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München

Es gibt Orte, die für immer den Stempel des Grauens verpasst bekommen haben. Wenn man ihren Namen hört, denkt man unwillkürlich an die schrecklichen Taten und menschlichen Tragödien, die sich dort abgespielt haben. Winnenden, ein kleiner beschaulicher Ort in Baden-Württemberg, gehört nun dazu: .. (Foto: dpa)

Und falls Sie sich fra­gen, wie die Sach­be­ar­bei­ter des Grau­ens so aus­se­hen mögen, die beschau­li­chen Orten den Stem­pel des Grau­ens auf­drü­cken: Ver­mut­lich so wie die Online-Redak­teu­re der „Abend­zei­tung“.

Die haben näm­lich eine 23-teil­i­ge Klick­stre­cke online, in der flei­ßig gestem­pelt wird: Win­nen­den, Erfurt (eine Lan­des­haupt­stadt …), Ems­det­ten, Esche­de, Ram­stein, Mölln, Bad Rei­chen­hall (wegen Eis­hal­le, obwohl’s dort auch schon mal einen Amok­lauf gege­ben hat), Glad­beck natür­lich und Amstet­ten.

Schön auf­ge­führt und auf ewig im Inter­net archi­viert unter einer Über­schrift, in der sicher kein Fun­ke Selbst­er­kennt­nis mit­schwingt:

Bilderstrecke: Orte des Grauens

Dass ganz neben­bei auch noch mal die berühm­tes­ten Amok­läu­fer, Gei­sel­neh­mer und Ver­ge­wal­ti­ger der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit gewür­digt wer­den wie die Ver­stor­be­nen des Jah­res bei der Oscar­ver­lei­hung, ver­steht sich natür­lich von selbst.

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Der blutige Weg in die Unsterblichkeit

Wäh­rend ich die­se Zei­len tip­pe, ste­hen irgend­wo in Süd­deutsch­land Poli­zis­ten vor Haus­tü­ren und üben Sät­ze, die begin­nen mit „Wir müs­sen Ihnen lei­der mit­tei­len …“. Gerichts­me­di­zi­ner bese­hen sich Ein­schuss­lö­cher an toten Kör­pern und ein Eltern­paar wird von der Kri­mi­nal­po­li­zei ver­hört. Vie­le Men­schen machen sich Sor­gen, eini­ge Vor­wür­fe und über all das könn­te ich bes­tens – oder wenigs­tens höchst spe­ku­la­tiv – infor­miert sein, wenn ich nicht vor­hin alle Nach­rich­ten­ka­nä­le gekappt hät­te.

Auf das, was die Bou­le­vard­pres­se „Tra­gö­die“ nennt, reagie­re ich ent­we­der mit doku­men­ta­ri­scher Obses­si­on (dann ver­brin­ge ich Stun­den vor dem Fern­se­her) oder mit für mich selbst merk­wür­dig anmu­ten­der Gleich­gül­tig­keit. Heu­te will ich nichts wis­sen. Der Fern­se­her ging aus, als ein Repor­ter auf n‑tv sal­ba­der­te, der Nach­bar des Amok­läu­fers habe ihm gesagt, der Täter habe oft „Bal­ler­spie­le“. twit­ter hat­te ich da schon lan­ge abge­stellt. Das ist zum einen mei­ner sehr kind­li­chen Ein­stel­lung geschul­det, wonach Din­ge, von denen ich nichts mit­be­kom­me, nie pas­siert sind; zum ande­ren weiß ich, dass der media­le Over­kill mich wahn­sin­nig und wütend zurück­lie­ße.

Ich kann also nur mut­ma­ßen, dass „Bild“ gera­de das MySpace-Pro­fil des Täters ent­deckt hat; dass irgend­ein CDU-Poli­ti­ker gera­de wie­der ein Ver­bot von irgend­et­was, was er nicht ver­steht, for­dert und dass in irgend­ei­ner Redak­ti­on gera­de Bil­der von wei­nen­den Jugend­li­chen, Ker­zen und Blu­men mit der Musik von Moby oder Enya unter­legt wer­den. Den Men­schen, die das mut­maß­lich gera­de tun, kann ich nur raten, sich einen ordent­li­chen Job zu suchen. Die Städ­te sind voll von Müll und mei­ne Schu­he müss­ten drin­gend geputzt wer­den.

Vor allem fra­ge ich mich aber, ob wir irgend­et­was über den Täter wis­sen müs­sen. Amok­läu­fe sind – auch das könn­te ich sicher wie­der über­all nach­le­sen – zumeist die Taten von Men­schen, die an ihrer Umwelt geschei­tert sind. Das (wahl­lo­se) Töten von Men­schen ist die letz­te und ein­zi­ge Domi­nanz­ges­te, zu der sie fähig sind. Und genau die­se Domi­nanz­ges­te, die Selbst­er­he­bung zum Rich­ter über Leben und Tod, wird von den Medi­en ins Uner­mess­li­che über­höht und für die Ewig­keit fest­ge­hal­ten.

Ohne nach­zu­se­hen könn­te ich Ihnen die berühm­tes­ten Schul-Amok­läu­fer der letz­ten zehn Jah­re nen­nen: Dylan Kle­bold, Eric Har­ris, Robert Stein­häu­ser. Gemein­sam haben sie (das muss­te ich jetzt doch nach­gu­cken) 28 Men­schen und sich selbst getö­tet, aber auch nach lan­gem Grü­beln wäre mir kein ein­zi­ger Name auch nur eines Opfers ein­ge­fal­len.

Dass wir Namen wie Mark Chap­man (erschoss John Len­non), Sir­han Sir­han (erschoss Robert F. Ken­ne­dy) und John Wil­kes Booth (erschoss Abra­ham Lin­coln) ken­nen, ist bei Licht bese­hen schon merk­wür­dig genug. Ihre ein­zi­ge „Leis­tung“ bestand dar­aus, einen berühm­ten Men­schen aus dem Leben zu schie­ßen. Amok­läu­fer trei­ben die­ses Phä­no­men auf die Spit­ze, denn ihr Bekannt­heits­grad rich­tet sich nicht zuletzt nach der Zahl ihrer Opfer. (Von Bas­ti­an B., der vor zwei­ein­halb Jah­ren an einer Schu­le in Ems­det­ten Amok lief, dabei aber nur sich selbst töte­te, habe ich bei­spiels­wei­se nie den Nach­na­men gele­sen.)

Die Täter blei­ben im Gedächt­nis, sie wer­den ger­ne mal – so grau­sam ist die Welt – zu Pop­kul­tur-Iko­nen. Wir wis­sen fast alles über sie, aber das hilft uns weder zu ver­ste­hen, noch kann es ver­hin­dern, dass wei­te­re Schü­ler-Gehir­ne auf over­load umstel­len (ein Bild, das dem Boom­town-Rats-Song „I Don’t Like Mon­days“ ent­stammt, der – natür­lich – von einem Schul­mas­sa­ker han­delt). Ver­mut­lich wüss­te nie­mand mehr den Namen von Sil­ke Bisch­off, die beim Gei­sel­dra­ma von Glad­beck ums Leben kam, wenn sich nicht eine Band nach ihr benannt hät­te. Die Täter? Klar: Rös­ner und Degow­ski.

Der klei­ne, aus­ge­sto­ße­ne Teen­ager, der von der Gesell­schaft igno­riert wird (und ver­mut­lich Mari­lyn Man­son hört und „Coun­terstrike“ spielt), sieht die Fotos von Har­ris, Kle­bold, Stein­häu­ser und wha­te­ver­his­na­me­may­be auf den Zei­tun­gen und nach jedem wei­te­ren Amok­lauf im Fern­se­hen. Wenn genug äuße­re Umstän­de und frei zugäng­li­che Waf­fen zusam­men­kom­men, könn­te es die Aus­sicht auf genau die­se post­hu­me Hall of Fame der durch­ge­dreh­ten Schü­ler sein, die ihn letzt­lich zur Tat schrei­ten lässt.

Soll das hei­ßen, die Medi­en soll­ten sich selbst zen­sie­ren? Viel­leicht.

Soll das hei­ßen, die Medi­en soll­ten man ein bis zwei Gän­ge run­ter­schal­ten? Auf jeden Fall!

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20 Jahre Totalversagen

Jour­na­lis­ten lie­ben Jubi­lä­en. Im Gegen­satz zu tat­säch­li­chen, tages­ak­tu­el­len Ereig­nis­sen tre­ten die­se nicht über­ra­schend auf, man kann die The­men gründ­lich recher­chie­ren, mit Zeit­zeu­gen spre­chen und das Gesche­hen frei von Affek­ten in sei­nen his­to­ri­schen Kon­text ein­ord­nen. Ich wür­de nicht aus­schlie­ßen, dass die ers­ten Repor­ter am Abend des 11. Sep­tem­ber 2001 began­nen, ihre gro­ße „Ten years after“-Geschichte vor­zu­be­rei­ten.

Die­ser Tage jährt sich das Gei­sel­dra­ma von Glad­beck zum zwan­zigs­ten Mal. Ein im wahrs­ten Wort­sin­ne tra­gi­sches Ereig­nis, bei dem schlicht­weg alles schief ging, was schief gehen konn­te, und das inso­fern in einer Rei­he mit dem Olym­pia-Atten­tat von Mün­chen und der Schley­er-Ent­füh­rung steht. Eine Ver­ket­tung von Uner­fah­ren­heit und Inkom­pe­tenz auf Sei­ten der Behör­den, ein Total­ver­sa­gen der bericht­erstat­ten­den Pres­se.

Ich bin zu jung, um mich an die drei Tage im August 1988 erin­nern zu kön­nen, aber man kennt ja die Bil­der von Sil­ke Bisch­off mit der Pis­to­le an der Schlä­fe und Hans-Jür­gen Rös­ner mit der Pis­to­le zwi­schen den Zäh­nen. Und gera­de das Foto von Sil­ke Bisch­off macht die gro­ße Erin­ne­rungs­pa­ra­de, die schon seit eini­gen Wochen in den deut­schen Medi­en abge­hal­ten wird, zu einer Grat­wan­de­rung.

Bereits vor einem Monat brach­te „Bild“ im Zuge einer gro­ßen Glad­beck-Serie einen Arti­kel über Sil­ke Bisch­offs Mut­ter, der wie folgt über­schrie­ben war:

20 Jahre nach Gladbeck: Dieses Bild lässt die Mutter der toten Silke nie mehr los

Das Demons­tra­tiv­pro­no­men stand da natür­lich nicht ver­se­hent­lich, denn „die­ses Bild“ war dar­über natür­lich noch ein­mal rie­sen­groß abge­druckt.1

Fast ähn­lich bizarr ist der Spa­gat, den die „WAZ“ voll­bringt: auf derwesten.de ist ein Foto von Tätern, Waf­fen und Gei­sel zu sehen, nur weni­ge Zen­ti­me­ter über die­sem Absatz:

Dass es überhaupt dieses Bild gibt: der Täter, die Waffe, die Geisel. Und dann aus dem Off diese Frage, was für eine Frage! "Was fühlen Sie so, mit der Waffe am Hals?" Silke Bischoff guckt fast freundlich über das Mikrofon, es ist ihr bald so nah wie der Revolver. "Gut", sagt sie, sie habe bloß Angst, "dass jemand umgebracht wird oder so".

Da weiß man auch nicht, ob die fol­gen­de Pas­sa­ge Selbst­kri­tik oder Recht­fer­ti­gung sein soll:

Jour­na­lis­ten han­deln statt nur zu beob­ach­ten. Ange­se­he­ne Repor­ter sind unter ihnen, von öffent­lich-recht­li­chen Sen­dern und auch von der WAZ. Oft weiß die Pres­se mehr als die Poli­zei.

Es ist schwie­rig, über die Feh­ler der Pres­se von damals zu berich­ten, in der Pres­se von heu­te. Und es ist schwie­rig, die­se Fotos zu ver­wen­den. Einer­seits gibt es sie, sie sind jour­na­lis­ti­sche Fak­ten, die damals geschaf­fen wur­den und nicht rück­gän­gig gemacht wer­den kön­nen. Ande­rer­seits besteht die Gefahr, mit jedem Wie­der­ab­druck nicht nur das Leid der Ange­hö­ri­gen (s. o.) zu ver­grö­ßern, son­dern auch die Demü­ti­gung der dama­li­gen Opfer zu wie­der­ho­len. Wir haben es natür­lich mit Zeit­do­ku­men­ten zu tun, aber man kann sie heu­te nur zei­gen, weil die Medi­en damals ver­sagt haben. Und so ist es eini­ger­ma­ßen schi­zo­phren, das Medi­en­ver­sa­gen von damals mit genau die­sen Fotos zu bebil­dern.

Wenn man län­ger über die­sen Sach­ver­halt nach­denkt, befin­det man sich plötz­lich tief in einer ethi­schen Grund­satz­dis­kus­si­on. Wozu sind Bil­der wie die von der ver­ängs­tig­ten Sil­ke Bisch­off auf der Rück­bank oder von Hanns Mar­tin Schley­er im durch­ge­schwitz­ten Unter­hemd da? Sol­len sie mah­nen, dass sich das Gezeig­te nicht wie­der­ho­len dür­fe, sol­len sie Mit­leid erzeu­gen oder sol­len sie (aber­mals) die Sen­sa­ti­ons­gier befrie­di­gen?2 Sol­che Bil­der sind durch ihre stän­di­ge Wie­der­ho­lung irgend­wann mehr als nur die Abbil­dung von Ereig­nis­sen. Sie wer­den zu pop­kul­tu­rel­len Iko­nen, so wie die Ein­schlä­ge der Flug­zeu­ge am 11. Sep­tem­ber 2001, die bereits einen Tag spä­ter als Dau­er­schlei­fe Teil des On-Screen-Designs in den Son­der­sen­dun­gen von RTL waren. Sie waren aber genau genom­men auch nie nur die Abbil­dung von Ereig­nis­sen, gera­de die­se Bil­der waren selbst Teil der Ereig­nis­se.

Auch stellt sich die Fra­ge, ob es „gut“, „schlecht“ oder „egal“ ist, wenn sol­che Bil­der zu Iko­nen wer­den. Ver­mut­lich kommt es da unter ande­rem dar­auf an, ob man sich an die Täter oder an die Opfer erin­nert. Es lau­fen ja ernst­haft immer noch Men­schen mit dem Foto von Charles Man­son auf dem T‑Shirt her­um und Mari­lyn Man­son hat sich ja bewusst nach Mari­lyn Mon­roe und Charles Man­son benannt. Die Band 18 Sum­mers hieß übri­gens lan­ge Jah­re Sil­ke Bisch­off, was man ganz und gar geschmack­los fin­den, aber viel­leicht auch ver­ste­hen kann, wenn Sän­ger Felix Flau­cher erklärt, dass es ihm um das Schick­sal einer Ein­zel­per­son gehe, das viel stär­ker berüh­ren kann als das einer anony­men Men­ge.

Wenn wir als Schü­ler im Geschichts­un­ter­richt Fotos aus den frisch befrei­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern gezeigt beka­men, war die Bot­schaft klar: So etwas darf nie wie­der pas­sie­ren, sorgt gefäl­ligst dafür! Was aber sol­len uns die Fotos von Glad­beck3 heu­te sagen? Für Jour­na­lis­ten schwingt da natür­lich ein „nie wie­der“ mit und die – zuge­ge­ben eher theo­re­ti­sche – Fra­ge, wie man sich eigent­lich selbst in einem sol­chen Fall ver­hal­ten wür­de. Aber Jour­na­lis­ten sind eine ziem­li­che Min­der­heit.

Ande­rer­seits rufen Medi­en in Groß­bri­tan­ni­en oder den USA schon län­ger ihre Zuschau­er bzw. Leser dazu auf, sich bei gro­ßen Ereig­nis­sen (also span­nen­den Kata­stro­phen) an der Bericht­erstat­tung zu betei­li­gen. So kam CNN im ver­gan­ge­nen Jahr an einen Teil sei­ner Bil­der vom Amok­lauf in Blacksburg, VA. Udo Röbel, der sich damals als Repor­ter des Köl­ner „Express“ beson­ders unrühm­lich her­vor­tat, als er zu den Tätern ins Auto stieg und sie aus der Stadt lots­te, sagt jetzt in einem sehr lesens­wer­ten Arti­kel der „Süd­deut­schen Zei­tung“:

„Aber was ich schon glau­be, ist, dass wir irgend­wann ein Glad­beck ande­rer Art krie­gen könn­ten. Inzwi­schen tum­meln sich ja Leu­te in der Medi­en­welt, die Jour­na­lis­mus gar nicht gelernt haben. Es gibt Mül­ler, Mei­er, Schul­ze, die mit dem Han­dy unter­wegs sind und jeder­zeit in Situa­tio­nen kom­men kön­nen, wo etwas pas­siert, was sie dann fil­men.“

Viel­leicht wür­de ein ähn­li­ches Ver­bre­chen heu­te unter der 1414 statt­fin­den.

Lan­ge wird die Erin­ne­rung an „Glad­beck“ und die Selbst­re­fle­xi­on aller­dings sowie­so nicht vor­hal­ten: am 28. August steht „20 Jah­re Ram­stein“ an.

  1. Dass das Foto inzwi­schen aus der Online-Ver­si­on des Arti­kels ent­fernt wur­de, hat wenig zu bedeu­ten – erfah­rungs­ge­mäß hat das bei Bild.de häu­fig mit Bild­rech­ten und sel­ten mit Anstand zu tun. []
  2. Der Fall Schley­er unter­schei­det sich vom Fall Bisch­off inso­fern, als die Ent­füh­rer die Fotos selbst gemacht haben – zum einen, um zu bewei­sen, dass sie Schley­er tat­säch­lich in ihrer Gewalt haben und er noch lebt, zum ande­ren sicher auch, um ihr Opfer zu demü­ti­gen. []
  3. „Glad­beck“ ist ja in die­sem Fall auch nur ein ver­ein­fa­chen­des Schlag­wort, Sil­ke Bisch­off wur­de ja in Bre­men als Gei­sel genom­men, die berühmt-berüch­tig­ten Fotos ent­stan­den auf der Dom­plat­te in Köln. []