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Sex, Lügen und Video

In den letz­ten Tagen habe ich mei­ne hal­be peer group zuge­bal­lert mit der Fra­ge, ob sie ES denn schon gele­sen hät­ten — um dann jeweils nach­zu­schie­ben, dass mit „ES“ nicht der so beti­tel­te Roman von Ste­phen King gemeint sei, son­dern das mit vie­len über­ra­schen­den Groß­schrei­bun­gen durch­zo­ge­ne neue Buch von Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re (wobei es eigent­lich in bei­den um extrem gru­se­li­ge Clowns geht).

„Noch wach?“ ist die Geschich­te drei­er Män­ner – ein Ich-Erzäh­ler; ein mäch­ti­ger Medi­en­ma­na­ger, der immer nur als „mein Freund“ vor­ge­stellt wird; ein Chef­re­dak­teur in des­sen Kon­zern, der jede Men­ge Affä­ren mit ihm unter­ge­ord­ne­ten jun­gen Frau­en unter­hält -, und eini­gen die­ser Frau­en, die als ein­zi­ge Cha­rak­te­re Namen haben. Mehr oder weni­ger zufäl­lig gerät der Erzäh­ler in die­sen Sumpf aus Macht­miss­brauch, Män­ner­kum­pe­lei und poli­ti­scher Radi­ka­li­sie­rung. Eine #MeToo-Geschich­te, die trau­ri­ger­wei­se über­all spie­len könn­te, im Text aber in einem Ber­li­ner Kra­wall-Fern­seh­sen­der, wes­we­gen sich jetzt alle fra­gen, ob damit nicht eigent­lich ein sehr kon­kre­tes Ver­lags­haus gemeint sein müss­te.

Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Es ist schon amü­sant, wenn auch auf Dau­er depri­mie­rend, zu sehen, wie das ver­sam­mel­te Feuil­le­ton-Per­so­nal das Lite­ra­tur­grund­stu­di­um in den Wind schießt und wie von Sin­nen Autor und Erzäh­ler, Fik­ti­on und Rea­li­tät (oder doch Wirk­lich­keit?) durch­ein­an­der­wirft und die gan­ze Zeit (und schon vor Ver­öf­fent­li­chung) einen „Schlüs­sel­ro­man“ her­bei­sehnt. Da möch­te man irgend­wann nur noch rufen: Kin­der, Schlüs­sel sind hier echt nicht das Pro­blem, son­dern Tas­sen und Lat­ten. Im Schrank und … naja, las­sen wir das.

Der unbe­ding­te Wil­le zur Dechif­frie­rung ist sen­sa­ti­ons­lüs­tern und unge­recht gegen­über dem Autoren, denn das Buch ist eben vor allem wahn­sin­nig gut geschrie­ben. Stuck­rad-Bar­re kann, das beweist er jetzt auch schon seit über 25 Jah­ren, in Situa­tio­nen das Wesent­li­che erfas­sen (was ja sel­ten das ist, wor­über alle reden wür­den) und beschrei­ben.

Damit macht „Noch wach?“ die gan­ze Drum­her­um-Bericht­erstat­tung abso­lut über­flüs­sig. Es ist, gera­de weil es sich immer wie­der lus­tig macht über abso­lu­te Urtei­le und defi­ni­ti­ve Ein­schät­zun­gen, ein bei­na­he kom­plet­tes Abbild der mitt­le­ren 10er bis frü­hen 20er Jah­re. Ein etwas zu früh erschie­ne­nes Kom­pen­di­um für nach­ge­bo­re­ne Gene­ra­tio­nen, in dem die spä­ter noch mal nach­gu­cken kön­nen, was für einen Quatsch es damals (also: heu­te, wenn auch nicht mehr zwin­gend nächs­tes Jahr) so gab: Twit­ter, Fox News, Elek­tro­rol­ler, Wire­card und die FDP.

Der leib­haf­ti­ge Elon Musk hat einen Cameo-Auf­tritt und wird dabei von Stuck­rad-Bar­re der­art gut beschrie­ben, dass irgend­wel­che Bio­gra­phien her­nach über­flüs­sig sind (was sie natür­lich eh sind, denn Elon Musk ist – wie die aller­meis­ten Män­ner in die­sem Buch – ein abso­lu­ter Loser, des­sen rela­ti­ve Wich­tig­keit sich objek­tiv nicht erklä­ren lässt, was die­se gan­zen Män­ner und ihre jewei­li­gen Erfol­ge um so erschüt­tern­der macht). Sprach­lich legt der Autor eine bru­ta­le Prä­zi­si­on an den Tag; lau­ter fina­le Ret­tungs­schüs­se mit der abge­säg­ten Schrot­flin­te. Die Sili­con-Val­ley-Hörig­keit altern­der deut­scher Mana­ger wird genau­so abge­hakt wie die mit ihr ein­her­ge­hen­den „new work“-Immobilien — und wenn man tat­säch­lich jemals zu Archi­tek­tur tan­zen konn­te, dann in der Form, wie Stuck­rad-Bar­re die­se absur­den „The Circle“-Konzernzentralen beschreibt. Ihre „Phi­lo­so­phie“: Arbeit soll sich anfüh­len wie Frei­zeit — aber eben auch umge­kehrt. Und das passt dann natür­lich wie­der sehr gut zur Ver­knüp­fung von Dienst­li­chem und Pri­va­tem auf ganz ande­rer Ebe­ne.

Eigent­lich erzählt der Roman auch min­des­tens zwei Geschich­ten: Die von die­sem gan­zen Macht­miss­brauch-Elend und die eines Vater­lo­sen, der viel zu lan­ge an sei­nem väter­li­chen Freund fest­hält, wäh­rend die­ser viel zu lan­ge an sei­nem lei­ten­den Ange­stell­ten fest­hält. Die eine über­la­gert die ande­re zurecht, weil sie die grö­ße­ren Unge­heu­er­lich­kei­ten ent­hält, aber irgend­wann lohnt es sich viel­leicht auch noch mal genau­er hin­zu­schau­en, wie vie­le jun­ge Män­ner, deren Väter frü­her zu viel gear­bei­tet haben, im Lau­fe der Jahr­zehn­te ihre Kar­rie­ren in allen mög­li­chen Bran­chen älte­ren Män­nern ver­dan­ken, die zwar zu wenig zuhau­se waren, aber wenigs­tens bei der Arbeit als „Men­tor“ jeman­den „unter ihre Fit­ti­che neh­men“ kön­nen.

Und natür­lich steht irgend­wann breit­bei­nig die Fra­ge im Raum, ob die Geschich­te von Frau­en, die sich durch ein Minen­feld von juris­ti­schen Dro­hun­gen, beruf­li­cher Exis­tenz­angst und Retrau­ma­ti­sie­rung bewe­gen, denn jetzt unbe­dingt von einem wei­te­ren Mann erzählt wer­den muss — aber auch damit setzt sich der Erzäh­ler (aber in Inter­views auch sein Autor) immer wie­der aus­ein­an­der. Der Erzäh­ler sagt, dass er sich die­se Rol­le nicht aus­ge­sucht habe, aber wenn einer der bekann­tes­ten Autoren des Lan­des auf die ganz gro­ße Pau­ke haut, schlägt das eben höhe­re Wel­len, als wenn jemand anders ein ande­res Buch zum glei­chen The­ma geschrie­ben hät­te. Das kann man unbe­dingt schlecht fin­den oder unge­recht, aber es ist – Stand jetzt – der Zustand unse­rer Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie.

Dabei ist es beson­ders inter­es­sant, wie fast alle Medi­en über­se­hen, dass sie und ihre Spe­ku­la­ti­ons-Bericht­erstat­tung ja selbst schon im Roman vor­kom­men. Schwarz auf weiß, auf Sei­te 349:

Kurz­um, ein unwi­der­steh­li­ches Gos­sen­ge­schwätz­su­jet, und das berei­te­te vie­len die aller­größ­te Freu­de. Die Zuta­ten waren ja auch unschlag­bar: Sex, Schön­heit, lan­ge Näch­te — erst dadurch wur­de das gan­ze eine STORY, eine Sto­ry, die jeden inter­es­sier­te. Schwie­me­lig, dop­pel­deu­tig­keits­s­att und gei­fer­trie­fend geriet das Gere­de und Geschrei­be dar­über, und das nahm lei­der der eigent­li­chen Geschich­te ihre Wucht.

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Not Following

Seit Tagen wur­de ich von Freun­den dar­auf hin­ge­wie­sen, dass am gest­ri­gen Sams­tag auf arte die end­gül­ti­ge Demas­kie­rung von Lena Mey­er-Land­rut zu bestau­nen sei. Die sei näm­lich doof, zickig und wahn­sin­nig anstren­gend, so war es vor­ab in den Medi­en zu lesen.

Die „Spex“ ver­kün­de­te:

Dabei knüpft Lena an die frag­wür­di­gen Dau­er­inter­views rund um ihre geschei­ter­ten Titel­ver­tei­di­gung in die­sem Jahr an, als das Bild vom ganz natür­li­chen Lieb­ling der Nati­on ers­te Ris­se bekam.

Und die „Visi­ons“ nutz­te die Gele­gen­heit, auf dem doo­fen, doo­fen Main­stream-Publi­kum rum­zu­ha­cken:

Bleibt nur zu hof­fen, dass die Epi­so­de von „Durch die Nacht mit“ das Bild von Lena als süßes, keckes Mäd­chen in den Köp­fen der tum­ben Mas­se rela­ti­viert.

Bei­des sind kei­ne Medi­en, in denen Lena sonst groß statt­fin­det, und viel­leicht hat­ten bei­de das Bedürf­nis, den ande­ren Teil­neh­mer von „Durch die Nacht mit“ beschüt­zen zu müs­sen: den Indie-Lieb­ling Cas­per, mit des­sen Musik ich nach wie vor nicht viel anfan­gen kann, den ich in Inter­views aber oft sehr sym­pa­thisch fin­de.

Ich hat­te es vor­her schon geahnt und tat­säch­lich bestä­tig­te die fer­ti­ge Sen­dung, dass alles so schlimm nicht wer­den wür­de. Im Gegen­teil: Es war eine hoch­ver­gnüg­li­che Tour durch Ber­lin, die (im Gegen­satz zu ande­ren im Vor­feld hoch­ge­jazz­ten Sen­dun­gen) durch­aus das Zeug zum Klas­si­ker hat – nur halt ganz anders als gedacht.

Der Start ist tat­säch­lich kein guter: Lena kommt in Cas­pers Woh­nung, bei­de ste­hen ein biss­chen kramp­fig rum und Lena sagt: „Ja, schön. Schön ein­ge­rich­tet, schön dre­ckig auch!“ Damit bricht sie erst mal so ziem­lich alle zwi­schen­mensch­li­chen Kon­ven­tio­nen, die so in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten zum The­ma Höf­lich­keit ent­wi­ckelt wur­den. Viel­leicht wür­de man den Pri­vat­be­such, der einem so etwas sagt, auf der Stel­le acht­kan­tig wie­der raus­schmei­ßen – aber zu Beginn einer Fern­seh­sen­dung ist das doch ein span­nen­der Auf­takt, der das Gegen­über aus der Reser­ve holen könn­te. Könn­te, denn hier klappt es nicht.

Nach dem miss­glück­ten Auf­takt sieht es erst mal nicht gut aus: Lena und Cas­per haben nicht den glei­chen Geschmack bei Tat­too­mo­ti­ven (kön­nen sich aber dar­auf eini­gen, dass Leu­te, die dem Tät­to­wie­rer ihre Lebens­ge­schich­te erzäh­len, bestimmt super-anstren­gend sind), bei Musik, bei der Abend­pla­nung. Cas­per sitzt erst mal ziem­lich ner­vös neben ihr, was aber auch sehr sym­pa­thisch wirkt. Lenas „Du malst jetzt echt ’ne Kat­ze und so’n Kack, ne?“ liest sich tran­skri­biert nach gro­ßer Bos­haf­tig­keit, kommt im O‑Ton in der Situa­ti­on dann aber doch deut­lich kum­pe­lig-flap­si­ger rüber.

Tat­säch­lich gibt es zahl­rei­che har­mo­ni­sche Momen­te, zum Bei­spiel die Sze­ne, in der bei­de erzäh­len, dass sie nicht in einem Raum blei­ben könn­ten, in dem ihre eige­ne Musik läuft, und Lena dann kurz zu Höchst­leis­tun­gen auf­läuft:

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Das hier ist dann wie­der nicht so gut:

Gran­di­os aber auch die Sze­ne, wo die bei­den in einem futu­ris­ti­schen Wohn­raum­kon­zept vol­ler rie­si­ger auf­ge­bla­se­ner Plas­tik­ku­geln sit­zen und Cas­per anfängt: „Wenn man sich das jetzt als Woh­nung der Zukunft vor­stellt …“, bevor Lena das gan­ze intel­lek­tu­el­le Künst­ler-Kon­zept mit einem „… isses schei­ße!“ kurz und knapp hin­rich­tet. So jeman­den wie Lena braucht man in den Gale­rien, Kon­zert­sä­len und bei Poet­ry Slams, die von Leu­ten besucht wer­den, die mal gehört haben, dass sie dort Kunst erwar­te.

Wirk­lich men­scheln kann’s dann zum Bei­spiel in dem Moment, wo Lena „pin­keln“ ist und Cas­per sich nett und unge­zwun­gen mit zwei Muse­ums­be­diens­te­ten unter­hal­ten kann: „Wir hal­ten doch die Men­schen von ihrem Fei­er­abend ab!“ Lena wird ihm anschlie­ßend auf ver­stö­rend abge­klär­te Art erklä­ren, die bei­den Mäd­chen sei­en total ver­liebt in ihn gewe­sen, was Cas­per über­rascht zurück­weist und ich weiß, das hört sich jetzt nicht spek­ta­ku­lär an, aber ich saß davor und rief ent­zückt „ist das toll!“ in den sonst men­schen­lee­ren Raum.

Irgend­wann haben die bei­den dann eine Ebe­ne gefun­den, auf der sie sich durch­aus humor­voll gegen­sei­tig ange­hen kön­nen: „Ich würd‘ Dir noch ’n Als­ter aus­tun, wenn Du magst!“ – „Aus­tun?!“, „Ist das Dei­ne ech­te Schrift?!“, „Na, das ist ja jetzt schei­ße!“ – „Wie­so ist das schei­ße? Du bist schei­ße!“ – „Du bist schei­ße!“. Man muss das natür­lich sehen und hören, denn in Schrift­form taugt es tat­säch­lich zu der Skan­da­li­sie­rung, die die Medi­en im Vor­feld ver­sucht hat­ten. Besorg­nis­er­re­gen­der­wei­se klan­gen aus­ge­rech­net die Redak­teu­re der Musik­zeit­schrif­ten dabei wie ihre eige­nen Groß­el­tern, aber viel­leicht sind das halt so Vega­ner, die zum Lachen in den Kel­ler gehen und bei You­Tube immer ver­zwei­felt nach dem einen gei­len Indie-Song suchen müs­sen, der noch nicht mehr als 34 Views hat. Lena und Cas­per zuzu­se­hen ist jeden­falls, wie mit mei­nen Freun­den unter­wegs zu sein: hart, aber doch durch­aus herz­lich.

Nach­dem die bei­den Nachts durch die lee­ren Flu­re der Deut­schen Pop­aka­de­mie (gähn!) gelau­fen sind und in ein Zim­mer mit Instru­men­ten gesperrt wur­den, spie­len sie Gal­gen­männ­chen. Das allein ist ja schon groß­ar­tig abwe­gig, aber dann wird Frau Mey­er-Land­rut wie­der gehäs­sig, Herr Cas­per zickt zurück und her­ein platzt der wahn­sin­nig umtrie­bi­ge Mann von der Pop­aka­de­mie, der von der „Lounge“ erzählt, die „das Herz­stück der Aka­de­mie“ sei. Eigent­lich ist es ein Wun­der, dass in die­sem Moment nie­mand vier­hun­dert Aro­sa schlitz­ver­stärkt mit kur­zem Arm bestel­len will, aber dann sit­zen sie halt in die­ser „Lounge“, trin­ken Mine­ral­was­ser und füh­ren ein (wie Cas­per und Lena hin­ter­her offen zuge­ben) eher zähes Gespräch mit Stu­den­ten. Jeder Ver­such des Aka­de­mie-Manns, sich und sei­ne tol­le Insti­tu­ti­on irgend­wie ins Gespräch ein­zu­brin­gen, prallt gran­di­os ab und das geschieht ihm in die­sem Moment ehr­lich gesagt ganz recht.

Dass eine Frau eine ande­re beim ers­ten Hän­de­druck vor allen Leu­ten fragt, ob die Wim­pern echt oder ange­klebt sei­en, ver­stößt mal wie­der gegen so ziem­lich alle zwi­schen­mensch­li­chen Kon­ven­tio­nen – aber es ist eben auch genau die­se Authen­ti­zi­tät, für die Lena mal eine kur­ze Zeit von den Medi­en geliebt wur­de. Lena lie­fert nicht das, was die Medi­en bei ihr bestel­len. Der Beob­ach­ter­ef­fekt, der eigent­lich zwangs­läu­fig alle Natür­lich­keit zer­stört, sobald eine Fern­seh­ka­me­ra dabei ist, bleibt aus, statt­des­sen fragt man sich stän­dig, ob sie das jetzt grad wirk­lich wie­der gesagt hat. Doch, hat sie: Der Frau mit den „natür­lich ech­ten“ Wim­pern sagt sie zum Abschied: „Ich fin­de, Du könn­test mir ’n biss­chen was von Dei­nen Brüs­ten abge­ben!“

Was die Medi­en vor­ab nicht für erwäh­nens­wert hiel­ten, ist etwa die Sze­ne, in der die bei­den im Auto vol­ler Hin­ga­be „Son Of A Pre­a­cher Man“ oder „Big In Japan“ sin­gen, wobei sie die Tex­te von einem iPho­ne-Dis­play able­sen müs­sen, oder die, wo sie sich Pom­mes essend über Fans bekla­gen, die Pro­mis in pri­va­ten Situa­tio­nen behel­li­gen, und Lena dann unver­mit­telt und mit ver­klär­tem Blick über Turn­schu­he zu spre­chen beginnt.

Das heißt: „Welt Online“ hat das erwähnt, fass­te es aber als Unpro­fes­sio­na­li­tät auf und bölk­te:

Offen­sicht­lich wird an die­sem Abend, dass die bei­den mit ihrer Rol­le als Pro­mi­nen­te noch über­for­dert sind.

Natür­lich war „Durch die Nacht mit Liza Min­nel­li und Fritz Wep­per“ schön, weil da zwei Voll­pro­fis, die sich ewig ken­nen, form­voll­endet mit­ein­an­der umgin­gen, aber das ande­re Ende des Spek­trums kann ja genau­so span­nend sein, wenn man sich denn drauf ein­las­sen will.

Man kann sich doch nicht einer­seits über die gan­zen strom­li­ni­en­för­mi­gen Pop­s­tern­chen, Fuß­bal­ler und Poli­ti­ker der Gegen­wart bekla­gen und dann ande­rer­seits sofort Zeter und Mor­deo schrei­en, wenn mal jemand vor­bei­kommt, der unkon­ven­tio­nell und anders ist. Man muss das ja noch nicht mal als Natür­lich­keit prei­sen und sich dar­über freu­en, man muss Lena oder Cas­per nicht mal mögen, aber man könn­te doch zumin­dest mal aner­ken­nen, wenn da plötz­lich „Stars“ auf­tau­chen, die anders sind. Die müs­sen dann natür­lich nicht „Lieb­ling der Nati­on“ sein, aber wer wür­de das auch wol­len?

Ich hab in letz­ter Zeit von meh­re­ren Kol­le­gen gehört, dass Lena anstren­gen­der und weni­ger locker gewor­den sei. Von Cas­per heißt es, dass er sich nach dem Abend regel­recht aus­ge­heult bzw. aus­ge­kotzt haben soll. Das mag alles sein, nur die dabei ent­stan­de­ne Sen­dung taugt nicht zum Beleg. Ja: Lena hat offen­sicht­lich kei­ne gro­ße Lust auf die gan­ze Sache, sie zickt rum und Cas­per zickt zurück – aber das kann doch nie­mand, der in den letz­ten zwan­zig Jah­ren mal mit jun­gen Men­schen zu tun hat­te, ernst neh­men! Man muss sich doch als Musik­ma­ga­zin nicht dem Skan­da­li­sie­rungs­wahn der ande­ren Medi­en anschlie­ßen und wie die „Spex“ „fast die Eska­la­ti­on“ her­bei­schrei­ben!

Selbst der Abschied der bei­den von­ein­an­der oszil­liert viel­far­big zwi­schen Neid, Gehäs­sig­keit und schlich­ter Freu­de an exakt die­ser Situa­ti­on. Natür­lich gibt es Sze­nen, in denen man ahnt, wel­che Leis­tung Cut­ter Mar­tin Eber­le erbracht haben muss, um aus vie­len schwie­ri­gen Situa­tio­nen einen erträg­li­chen Film zu schnei­den, aber es ist ihm gelun­gen.

„Durch die Nacht mit Lena und Cas­per“ ist noch bis nächs­ten Sams­tag in der arte-Media­thek ver­füg­bar.

Offen­le­gung: Ich bin Frau Mey­er-Land­rut ein paar Mal begeg­net und fin­de sie recht sym­pa­thisch.

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Christian Wulff schockt Redakteure

So lang­sam wird es wirk­lich eng für Chris­ti­an Wulff. „Spie­gel Online“ kann heu­te mit einer wei­te­ren Ent­hül­lung auf­war­ten, die den Rück­halt des Bun­des­prä­si­den­ten wei­ter schmä­lern dürf­te.

Für wie bri­sant die Redak­teu­re die neu­es­te Geschich­te hal­ten, zeigt schon ihre Plat­zie­rung: Auf der Start­sei­te, direkt unter dem Auf­ma­cher.

Wulffs Verhältnis zu den Medien: "Manchmal schock ich Redakteure". Der Bundespräsident hat ein schwieriges Verhältnis zu den Medien, nicht erst seit dem Anruf beim "Bild"-Chef. Schon als Ministerpräsident wetterte Christian Wulff gegen kritische Berichterstattung. Selbst bei einem Auftritt mit Kindern gab es Schelte vom damaligen Landesvater.

Mei­ne Güte, der Mann schreckt aber auch vor nichts zurück:

Selbst bei einem Auf­tritt mit Kin­dern gab es Schel­te vom dama­li­gen Lan­des­va­ter.

Das klingt, als habe der ehe­ma­li­ge Traum-Schwie­ger­sohn Kin­der vor den Augen von Jour­na­lis­ten ver­dro­schen – und ist völ­li­ger Unsinn.

Zuge­tra­gen hat­te sich bei der „Kin­der-Pres­se­kon­fe­renz“ der „Braun­schwei­ger Zei­tung“ im Jahr 2008 laut „Spie­gel Online“ fol­gen­des:

Er sagt zwar, er kön­ne mit Kri­tik gut umge­hen, aber nur, wenn er sie für berech­tigt hal­te. „Wenn Kri­tik unbe­rech­tigt ist, bin ich genau­so ärger­lich wie jeder, der sich kri­ti­siert fühlt, das aber nicht ein­se­hen will.“ Und dann wen­det er sich an sein Publi­kum, die fra­ge­stel­len­den Kin­der, damit die ver­ste­hen, dass es beim Berufs­po­li­ti­ker Wulff und der Pres­se genau­so ist wie bei ihnen, wenn sie von ihren Eltern einen Rüf­fel bekom­men. Schließ­lich wür­den die Kin­der auch schmol­len und sich zurück­zie­hen, wenn die Eltern meckern. „Inso­fern bin ich bei Kri­tik, wenn sie unbe­rech­tigt ist, manch­mal sehr grim­mig“, so Wulff.

Noch 20 Jah­re spä­ter kön­ne er sich an unlieb­sa­me Bericht­erstat­tung erin­nern, prahlt Wulff, und erzählt dann, wie er Jour­na­lis­ten direkt ange­he: „Manch­mal schock‘ ich Redak­teu­re, die was geschrie­ben haben, und sage: Damals, ’81, lin­ke Spal­te, drit­te Sei­te – und das neh­men die mir manch­mal übel!“ Denn Wulff weiß: „Wenn Jour­na­lis­ten mal kri­ti­siert wer­den, dann kann ich euch sagen, dann ist was los.“ Das könn­ten die Jour­na­lis­ten näm­lich über­haupt nicht aus­hal­ten.

(Wenn Wulff „ich bin ärger­lich“ sagt, meint er damit, dass er ver­är­gert sei. So viel zum Gerücht, die Nie­der­sach­sen hät­ten kei­ne merk­wür­di­ge Spra­che.)

Die Behaup­tung, dass (eini­ge) Jour­na­lis­ten kei­ne Kri­tik ver­trü­gen, ist – ver­gli­chen mit Wulffs stra­te­gi­schem Ver­hält­nis zur Wahr­heit und sei­nen bemer­kens­wer­ten Inter­pre­ta­ti­on von Begrif­fen wie „markt­üb­lich“ – ein beto­nier­tes Fakt. Nicht häu­fig, aber häu­fi­ger als nie, bekom­men wir beim BILD­blog E‑Mails von Jour­na­lis­ten, denen wir Feh­lern nach­ge­wie­sen oder deren Arbeit wir kri­ti­siert haben, und nicht immer sind die­se Zuschrif­ten sach­lich. In sel­te­nen Fäl­len beschimp­fen uns Chef­re­dak­teu­re in viel­far­bi­gen Tira­den, wes­we­gen ich ganz froh bin, dass ich nicht weiß, wie man die Mail­box an mei­nem Han­dy ein­schal­ten kann.

Dass Wulff vor Kin­dern damit koket­tiert, wie nach­tra­gend er angeb­lich sein kön­ne, ist natür­lich etwas besorg­nis­er­re­gend, aber es spricht doch für sich. Dass Wulff gegen kri­ti­sche Bericht­erstat­tung „wet­ter­te“, wie „Spie­gel Online“ im Vor­spann voll­mun­dig ver­spricht, lässt sich aus die­sen Zita­ten nicht ein­mal mit viel schlech­tem Wil­len her­aus­le­sen.

Im Gegen­teil: Wulff hat es sogar men­scheln las­sen.

„Wir Poli­ti­ker wer­den ja stän­dig kri­ti­siert“, sagt Wulff, „wir haben ein ganz dickes Fell.“ Er wol­le aber auch, dass Men­schen mit dün­nem Fell in der Poli­tik sein kön­nen. Das jedoch sei schwie­rig, man lese ja jeden Tag was über sich in der Zei­tung. „Das ist nicht alles nur posi­tiv.“

Nun hat sich in den letz­ten Wochen der Ein­druck auf­ge­drängt, dass Wulffs Fell in etwa so dick ist wie das eines Nackt­mulls in der Mau­ser. Inso­fern kann der Rück­blick auf die­se harm­lo­se Ver­an­stal­tung – natür­lich beglei­tet von einem 37-sekün­di­gen Video mit Wer­bung – durch­aus loh­nens­wert sein.

Aber doch bit­te nicht der­art bemüht:

Doch selbst bei die­ser harm­lo­sen Ver­an­stal­tung, fast vier Jah­re vor sei­nem umstrit­te­nen Anruf beim „Bild“-Chefredakteur, zeig­te Wulff, wie sehr ihm Jour­na­lis­ten auf die Ner­ven gehen – und wie nach­tra­gend er bei kri­ti­scher Bericht­erstat­tung ist.

Im Übri­gen schafft es der Arti­kel, Wulffs Image zumin­dest bei mir wie­der ein biss­chen auf­zu­po­lie­ren: Ein Mann, der angibt, Tapi­re und Mana­tis zu mögen, kann kein ganz schlech­ter Mensch sein.

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Der größte Fehler des Christian Wulff

Ich habe ein biss­chen Angst, einen Blog­ein­trag über Chris­ti­an Wulff anzu­fan­gen, weil es bei der aktu­el­len Gemenge­la­ge denk­bar ist, dass der Mann schon nicht mehr Bun­des­prä­si­dent ist, bevor ich den Text das ers­te Mal Kor­rek­tur lesen kann.

Natür­lich kann Wulff sei­nen Ver­such fort­set­zen, gegen die gesam­te deut­sche Pres­se, aber mit dem deut­schen Volk im Amt zu blei­ben. Das hat zwar schon bei Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg nicht funk­tio­niert (und der hat­te immer­hin bis zum Schluss die „Bild“ auf sei­ner Sei­te), aber Wun­der gibt es immer wie­der.

Zwar war Wulffs Rück­halt in der Bevöl­ke­rung vor dem gest­ri­gen TV-Inter­view schon merk­lich gesun­ken (am Mitt­woch waren nur noch 47 Pro­zent dafür, dass Wulff im Amt blei­ben soll­te, am Mon­tag waren es noch 63 Pro­zent), aber viel­leicht hat Wulff das soge­nann­te ein­fa­che Volk mit sei­nem merk­wür­di­gen Auf­tritt bei ARD und ZDF bes­ser über­zeu­gen kön­nen als die Jour­na­lis­ten. Wahr­schein­lich ist dies aller­dings auch nicht.

Wie dem auch sei: So lan­ge die Affä­re Wulff die Titel­sei­ten füllt und wei­te Tei­le der Nach­rich­ten­sen­dun­gen aus­füllt, so lan­ge geht natür­lich unter, dass sich Euro­pa immer noch in einer gro­ßen Kri­se befin­det, dass sich die Stim­mung zwi­schen dem Iran und dem Rest der Welt täg­lich ver­schlech­tert. Und ich mei­ne das nicht in dem Sinn, mit dem Online-Kom­men­ta­to­ren „Habt Ihr denn sonst kei­ne Sor­gen?“ fra­gen.

Als Richard Nixon im Zuge der Water­ga­te-Affä­re sei­nen Rück­tritt als US-Prä­si­dent erklär­te, tat er dies mit den unsterb­li­chen Wor­ten:

I have never been a quit­ter.

To lea­ve office befo­re my term is com­ple­ted is abhor­rent to every instinct in my body. But as Pre­si­dent, I must put the inte­rests of Ame­ri­ca first.

Ame­ri­ca needs a full-time Pre­si­dent and a full-time Con­gress, par­ti­cu­lar­ly at this time with pro­blems we face at home and abroad.

Nun unter­schei­den sich die Befug­nis­se von US- und Bun­des­prä­si­dent fun­da­men­tal: Ver­mut­lich wür­de es nie­man­dem auf­fal­len, wenn Chris­ti­an Wulff die letz­ten drei­ein­halb Jah­re sei­ner Amts­zeit tat­säch­lich aus­schließ­lich mit der Beant­wor­tung der vie­len, vie­len Jour­na­lis­ten­an­fra­gen ver­bräch­te. Einen Voll­zeit­prä­si­den­ten hat­te und brauch­te Deutsch­land nie – wes­we­gen ich übri­gens den Vor­schlag von Fried­rich Küp­pers­busch aufs Hef­tigs­te begrü­ße, das Amt des haupt­be­ruf­li­chen Grüß­au­gusts abzu­schaf­fen und den Bun­des­tags­prä­si­den­ten zum Staats­ober­haupt zu machen.

Wulff lähmt viel­leicht noch nicht ein­mal die Poli­tik – Poli­ti­ker von Koali­ti­on und Oppo­si­ti­on, die sich wort­ge­wal­tig vor TV-Kame­ras um das Anse­hen des höchs­ten Amts im Staa­te sor­gen, kön­nen in die­ser Zeit kei­nen ande­ren Scha­den anrich­ten. Aber Wulff lähmt das öffent­li­che Leben in Deutsch­land: Die Medi­en beschäf­ti­gen sich seit Tagen mit kaum etwas ande­rem und wis­sen ver­mut­lich längst, was sie als nächs­tes noch alles auf­de­cken wer­den – als Fort­set­zungs­ro­man ver­kauft sich jeder Skan­dal bes­ser denn als abge­schlos­se­ne Erzäh­lung und wer hat denn gesagt, dass Sala­mi­tak­ti­ken nur etwas für Poli­ti­ker sind? Der volks­wirt­schaft­li­che Scha­den, der seit Tagen durch die vie­len Wulff-Wit­ze (seit ges­tern auch noch: Schaus­ten-Wit­ze) auf Face­book und Twit­ter ent­steht, die alle wäh­rend der Arbeits­zeit gele­sen und geteilt wer­den müs­sen, ist sicher auch nicht zu ver­ach­ten.

Chris­ti­an Wulff hat in dem gest­ri­gen Inter­view viel davon gespro­chen, dass er Freun­de und Fami­lie habe schüt­zen wol­len und sich des­halb mit Infor­ma­tio­nen zurück­ge­hal­ten habe. Es steht außer Fra­ge, dass die Redak­tio­nen noch genug Muni­ti­on haben, um den waid­wun­den Prä­si­den­ten abzu­schie­ßen (um mal eine mar­tia­li­sche Phra­se zu ver­mei­den). Die Chan­cen ste­hen gut, dass es dabei um wei­te­re Details aus sei­nem Freun­des- und Bekann­ten­kreis geht. Auch wenn ich nicht glau­be, dass die in den ver­gan­ge­nen Tagen mehr oder weni­ger offen kol­por­tier­ten Gerüch­te zutref­fen, so wäre Chris­ti­an Wulff doch gut bera­ten, sein Umfeld aus der Schuss­li­nie zu brin­gen.

Ande­rer­seits könn­te es sein, dass das nun auch nichts mehr bringt: Wulff hat ges­tern im Fern­se­hen erzählt, er habe „Bild“-Chefredakteur Kai Diek­mann auf des­sen Mail­box gebe­ten, „um einen Tag die Ver­öf­fent­li­chung zu ver­schie­ben, damit man dar­über reden kann, damit sie sach­ge­mäß aus­fal­len kann“. Diek­mann hielt heu­te dage­gen und bat Wulff öffent­lich um die Geneh­mi­gung, den Wort­laut des Anrufs ver­öf­fent­li­chen zu dür­fen. Allein für die­se Gele­gen­heit, dass sich Kai Diek­mann als mora­li­sche Instanz und flau­schi­ges Unschulds­lamm prä­sen­tie­ren kann, muss man Wulff ver­ach­ten. Jetzt hat Wulff abge­lehnt und damit mut­maß­lich die Pfor­ten zur Höl­le auf­ge­sto­ßen.

Der prä­si­dia­le Aus­ras­ter auf sei­ner Mail­box dürf­te kaum Diek­manns letz­ter Trumpf gewe­sen sein. Wahr­schein­lich ging er fest davon aus, dass Wulff sei­ne Bit­te zur Ver­öf­fent­li­chung nega­tiv beschei­den wür­de, und hat die Anfra­ge des­halb gleich öffent­lich gemacht. Diek­mann konn­te zwei Mal „im Sin­ne der von Ihnen ange­spro­che­nen Trans­pa­renz“ argu­men­tie­ren und hat den Prä­si­den­ten damit fak­tisch schach­matt gesetzt: Setzt man vor­aus, dass Diek­manns Ver­si­on der Geschich­te stimmt, wäre Wulff der Lüge über­führt gewe­sen und damit end­gül­tig untrag­bar. Setzt man vor­aus, dass Wulffs Ver­si­on stimmt, hat er jetzt immer noch das Pro­blem, nicht „im Sin­ne der Trans­pa­renz“ gehan­delt zu haben. Er konn­te nur noch ver­lie­ren.

Es ist leicht, auf einen Abzock­voll­pro­fi wie Kai Diek­mann rein­zu­fal­len, aber einem Spit­zen­po­li­ti­ker (auch wenn er „ohne Karenz­zeit, ohne Vor­be­rei­tungs­zeit“ in sein aktu­el­les Amt gekom­men ist) soll­te das nicht pas­sie­ren. Ich fän­de es depri­mie­rend, sagen zu müs­sen, dass man sich mit „Bild“ nicht anle­gen soll­te, und glau­be das auch nicht. Aber man muss schon wis­sen, wie man es macht – und dabei in einer etwas glück­li­che­ren Aus­gangs­po­si­ti­on sein, als Wulff es war.

Kaum jemand stol­pert, pri­vat oder beruf­lich, über einen ein­zel­nen gro­ßen Feh­ler. Meist ist es eine unglück­se­li­ge Ver­ket­tung vie­ler klei­ner und mitt­le­rer Feh­ler. Egal, was jetzt noch raus­kommt: Der größ­te Feh­ler, den Chris­ti­an Wulff in mei­nen Augen gemacht hat, war der, „Bild“ und Kai Diek­mann die Gele­gen­heit zu geben, sich als seriö­se, mora­li­sche Jour­na­lis­ten insze­nie­ren zu kön­nen, was ihnen die Men­schen viel­leicht mehr abkau­fen als Wulff sei­ne Rol­le als reu­iger Sün­der. Wulff hat „Bild“ die Macht zurück­ge­ge­ben, die die Zei­tung eigent­lich nicht mehr hat­te.

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Der Ölprinz

Am Ende sind sie alle geschockt. Auf den Fern­seh­schir­men ist Adolf Hit­ler zu sehen, der „Füh­rer“ ihrer Orga­ni­sa­ti­on. „Ja, ja, Ihr wärt alle gute Nazis gewe­sen“, sagt ihr Leh­rer Ben Ross ((Mor­ton Rhue: Die Wel­le. Ravens­burg, 2011 (11984), S. 176.)) und die Schü­ler in der voll­be­setz­ten Aula schwei­gen betre­ten. Steht „Die Wel­le“ von Mor­ton Rhue eigent­lich immer noch auf dem Lehr­plan von Eng­lisch­kur­sen?

Nazi-Ver­glei­che ver­bie­ten sich eigent­lich als Stil­mit­tel in der sach­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung. Und den­noch fällt es schwer, ange­sichts von Hun­dert­tau­sen­den, meist jun­gen Men­schen, die sich bei Face­book „Gegen die Jagd auf Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg“ aus­spre­chen oder „Wir wol­len Gut­ten­berg zurück“ for­dern, nicht von einer „Gut­ten­berg­ju­gend“ zu spre­chen.

Es ist schwer zu sagen, woher aus­ge­rech­net bei einer eher als unpo­li­tisch geschol­te­nen Jugend plötz­lich die­se Begeis­te­rung für einen ein­zel­nen Minis­ter her­kommt – noch dazu für einen von der CSU, die sonst nicht unbe­dingt einen über­mä­ßi­gen Zuspruch jun­ger Wäh­ler erfährt. Ist es wirk­lich „eine ganz natür­li­che Nei­gung der Men­schen, nach einem Füh­rer Aus­schau zu hal­ten, nach irgend­je­man­dem, der alle Ent­schei­dun­gen“ trifft, ((ebd, S. 174.)) oder fällt das Licht einer Mas­sen­hys­te­rie hier eher zufäl­lig auf einen Poli­ti­ker?

Chuck Klos­ter­man hat ein­mal geschrie­ben, ((Chuck Klos­ter­man: Sex, Drugs and Cocoa Puffs. New York, 2004, S. 202.)) dass man wahr­schein­lich alle Men­schen außer­halb sei­nes engs­ten Freun­des­krei­ses mit einem ein­zi­gen Satz beschrei­ben kön­ne. In Wahr­heit reicht ver­mut­lich ein ein­zi­ges Wort oder Gefühl aus: Der Typ, der auf dem Schul­hof immer allei­ne rum­stand? „Nerd“. Die Kell­ne­rin aus dem Café um die Ecke? „Nied­lich“. Ste­fan Effen­berg? „Trot­tel“.

Wer das poli­ti­sche Tages­ge­schäft nicht mal min­des­tens ver­folgt, aber an Titel­bil­dern wie „Der coo­le Baron“, „Die fabel­haf­ten Gut­ten­bergs“ oder „Wir fin­den die GUTT!“ vor­über­geht, spei­chert den cha­ris­ma­ti­schen Fran­ken natür­lich schnell unter „cool“ ab, so wie ich als Kind Hel­mut Kohl unter „dick und mit Sprach­feh­ler“ abge­spei­chert hat­te. Wenn Gut­ten­bergs Kar­rie­re nicht ein jähes vor­läu­fi­ges Endes gefun­den hät­te, wäre er bis zur Bun­des­tags­wahl 2013 sicher noch auf dem Cover des deut­schen „Rol­ling Stone“ (Her­aus­ge­ber: Ulf Pos­ch­ardt) und der „Bra­vo“ auf­ge­taucht.

Im Prin­zip ist Gut­ten­berg für die jun­gen Leu­te also nichts ande­res als Jus­tin Bie­ber, Miley Cyrus oder Katy Per­ry – und genau auf die­sem Level ver­tei­di­gen die Fans ihr Idol auch. Doch wäh­rend Dis­kus­sio­nen über musi­ka­li­sche Geschmä­cker müßig sind (ich fand „Baby“ von Jus­tin Bie­ber zum Bei­spiel gar nicht schlecht), fol­gen poli­ti­sche Dis­kus­sio­nen für gewöhn­lich gewis­sen argu­men­ta­ti­ven Regeln. (Die­ser Satz ist eine Arbeits­hy­po­the­se, die bei jeder Bun­des­tags­de­bat­te und jeder Polit-Talk­show wider­legt wird, aber anders kom­men wir hier nie aus dem Quark.)

Wie soll man jetzt jeman­dem begeg­nen, der „DIE sind doch nur nei­disch!“ für ein zwin­gen­des Argu­ment hält, einen Betrü­ger im Amt zu hal­ten – noch dazu, wenn die­ses „Argu­ment“ auch von füh­ren­den Uni­ons­po­li­ti­kern vor­ge­bracht wird? Was soll man jeman­dem ent­geg­nen, der wahr­schein­lich nicht ein­mal die Hälf­te der Bun­des­mi­nis­ter nament­lich benen­nen könn­te, aber im Brust­ton der Über­zeu­gung ver­kün­det: „Er war ein­fach der bes­te minis­ter von allen!!“? Und wie erklärt man Men­schen, die noch nie eine Uni­ver­si­tät von innen gese­hen haben oder – viel schlim­mer! – ein hek­ti­sches Bache­lor/­Mas­ter-Stu­di­um zum Zwe­cke der schnel­len Berufs­qua­li­fi­ka­ti­on durch­lau­fen haben, wie erklärt man denen, was wis­sen­schaft­li­che Ehre und Bil­dungs­ge­dan­ken sind?

Inso­fern kann man der Anru­fe­rin, die sich in einer zehn­mi­nü­ti­gen Dis­kus­si­on mit dem Radio-Fritz-Mode­ra­tor Hol­ger Klein wie­der­fand (von der sie ver­mut­lich anschlie­ßend annahm, aus ihr als Sie­ge­rin her­vor­ge­gan­gen zu sein), sicher attes­tie­ren: „Du bist Deutsch­land!“

Der Fall Gut­ten­berg war außer­halb des poli­ti­schen Ber­lins auch eine Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen zwei Lagern: Auf der einen Sei­te die bür­ger­li­che Pres­se und die ent­setz­ten Aka­de­mi­ker, die den Ruf des Bil­dungs­stand­or­tes Deutsch­land in aku­ter Gefahr sahen, auf der ande­ren Sei­te „Bild“ und das ein­fa­che Volk. Oder, vom Volk abge­grenzt, wie Her­der sagen wür­de: „der Pöbel auf den Gas­sen, der singt und dich­tet nie­mals, son­dern schreyt und ver­stüm­melt.“ ((Johann Gott­fried Her­der: „Volks­lie­der. Nebst unter­misch­ten andern Stü­cken, Zwei­ter Teil“ [1779], in: Wer­ke, her­aus­ge­ge­ben von Ulrich Gai­er. Frank­furt am Main, 1990, S. 239.))

Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg hat viel falsch gemacht, aber Fans, die so etwas womög­lich ernst mei­nen könn­ten, hat auch er nicht ver­dient:

Gut­ten­berg ist der PERFEKTE Mensch! Sein selbst­kri­ti­sches Auf­tre­ten, sei­ne unein­ge­schränk­te Ehr­lich­keit sowie sei­ne reich­hal­ti­ge Kom­pe­tenz sind unüber­trof­fen. Gut­ten­berg ist der ERLÖSER!!! Er muss WELTHERRSCHER wer­den, dann wür­de es durch sei­ne MENSCHLICHKEIT end­lich WELTFRIEDEN geben!

Es sind halt Fans und Fans han­deln – das weiß jeder, der schon ein­mal im Fuß­ball­sta­di­on oder auf einem Rock­kon­zert war – nicht immer ratio­nal. Ent­we­der, sie blei­ben ihren Hel­den bis zur Selbst­ver­leug­nung treu, oder sie sind irgend­wann so ent­täuscht, dass sie sich gegen ihr Idol stel­len.

Ich bin mir sicher, vie­le der Gut­ten­berg-Fans fan­den vor zwei, drei Jah­ren auch Barack Oba­ma gut – ein­fach, weil er cool und anders war. Dabei wäre es doch irgend­wie beru­hi­gend zu wis­sen, dass die Men­schen den heu­ti­gen US-Prä­si­den­ten in ers­ter Linie ver­eh­ren, weil sie sei­ne Mei­nung tei­len und sei­ne Ver­su­che bewun­dern, sei­ner Linie trotz allem treu zu blei­ben. Dass er dabei unbe­streit­bar cool und ein­zig­ar­tig ist, kann ja dann ger­ne einer der wei­te­ren Grün­de für sei­ne Beliebt­heit sein.

Gut­ten­berg ist dabei gar nicht der ers­te deut­sche Nach­kriegs-Poli­ti­ker, der die Mas­sen zu mobi­li­sie­ren wuss­te: 1972 mach­ten jun­ge Leu­te, die noch lan­ge nicht selbst wäh­len durf­ten, unter dem Slo­gan „Wil­ly wäh­len!“ Wahl­kampf für Wil­ly Brandt. Nur: Die­se Leu­te unter­stütz­ten Brandt wegen sei­ner poli­ti­schen Ansich­ten, wegen sei­ner Ost­po­li­tik, ohne die Hel­mut Kohl nie zum „Kanz­ler der Ein­heit“ hät­te wer­den kön­nen. Bei Gut­ten­berg konn­ten nicht ein­mal auf­merk­sa­me Beob­ach­ter sagen, wofür er stand und was sei­ne Linie war. Es war ja auch fast jeden Tag eine ande­re: Bei einer staat­li­chen Ret­tung von Opel mit Rück­tritt dro­hen, dann doch im Amt blei­ben; den Luft­schlag von Kun­dus „ange­mes­sen“ nen­nen, dann „unan­ge­mes­sen“; in Sachen Gorch Fock kei­ne schnel­len Urtei­le fäl­len wol­len, dann spon­tan (und im Bei­sein der „Bild“-Zeitung) den Kom­man­dan­ten feu­ern. Und immer waren die Ande­ren schuld. Wer das ernst­haft als „gute Arbeit“ bezeich­net, den möch­te ich nicht mei­ne Hei­zung repa­rie­ren las­sen – er könn­te ja schon nächs­te Woche mit den mon­ta­ge­be­rei­ten Nacht­spei­cher­öfen vor der Tür ste­hen.

Wenn Kai Diek­mann jetzt vom „grau­en Mit­tel­maß“ der Poli­ti­ker schreibt, die nun wie­der das poli­ti­sche Ber­lin beherrsch­ten, und Niko­laus Blo­me die „poli­ti­sche Hygie­ne“ beklagt, möch­te ich ihnen ent­ge­gen rufen: Mei­net­we­gen kön­nen die Poli­ti­ker so grau sein, wie sie wol­len, sie sol­len ihre ver­damm­te Arbeit ordent­lich machen und sich anstän­dig ver­hal­ten! Poli­tik ist nicht Teil des Show­ge­schäfts, auch wenn das seit dem Umzug der Bun­des­re­gie­rung nach Ber­lin immer mal wie­der gern ver­ges­sen wird.

„Aber das Volk liebt ihn doch!“, wen­den Diek­mann und Blo­me dann uni­so­no ein. Der Vor­wurf, die Poli­tik höre nicht auf das, was die Bevöl­ke­rung wol­le, lenkt davon ab, dass selbst „Bild“ es nicht geschafft hat, Gut­ten­berg im Amt zu hal­ten, und damit wei­ter an Ein­fluss ver­lo­ren hat. Statt­des­sen bekla­gen ihre Redak­teu­re die wei­ter fort­schrei­ten­de „Poli­tik­ver­dros­sen­heit“, die Jour­na­lis­ten seit 20 Jah­ren zu erken­nen glau­ben. Dabei wäre es die ver­damm­te Auf­ga­be von Jour­na­lis­ten, den Bür­gern die Zusam­men­hän­ge zwi­schen der graue Poli­tik und ihrem Leben auf­zu­zei­gen und kri­tisch, aber nicht pau­schal ver­ur­tei­lend, zu beglei­ten, was „die da oben“ eigent­lich den gan­zen Tag so machen. Die Auf­ga­be der Pres­se ist es jeden­falls nicht, Polit­g­la­mour-Paa­re hoch­zu­schrei­ben!

War­um sich das deut­sche Volk (oder genau­er: gro­ße Tei­le des­sen) offen­bar mehr als 90 Jah­re nach Abschaf­fung des Adels in Deutsch­land aus­ge­rech­net einen „Frei­herrn“ ins Kanz­ler­amt wünscht, lässt sich eigent­lich nur damit erklä­ren, dass die Deut­schen zu oft beim Arzt und/​oder Fri­seur sind und ob der Lek­tü­re der dort aus­lie­gen­den Maga­zi­ne eine gewis­se Sehn­sucht nach Blau­blü­tern ver­spü­ren. Das ist irri­tie­rend, denn bis­her haben wir im Geschichts- und Poli­tik­un­ter­richt gelernt, dass die Mas­sen gegen die Klas­sen kämp­fen wür­den.

Eigent­lich ist es den Leu­ten aber eh egal, zu wem sie auf­schau­en, so lan­ge sie zu jeman­dem auf­schau­en kön­nen: Zu Lady Di, zum Papst oder eben zu „KT“ und sei­ner Ste­pha­nie. Die Gut­ten­bergs boten die öli­ge Pro­jek­ti­ons­flä­che für alle, die nie­mals König oder Köni­gin von Deutsch­land wer­den wür­den: Aus­ge­stat­tet mit einem ordent­li­chen Stamm­baum, in einer Bil­der­bu­chehe ver­hei­ra­tet, mit einem Pri­vat­ver­mö­gen im Rücken, des­sent­we­gen man gar nicht arbei­ten müss­te. Die Idyl­le lock­te wie ein alter Hei­mat­film.

Gut­ten­berg war die per­so­ni­fi­zier­te Umkehr der Zei­ten, als die Popu­lär­kul­tur poli­tisch wur­de: im Polit­be­trieb war er „Pop“, was der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Tho­mas Hecken als „Kür­zel für mal glat­te und ober­fläch­li­che, mal durch­schla­gen­de und inten­si­ve Rei­ze“ beschreibt. ((Tho­mas Hecken: Popu­lä­re Kul­tur. Bochum, 2006, S. 32.))

Ab einem bestimm­ten Punkt wird jede Bewe­gung zum Selbst­läu­fer; die Mas­se fin­det gut, was beliebt und erfolg­reich ist. So lässt sich der plötz­li­che unfass­ba­re Chart­erfolg einer 17 Jah­re alten Cover­ver­si­on eines heu­te mehr als 70 Jah­re alten Songs erklä­ren, aber auch der schier unglaub­li­che Zulauf, den die Pro-Gut­ten­berg-Sei­ten bei Face­book erfah­ren. Ich wüss­te ger­ne, wie vie­le der Gut­ten­berg-Jün­ger gleich­zei­tig auch Fans von Unhei­lig sind.

Nach dem sel­ben Prin­zip funk­tio­niert dann auch die Argu­men­ta­ti­on: Die Leu­te plap­pern nach, was sie anders­wo (also: bei Gleich­ge­sinn­ten) schon gehört und nicht ver­stan­den haben. Aber halt­lo­se Behaup­tun­gen wer­den nicht wah­rer, wenn sie hun­dert­fach wie­der­holt wer­den – und das gilt für bei­de Sei­ten, wie die pein­li­che Geschich­te mit dem angeb­li­chen „Star Trek“-Zitat in Gut­ten­bergs Rück­tritts­re­de beweist.

Dass man Ver­feh­lun­gen nicht gegen­ein­an­der auf­wiegt, lernt man nor­ma­ler­wei­se im Kin­der­gar­ten. Offen­bar wächst sich das mit der Zeit aber wie­der raus:

Für mich ist des ne Lapa­lie!!! Ande­re sind immer­noch im Amt und trei­ben viel schlim­mer Sachen ich sage nur Ber­lus­co­ni!!!! Dass das nicht ok ist mit dem Dok­tor­ti­tel ist klar aber des hat­te nichts mit sei­ner Arbeit als Poli­ti­ker zu tun!!!

Wenn nun also ernst­haft jun­ge Men­schen, die durch­aus Abitur haben und stu­die­ren, fra­gen: „Was hat die gefälsch­te Dok­tor­ar­beit denn mit den poli­ti­schen Fähig­kei­ten der Per­son zu tun?“, muss man erst mal kurz durch­at­men und die Blut­druck­hem­mer ein­wer­fen, bevor man in leicht ver­ständ­li­chen Wor­ten zu erklä­ren ver­sucht, dass man per­sön­lich für sei­nen Teil Men­schen, die als Betrü­ger ent­larvt sei­en, jetzt eher ungern in poli­ti­schen Ämtern sähe. Das mit „Vor­bild­funk­ti­on“ und „Bil­dungs­re­pu­blik“ lässt man lie­ber direkt weg.

Dann heißt es: „Wer ohne Sün­de ist, wer­fe den ers­ten Stein“, ((Johan­nes, 8.7 in: Die Bibel.)) in dezen­ter Ver­ken­nung des Umstan­des, dass Jesus das damals ziem­lich kon­kret gemeint hat: Die Pha­ri­sä­er woll­ten die Ehe­bre­che­rin näm­lich stei­ni­gen. Näh­me man die Geschich­te aber als uni­ver­sel­len Rechts­grund­satz, wäre die Beset­zung von Rich­ter­bän­ken und Staats­an­walts­pos­ten eine unlös­ba­re Auf­ga­be.

Ohne Sün­de ist nie­mand (außer die Mut­ter Got­tes in der Katho­li­schen Kir­che), aber bestimm­te Sün­den sor­gen ein­fach dafür, dass man für bestimm­te – oder gar alle – Ämter unge­eig­net ist. (Die Aus­nah­me stellt auch hier wie­der die CDU/​CSU dar, wo man auch noch geschmei­dig Ver­kehrs­mi­nis­ter wer­den kann, nach­dem man unter Alko­hol­ein­fluss einen töd­li­chen Ver­kehrs­un­fall ver­schul­det hat, oder Finanz­mi­nis­ter, wenn man sich nicht dar­an erin­nern kann, ein­mal 100.000 DM in bar ent­ge­gen­ge­nom­men zu haben.) Und dass „alle ande­ren Poli­ti­ker auch Dreck am Ste­cken“ haben sol­len, ent­puppt sich spä­tes­tens dann als wind­schie­fe Ver­tei­di­gung, wenn der eige­ne Part­ner zu einem sagt: „Aber alle ande­ren gehen doch auch fremd, Schatz!“

Wenn irgend­wel­che Jung­spun­de bei Face­book jetzt also „Gut­ten­berg for Reichs­kai­ser“ for­dern, kön­nen wir nur von Glück spre­chen, dass Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg zwei­fels­oh­ne ein über­zeug­ter Demo­krat ist, und die Dem­ago­gen, die Deutsch­land in den letz­ten 65 Jah­ren her­vor­ge­bracht hat, alle­samt unan­sehn­lich oder rhe­to­risch über­for­dert waren – oder in den meis­ten Fäl­len gleich bei­des. Doch wehe, wenn jemand auf­tau­chen soll­te, der Pop-Appeal ver­strömt und neben­bei Volks­ver­het­zung betreibt!

Eines noch zum Schluss: Die Fra­ge „Gibt es denn nichts Wich­ti­ge­res auf der Welt?“ ist das dümms­te aller dum­men Null-Argu­men­te. Denn es gibt ja auch „Wich­ti­ge­res als Steu­er­hin­ter­zie­hung, Fah­ren im ange­trun­ke­nen Zustand, das Her­aus­te­le­fo­nie­ren von Lust­mäd­chen aus Unter­su­chungs­ge­fäng­nis­sen durch Minis­ter­prä­si­den­ten, Vul­ga­ri­tät und was nicht noch alles“, wie es Jür­gen Kau­be in der „F.A.Z.“ for­mu­liert hat. ((Jür­gen Kau­be: „Vgl. auch Gut­ten­berg 2009“, in: Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung vom 22. Febru­ar 2011, S. 27.)) Die Ant­wort lau­tet also in nahe­zu jedem Kon­text: „Doch, natür­lich gibt es Wich­ti­ge­res.“ Gin­ge es danach, müss­te uns alles egal sein, was nicht direkt zur Schaf­fung des Welt­frie­dens bei­trägt. Ich schla­ge vor, dass wir mit dem Igno­rie­ren der Anzahl von Face­book-Fans anfan­gen.

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Boulevardjournalismus-Mäander

Es gibt Tex­te, die neben ihrem eigent­li­chen Inhalt auch ihre eige­ne Ent­ste­hungs­ge­schich­te trans­por­tie­ren. In der heu­ti­gen „Bild am Sonn­tag“ gibt es min­des­tens zwei die­ser Sor­te:

Zehn Kol­le­gen haben Ste­fan Hauck (der als Exper­te auf dem Gebiet der Exis­tenz­ver­nich­tung zu gel­ten hat) bei sei­nem Ver­such unter­stützt, das Pri­vat­le­ben von Jörg Kachelm­ann aus­zu­lo­ten.

Sie haben dabei kei­ne gro­ßen Erkennt­nis­se gewon­nen und die Ent­täu­schung dar­über schwingt mit:

Viel genau­er geht es nicht, denn auch am Ende von lan­gen Gesprä­chen mit Weg­ge­fähr­ten, Freun­den, Gelieb­ten, Kol­le­gen und Fein­den des Beschul­dig­ten, hat zwar jeder über Jörg-Andre­as Kachelm­ann gespro­chen – aber immer einen ande­ren Men­schen geschil­dert.

Da betreibt man so einen Auf­wand und am Ende sitzt man vor einem Berg aus Puz­zle­tei­len, die alle nicht so recht­zu­sam­men­pas­sen wol­len. Aber wenn man sie doch gewalt­sam zusam­men­häm­mert, ent­steht da das Bild eines Men­schen – oder, wie Hauck schreibt, einer „wider­sprüch­li­chen Per­son“.

„Herz­li­chen Glück­wunsch!“, möch­te man fast aus­ru­fen, „Sie haben soeben begrif­fen, dass die wenigs­ten Men­schen zwei­di­men­sio­na­le Wesen sind!“ Aber das wäre Quatsch. Hauck hat nichts begrif­fen, wie er gleich zu Beginn sei­nes Tex­tes selbst her­aus­po­saunt:

Bis ver­gan­ge­nen Mon­tag hat sich kein Mensch ernst­haft dafür inter­es­siert, was der Fern­seh­star Jörg Kachelm­ann, 51, für eine Bezie­hung zu Frau­en hat. Und ob über­haupt. Kachelm­ann ist ein Star des Fern­se­hens, ist aber, was den „Glam-Fak­tor“ anbe­langt, also die Maß­ein­heit, in der man das Glit­zern­de eines Fern­seh-Men­schen misst, natür­lich kein Rober­to Blan­co, wer ist schon wie Rober­to Blan­co?

Wenn sich bis letz­te Woche „kein Mensch ernst­haft“ für das Intim­le­ben die­ses angeb­lich so ung­la­mou­rö­sen Fern­seh­stars inter­es­siert hat, war­um soll­te man es jetzt tun? Weil es hel­fen wür­de, als Außen­ste­hen­der zu beur­tei­len, ob Kachelm­ann die Tat, die ihm vor­ge­wor­fen wird, began­gen haben könn­te? (Und was hat das Wort „ernst­haft“ über­haupt in die­sem Satz zu suchen?)

Die Suche nach Erklä­rungs­mus­tern ist zutiefst mensch­lich, aber wäh­rend es bei Amok­läu­fern oder Ter­ro­ris­ten, ((Der Kaba­ret­tist Vol­ker Pis­pers sag­te ein­mal über die Repor­ter, die nach den Anschlä­gen des 11. Sep­tem­ber 2001 in Ham­burg das Umfeld des Anfüh­rers Moham­med Atta aus­ge­fragt hat­ten: „Sol­che Men­schen kön­nen Sie nur zufrie­den­stel­len, indem Sie sagen: ‚Ja, so ein biss­chen nach Schwe­fel gero­chen hat er schon ab und zu.‚“)) die ihre Taten in und an der Öffent­lich­keit began­gen haben, noch ein gerecht­fer­tig­tes Inter­es­se an ihrer Vor­ge­schich­te geben könn­te – um im Ide­al­fall in ähn­lich gela­ger­ten Fäl­len Taten zu ver­mei­den – geht es im „Fall Kachelm­ann“ um das exak­te Gegen­teil: Ein mög­li­ches Ver­bre­chen im denk­bar intims­ten Rah­men, in des­sen Fol­ge nicht nur der mut­maß­li­che Täter der Öffent­lich­keit prä­sen­tiert wird, son­dern auch das poten­ti­el­le Opfer, not­dürf­tig anony­mi­siert.

* * *

Die ande­re Geschich­te hat nur eine Autoren­nennung, aber schon der ers­te Satz deu­tet an, dass auch Nico­la Pohl nicht allein war, als sie im pri­va­ten Umfeld der deut­schen Grand-Prix-Hoff­nung Lena Mey­er-Land­rut wühl­te:

Einen weh­mü­ti­gen Jun­gen mit dün­nem Bart. Eine Tanz­leh­re­rin, die abhebt. Einen Fri­seur, der der Neun­jäh­ri­gen die Spit­zen schnitt. Sie alle tra­fen wir, als wir zwei Tage durch Lena Mey­er-Land­ruts Leben spa­zier­ten und uns frag­ten: Wo lebt, lacht, liebt, lüm­melt Lena?

Die Recher­che muss noch ent­täu­schen­der ver­lau­fen sein als die bei Kachelm­ann: Aus der Über­schrift „Wie heil ist Lenas Welt?“ tropft förm­lich die Hoff­nung auf Fami­li­en­dra­men, Dro­gen, Sex und Schum­meln bei den Vor­abi­klau­su­ren, aber nichts davon hat die Autorin gefun­den. Jetzt muss sie unüber­prüf­ba­re und belang­lo­se Aus­sa­gen wie „Für 7,90 Euro ließ sie sich Spit­zen schnei­den“ als Sen­sa­ti­ons-Mel­dung ver­kau­fen. Wenn man schon sonst nichts gefun­den hat und extra hin­ge­fah­ren ist.

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Mal davon ab, dass ein Fri­seur, der mit irgend­wel­chen wild­frem­den Men­schen über mich redet, mir die längs­te Zeit sei­nes Lebens die Haa­re geschnit­ten hät­te, habe ich nie ver­stan­den, was so inter­es­sant sein soll am Pri­vat­le­ben von Pro­mi­nen­ten. Ich bin mir sicher, wenn man die Nach­barn, Freun­de und Fami­li­en­mit­glie­der eines belie­bi­gen Men­schen befragt, wer­den die meis­ten nicht viel mehr als zwei, drei Sät­ze über die betref­fen­de Per­son berich­ten kön­nen – wohl aber erstaun­li­che Details aus dem Pri­vat­le­ben von Brad Pitt, Ange­li­na Jolie, San­dra Bul­lock und Tiger Woods.

Es ist mir egal, wie oft Ben Folds schon ver­hei­ra­tet war, wel­che Dro­gen Pete Doh­erty gera­de nimmt und wel­che Haar­far­be Lily Allen im Moment hat. Ich wün­sche die­sen Pro­mi­nen­ten wie allen ande­ren Men­schen auch, dass es ihnen gut geht. ((Auch wenn Musi­ker meist die bes­se­ren Songs schrei­ben, wenn es ihnen schlecht geht, aber so ego­is­tisch soll­te man als Hörer dann auch nicht sein.)) Mich inter­es­siert ja offen gestan­den schon nicht, was die meis­ten Men­schen so machen, mit denen ich zur Schu­le gegan­gen bin. ((Selbst eini­ge Sachen, die mir gute Freun­de über sich erzählt haben, hät­te ich am liebs­ten nie erfah­ren. Aber mit die­ser Last muss man in einer Freund­schaft irgend­wie klar­kom­men.))

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Es sind Tex­te wie die­se zwei aus „Bild am Sonn­tag“, bei denen man hofft, bei der Aus­wahl der eige­nen Freun­de das rich­ti­ge Fin­ger­spit­zen­ge­fühl bewie­sen zu haben, auf dass die­se nicht mit irgend­wel­chen daher­ge­lau­fe­nen Jour­na­lis­ten plau­dern, wenn man selbst mal zufäl­li­ger­wei­se unter einen Tank­las­ter gera­ten soll­te. Gleich­zei­tig ahnt man natür­lich auch, dass die Men­schen, die reden wür­den, nur das Schlech­tes­te über einen zu berich­ten wüss­ten: Frü­he­re Mit­schü­ler, mit denen man nie etwas zu tun hat­te; Ex-Kol­le­gen, die man im Eifer des Gefechts mal eine Spur zu hart ange­gan­gen hat; Inter­net-Nut­zer, die glau­ben, auf­grund der Lek­tü­re ver­schie­de­ner Blog-Ein­trä­ge und ‑Kom­men­ta­re einen Ein­druck von der eige­nen Per­son zu haben.

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Über­haupt soll­te man bei die­ser Gele­gen­heit und für alle Zei­ten noch mal auf den Rat­ge­ber „Hil­fe, ich bin in BILD!“ zu ver­wei­sen, den die Kol­le­gen vor mehr als drei Jah­ren zusam­men­ge­stellt haben, aber der natür­lich immer noch gül­tig ist, wenn „Bild“-Reporter, Men­schen, die sich als sol­che aus­ge­ben, oder ande­re Medi­en­ver­tre­ter bei einem anru­fen.

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Wenn ein Ver­kehrs­mi­nis­ter sei­nen Füh­rer­schein wegen Geschwin­dig­keits­über­schrei­tung abge­ben muss, ist das eine inter­es­san­te Infor­ma­ti­on, weil sei­ne pri­va­te Ver­feh­lung mit sei­nem öffent­li­chen Amt kol­li­diert. Wenn dage­gen ein Land­wirt­schafts­mi­nis­ter beim Rasen erwischt wür­de, sähe ich kei­nen Zusam­men­hang zu sei­nem Amt und somit auch kei­nen Grund für öffent­li­che Ver­laut­ba­run­gen. ((Dass sich gene­rell jeder an die Ver­kehrs­re­geln hal­ten soll­te, steht dabei außer Fra­ge.))

Im Fal­le Kachelm­ann haben die Vor­wür­fe gegen ihn nichts mit sei­nem Beruf zu tun. Zwar ist es durch­aus denk­bar, dass ein öffent­lich-recht­li­cher Sen­der auf die Diens­te vor­be­straf­ter Mode­ra­to­ren ver­zich­ten wür­de (schon, um Schlag­zei­len wie „Unse­re Gebüh­ren für den Ver­ge­wal­ti­ger!“ zu ver­mei­den), aber dar­über kann die ARD ja immer noch ent­schei­den, wenn es ein rechts­kräf­ti­ges Urteil eines ordent­li­chen Gerichts gibt.

Allein über die irri­ge (und oft gefähr­li­che) Annah­me, man müs­se immer sofort los­be­rich­ten, wenn man von einer Sache Wind bekom­men hat, könn­te ich mich stun­den­lang aus­las­sen. Das Inter­net und der her­bei­phan­ta­sier­te Anspruch, man müs­se nicht der Bes­te, son­dern nur der Schnells­te sein, hat Jour­na­lis­mus zu etwas wer­den las­sen, was mit „work in pro­gress“ mit­un­ter noch schmei­chel­haft umschrie­ben wäre. „Work in pre­pa­ra­ti­on“ wäre mit­un­ter pas­sen­der.

* * *

Von der Arbeits­wei­se man­cher Medi­en­ver­tre­ter konn­te ich mich in den letz­ten Tagen selbst über­zeu­gen, als mich ein Mit­ar­bei­ter der Zeit­schrift „Der Jour­na­list“ anrief, die aus­ge­rech­net vom Deut­schen Jour­na­lis­ten-Ver­band her­aus­ge­ge­ben wird: Es ging um Vor­wür­fe, ein Kol­le­ge, der auch für BILD­blog schreibt, habe Zita­te erfun­den. Der Mann vom „Jour­na­lis­ten“ woll­te die Han­dy-Num­mer des Kol­le­gen, die ich ihm nicht geben konn­te, und erklär­te mir dann, er wol­le auf alle Fäl­le erst mal mit dem Betrof­fe­nen selbst spre­chen, bevor er etwas ver­öf­fent­li­che. Der Zeit­druck sei ja auch nicht sooo groß, zumal bei einer Monats­zeit­schrift.

„Das ehrt Sie schon mal“, hat­te ich sagen wol­len, es dann aber doch nicht getan, weil es mir albern erschien, ver­meint­li­che Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten zu loben. Glück gehabt, denn ich hät­te mein Lob zurück­neh­men müs­sen, wie sich als­bald zeig­te.

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Doch noch ein­mal zurück zu Jörg Kachelm­ann: Wenn sich die Redak­ti­on der „Tages­schau“ nach lan­gen Dis­kus­sio­nen ent­schei­det, nicht über die Vor­wür­fe gegen ihn und sei­ne Ver­haf­tung zu berich­ten, kriegt sie dafür einen auf den Deckel.

Die sel­ben Medi­en, die sich im Ver­gleich zum bösen, bösen Inter­net (das neben hun­dert ande­ren Gesich­tern natür­lich auch sei­ne häss­li­che Frat­ze zeigt) immer wie­der ihrer „Gatekeeper“-Funktion rüh­men (die also wich­ti­ge von unwich­ti­gen, rich­ti­ge von unrich­ti­gen Mel­dun­gen unter­schei­den zu kön­nen glau­ben), haben ihre eige­nen Scheu­nen­to­re sperr­an­gel­weit offen und lei­ten ihre Ver­pflich­tung (mit einer Berech­ti­gung ist es nicht getan) zur Bericht­erstat­tung dar­aus ab, dass auch die Jus­tiz aktiv gewor­den ist.

Franz Baden auf sueddeutsche.de:

Im Fall Kachelm­ann hat eine Frau Straf­an­zei­ge erstat­tet – und das Amts­ge­richt Mann­heim Haft­be­fehl erlas­sen, als sich der Tat­ver­dacht erhär­tet habe. Dar­über wird berich­tet wer­den müs­sen.

Wenn sich ein Jour­na­list hin­stellt und zu Beson­nen­heit auf­ruft, wie es Mich­a­lis Pan­te­lou­ris in sei­nem Blog „Print Würgt“ getan hat, kommt der Chef­re­dak­teur des Medi­en­diens­tes des Trash-Por­tals von Meedia.de vor­bei und wirft ihm in einem Kom­men­tar vor, sol­che Blog­ein­trä­ge sei­en „ruf­schä­di­gend für den Jour­na­lis­mus“.

Mir ist nach der letz­ten Woche ehr­lich gesagt nicht ganz klar, auf was für einen Ruf er sich da eigent­lich noch bezieht.

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Musik Gesellschaft

If anyone asks …

Ich hab län­ger über­legt, ob ich noch was über den media­len Over­kill schrei­ben soll, der Deutsch­land seit dem Tod von Robert Enke fest im Griff hat. Dar­über, wie ich mich ges­tern ange­sichts des „Bild“-Titels „Deutsch­land weint mit Frau Enke“ an die Zeit nach dem 11. Sep­tem­ber 2001 erin­nert fühl­te, als schon mal die Kol­lek­ti­vie­rung der per­sön­li­chen Emp­fin­dung völ­lig die tat­säch­li­che per­sön­li­che Aus­ein­an­der­set­zung ver­hin­der­te.

Am Mitt­woch­abend war ich in Düs­sel­dorf beim Kon­zert von Wea­k­erthans-Sän­ger John K. Sam­son. Bevor er den (wun­der­wun­der­schö­nen) Song „Pam­phle­teer“ anstimm­te, sprach Sam­son die „Elegy For Gump Wors­ley“ vom letz­ten Wea­k­erthans-Album. Gump Wors­ley war ein kana­di­scher Eis­ho­ckey­tor­wart, der unter Flug­angst litt und in der Sai­son 1968/​69 einen Ner­ven­zu­sam­men­bruch erlitt:

(Das Video ent­stand ein paar Tage vor­her im Kon­zert­haus Dort­mund.)

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Rundfunk Print Sport

Sprachlosigkeit: Die nächsten Tage

Edi­to­ri­sche Notiz: Die­sen Ein­trag habe ich ges­tern Nacht und heu­te Mor­gen kon­zi­piert. Als er fer­tig war, war er schon lan­ge über­holt. Ich ver­öf­fent­li­che ihn trotz­dem.

11. Novem­ber
Die ARD eröff­net ihren Abend mit einem „Brenn­punkt“ zum Tode Robert Enkes, es mode­riert Rein­hold Beck­mann. Weil die DFB-Pres­se­kon­fe­renz fast schon in gan­zer Län­ge in der „Tages­schau“ zu sehen war, unter­hält sich Beck­mann für den Rest der Sen­dung mit „Kicker“-Chefredakteur Rai­ner Holz­schuh. Zu Gast bei „Stern TV“ sind Ex-Natio­nal­tor­hü­ter Eike Immel, irgend­ein Psy­cho­lo­ge und „Super­nan­ny“ Katha­ri­na Saal­frank, die erklä­ren soll, wel­che Per­spek­ti­ven ein acht Mona­te altes Mäd­chen hat, deren Adop­tiv­va­ter sich gera­de umge­bracht hat. Gün­ther Jauch ver­spricht, dass man sich für die nächs­te Aus­ga­be um den Zug­fah­rer bemü­hen wer­de, der zur Zeit lei­der noch unter Schock ste­he. Zu Gast bei „Mar­kus Lanz“ ist Ex-Natio­nal­tor­hü­ter und ZDF-Exper­te Oli­ver Kahn, der zum The­ma „Sport­ler und Emo­tio­nen“ lei­der wenig bei­zu­tra­gen hat.

12. Novem­ber
„Bild“ macht mit einem ganz­sei­ti­gen Foto von der Pres­se­kon­fe­renz von Enkes Wit­we auf. Auf Sei­te 6 ist ein Fak­si­mi­le des Abschieds­briefs abge­bil­det, dar­über: „So sieht der BILD-Zeich­ner die letz­ten Sekun­den im Leben von Robert Enke.“ Die „ZDF-Repor­ter“ haben „aus gege­be­nem Anlass“ mal unter­sucht, wie leicht man eigent­lich auf so Bahn­glei­se gelan­gen kann. Bei „Harald Schmidt“ par­odiert man die Medi­en­hys­te­rie, indem man im Ver­lauf der Sen­dung gan­ze 19 Mal zu einem Repor­ter schal­tet, der neben dem Ein­gang zur Stu­dio­toi­let­te steht.

13. Novem­ber
„Enke tot, Schwei­negrip­pe und heu­te auch noch Frei­tag der 13.“, titelt „Bild“ etwas unge­lenk, aber in Hor­ror­film-Optik. Der NDR muss eine ande­re Fol­ge der „NDR-Quiz­show“ sen­den als vor­ge­se­hen, weil einem Redak­teur gera­de noch ein­ge­fal­len ist, dass es bei einer Fra­ge um den Tor­wart von Han­no­ver 96 geht. Bei „Aspek­te“ im ZDF hat man sich ent­schie­den, Peter Hand­kes „Die Angst des Tor­manns beim Elf­me­ter“ mit ein paar Ver­satz­stü­cken anti­ker Tra­gö­di­en zu kom­bi­nie­ren.

14. Novem­ber
Nach­dem „Bild“ den vier­ten Tag in Fol­ge mit Enke auf­macht, macht sich in Fan­fo­ren Empö­rung breit. Ein­zel­ne Kom­men­ta­to­ren rufen zum Boy­kott der Zei­tung auf. Statt des abge­sag­ten Län­der­spiels Deutsch­land – Chi­le zeigt das ZDF einen Film mit Vero­ni­ka Fer­res.

15. Novem­ber
Horst-Eber­hard Rich­ter ver­han­delt in der „Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung“ anhand der Bei­spie­le Robert Enke und Sebas­ti­an Deis­ler die Unmensch­lich­keit des Pro­fi­fuß­balls. Im „Dop­pel­pass“ des DSF sto­ßen Jörg Won­tor­ra und Udo Lat­tek auf das Andenken von Robert Enke an.

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Print Gesellschaft

No matter what the end is

Richard Wag­ner ist Redak­teur bei der „Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung“ und hat am ver­gan­ge­nen Sonn­tag in sei­ner Kolum­ne „Das war’s“ fol­gen­den … Nach­ruf ver­fasst:

Rät­sel­haft blieb, war­um der unap­pe­tit­li­che Tod des höchs­tens mit­tel­mä­ßi­gen soge­nann­ten Sän­gers Ste­phen Gate­ly der längst abge­half­ter­ten soge­nann­ten Boy­group „Boy­zo­ne“ auf der in noch ande­rer Hin­sicht unap­pe­tit­li­chen Insel Mal­lor­ca den Weg in die respek­ta­ble Öffent­lich­keit fand.

[via Ste­fan Nig­ge­mei­er]

Wenn man mal von den gan­zen Unver­schämt­hei­ten Zynis­men Adjek­ti­ven absieht, ((Eben­falls abse­hen soll­te man natür­lich von dem Umstand, dass da ein Band­na­me in Anfüh­rungs­zei­chen gesetzt ist, was mich ein­fach immer wahn­sin­nig macht. Aber das mag ein per­sön­li­ches Pro­blem sein.)) steht da eine gar nicht mal so unin­ter­es­san­te Fra­ge: War­um ver­schaff­te sein Tod Ste­phen Gate­ly eine Auf­merk­sam­keit, die er – wenn über­haupt – zuletzt vor zehn Jah­ren bekom­men hat­te, als er in der „Sun“ sein (mil­de erzwun­ge­nes) Coming Out hat­te?

Ganz banal gesagt fängt es natür­lich mit der Öffent­lich­keit – das Wort „respek­ta­bel“ muss Wag­ner beim wahl­lo­sen Adjek­tiv-Ein­set­zen rein­ge­rutscht sein – an, die grö­ßer ist als je zuvor. Was frü­her Gesprächs­the­ma auf dem Pau­sen­hof oder in der Tee­kü­che war, fin­det jetzt für jeden wahr­nehm­bar im Inter­net statt. Es gibt Twit­ter, Blogs, Pinn­wän­de bei Face­book, MySpace und last.fm und Bou­le­vard­zei­tun­gen, die qua­si rund um die Uhr erschei­nen. Alles bekommt heu­te mehr Auf­merk­sam­keit als vor zehn Jah­ren – viel­leicht mit Aus­nah­me eini­ger wich­ti­ger Din­ge, aber dar­über sol­len Kul­tur­pes­si­mis­ten wie Richard Wag­ner nach­grü­beln.

Eine ande­re prag­ma­ti­sche Ant­wort wäre: Weil die Frau­en, die heu­te die „People“-Ressorts und Online-Redak­tio­nen rund um den Erd­ball beset­zen, mit Boy­zo­ne auf­ge­wach­sen sind. Die Ant­wort ist aber so schlicht, dass man sie Wag­ner tat­säch­lich anbie­ten wür­de, wenn man ihn irgend­wo zwi­schen Tür und Angel trä­fe.

Aber man kann ja mal ver­su­chen, ein biss­chen tie­fer zu gehen: Erst ein­mal erzeugt ja der Tod eines Pro­mi­nen­ten ((„eines soge­nann­ten Pro­mi­nen­ten“ für Richard Wag­ner.)) immer media­le Auf­merk­sam­keit – je vor­zei­ti­ger, des­to grö­ßer. Es gilt, was Nada Surf 1999 in „River Phoe­nix“ ((Benannt nach dem Schau­spie­ler, der 1993 im Alter von 23 Jah­ren an einer Über­do­sis Hero­in und Koka­in ver­starb.)) san­gen:

We did­n’t know Jackie O
She was one of the peo­p­le that we did not know
Nor did we care about her hair
Her pill­box hat and her savoir fai­re
But still we thought we knew

Man nimmt halt irgend­wie am Leben von Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens teil – heu­te noch sehr viel mehr als vor zehn Jah­ren: Ste­phen Gate­ly hat­te einen Twit­ter-Account, der ja als das Sym­bol der Annä­he­rung zwi­schen Stars und ihren Fans gilt.

Als Anna Nico­le Smith, eine Frau, die aus sehr viel schlich­te­ren Grün­den berühmt war als Ste­phen Gate­ly, im Febru­ar 2007 starb, erklär­ten eini­ge Men­schen aus mei­nem Umfeld etwas irri­tiert, dass sie die­ser Todes­fall doch irgend­wie betrof­fen mache – und ich war ganz froh, dass es nicht nur mir so ging. Fünf Mona­te zuvor hat­te Smith ihre Toch­ter zur Welt gebracht, ihr Sohn Dani­el war beim Besuch am Kinds­bett gestor­ben. Das wünscht man kei­nem, auch kei­ner gro­tes­ken Medi­en­fi­gur, deren Leben von Anfang an unstern­ver­folgt schien.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Grund, war­um sich die Öffent­lich­keit und die Medi­en so sehr auf Gate­lys Tod stürz­ten, sind die „unap­pe­tit­li­chen“ Umstän­de – oder das, was die Klatsch­jour­na­lis­ten ger­ne dar­in sehen woll­ten: Erst hieß es, er sei an sei­nem eige­nen Erbro­che­nen ((Völ­lig bizarr wäre natür­lich, mal von jeman­dem zu lesen, der an frem­dem Erbro­che­nen erstickt ist. Man könn­te aber wohl auch gut drauf ver­zich­ten.)) erstickt, was ja Rock­startod #1 wäre (vgl. Jimi Hen­drix, Bon Scott). Die Rede war von einer wil­den Par­ty­nacht mit sei­nem ein­ge­tra­ge­nen Lebens­part­ner und einem drit­ten Mann.

Denn, machen wir uns nichts vor: Die Tat­sa­che, dass Gate­ly schwul war, gibt der Geschich­te natür­lich noch mal eine gewis­se Wür­ze. Einer­seits ver­leiht es der Auf­stiegs­ge­schich­te vom Arbei­ter­sohn zum Pop­star ein gewis­ses tra­gi­sches Moment, dass sich Gate­ly jah­re­lang ver­stel­len muss­te, ande­rer­seits gibt es den völ­lig Enthirn­ten Gele­gen­heit zu Über­schrif­ten wie „Homo-Sän­ger erstickt am eige­nen Erbro­che­nen“. Und dann die­ser 25-jäh­ri­ge bul­ga­ri­sche „Par­ty­boy“, ((Wobei man über das Wort „Par­ty­boy“ ja schon fast froh und dank­bar sein muss – irgend­et­was sagt mir, dass da vor kur­zem noch „Stri­cher“ gestan­den hät­te.)) der beim Paar in der Woh­nung war – da ist natür­lich der Phan­ta­sie zahl­rei­cher Redak­teu­re und Leser freie Bahn gelas­sen.

Dabei spricht wenig dafür, dass Gate­ly ein exzes­si­ves Leben geführt hat. Per­so­nen aus sei­nem Umfeld wer­den damit zitiert, dass er nur sel­ten Alko­hol trank und auch sonst nicht stän­dig auf Par­ty aus war. Aber sol­che Aus­sa­gen tau­gen längst nicht für so knal­li­ge Schlag­zei­len – und wenn man schon kaum etwas über sein Pri­vat­le­ben weiß und die Serio­si­tät der Quel­len eh nicht ein­schät­zen kann, dann bezieht man sich natür­lich lie­ber auf die Erzäh­lun­gen, die skan­da­lö­ser wir­ken und beim geneig­ten Leser zur Schluss­fol­ge­rung „Selbst schuld, der Herr Pop­star!“ füh­ren.

Aber all das reicht natür­lich nicht zum Pop­startod des Jah­res, nicht im Jahr 2009. Hät­te man am 20. Juni mit „Beat It“ allen­falls ein paar beson­ders Tanz­wü­ti­ge zum Bei­ne­schüt­teln bewe­gen kön­nen, waren die Tanz­flä­chen eine Woche spä­ter voll, als die ers­ten Tak­te erklan­gen. Die Anteil­nah­me – auch die eige­ne – am Tode Micha­el Jack­sons dürf­te die meis­ten Men­schen über­rascht haben. Wie ernst es wirk­lich war, merk­te ich, als mei­ne Groß­el­tern, deren größ­te Annä­he­rung an die Pop­kul­tur sonst im „Tatort“-Gucken am Sonn­tag­abend besteht, ((Eine Zeit lang dach­te mein Groß­va­ter, er wis­se, was eine Rap­pe­rin sei – es war die Pha­se, in der Boris Becker mit Sabri­na Set­lur liiert war.)) mich frag­ten, was ich denn zum Tod von Micha­el Jack­son sagen wür­de. Ja, was sagt man da?

Jack­son hat­te halt irgend­wie irgend­wann ein­mal das Leben von fast jedem Men­schen auf die­sem Pla­ne­ten berührt – und wenn sich das bei man­chen nur in der Ansicht nie­der­schlug, Jack­son sei wahn­sin­nig und (s.o.) an allem selbst schuld. Aber obwohl Jack­son eigent­lich spä­tes­tens seit sei­nem Pro­zess wegen Kin­des­miss­brauchs im Jahr 2005 als Witz­fi­gur galt, war das bei den Meis­ten – natür­lich nicht bei den Medi­en – schnell ver­ges­sen und es stand nur noch die Musik und die Tra­gik sei­nes Lebens im Vor­der­grund.

Und tra­gisch im eigent­li­chen Sin­ne sind in sol­chen Fäl­len ja meist das Leben des Ver­stor­be­nen (Jack­son), der Zeit­punkt (noch mal Jack­son, so kurz vor dem geplan­ten Come­back) oder die wei­te­ren Umstän­de (ver­folgt von Papa­raz­zi wie Prin­zes­sin Dia­na) des Todes – die Todes­fäl­le selbst sind fast alle­samt banal. Mehr Che­mie im Kör­per, als der ver­ar­bei­ten kann, führt zu schlich­tem Funk­ti­ons­ver­sa­gen. Wenn ein betrun­ke­ner Fah­rer viel zu schnell durch einen Tun­nel rast, kann das zur Kol­li­si­on mit einem Tun­nel­pfei­ler füh­ren, eine Geschwin­dig­keits­über­tre­tung unter Alko­hol­ein­fluss auf dem Heim­weg schnell zum Abflug, wie bei Jörg Hai­der.

Nur akzep­tie­ren will die Öffent­lich­keit natür­lich nie, dass ein Star letzt­lich mensch­lich und damit sterb­lich ist. Des­we­gen müs­sen Erklä­rungs­ver­su­che unter­nom­men wer­den, und sei­en sie noch so abwe­gig und absurd. Dann war es halt die Mafia, ein Geheim­dienst oder irgend­wel­che Ver­schwö­rer. Wenigs­tens ein Selbst­mord, damit es nicht ein­fach ein all­täg­li­cher Unfall war! Nur in sel­te­nen Glücks­fäl­len wird ein erfolg­rei­cher, jun­ger Poli­ti­ker, der eine hüb­sche Frau und süße Kin­der hat, aber Hol­ly­wood­stars und Sekre­tä­rin­nen vögelt, unter völ­lig uner­klär­li­chen Umstän­den in aller Öffent­lich­keit erschos­sen – wobei man nun wirk­lich nicht behaup­ten kann, dass die­ser Fall frei von Ver­schwö­rungs­theo­rien sei.

Der Unter­schied zwi­schen bekann­ten und unbe­kann­ten Sterb­li­chen besteht ledig­lich in der Reak­ti­on auf den Tod: Aus allen vor­ge­nann­ten Grün­den erzeugt der Tod eines Pro­mi­nen­ten eine media­le Auf­merk­sam­keit, die den Ver­stor­be­nen über­dau­ern kann. Spä­tes­tens, wenn der nächs­te Pro­mi­nen­te unter Umstän­den stirbt, die nicht „Krebs“ oder „Alter“ hei­ßen, wird Ste­phen Gate­lys Name wie­der in irgend­ei­ner Lis­te (wahr­schein­li­cher, natür­lich: in einer Bil­der­ga­le­rie) auf­tau­chen und den Musi­ker damit über­le­ben. Ob man als Fuß­no­te unsterb­lich wer­den will, ist aller­dings frag­lich.

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Rundfunk Digital

Von der Attraktivität deutscher TV-Nachrichten

Sie wer­den es mitt­ler­wei­le alle mit­be­kom­men haben: Ges­tern Nach­mit­tag (Orts­zeit) fie­len bei einem Air­bus A320 kurz nach dem Start am La Guar­dia Air­port bei­de Trieb­wer­ke aus und der Pilot muss­te die Maschi­ne auf dem Hud­son River not­lan­den.

Dass alle 155 Insas­sen über­lebt haben, darf man wohl getrost als ziem­li­ches Glück bezeich­nen: zwar ist der Hud­son eini­ger­ma­ßen breit und frei von Brü­cken und damit – im Gegen­satz zum East River auf der ande­ren Sei­te Man­hat­tans – durch­aus für Not­was­se­run­gen geeig­net, aber ein Flug­zeug auf einem viel befah­re­nen Fluss auf­zu­set­zen und es anschlie­ßend zu eva­ku­ie­ren, wäh­rend es lang­sam im eis­kal­ten Was­ser unter­geht, das zählt schon zu den außer­ge­wöhn­li­che­ren Auf­ga­ben eines Lini­en­pi­lo­ten.

Wer ges­tern Abend unse­rer Zeit beim Micro­blog­ging-Dienst twit­ter rein­ge­schaut hat, wur­de über die Lage bes­tens infor­miert: als eine der ers­ten Mel­dun­gen gab es ein Foto, das Janis Krums, der zufäl­lig auf einer der Fäh­ren im Hud­son und damit direkt am Unfall­ort war, mit sei­nem iPho­ne gemacht hat­te. twitpic.com brach zeit­wei­se unter dem Ansturm zusam­men und ziem­lich vie­le Nach­rich­ten­sei­ten berich­te­ten dar­über.

Wer mit einem Live­ti­cker von Augen­zeu­gen und eben­falls twit­tern­den Nach­rich­ten­agen­tu­ren ver­sorgt wur­de, für den waren die Infor­ma­tio­nen, mit denen das deut­sche Fern­se­hen sei­ne Zuschau­er zu beglü­cken ver­such­te, natür­lich ein Desas­ter. Statt ein­fach „ins Inter­net“ zu gucken, griff man lie­ber auf dün­ne Agen­tur­mel­dun­gen und Repor­ter vor Ort zurück.

Dabei ist es ein über­hol­ter Irr­glau­be der Nach­rich­ten­ma­cher, bei einem Ereig­nis erst mal an den Ort des Gesche­hens schal­ten zu müs­sen. Dort steht dann ein über­for­der­ter Repor­ter den Ret­tern im Weg rum und kann sei­ne Ein­drü­cke schil­dern – wobei er sich natür­lich gera­de gar kei­ne eige­nen Ein­drü­cke ver­schaf­fen kann, weil er ja in einer zwar atmo­sphä­ri­schen, aber weit­ge­hend Infor­ma­ti­ons­lo­sen Schal­te mit einem wiss­be­gie­ri­gen Repor­ter gefan­gen ist. Wenn er Glück hat, hat er vor­her einen Pas­san­ten fra­gen kön­nen, ob der einen lau­ten Knall gehört habe.

Nun wür­de ich nicht so weit gehen und sagen, das Inter­net kön­ne schon jetzt das Fern­se­hen erset­zen. Wenn sich mei­ne Groß­el­tern, Eltern und vie­le mei­ner Freun­de über der­ar­ti­ge Ereig­nis­se infor­mie­ren wol­len, schal­ten sie natür­lich irgend­ei­nen Nach­rich­ten­sen­der ein und auch ich hat­te zwi­schen­durch CNN lau­fen, wo Wolf Blit­zer einen der Pas­sa­gie­re gera­de tele­fo­nisch der­art mit Fra­gen löcher­te, als müs­se er selbst noch in die­ser Nacht den Unter­su­chungs­be­richt der Luft­auf­sichts­be­hör­de ver­fas­sen.

Aber was die deut­schen Nach­rich­ten­sen­dun­gen da über den Äther schi­cken, war eine dump­fe Mischung aus Kaf­fee­satz­le­sen mit Tan­te Mimi, Onkel Heinz erzählt vom Angeln und Klein-Fritz­chen erzählt sei­ner Mut­ti, wie es in der Kir­che war, obwohl er wäh­rend­des­sen Fuß­ball­spie­len war.

„Zahl­rei­che Fähr­schif­fe ver­su­chen, Über­le­ben­de zu ret­ten“, teaser­te RTL sein „Nacht­jour­nal“ an, was wohl eben­so rich­tig, aber weit weni­ger dra­ma­tisch war als das „Es gibt kei­ne Anzei­chen für einen Ter­ror­an­schlag“, mit dem Gabi Bau­er die ARD-Nach­rich­ten­at­trap­pe „Nacht­ma­ga­zin“ eröff­ne­te, bevor sie eine Vier­tel­stun­de spä­ter Thors­ten Schä­fer-Güm­bel mit der Fra­ge, wie wich­tig Sex im Wahl­kampf sei (gemeint war wohl eher „Sex­ap­peal“), völ­lig aus der Fas­sung brach­te.

Den beson­de­ren Ernst der Lage konn­te man dar­an erken­nen, dass n‑tv sei­ne geplan­ten „Natio­nal Geographic“-Reportagen kipp­te und live auf Sen­dung ging. Wäh­rend CNN, Fox News, MSNBC und BBC World ziem­lich beein­dru­cken­de Live-Bewegt­bil­der aus New York hat­ten (die Hub­schrau­ber der gro­ßen Net­works schwe­ben ja eh die gan­ze Zeit über der Stadt), hat­te n‑tv einen Mode­ra­tor im Stu­dio, meh­re­re „Brea­king News“-Laufbänder, ein paar Fotos und einen Repor­ter am Tele­fon. Und der sag­te, wenn ich ihn nicht völ­lig falsch ver­stan­den habe, dass es wohl „bald“ die ers­ten Han­dy-Fotos und ‑Vide­os im Inter­net zu sehen geben wür­de. Zu die­sem Zeit­punkt war twit­pic bereits down und bei flickr gab es jede Men­ge Foto­stre­cken und Ein­zel­bil­der zu sehen. Sogar ers­te Wit­ze.

Es geht mir gar nicht dar­um, Inter­net und Fern­se­hen gegen­ein­an­der aus­spie­len zu wol­len – und die Zei­tun­gen von heu­te waren schon gedruckt, bevor das Flug­zeug über­haupt abge­ho­ben hat­te. Aber ich den­ke, dass auch die Men­schen, die nicht bei twit­ter, flickr und Face­book unter­wegs sind, ein Anrecht auf aktu­el­le Infor­ma­tio­nen haben. Und die bekommt man heu­te nun wirk­lich so ein­fach und bil­lig wie noch nie. Auch als Nach­rich­ten­re­dak­teur des deut­schen Fern­se­hens.

Nach­trag, 20:20 Uhr: Auch mei­ne Freun­de von „RP Online“ berich­ten über die Fotos bei twit­ter und bei flickr.

Das Sen­sa­tio­nel­le dar­an: Sie schaf­fen das ohne einen ein­zi­gen Link!

Nach­trag, 17. Janu­ar, 00:23 Uhr: Zwei Tweets spä­ter hat „RP Online“ alles ver­linkt.

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Rundfunk Fernsehen

… as every year

Stel­len Sie sich vor, Sie sind Redak­teur bei einem Bou­le­vard­ma­ga­zin, einer Tages­zei­tung oder einem belie­bi­gen For­mat­ra­dio­sen­der.

Ja, das ist schon schlimm, aber jetzt kommt’s: Stel­len Sie sich bit­te wei­ter vor, Sie haben sich wie­der mal zu spät um die Urlaubs­pla­nung geküm­mert und wis­sen jetzt schon, dass Sie im kom­men­den Jahr „zwi­schen den Jah­ren“ arbei­ten müs­sen – also in der extrem lang­wei­li­gen Zeit zwi­schen Weih­nach­ten und Sil­ves­ter, in der außer rie­si­gen Natur­ka­ta­stro­phen und bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Zustän­den eigent­lich nie was pas­siert.

Damit Sie das Pro­gramm irgend­wie gefüllt krie­gen, gibt Ihnen das Dienst­leis­tungs­blog Cof­fee And TV schon jetzt eine klei­ne Lis­te mit The­men an die Hand, die Sie wäh­rend der nächs­ten 361 Tage abar­bei­ten kön­nen:

  • Geschen­ke umtau­schen: Schi­cken Sie einen Repor­ter in ein belie­bi­ges Kauf­haus und las­sen Sie ihn von Gut­schei­nen und Umtausch­ak­tio­nen faseln. Wich­tig: Kli­schee­ge­mäß Socken, Kra­wat­ten, o.ä. erwäh­nen!
  • Abneh­men: Alle Men­schen wer­den über Weih­nach­ten dick. War­um weiß kein Mensch. Glau­ben einem aber eh alle unbe­se­hen. Exper­ten (Arzt, Ernäh­rungs­wis­sen­schaft­le­rin, Har­ry Wijn­ford) vor die Kame­ra zer­ren. Evtl. wäh­rend einer der diver­sen Preis­ver­lei­hun­gen schon mal Pro­mi­nen­te nach Abspeck­tipps fra­gen (dabei drin­gend auf mög­li­che Schleich­wer­bung achten!!!!1).
  • Feu­er­werk: Ist urst gefähr­lich. Schau­fens­ter­pup­pen in die Luft spren­gen, Feu­er­wehr oder Pyro­tech­ni­ker inter­view­en. Wich­tig: Vor ost­eu­ro­päi­schen Pro­duk­ten war­nen (haben kein Prüf­zei­chen).
  • Vor­sät­ze fürs neue Jahr: Pro­mi­nen­te (Preis­ver­lei­hung, s.o.) oder Stra­ßen­um­fra­ge. Obsku­re Sta­tis­ti­ken ein­brin­gen. Exper­te: Schwie­rig. Viel­leicht Pete Doh­erty o.ä.
  • Das wird anders: Neue Mün­zen, Steu­er­sät­ze, Geset­ze, Ver­ord­nun­gen. Kann man einen Tag von leben. Stra­ßen­um­fra­gen bei benach­tei­lig­ten Min­der­hei­ten (Steu­er­zah­ler, Rau­cher, etc.) nicht ver­ges­sen!
  • Sil­ves­ter­fei­er: So fei­ert Pro­mi XY oder Ihre Nach­ba­rin. Zwecks Abwechs­lung auch an Exo­ten den­ken (s. Blan­co, Rober­to; Cord­a­lis, Cos­ta; Farr­ag, Nad­ja Abd El; Baf­foe, Liz). Gut kom­bi­nier­bar mit:
  • Rezep­te: Kochen geht immer, beson­ders zu Sil­ves­ter. Ope­ner: Schnitt­bil­der von Raclette, Fon­due, Karp­fen blau (s. Archiv).
  • Haus­mit­tel gegen Kater: Pro­mi­nen­te (s.o.), Stra­ßen­um­fra­ge, Arzt, Apo­the­ke­rin, etc. Wich­tig: In der Anmo­de­ra­ti­on den Mode­ra­tor von „mei­ner Oma“ erzäh­len las­sen.
  • Din­ner For One: Läuft zum xy. Mal. Pro­mi­nen­te erzäh­len oder nach­spie­len las­sen, gut mit Quiz (Sitzordnung!!!1) kom­bi­nier­bar. Auf alle Fäl­le dar­auf hin­wei­sen, dass der Sketch in Eng­land „völ­lig unbe­kannt“ ist (geht auch als Auf­hän­ger, dann GB-Kor­re­spon­den­ten früh­zei­tig um eine alber­ne Stra­ßen­um­fra­ge bit­ten).

Alter­na­tiv könn­ten Sie natür­lich auch den Krem­pel von die­sem Jahr wie­der­ho­len. Oder den vom letz­ten Jahr. Oder vom vor­letz­ten …

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Die Zeitungskrise erreicht den Westen

So ein biss­chen hat­te der WDR Pech mit sei­nem Timing. Da hat man mit „Dra­ma­ti­sche Ent­wick­lun­gen bei der WAZ-Grup­pe: Zei­tun­gen erschei­nen nur noch in redu­zier­tem Umfang“ eine Top-Mel­dung, die nicht nur für Medi­en­krei­se, son­dern weit dar­über hin­aus inter­es­sant ist, aber lei­der war es schon 19:00 Uhr, als die Pres­se­mit­tei­lung dazu raus­ging. Die Medi­en­diens­te und ‑blogs (mit Aus­nah­me von Medi­en­rau­schen) waren schon im Fei­er­abend und bei der „WAZ“ war nie­mand mehr (also: noch nie­man­der), der für Rück­fra­gen zur Ver­fü­gung hät­te ste­hen kön­nen. Auch bei den Pres­se­mit­tei­lun­gen der WAZ-Medi­en­grup­pe fin­det sich noch nichts zu den aktu­el­len Ent­wick­lun­gen.

Das Bran­chen­blatt „Wer­ben & Ver­kau­fen“ hat­te das zwar schon am Nach­mit­tag ange­deu­tet, aber dass die Zei­tun­gen des Kon­zerns („West­deut­sche All­ge­mei­ne Zei­tung“, „Neue Rhein/​Neue Ruhr-Zeitung“,„Westfälische Rund­schau“ und „West­fa­len­post“) schon ab mor­gen in deut­lich gerin­ge­rem Umfang erschei­nen sol­len (32 statt 48 Sei­ten), das ist schon ein ziem­li­cher Ham­mer. Dar­über hin­aus könn­ten bis zu einem Drit­tel der Stel­len abge­baut wer­den.

Die Zei­tungs­kri­se, die schon etli­che ame­ri­ka­ni­sche Tra­di­ti­ons­blät­ter zer­legt oder ins Inter­net gedrängt hat, ist damit mit­ten im Kern­ge­schäft von Deutsch­lands dritt­größ­tem Ver­lags­haus ange­kom­men. Das Fern­se­hen hat­te die Kri­se ja schon ges­tern erwischt.