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Digital Gesellschaft

Die zwei Bedeutungen von „Erinnerung“

Wenn man sich tag­ein, tag­aus mit den klei­nen und gro­ßen Feh­lern von Medi­en beschäf­tigt, sieht man irgend­wann über­all Merk­wür­dig­kei­ten. Ich bin mir daher nicht sicher, ob ich nur über­sen­si­bi­li­siert bin, oder ob der fol­gen­de Absatz tat­säch­lich ein biss­chen gaga ist:

Car­la June Hoch­hal­ter, 48, nahm sich am 22. Okto­ber 1999 das Leben. Das Datum ihres Selbst­mords war kein Zufall. Fast genau sechs Mona­te zuvor war ihre Toch­ter Anne Marie bei dem Mas­sa­ker in der Colum­bi­ne High School so schwer ver­letzt wor­den, dass sie seit­her an den Roll­stuhl gefes­selt war.

„kein Zufall“ und „fast genau“ in zwei auf­ein­an­der­fol­gen­den Sät­zen?!

Das Gute ist: Wir müs­sen uns gar nicht mit die­sen zwei Sät­zen auf­hal­ten, wenn es um den Arti­kel geht, den Marc Pitz­ke für „eines­ta­ges“ geschrie­ben hat, das Zeit­ge­schichts­por­tal von „Spie­gel Online“. Es gibt viel span­nen­de­re Fra­gen.

Der zehn­te Jah­res­tag von Colum­bi­ne, wie die Tra­gö­die hier nur heißt, dürf­te vie­le der alten Wun­den neu auf­rei­ßen.

schreibt Pitz­ke. Und wer sich das nicht vor­stel­len kann, wie sich das Auf­rei­ßen alter Wun­den unge­fähr vor­stellt, der kann zwei Absät­ze in die­sem Absatz auf einen Link kli­cken:

News-Mode­ra­to­ren waren sprach­los ange­sichts der Sze­nen des Grau­ens, wie etwa die Bil­der von Patrick Ire­land, 17, der sich, blut­über­strömt, in den Kopf getrof­fen und halb gelähmt, aus dem zer­schos­se­nen Fens­ter der Cafe­te­ria im ers­ten Ober­ge­schoss in die Arme des Son­der­ein­satz­kom­man­dos der Poli­zei stürz­te. „Ein Alp­traum“, erin­ner­te sich Pau­li­ne Rive­ra vom loka­len TV-Sen­der KMGH spä­ter. Sie nann­te es den Tag, „als die Unschuld starb“.

Der Link führt zu einem Video, in dem sich Patrick Ire­land, 17, blut­über­strömt, in den Kopf getrof­fen und halb gelähmt, aus dem zer­schos­se­nen Fens­ter der Cafe­te­ria im ers­ten Ober­ge­schoss in die Arme des Son­der­ein­satz­kom­man­dos der Poli­zei stürzt. Und wenn der Link mit den Wor­ten „bloo­dy as hell“ anmo­de­riert wor­den wäre, sie hät­ten nicht zu viel ver­spro­chen.

Ein paar Absät­ze spä­ter kann man sich anhö­ren, wie das klingt, wenn am ande­ren Ende einer Tele­fon­lei­tung Men­schen hin­ge­rich­tet wer­den:

Allein [in der Biblio­thek] kamen zehn Schü­ler um, zwölf wur­den ver­letzt. Die­ses Mor­de wur­den live über Tele­fon mit­an­ge­hört: Leh­re­rin Pat­ti Niel­son hat­te den Not­ruf gewählt, die Tele­fo­nis­tin hielt sie die gan­ze Zeit in der Lei­tung.

Ich habe den Autor Marc Pitz­ke vor zwei Tagen per E‑Mail gefragt, ob es sei­ne Idee war, die ver­stö­ren­den Doku­men­te zu ver­lin­ken, und ihn gefragt, ob sol­che Bild- und Ton­do­ku­men­te nicht even­tu­ell dazu bei­tra­gen könn­ten, alte Wun­den neu auf­zu­rei­ßen. Bis­her habe ich kei­ne Ant­wort erhal­ten.

Aber wie schon im letz­ten Jahr, als der 20. Jah­res­tag des Glad­be­cker Gei­sel­dra­mas anstand, fra­ge ich mich, ob die Pres­se auf alle his­to­ri­schen Quel­len zurück­grei­fen soll­te, die ihr zur Ver­fü­gung ste­hen. Klar: Wir haben alle ein paar Dut­zend Mal gese­hen, wie „Hin­den­burg“ und „Chal­len­ger“ explo­dier­ten, wie John F. Ken­ne­dy in den Kopf geschos­sen wur­de und die Bil­der von den Flug­zeu­gen, die ins World Trade Cen­ter kra­chen, sind welt­weit öfter über die Bild­schir­me geflim­mert als die Vide­os zu „Thril­ler“, „Smells Like Teen Spi­rit“ und „Baby One More Time“ zusam­men. (Die Bil­der aller­dings, auf denen die ver­zwei­fel­ten Men­schen aus den bren­nen­den Tür­men in den siche­ren Tod sprin­gen, sind für ame­ri­ka­ni­sche Medi­en weit­ge­hend tabu.) Aber hel­fen mir die­se Bil­der als Zuschau­er wei­ter?

Ich weiß die Ant­wort auf die­se Fra­gen wirk­lich nicht. Ich hat­te die Idee, dass es viel­leicht einen Unter­schied macht, wie vie­le Opfer es gab und in wel­cher Form die Täter auf­ge­tre­ten sind. Aber nach län­ge­rem Nach­den­ken war mir auch nicht mehr klar, war­um es da Unter­schie­de geben soll­te. Dann fie­len mir wie­der die Begrif­fe „Auf­klä­rung“ und „Nach­ah­mung“ ein: Wäh­rend uns die Bil­der aus den frisch befrei­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern dar­an erin­nern sol­len, dass so etwas nie wie­der pas­sie­ren darf, und die Chan­cen eher gering sind, dass mor­gen ein durch­ge­knall­ter Schü­ler anfängt, sei­ne eige­nen Gas­kam­mern zu mau­ern, sieht es bei school shoo­tings, die in der Regel von Ein­zel­tä­tern began­gen wer­den, genau anders­her­um aus: Wir kön­nen fast nichts dage­gen unter­neh­men, dass sie sich nicht wie­der­ho­len (außer die Waf­fen­ge­set­ze zu ver­schär­fen, uns mehr um gesell­schaft­li­che Außen­sei­ter zu küm­mern und unse­re Schu­len zu sozia­le­ren Orten machen), aber jede Wie­der­ho­lung der Bil­der kann als Inspi­ra­ti­on für Nach­ah­mer die­nen.

Pitz­kes Text ist wirk­lich nicht schlecht, er beschreibt in ein­zel­nen Moment­auf­nah­men, wie die Opfer und ihre Ange­hö­ri­gen mit den Fol­gen des Amok­laufs in Litt­le­ton umgin­gen und wie die­ser die gan­ze Gemein­schaft belas­te­te, sowie die Hilf­lo­sig­keit bei der Suche nach einem Tat­mo­tiv. Und den­noch wer­den den Lesern auch die Namen der Täter wie­der ins Gedächt­nis geru­fen – für den Fall, dass sie die­se ver­ges­sen haben soll­ten. Am 26. April wird man wie­der den Namen des Erfur­ter Amok­läu­fers lesen kön­nen und nächs­tes, über­nächs­tes Jahr am 11. März den des Mas­sen­mör­ders aus Win­nen­den. Und das wirft für mich die Fra­ge auf: Kann man sich auch an die Opfer eines Ver­bre­chens erin­nern, ohne an das grau­sa­me Ver­bre­chen selbst und – vor allem – an die Täter zu erin­nern?

Der „Spie­gel“ selbst hat mit sei­nem Titel­bild, das den Amok­läu­fer zeigt, dazu bei­getra­gen, ein mor­bi­des Denk­mal zu errich­ten. So ent­steht jene post­hu­me, media­le Unsterb­lich­keit, die für jun­ge Men­schen, die das Gefühl haben, sie hät­ten eh nichts mehr zu ver­lie­ren, ein Anreiz sein kann, den extre­men letz­ten Schritt zu gehen.

Nun kommt natür­lich gleich die Fra­ge auf, ob es irgend­et­was ändert, die Namen der Täter zu ver­schwei­gen. Der Psy­cho­lo­ge und Kri­mi­no­lo­ge Park Dietz fin­det, man sol­le sie nicht ins Zen­trum der Bericht­erstat­tung stel­len, und ich wür­de mir wün­schen, die Medi­en wür­den auf ihn hören. Denn ändert es etwas, ob wir den Namen des Täters, sein Gesicht und sein Lieb­lings­es­sen ken­nen? Gewiss: Es mag für die Bewer­tung der Tat einen gewis­sen Unter­schied machen, ob es sich um einen gemobb­ten Außen­sei­ter oder um einen sozi­al inte­grier­ten psy­chisch Kran­ken gehan­delt hat. Ande­rer­seits: Er ist in der Regel tot, sei­ne Opfer sowie­so, und zur Früh­erken­nung von Amok­läu­fern haben die diver­sen Erkennt­nis­se, die wir in den letz­ten zehn Jah­ren über ihre Pri­vat­le­ben erlangt haben, auch nicht bei­getra­gen.

Zuletzt sehe ich einen guten Grund, zumin­dest den Nach­na­men von Tätern zu ver­schwei­gen: die Ange­hö­ri­gen. Ich habe gera­de „In sei­ner frü­hen Kind­heit ein Gar­ten“ von Chris­toph Hein gele­sen, ein sehr emp­feh­lens­wer­tes Buch über ein Eltern­paar, deren Sohn als Ter­ror­ver­däch­ti­ger gilt und bei der ver­such­ten Ver­haf­tung erschos­sen wird. Neben dem Schmerz über den Tod des Kin­des kommt die öffent­li­che Auf­merk­sam­keit hin­zu, die Last, die plötz­lich auf dem Nach­na­men liegt.

Als Timo­thy McV­eigh hin­ge­rich­tet wur­de, der beim Bom­ben­an­schlag von Okla­ho­ma City 168 Men­schen getö­tet hat­te, ver­öf­fent­lich­te die „Chi­ca­go Tri­bu­ne“ eine Lis­te mit den Namen aller Opfer und erzähl­te ein biss­chen was über sie. Chuck Klos­ter­man schrieb dazu, dass man außer­halb des eige­nen Freun­des­krei­ses jeden Men­schen mit einem Satz zusam­men­fas­sen kön­ne, und dass die­ser Umstand Men­schen dazu moti­vie­re, Kin­der zu krie­gen, weil man dann wenigs­tens greif­ba­re Spu­ren hin­ter­las­sen habe. Das gehe aber nicht immer gut:

Which is why the most depres­sing thing about the Okla­ho­ma City bom­bings is that there’s now an inno­cent woman who­se one-sen­tence news­pa­per bio will fore­ver be, „She was Timo­thy McVeigh’s mother.“

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München

Es gibt Orte, die für immer den Stempel des Grauens verpasst bekommen haben. Wenn man ihren Namen hört, denkt man unwillkürlich an die schrecklichen Taten und menschlichen Tragödien, die sich dort abgespielt haben. Winnenden, ein kleiner beschaulicher Ort in Baden-Württemberg, gehört nun dazu: .. (Foto: dpa)

Und falls Sie sich fra­gen, wie die Sach­be­ar­bei­ter des Grau­ens so aus­se­hen mögen, die beschau­li­chen Orten den Stem­pel des Grau­ens auf­drü­cken: Ver­mut­lich so wie die Online-Redak­teu­re der „Abend­zei­tung“.

Die haben näm­lich eine 23-teil­i­ge Klick­stre­cke online, in der flei­ßig gestem­pelt wird: Win­nen­den, Erfurt (eine Lan­des­haupt­stadt …), Ems­det­ten, Esche­de, Ram­stein, Mölln, Bad Rei­chen­hall (wegen Eis­hal­le, obwohl’s dort auch schon mal einen Amok­lauf gege­ben hat), Glad­beck natür­lich und Amstet­ten.

Schön auf­ge­führt und auf ewig im Inter­net archi­viert unter einer Über­schrift, in der sicher kein Fun­ke Selbst­er­kennt­nis mit­schwingt:

Bilderstrecke: Orte des Grauens

Dass ganz neben­bei auch noch mal die berühm­tes­ten Amok­läu­fer, Gei­sel­neh­mer und Ver­ge­wal­ti­ger der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit gewür­digt wer­den wie die Ver­stor­be­nen des Jah­res bei der Oscar­ver­lei­hung, ver­steht sich natür­lich von selbst.

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Unter Grünen: Liveblog Freitag

17:28 Uhr: Ich bin gera­de mit mir in Klau­sur gegan­gen und habe beschlos­sen, die Bericht­erstat­tung in Form eines Live­blogs zu ver­su­chen. Das klappt ja eigent­lich immer ganz gut und so muss ich mir auch nicht das Blog mit Dut­zen­den Ein­zel­ein­trä­gen fül­len. Zwei Mal bin ich schon bei­na­he mit Clau­dia Roth kol­li­diert, was ein Auf­takt nach Maß ist.

Zur Zeit hält Ober­bür­ger­meis­ter Andre­as Bau­se­wein (SPD) eine klei­ne Stadt­füh­rung ab – aller­dings ohne die Hal­le zu ver­las­sen.