch die Journalisten angedenk eines solchen Ereignisses einfach mal sprachlos wären und die Schnauze hielten. Die New York Times dokumentiert sehr eindrucksvoll, wie die Fernsehreporter auf dem Campus einfielen, und wie Augenzeugen per Handykamera und Internet die Nachrichtenstation mit Bildern aus der Schusslinie versorgten. Der Artikel schließt mit einem Zitat, das zynisch zu nennen ich mich nicht scheue:

“Stay out of harm’s way,” the CNN anchor Don Lemon said, addressing students at Virginia Tech. “But send us your pictures and video.”

Aber auch die deutschen Medien schalteten sofort auf Turbo und schritten beherzt und enthirnt zur Tat. Dabei war die “Bild”-Schlagzeile, die etwas vom “größten Blutbad aller Zeiten” faselte, sogar noch das kleinste Übel. Je nachdem, wie man den Begriff “Blutbad” definiert und wie man den Superlativ räumlich einschränken will, stimmt die Behauptung sogar: in den USA hat es nie einen Amoklauf mit mehr Todesopfern gegeben.
In fast jeder Zeitungs- oder Fernsehredaktion musste sich ein Mitarbeiter daran machen, eine Chronik der schlimmsten Amokläufer zu erstellen. Auch das kann man kritisch sehen, aber es kann ja auch ganz hilfreich sein, sich noch mal ein paar Fakten ins Gedächtnis zu rufen.
Da schon während des Amoklaufs reichlich von Studenten der Virginia Tech über die Ereignisse gebloggt wurde, kann man sich nun an die Web-Auslese machen. Das ist sogar aus medientheoretischer Sicht hochinteressant, da es bisher kaum vergleichbare Ereignisse gibt, die derart medial abgedeckt sind.

Was Spiegel Online sich dann aber noch leistet, ist entweder als Beschäftigungstherapie für Praktikanten oder als endgültige Gleichsetzung von SpOn mit “Bild” anzusehen:

Die Amokläufe von Littleton, Erfurt und Blacksburg haben nicht nur das Leid und den Schrecken gemeinsam, den wenige über viele gebracht haben. Sie teilen auch den Monat, in dem die Schreckenstaten verübt wurden.

Und in deed: das einzige, was dem Artikel noch fehlt, sind die Quersummen der Tage, an denen die Amokläufe stattfanden (34, 16, 20). Über den gestrigen Täter schreibt jdl:

Waren Klebold und Harris auch seine Vorbilder? Kannte er die Wahnsinnstat des Robert Steinhäuser? War das Datum bewusst gewählt? Schon die Fragen sind beängstigend. Wie werden erst die Antworten sein?

Beängstigend, fürwahr. Denn die “Bild”-gleiche Überschrift

Monat der Massaker: Blutiger April

bezieht sich ja gar nicht auf eine mögliche Nachahmungstat (die man im Moment ebenso wenig ausschließen wie bestätigen kann), sondern auf einen verdammten Monat. Ein Blick in die SpOn-eigene Chronik hätte gezeigt, dass von den 18 dort aufgeführten Amokläufen 15 in Nicht-April-Monaten stattfanden – dafür vier im März (!!!!1). Vielleicht liegt es ja an den Sternen

Nachtrag, 19:17 Uhr: Stefan Niggemeier schreibt dazu:

Im weltweiten Rennen um den dümmsten Bericht zum Amoklauf in Blacksburg liegt Spiegel Online mit diesem Artikel fast uneinholbar in Führung

Warten wir’s ab …