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Digital Gesellschaft

Schwarm, wir müssen reden!

Vor ziemlich genau zehn Jahren habe ich mit dem Bloggen angefangen. Erst drüben in unserem damaligen Auslandssemester-Blog und später dann hier. Mit einer kleinen Truppe von AutorInnen wollten wir “die Zeitung machen, die wir selber gerne lesen würden” — was bei Licht besehen auch damals schon etwas vermessen war, aber wir wollten einfach mal gucken, was so passiert.

Es wurde sehr schnell ein Blog, in dem ich mich vor allem über Medien und Journalisten ausließ — was daran lag, dass ich damals vor allem das Blog von Stefan Niggemeier und das BILDblog gelesen habe. Es wäre aber falsch, Stefan und Christoph Schultheis die Schuld an meinem altklugen, übellaunigen Geblogge zu geben — ich dachte, glaube ich, wirklich, dass sie bei “RP Online” irgendwann mit ihren Klickstrecken aufhören würden, wenn ich mich nur oft genug darüber aufrege. Inzwischen gibt es BuzzFeed und Social Media und ich sehe ein, dass “RP Online” allenfalls einen vorläufigen Tiefpunkt dargestellt hat.

Blogs waren damals noch etwas anderes, nämlich die mutmaßliche Zukunft. Wir lasen gegenseitig unsere Blogs, verlinkten unsere Einträge untereinander, führten Debatten weiter und machten uns gegenseitig auf nervige, aber auch auf tolle Dinge aufmerksam. Dann kamen Facebook und Twitter und inzwischen redet ungefähr niemand mehr über Blogs, wenn es um die Zukunft des Journalismus geht. ((Okay: So richtig redet niemand mehr über die Zukunft des Journalismus.)) YouTube ist der neue heiße Scheiß und die gleichen Medien, die ein Leistungsschutzrecht einführen wollten, weil Google News Teile ihrer Texte zitiert, entsorgen ihren Content heute direkt bei Facebook, in der Hoffnung, wenigstens noch ein paar Krümel abzubekommen.

Während Facebook früher noch das digitale Wohnzimmer war, wo man Freunde und Bekannte um sich sammelte und lustige Videos mit ihnen teilte, sind inzwischen alle Seitenwände abgebaut worden wie weiland im “Torn”-Video und wir können sehen, dass nebenan der Stammtisch tobt, den man früher nie wahr- oder gar ernstgenommen hätte, und ein merkwürdiger Mob jede Nachricht kommentiert, so dass man anschließend glaubt, die Welt sei voller rechtschreibschwacher Menschenhasser, die wiederum glauben, die Welt sei voller Terroristen und “linksgrün-versiffter Gutmenschen”. Menschen mit ausgedachten Berufsbezeichnungen sind derweil damit beschäftigt, jede Woche eine neue App zu finden, die angeblich “das neue Facebook” sei.

Kurzum: Ich bekomme richtig schlechte Laune, woraufhin ich richtig übellaunige Sachen bei Facebook und Twitter poste, wo es daraufhin aussieht, als sei ich ein richtig übellauniger Mensch. Zum Bloggen komme ich nicht, weil ich die ganze Zeit mit Social Media beschäftigt bin und deshalb leider nicht mehr aufschreiben kann, was mir eigentlich gute Laune macht und was ich gerade toll finde.

Dieses Dilemma hatte ich vor zwei Jahren schon einmal zu beheben versucht, indem ich jeden Tag einen “Song des Tages” posten wollte. Kleiner Haken: Durch die Festlegung auf dieses Format wurde die schöne Idee bald zur lästigen Aufgabe, die mir – korrekt! – schlechte Laune machte.

Sue Reindke, deren Blog ich früher sehr gerne gelesen habe und die ich heute (s.o.) eigentlich nur noch über Social Media mitbekomme, hat letzte Woche ein Experiment gestartet: Sie will ungefähr jede Woche einen Newsletter verschicken mit Dingen, die sie beschäftigen. Ich hatte früher schon öfter über das Medium Newsletter nachgedacht und finde die Idee richtig gut: Statt die Inhalte alle bei Facebook zu verballern, wo Facebook damit auch noch Geld macht und wo sie – vor allem außerhalb eines Webbrowsers – auf technisch grauenhafteste und unbrauchbarste Art irgendwo ins Nirwana diffundieren, kann man sie auch per E-Mail schicken, dem ungefähr einzig brauchbaren Kommunikationsweg, den das Internet jemals hervorgebracht hat. Die Produktion geht nicht so schnell und impulsiv vonstatten wie die eines Tweets und man kann die E-Mail in Ruhe lesen, wenn man mal Zeit hat. Das will ich direkt auch mal probieren!

Ich werde mein Privatleben weiter weitgehend aus dem Internet raushalten, aber statt weiter bunte Papierschmetterlinge in Pinkelrinnen zu werfen, will ich versuchen, positive oder zumindest interessante Dinge an einem Ort zu versammeln: Musik, Trailer, empfehlenswerte Texte, Podcasts oder Videos und ein paar eigene Gedanken. Gleichzeitig will ich versuchen, wieder mehr in diesem Blog zu machen (immerhin feiert das im Februar seinen zehnten Geburtstag), aber das alles ohne Zwang.

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So lange schon mal: mein aktuelles Lieblingslied!

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Digital Gesellschaft

Kein Kommentar

Markus Beckedahl hat bei netzpolitik.org einen Artikel über Blogkommentare veröffentlicht, den ich selbstverständlich nicht gelesen habe, so wie Blogkommentatoren in den allermeisten Fällen die Artikel nicht lesen (oder zumindest offenkundig nicht verstehen), unter denen sie kommentieren.

Als ich angefangen habe zu bloggen und plötzlich Leute anfingen, die Kommentarfunktion zu nutzen, gab es in den Kommentaren Zustimmung, andere Denkansätze, Lob, Kritik, Humor, irgendwann Running Gags. Mit einigen treuen Kommentatoren dieser Anfangsphase verbinden mich inzwischen enge Freundschaften.

Dann kam Facebook. Lesenswerte Artikel wurden nicht mehr verlinkt, Blogs rekurrierten nicht mehr aufeinander, die ganze Idee der “Blogosphäre” fiel in sich zusammen. Lesenswerte Artikel werden heute bei Facebook geteilt und ebenda auch diskutiert, bei den allermeisten im überschaubaren Rahmen ihrer Facebook-“Freunde”. Das führt einerseits dazu, dass das Meinungsspektrum nicht mehr ganz so groß ist ((Ich zum Beispiel habe keinen einzigen offen homophoben oder nationalistisch eingestellten Facebook-Kontakt, worüber ich sehr froh bin und worauf ich auch sehr achte.)), andererseits funktionieren Anspielungen und Running Gags viel besser, manche trauen sich gar wieder ans Stilmittel der Ironie. In seltenen Fällen kommt es zu Reibungspunkten, wenn Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit die Facebook-Bekanntschaft mit mir ist, unglücklich aufeinanderprallen, aber meistens verläuft alles harmlos und harmonisch.

Das bedeutet aber auch, dass die allermeisten Menschen, die heute noch Blogbeiträge kommentieren, entweder die letzten treuen Seelen sind — oder die letzten Irren. Die Leute, die einem Artikel einfach nur zustimmen, klicken auf “Gefällt mir” (bzw. “Empfehlen”) oder verlinken ihn anderweitig bei Facebook (bzw. um das Wort einmal geschrieben zu haben: auf Twitter) und sind dann wieder weg. Wer in die Kommentare unter dem Text guckt, bekommt den Eindruck, dass Blogs ausschließlich von Menschen gelesen werden, die mit der Meinung des Autoren nicht übereinstimmen. ((In den Kommentaren des Newsportals “Der Westen” entsteht bisweilen der Eindruck, die WAZ-Gruppe würde Freischärler beschäftigen, die Menschen mit Waffengewalt dazu zwingen, die dort online gestellten Artikel zu lesen und anschließend zu kommentieren. Das ist allerdings immer noch harmlos verglichen mit den nach unten offenen Kommentarspalten von “Welt Online”, in denen sich offensichtlich jene Stammtischgänger versammeln, gegen die der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband DeHoGa ein bundesweites Kneipenverbot ausgesprochen hat.)) In einigen Fällen könnte man darüber hinaus glauben, die Kommentare bezögen sich auf einen ursprünglich dort geposteten Artikel, in dem der Autor vom Geschlechtsverkehr mit Tieren geschwärmt hatte und den er anschließend durch einen etwas weniger kontroversen ersetzt hat. So entsteht ein seltsames Zerrbild der Realität.

Manchmal sind Kommentare natürlich auch ein Gewinn. Nicht nur, wenn man explizit um Hilfe gebeten hat, sondern auch, wenn es um das gemeinsame Schwelgen in Erinnerungen geht. Wenn das Thema aber nur geringfügig kontrovers ist, ist das Desaster programmiert. Und wenn dann noch durch irgendwelche Verlinkungen viele Leser von außerhalb angespült werden, die vielleicht mit Autor, Blog und Restkommentatoren nicht vertraut sind, wird es spätestens ab Kommentar #20 so lustig wie an einem schlechten Tag im Nahen Osten.

Ein weiteres Problem ist natürlich, dass in Deutschland keine Diskussionskultur existiert wie im angelsächsischen Raum. Mehr noch, im Fernsehen bekommen wir täglich – und ich wünschte, “täglich” wäre hier eine Übertreibung – gezeigt, wie man mit Menschen umgeht, die anderer Meinung sind: Unterbrechen, Anschreien, alle Argumente für nichtig erklären. Rhetorische Grundprinzipien werden in die Tonne gekloppt, auf der dann laut rumgetrommelt wird. Was übrigens noch viel leichter geht, wenn man dem Gegenüber dabei nicht in die Augen gucken muss, weil es an einer Computertastatur ganz woanders sitzt.

Wenn eine konstruktive Diskussion also eh unmöglich ist, können wir uns alle die Mühe auch sparen. Es bringt nichts, den islamophoben Verschwörungstheoretikern in ihren Wahnsinnsforen mit Fakten, Argumenten oder Verweisen auf die Wirklichkeit entgegentreten zu wollen, aber es bringt noch ein bisschen weniger, unter einen Artikel, der islamophoben Verschwörungstheoretikern mit Fakten, Argumenten oder Verweisen auf die Wirklichkeit entgegentritt, zu schreiben, diese Leute seien aber echt dumme Nazis und hätten kleine Pimmel. Das mag ja stimmen, aber es hilft dennoch niemandem. Außer vielleicht für einen kurzen Moment dem Kommentator.

Natürlich wird einem jeder alte Zeitungshase bestätigen, dass Leserbriefe schon immer zu maximal zehn Prozent aus Zustimmung bestanden (außer, es geht gerade gegen Kindermörder) und zu mindestens hundert Prozent aus galletriefenden Abo-Kündigungen, aber ein Blogkommentar ist noch leichtfertiger in die Tastatur erbrochen als das Wort “Schreiberling” in Sütterlin aufs Büttenpapier getropft. Und während hierzulande tatsächlich niemand dazu gezwungen wird, ein bestimmtes Medium zu konsumieren, verhält es sich bei den Leserkommentaren genau umgekehrt: Die müssen, schon aus Selbstschutz des Blogbetreibers, von irgendjemandem auf mögliche Verstöße gegen die guten Sitten und gegen bestehende Gesetze überprüft werden. Die Verstöße gegen Logik und Rechtschreibkonventionen würde eh niemand nachhalten wollen.

Es ist nicht mehr 2007. Blogs sind jetzt einfach da und gehen auch nicht mehr weg. Aber sie sind nicht ganz das geworden, was wir uns vielleicht mal erhofft hatten. “Wir” sind nicht das geworden. Menschen, die alle eine Blogsoftware benutzen, haben grundsätzlich erst mal genau diese eine Gemeinsamkeit. Wer will, kann sich mit Menschen, die auch irgendwie ins Internet schreiben, treffen, wer nicht will, nicht. Wer seine Sicht auf die Welt für so wichtig hält, dass andere davon erfahren sollten, sollte nicht irgendwo Kommentare hinterlassen, sondern mit dem Bloggen anfangen.

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Digital Unterwegs

Ich will Dich treffen, wo es am schönsten war

New York, NY

Facebook macht mein Internet kaputt. Wann immer mir etwas halbwegs besonderes widerfährt oder ich etwas tolles entdecke, poste ich das bei Facebook und dann ist gut. Deswegen verwaist dieses Blog langsam aber sicher und wird nur noch befüllt, wenn sich bei mir genug negative Energie angesammelt hat. Das ist nicht gut.

Markus Herrmann alias Herm, der uns zum Beispiel das Oslog und das Duslog so schön tapeziert hat, war letzte Woche in New York. Er hat ungefähr alles, was er dort erlebt hat (dachte ich zunächst, waren aber nur zehn Prozent dessen), bei Facebook geteilt, sich hinterher aber auch noch die Mühe gemacht, das ausführlicher im Blog zu beschreiben.

Er war in zahlreichen Fernsehstudios, bei Google, an jeder denkbaren Touristenattraktion und hat Mark Hoppus, Conan O’Brien und Elmo aus der Sesamstraße getroffen. Ihm sind die unglaublichsten Dinge passiert und man sieht beim Lesen förmlich, wie er da mit großen Augen durch die Gegend tappst.

Womöglich finde ich das alles besonders toll, weil ich Herms Begeisterung für Popkultur und die USA teile (letzteres ein bisschen eingeschränkt, aber – love them or hate them – irgendwie kann man sich dem ja nicht entziehen) und ich fast auf den Tag genau fünf Jahre vor ihm in New York war und vieles ganz ähnlich erlebt habe.

In jedem Fall wäre es viel zu schade, wieder nur auf den “Gefällt mir”-Button zu klicken. Deswegen seien Ihnen die Einträge aus New York ausdrücklich auch hier im Blog empfohlen:

Herm in New York

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Digital Gesellschaft

Lesen Sie diese peinliche Einladungskarte im Original

Ich schreibe jetzt seit ziemlich genau 12 Jahren ins Internet: Erst über Kinofilme, dann über Musik, dann über alles mögliche und das Versagen von Journalisten. Mit der Zeit habe ich mir angewöhnt, schon im Moment des Erlebens im Kopf Blogeinträge zu Formulieren. Das ist sehr lästig, weil ich Rockkonzerte zum Beispiel nicht mehr als schöne Ereignisse wahrnehme, sondern hauptsächlich als Vorlagen für Texte, die in den allermeisten Fällen dann doch nie geschrieben werden.

Facebook hat alles noch schlimmer gemacht, denn plötzlich ist – um es mit Heiner Müller zu sagen – alles Material: Das leidlich lustige Erlebnis im Supermarkt, der mitgehörte Dialog in der Straßenbahn oder die Feststellung, dass ich seit einigen Monaten offenbar zu doof bin, mir die Schnürsenkel so zuzubinden, dass sie nicht unterwegs aufgehen. Alles kann ich schnell ins Smartphone tippen oder mir bis zuhause merken und es dann in die Halböffentlichkeit von Facebook kübeln. Und dann ist es ja offiziell mitgeteilt, weswegen ich die Episoden nicht mehr behalten muss, um sie in fröhlicher Runde Freunden oder Verwandten zu berichten. Ich habe gesprochen, wie der Indiander sagt, und obwohl das Internet ja an sich nicht vergisst, sind die ganzen mehr oder weniger unterhaltsamen Erlebnisse, die ganzen mehr oder weniger geistreichen Gedanken anschließend einigermaßen weg und für Tagebuch, etwaige Enkel und geplante Romane und Drehbücher irgendwie nicht mehr verfügbar. Darunter leidet auch dieses Blog.

Blöd ist aber auch die Schere im Kopf, die irgendwann unweigerlich auftaucht, sobald man begriffen hat, dass das, was man da ins Internet schreibt, auch von irgendjemandem gelesen wird. Es ist einerseits schön, von wildfremden Menschen im öffentlichen Raum angesprochen zu werden, weil ihnen das eigene Blog gefällt (und man selbst so unvorsichtig war, die eigene Fresse auch dann und wann in eine Videokamera zu halten und somit gesichtsbekannt ist), aber es ist andererseits auch ein bisschen beunruhigend, wenn Leute, deren Namen man nicht kennt (auch, weil man in dem Moment, da sie ihn genannt haben, wieder unaufmerksam war), einem erzählen, wie schön sie diesen oder jenen Text jetzt gefunden hätten.

Schlimmer ist nur noch das private Umfeld. Ich war in den vergangenen Monaten auf mehreren Hochzeiten eingeladen. Mehrere Artikel über das Zusammensein von Mann und Frau, über die offensichtliche Unmöglichkeit von unpeinlichen Einladungskarten, über die Einrichtung von Wohnungen und über die Menschheit im Allgemeinen schwirren seitdem auszugsweise durch mein Oberstübchen und harren ihrer Niederschrift — doch ich traue mich nicht. Schriebe ich identifizierbar (und für wenige Menschen identifizierbar wäre ja schon schlimm genug), wären die Gastgeber aus guten Gründen beleidigt: “Erst frisst er sich auf unsere Kosten durch den Abend und dann geißelt er unsere Einladungskarte.” Schriebe ich sehr allgemein, wären womöglich hinterher die falschen Menschen angefressen: “Erst frisst er sich auf unsere Kosten durch den Abend und dann geißelt er unsere Einladungskarte, von der er vorher noch gesagt hat, er fände sie überraschend unpeinlich.” Die Artikel werden also weiter auf sich warten lassen.

Überhaupt ist das ja ein interessantes Phänomen, das früher allenfalls Menschen betraf, die Autoren oder Musikanten in ihrem Bekanntenkreis hatten: Alles, was wir heute sagen, tun oder nicht tun, könnte schon morgen in irgendeinem Blogeintrag oder wenigstens in irgendeinem Facebook-Post auftauchen und mindestens die 200 engsten Freunde wüssten, wer gemeint ist. Drogen werden seit Erfindung von Handykameras daher sowieso von niemandem mehr konsumiert und Sex findet ausschließlich im Dunkeln statt (das ist auch besser fürs Selbstbewusstsein, steht in jeder zweiten Frauenzeitschrift).

Doch wie kam ich drauf? Richtig: Ich hatte heute ein leidlich lustiges Erlebnis in der S-Bahn, das ich im Facebook irgendwie nicht richtig hätte ausbreiten können (im Twitter hätte ich mit dem Bericht nicht mal beginnen können, weil ich es für nachgerade unmöglich halte, meine Gedanken in 140 Zeichen zu packen — sonst wäre ich schließlich Profifußballer geworden).

Ich stieg also in die S-Bahn ein und da saß eine schwer blutverschmierte Person.
“Herr Ober, da sitzt eine schwer blutverschmierte Person”, hätte ich also ins Facebook geschrieben, nur um dann zu ergänzen, dass die Person aber offenbar etwas mit Rollenspielen oder ähnlichem zu tun hatte, jedenfalls sehr ordentlich geschminkt war. Eventuell hätte ich noch die Frage an mich selbst hinzugefügt, warum ich in der S-Bahn eigentlich nach dem Ober rufe, das ist ja schließlich kein Restaurant.

Im Nachhinein betrachtet wäre diese Geschichte vielleicht sogar für Twitter zu sinnlos gewesen.

Deswegen schnell noch eine andere Geschichte, die ich auch nicht bei Facebook gepostet habe: Gestern in der Buchhandlung, ein Tisch “Lesen Sie diese Bestseller im Original”. Darauf: Die “Millennium”-Trilogie von Stieg Larsson auf Spanisch.

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Leben Unterwegs

Broder und ich

Ich hatte mir ehrlich gesagt gar keine großen Gedanken gemacht. Meine Freunde hatten mich gewarnt und mir wertvolle Tipps gegeben. Man könne ja ständig im Fernsehen sehen, wie das endet. Dabei sollte ich doch nur mit Henryk M. Broder diskutieren.

Die Freischreiber, der Berufsverband freier Journalisten, hatten mich zu ihrem Kongress eingeladen und weil ich es immer lustig finde, wenn sich Journalisten ausgerechnet von mir etwas erzählen lassen wollen, und der Kongress in Hamburg stattfand, habe ich zugesagt.

Neben Henryk M. Broder und mir saßen noch der frühere Politberater und heutige Blogger Michael Spreng und die frühere “Bunte”-Chefredakteurin und heutige Bloggerin Beate Wedekind auf dem Podium, das im Wortsinne keines war, weil wir genauso hoch saßen wie die Zuhörer. In unserer Mitte saß Gabi Bauer, die die Diskussion moderieren sollte und erstes diplomatisches Talent präsentierte, als sie Broder und mir die jeweils äußeren Plätze in unserer kleinen Sitzgruppe zuteilte.

Vor Beginn der Diskussion führte ich ein bisschen Smalltalk mit den Frauen Bauer und Wedekeind und Herrn Spreng, der übrigens riesengroß ist. Henryk M. Broder gab ich nur kurz die Hand, aber er ist so klein, wie er im Fernsehen immer aussieht und trägt ein Herrenhandtäschchen bei sich. Die Raumtemperatur sinkt allerdings nicht, wenn er neben einem steht, und es wird auch nicht plötzlich dunkel.

Thema der Diskussion sollte Leserbeteiligung in allen Formen sein und wir vier sollten verschiedene Positionen einnehmen. Ich erzählte also, wie wichtig die Leserhinweise unserer Leser beim BILDblog sind und hörte, wie ich die gleichen Beispiele abspulte wie bei ähnlichen Veranstaltungen, zu denen ich gelegentlich eingeladen werde. Es ist mir schleierhaft, wie Schauspieler, Musiker und Politiker Interviewmarathons und Talkshow-Touren überstehen können, ohne vom Wahnsinn oder vom Selbsthass aufgefressen zu werden. “Wir haben bei Coffee And TV mit acht Autoren angefangen, was den Vorteil hatte, dass jeder Text schon mal mindestens sieben Leser hatte …” Sicherer Lacher. Letztlich sind wir alle kleine Mario Barths.

Henryk M. Broder ist noch ein bisschen mehr Mario Barth, nur dass seine todsicheren Lacher nicht “Schuhe” heißen, sondern “Konzentrationslager” — die Reaktionen sind allerdings auch kein hysterisches Gekicher, sondern so ein dumpfes “Hohoho”. Broder aber war am Samstag nicht in Form: Sein Geätze wirkte halbherzig, seine Polemik von sich selbst gelangweilt, er brauchte ganze 25 Minuten, bis er bei Hitler angekommen war. Twitter und Facebook fände er schrecklich, erklärte Broder, ohne eines von beidem mit einem KZ zu vergleichen, und irritierte damit Beate Wedekind, die sich sicher war, bei Facebook mit ihm befreundet zu sein. “Das bin ich nicht!”, machte Broder deutlich und stiftete damit allgemeine Heiterkeit.

Es war eine angenehme Gesprächsatmosphäre, in der jeder jedem irgendwann mal beipflichten oder müde den Kopf schütteln musste. Jeder konnte ein bis zwei große Lacher landen. Gabi Bauer leitete die Runde charmant und interessiert und nahm sich Zeit für jeden. Kurzum: Als ARD-Talkshow wären wir ein völliges Desaster gewesen. Allein der Erkenntnisgewinn war vergleichbar niedrig. Wenn wir noch Zeit gehabt hätten, ein Fazit zu ziehen, hätte es vermutlich lauten müssen: Ja, Leser sind die Hölle — und das Größte, was wir haben. Das kann ja nun wirklich jeder Sportler oder Künstler über die eigenen Fans sagen, jeder Politiker über die Wähler und alle Eltern über ihre Kinder.

Entsprechend ratlos war ich, als mich ein junger Mann anschließend inständig bat, ihm doch mitzuteilen, was ich aus der Veranstaltung denn nun mitnähme. Gabi Bauer, Beate Wedekind und Michael Spreng lesen jeden Tag etwa vier Tageszeitungen, was ich erstaunlich finde, Beate Wedekind verbringt viel Zeit in Facebook, was Michael Spreng erstaunlich findet, und Gabi Bauer sieht sich unter dem Namen einer Freundin bei Facebook um, was nun wirklich alle erstaunlich fanden. Henryk M. Broder hatte schlecht zu Mittag gegessen.

Mein Blutdruck bekam an diesem Tag aber doch noch Gelegenheit, besorgniserregend zu steigen. Aber da standen wir alle um das iPhone von Jens Weinreich herum und guckten auf die Bundesliga-Ergebnisse.

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Digital Gesellschaft

Kolossale Analogie

Screenshot: analogejugend.tumblr.comBei meinen Versuchen, wieder mal der Letzte zu sein, der einen Internet-Hype entdeckt hat, bin ich auf das Blog “Analoge Jugend” gestoßen.

Versehen mit Überschriften aus den schönsten deutschsprachigen Popsongs der letzten 20 Jahre finden sich dort Fotos aus einer fernen Welt:

Analoge Jugend is a blog about the last generation of kids growing up without social media, digital cameras and a desperate force of self-expression.

Ich weiß nicht, wie diese Fotos auf … sagen wir mal: heute 15-Jährige wirken (mutmaßlich: “antik”), aber ich fand das Blog beim Durchklicken gleichermaßen herzerwärmend und beunruhigend: Etwa bei jedem zweiten Bild war ich mir sicher, frühere Klassenkameraden oder mich selbst entdeckt zu haben.

Mit frappierender Deckungsgleichheit kreisen die Bilder um Klassenfahrten (und damit um Reisebusse, holzverkleidete Partyräume und und Regenjacken), um Strände an Meeren und Baggerseen und um sehr viel Blödsinn mit und ohne Alkohol.

Mit diesem unscheinbaren, aber kulturhistorisch wichtigen Blog wäre dann auch gleich mal mit dem lästigen Gerücht aufgeräumt, wonach “die Jugendlichen” “ja” “heutzutage” alle gleich aussähen.

Sie taten es immer schon:

Jugendliche, irgendwo in Deutschland, 1997.

Jugendliche, irgendwo in Deutschland, 2000.

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Musik Digital

Auswärtsspiel: oslog.tv

Statler & Waldorf, Abbott & Costello, Simon & Garfunkel — die Liste glorreicher Duos ist lang.

Und damit zu etwas völlig Anderem: In knapp zwei Wochen findet in Oslo der Eurovision Song Contest statt. Auf den Schultern von Lena Meyer-Landrut lastet eine höhere Erwartungshaltung als auf denen von Jogi Löw, denn es geht darum, nach 28 Jahren endlich wieder Weltmeister Papst Meistersänger zu werden.

Aus Gründen, die uns selbst nicht ganz klar sind und die wir noch nicht einmal mit “Alkohol” angeben können, fahren Stefan Niggemeier und ich nach Oslo, um uns den ganzen Irrsinn aus der Nähe anzuschauen und kleine Filme darüber ins Internet zu stellen.

Die Pilotfolge sehen Sie hier:

Hier klicken, um den Inhalt von YouTube anzuzeigen.
Erfahre mehr in der Datenschutzerklärung von YouTube.

Alles weitere finden Sie dann auf oslog.tv.

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Literatur Digital

Die Arroganz der Jungen, die Ignoranz der Alten

Wir müssen dann leider noch mal auf “Axolotl Roadkill” zurückkommen, das literarische Hype-Thema der Stunde. Nicht, dass ich das Buch inzwischen gelesen hätte, aber: Das von der Literaturkritik auf Lautstärke 11 gefeierte Werk von Helene Hegemann (17) weist in etlichen Passagen erstaunliche Ähnlichkeit mit einem anderen Buch auf.

Deef Pirmasens hat in seinem Blog Die Gefühlskonserve eine Gegenüberstellung von Textstellen aus “Axolotl Roadkill” und aus dem Buch “Strobo” des Berliner Bloggers Airen veröffentlicht, das im vergangenen Jahr erschienen war. Um es vorsichtig auszudrücken: Da kommt schon Einiges an Auffällig- und Ähnlichkeiten zusammen.

Als gelernter Literaturwissenschaftler stehe ich diesen Enthüllungen etwas schulterzuckend gegenüber: Montagen und Intertextualität gibt es seit kurz nach Erfindung der Schriftsprache — Georg Büchners Novelle “Lenz” ist knapp zur Hälfte aus Aufzeichnungen des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin übernommen, Johann Wolfgang von Goethe hat sich mehr als einmal massiv von anderen Texten inspirieren lassen. Auf den Platz in der Literaturgeschichte hatte das für die beiden Herren keine Auswirkungen, aber über den entscheidet naheliegenderweise die Nachwelt und nicht der Zeitgenosse. Überhaupt gilt ja, was Oscar Wilde zugeschrieben wird, der gemeine Pop-Konsument (also ich) aber erst seit Tocotronic weiß: “Talent borrows, genius steals”.

Als jemand, der mit dem Schreiben von Texten seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften versucht, sehe ich es naturgemäß kritischer, wenn jemand (mutmaßlich) gutes Geld mit Inhalten verdient, die zumindest zu einem nicht ganz unerheblichen Teil aus dem Werk eines Anderen stammen.

Die Grenzen zwischen Zitat und Diebstahl geistigen Eigentums sind fließend — der Unterschied zwischen den Groß-Zitierern Quentin Tarantino und Dieter Wedel besteht letztlich auch nur darin, dass Tarantinos Filme cool sind und Wedels spießig. Und dass die Übernahme bestimmter Worte oder ganzer Textpassagen noch mal ein bisschen was anderes ist als das zufällige Wieder-Erstellen einer bereits komponierten Melodie (man erinnere sich nur an die rund tausend Songs, von denen Coldplay ihr “Viva La Vida” samt und sonders abgepinnt haben sollen), lässt sich einerseits mit den unterschiedlichen Materiallagen (zehntausende Wörter vs. zwölf Töne) erklären, ist aber andererseits auch nur Geschmacks- und Definitionssache.

Man könnte also Helene Hegemann und Dieter Wedel zu Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski ins “Philosophische Quartett” setzen und eine Stunde lang über Blues-Motive und Bastardpop, Williams Shakespeare und Heiner Müller diskutieren lassen und hätte am Ende vielleicht ein bisschen Erkenntnisgewinn oder wenigstens was zum drüber aufregen. Man würde sich womöglich darauf einigen, dass Zitate, Remixe und Mashups Teil unserer (Pop-)Kultur sind, es aber nur höflich wäre, wenigstens seine Quellen zu benennen und nicht Andererleuts Gedanken als eigene auszugeben.

Aber das sind philosophische und kulturwissenschaftliche Gedanken allgemeiner Art. Der “Fall Hegemann” dagegen ist leider der Super-GAU der öffentlichen Auseinandersetzung, weil er sich genau an der (leider immer noch von vielen Menschen auf beiden Seiten imaginierten) Verwerfung zwischen analoger und digitaler Welt ereignet hat: Da hat also so eine Berliner Künstlertochter abgeschrieben — und zwar bei einem Blogger! Hurra, der Klassenkampf beginnt erneut, auf die Barrikaden!

Jetzt kriegen die Literaturkritiker, denen man sicher vieles vorwerfen kann, ernsthaft um die Ohren gehauen, sie hätten ja mal Googeln können.

Googeln. Einen Roman! Dabei erzählt Deef Pirmasens, dem die ganzen textlichen Parallelen als Erstem aufgefallen waren, im Interview mit sueddeutsche.de, dass ihm bei der Lektüre von “Axolotl Roadkill” bestimmte Worte bekannt vorgekommen seien — weil er “Strobo” gelesen hatte. Beim Erkennen von ungenannten Querverweisen hilft es also offenbar immer noch, das Original zu kennen. Dass lange Zeit niemandem aufgefallen ist, dass eine andere Textstelle aus dem Song “Fuck U” von Archive übernommen wurde, spricht dann eben leider nicht für die Popularität der Band.

Der Kampf der Welten endet in Sätzen wie diesen:

In Wirklichkeit scheint sich als Abwehrhaltung des Feuilletons herauszukristallisieren: Es ist nicht so schlimm, von einem weitgehend unbekannten Medium aus dem Web geklaut zu haben – Hegemann kann zur Not noch als Transkribistin vom Internet ins Buch gefeiert werden.

Es ist jener passiv-aggressive Ton, gepaart mit dem Hinweis, dass das Internet immer noch etwas anderes sein soll als der Rest der Welt, der den genauso verbohrten Menschen im Kulturbetrieb dann wieder als Vorlage dient, wenn es darum geht, über die Meckereien und das merkwürdige Selbstbewusstsein (bzw. offensichtlich dessen Fehlen) der Blogger zu lästern. Ich frage mich, ob die Geschichte in der deutschsprachigen Netzwelt genauso hohe Wellen geschlagen hätte, wenn der “beraubte” Autor nicht gleichzeitig Blogger wäre, und liefere mir die Antwort gleich selbst: “Vermutlich nicht”. Statt sich also auf den konkreten Vorgang zu konzentrieren, wird mal wieder das übel riechende Fass “wir Blogger gegen die Nichtsblicker bei den Totholzmedien” aufgemacht und es grenzt an ein Wunder, dass sich die “#fail”s bei Twitter bisher in Grenzen halten.

Der Verleger von “Strobo” klingt da im Gespräch mit Spreeblick wesentlich entspannter. Der gleiche Verleger übrigens, der munter erzählt, wann Vater Hegemann das Buch für seine Tochter gekauft hat:

Während Hegemann sagt, dass sie das Buch nicht kenne, kann der Verlag SuKuLTur einen Beleg vorweisen, aus dem hervorgeht, dass Carl Hegemann den Roman Airens am 28. August 2009 über Amazon Marketplace bestellt und an seine Tochter Helene hat liefern lassen.

[via otterstedt.de]

Wenn’s um die gute eigene Sache geht, ist das mit dem Datenschutz – sonst die Domäne der Netzgemeinde – offenbar auch nicht mehr ganz so wichtig.

Die Überschrift dieses Eintrags, übrigens, die stammt von Virginia Jetzt!

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Literatur Musik

“Das ist keine Reisegruppe”
Ein Interview mit Sven Regener

Musikjournalisten erzählen häufiger, dass sie relativ wenig Ambitionen hätten, ihre persönlichen Helden zu treffen. Zu groß ist die Angst, dass sich der über lange Jahre Bewunderte als langweilig oder – schlimmer noch – unsympathisch herausstellt, dass einem keine guten Fragen einfallen oder man versehentlich die eigenen Freunde mit reinzieht.

Vor Sven Regener habe ich einen Heidenrespekt: Die Musik seiner Band Element Of Crime begleitet mich schon länger, die letzten beiden Alben habe ich rauf und runter gehört und seine Romantrilogie über Frank Lehmann habe ich mit großem Gewinn gelesen. Außerdem muss ich immer an jenes legendäre Interview mit der (inzwischen fast schon wieder völlig vergessenen) “Netzeitung” denken.

Es hätte also gute Gründe gegeben, sich nicht um ein Interview mit dem Mann zu bemühen, obwohl er mit Element Of Crime in Bochum war. Aber ein kurze Begegnung beim letztjährigen Fest van Cleef hatte mich so weit beruhigt, dass ich gewillt war, mich auf das Experiment einzulassen.

Element Of Crime (Archivfoto vom Fest van Cleef 2009)

Kurz bevor es losging sagte er: “So, wir duzen uns. Ich bin Sven.” Gut, dass das vorab geklärt ist, Respektspersonen würde man ja sonst auch siezen.

Wie das Gespräch dann lief, können Sie jetzt selber hören und beurteilen. Zu den Themen zählen Sven Regeners Tourblog, kleinere Städte, “Romeo und Julia”, Coverversionen und Vorbands.

Interview mit Sven Regener
(Zum Herunterladen rechts klicken und “Ziel speichern unter …” wählen.)

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Print Digital

Local Boy In The Photograph

Ihm täten Lokalzeitungsfotografen leid, schreibt der Blogger Scaryduck. Sie seien hoch talentiert und schwach bezahlt und würden losgeschickt, um unglückliche Menschen zu fotografieren, die auf Hundehaufen deuten.

In seinem Blog “Angry people in local newspapers” will Scaryduck deshalb die Arbeit dieser Fotografen feiern. Zu sehen gibt es wütende Menschen in Lokalzeitungen.

Und das scheint ein einigermaßen unerschöpfliches Feld zu sein:

Screenshot: apiln.blogspot.com

Mich erinnerte das Projekt an die Sammlung des Fotografen Peter Piller, auf den ich vor einigen Jahren durch das “Süddeutsche Zeitung Magazin” aufmerksam geworden war. In seinem “Archiv Peter Piller” zeigt er Fotos aus Lokalzeitungen, fein säuberlich nach Motiven (“durchschnittene Einweihungbänder”, “in Löcher blicken”, “Videostills der Geldkartenbetrüger”, “Tatorthäuser”, “regionales Leuchten”, “Auto berühren”, “Tanz vor Logo”, …) sortiert.

Besonders angetan haben es mir die “Bedeutungsflächen”:

Screenshot: peterpiller.de

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Digital Gesellschaft

Wohlfaile Empörung

Ich hab mir heute nach fast sechs Jahren in Bochum zum ersten Mal eine “WAZ” gekauft — für einen Artikel im BILDblog über das Koma-Saufen, zu dem die Junge Union hier in der Stadt angeblich einlädt.

Ich weiß nicht, was ich von einer Party halten soll, bei der man für 10 Euro Eintritt 25 Euro vertrinken kann, so dass die rot-grünen Shots, die “weg müssen”, im Endeffekt weniger als einen Euro kosten. Aber ich würde auch noch viel weniger ins Playa gehen, als ich CDU wählen würde.

Was ich weiß, ist, dass die ganze Aufregung um diese Party irgendwie typisch war: Beim “Westen” steht, die Gutscheine müssten in anderthalb Stunden vertrunken werden, und kurz darauf steht es so in vielen Blogs und mehr als 300 Leute twitterten, dass die Junge Union …

Auch ich hatte den Link zum “Westen” für eine Minute in meinen delicious-Links, ehe mir bei den dortigen Trackbacks der Link zu Waynes Blog auffiel, in dem dieser der “WAZ” schlechten Journalismus vorwarf.

Ob die Junge Union möglicherweise erst nach Erscheinen des Artikels beim “Westen” auf ihrer Website klargestellt hat, “dass der Gutschein zwar bis 23:30 an der Kasse erworben werden muss aber die ganze Nacht genutzt werden darf”, ist eigentlich unerheblich — die Blogger, die sich auf die Story stürzten, hätten wenigstens den Versuch unternehmen müssen, bei der Jungen Union nach Informationen zu suchen. (Ich natürlich auch, bevor ich den Link gespeichert habe. Ganz besonders, wenn die Quelle “WAZ Bochum” heißt.)

Es kann doch nicht sein, dass wir immer wieder die Informationen loben, die im Internet für jeden überall und frei verfügbar sind, und dann nicht mal drei Minuten darauf verwenden, bei einer solchen Geschichte auch die Gegenseite abzuchecken. Stattdessen wird der Link blindlings bei Twitter weiterverbreitet — natürlich nicht, ohne ihn vorher nicht noch mit “#fail”, “#cdu-” und “#piraten+” (aus Prinzip!) versehen zu haben.

Natürlich traue auch ich den Parteien (und zwar allen) im Wahlkampf so ziemlich alles zu. Aber es spricht trotzdem nicht für die Medienkompetenz von Internet-Powerusern, wenn sie blind auf eine Geschichte anspringen, die ihnen zufälligerweise ins Weltbild passt. Im Gegenteil: In solchen Momenten sind wir keinen Deut aufgeklärter als der alte Mann, der seit 60 Jahren immer die gleiche Partei wählt.

Nachtrag, 22:50 Uhr: Wie hatte ich nur “BO-Alternativ”, das lokale “Indymedia”-Pendant vergessen können? Dort sorgte die Junge Union schon gestern Nachmittag “mal wieder für einen Skandal”.

Andererseits hatte man sich dort die Mühe gemacht, bei der CDU-Jugendorganisation selbst nachzufragen:

Der Pressesprecher der JU Torsten Bade hält das alles für ein Missverständnis: Die Gäste könnten länger trinken und für jugendliche Disko-BesucherInnen sei das ein ganz normales Angebot. Er räumte aber auch ein, dass es schon mehrere Anrufe wegen der Geschichte gegeben habe und einige Plakate auch wieder abgehängt worden seien.

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Digital Gesellschaft

I love you, you pay my rant

Liebe PR-Futzis,

wir müssen reden. Habt Ihr eigentlich ‘nen Knall? Seit einigen Monaten erreichen mich Pakete, auf denen kein Absender steht ((Der Satz “Hoffentlich ist keine Bombe drin” von meinem Paketboten ist nur mittelwitzig.)) und in denen sich irgendwelcher Prött befindet. Eure Erwartung ist offenbar, dass ich darüber schreibe, was für einen crazy-verrückten Kram ich da ins Haus bekommen habe, und dass ich dann irgendwann nach Eurer Auflösung auch noch nachtrage, von welcher Firma der Mist kam. Sowas nennt man dann wohl “virales Marketing”, obwohl ich eigentlich immer dachte, Virals seien nicht planbar.

Es ist ja jedem Blogger ((Ich nehme an, Ihr schreibt einfach immer die ersten hundert Blogger an, die Ihr finden könnt.)) selbst überlassen, ob er über sowas schreiben will. Eine kurze Beschäftigung mit diesem Blog dürfte aber zeigen, dass wir hier eher nicht so auf PR stehen. Einzige Ausnahme: Ihr seid die Kilians — aber das wüsste ich.

Natürlich muss man als Blog-Betreiber damit rechnen, unverlangt E-Mails zu bekommen und in Newsletter eingetragen zu werden. Das ist auch nicht richtig höflich, aber okay, wenn es thematisch passt. ((Die Typen, die neulich einen Linktausch zum Thema “Kaffee” anleiern wollten, haben sich dieses Blog sicherlich die vollen anderthalb Sekunden angesehen, die man braucht, um das Impressum zu finden.)) In jedem Fall sind Spam-Mails bedeutend leichter zu entsorgen als Pakete, die wie ein “So trenne ich meinen Müll richtig”-Lernspiel für Grundschüler anmuten.

Im Moment kann ich mich übrigens nicht mal richtig über echte Geschenke von lieben Menschen freuen, da mein 20-m2-Zimmer schon bis zum Rand mit Kram gefüllt ist und mir beim Gedanken an den irgendwann dann doch mal anstehenden Umzug schon regelmäßig der Schweiß ausbricht. “Verbrauchswaren” braucht Ihr mir aber auch nicht zu schicken, denn wer will schon anonym versandte Lebensmittel?

Noch ein bisschen blöder wird so eine Aktion, wenn das Paket ausgerechnet am Samstagmorgen um Zehn nach Neun (lies: Mitten in der Nacht) zugestellt wird. Aber das wäre natürlich noch steigerbar: Wenn ich mit dem Bus nach Altenbochum fahren müsste, um in der Postagentur festzustellen, dass mir jemand ein Päckchen Sondermüll zugeschickt hat, würde ich vermutlich schlichtweg grün anlaufen und erst mal ein paar Autos durch die Gegend werfen.

Nehmt Euch ein Beispiel an den Musik-Promotern, Plattenfirmen und Nachwuchsbands dieses Landes, die in der Regel immer nett nachfragen, bevor sie einem was ins Haus schicken. Das ist schon aus ökonomischem Selbstschutz die tausendmal brillantere Idee und häufig ergeben sich daraus auch nette Kontakte. Als ich vor ein paar Monaten unaufgefordert ein Paket von einem namhaften deutschen Verlag bekam, mit dessen Presseabteilung ich zuvor schon mal zu tun gehabt hatte, war ich erst verwirrt. Aber die Auswahl der Bücher legte nahe, dass sich da jemand sehr genau mit diesem Blog beschäftigt haben muss, und ich war nicht mehr verwirrt, sondern gerührt. Entsprechend schlecht ist mein Gewissen, dass die Bücher noch immer ungelesen sind.

Jede Website bemüht sich heutzutage um personalisierte Werbung, die möglichst präzise auf die Interessen des einzelnen Besuchers zugeschnitten ist, aber Ihr ballert mit Schrotflinten auf Pfennigstücke. Genauso gut könnten Eure Kunden Geldscheine in die Luft werfen und was oben bleibt, ist gut investiert.

Überhaupt, liebe Firmen: Findet Ihr das eigentlich gut, diese Belästigung im Namen des Marketings? Einfach Leute anzurufen ist verboten, aber ihnen Krempel ins Haus zu schicken ist okay? Wisst Ihr, was Eure vermutlich überbezahlten PR-Strategen da machen? Habt Ihr das so in Auftrag gegeben? Und wenn Ihr diesen Text hier in Eurer Pressemappe findet (weil any PR ja bekanntlich good PR ist), habt Ihr dann nicht das Gefühl, dass da irgendwas irgendwo gewaltig schief gelaufen sein könnte?

Es ist das derbste PR-Klischee, aber solche Aktionen fallen einem doch nicht im nüchternen Zustand ein, oder? Die Krise ist erst eine, wenn sie auch bei den Hamburger und Düsseldorfer Koksdealern angekommen ist. Und mal ehrlich: Wer auf die Idee kommt, in einem Werbespot ausgerechnet den Titelsong von “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” zur Vermittlung eines positiven Lebensgefühls einzusetzen (wie gestern gesehen), der muss sich doch wohl ein eher legeres Verhältnis zu Betäubungsmitteln nachsagen lassen.

Genug der kalten Wut. Ich denke, es ist deutlich geworden, dass ich von weiteren Care-Paketen aus der Werbehölle verschont werden möchte. Ich wäre glücklich, wenn Ihr Euch daran hieltet.

Mit freundlichen Grüßen und Dank im Voraus,

Lukas Heinser