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Bist Du noch wach? — 2. Kannst Du gut mit Lob umgehen?

In der zweiten Folge sprechen Sue und Lukas unter anderem über Bücher, die ihr Leben nachhaltig verändert haben — was naheliegenderweise zu einer Diskussion über problematische Songs von Adele und Bruce Springsteen führt.

Es geht um Netz-Bekanntschaften, die Frage, warum Lukas nicht existiert, und um Leben und Tod. Dafür sprechen wir nicht über Dinge, bei denen man einfach wortlos gehen darf, wenn sie jemand anders sagt.

Wenn Ihr uns schreiben wollt (zum Beispiel, weil Ihr eigene Fragen habt). könnt Ihr das jetzt unter bistdunochwach@coffeeandtv.de tun!

Shownotes:

Lukas’ Bücher:

  • Douglas Adams: „Per Anhalter durch die Galaxis“
  • Hellmuth Karasek: „Billy Wilder — Eine Nahaufnahme“
  • Johann Wolfgang Goethe: „Die Leiden des jungen Werthers“
  • John Green: „The Fault in our Stars“ („Das Schicksal ist ein mieser Verräter“)
  • Wolfgang Herrndorf: „Tschick“
  • Benjamin von Stuckrad-Barre: „Remix“

Sues Bücher:

  • Nick Hornby: „High Fidelity“
  • Gary Keller: „The One Thing“
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In memoriam Hellmuth Karasek

Meine erste Begegnung mit Professor Karasek liegt fast exakt zwanzig Jahre zurück: Mein Vater hatte mich zu einer Veranstaltung mitgenommen, wo Karasek sein Buch “Mein Kino” vorstellte und mit immer noch glühenden Augen Namen wie Alfred Hitchcock, Billy Wilder oder Marlene Dietrich referierte, von denen ich überwiegend noch nie gehört hatte. Ich hatte damals noch nichts anderes als Zeichentrickfilme und Familienkomödien aus Hollywood gesehen.

Drei Jahre später las ich seine Billy-Wilder-Biographie, die mich zu einem glühenden Verehrer der beiden machte: Wilder wegen seiner Filme und seines Humors, Karasek wegen seiner Fähigkeit, so zu schreiben, dass man beim Lesen immer seine etwas quietschige Stimme zu hören glaubte. Die Lesung von “Das Magazin”, zu der mich meine Eltern mitnahmen, habe ich nur besucht, um mir das Wilder-Buch signieren und mit ihm kurz über “Eins, Zwei, Drei” fachsimpeln zu können. (Was man mit 15 auf dem Dorf halt so macht.) Es war dann jetzt leider auch unsere letzte Begegnung.

Für Lukas, viel Spaß! Herzlich, Hellmuth Karasek

Karaseks Buch “Karambolagen”, in dem er seine Begegnungen mit berühmten Zeitgenossen beschreibt (natürlich auch mit Wilder), wird eines Tages Vorbild für meine Textsammlung zum selben Thema sein. Hellmuth Karasek bekommt dann sein eigenes Kapitel.

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Dieser Text soll wütend machen

Ich habe angefangen, einen Text zu verfassen. Unglaublich, was dann passierte.

Man weiß ja eigentlich, dass eine Sache popkulturell durch ist, wenn die Parodien darauf anfangen, einem massiv auf den Sack zu gehen. ((Das ist in der Regel der Moment, in dem Radiosender anfangen, die betreffende Sache in ihr “Comedy”-Repertoire aufzunehmen.)) Die Nummer mit dem “Heftigstyle” ist also eigentlich durch.

Der “Heftigstyle” ist benannt nach dem “stilistischen” Vorbild heftig.co, einer Internetseite, die es sich zum Ziel gesetzt hat, bunte Meldungen von anderen, internationalen Trash-Portalen zusammenzuklauben, diese grob ins Deutsche zu übersetzen und mit plumpen Anreißertexten in Sozialen Netzwerken zu streuen. Ungefähr alles, was man über diese Website wissen muss, die vom guten Anstand über die Prinzipien des Kapitalismus bis hin zum geringsten sprachlichen Empfinden einfach alles beleidigt, hat der Herm schon vor drei Monaten aufgeschrieben. In meinen eigenen Social-Network-Feeds tauchen Meldungen von “Heftig” auffallend selten auf, was ich sehr gut finde, aber die Seuche greift um sich — immer mehr (meist ebenfalls unseriöse) Internetportale beteasern ihre Artikel in “Heftig”-Manier. Einen groben Überblick über diese Hölle liefert der inzwischen schon wieder etwas verwaist erscheinende tumblr “heftigstyle”.

Formulierungen wie “Dieser Elfmeterschütze möchte besonders angeben. Doch was dann folgt, ist einfach zum Lachen.” machen mich so unfassbar aggressiv wie sonst nur tropfende Wasserhähne über Edelstahlspülen. Ich brauchte ein paar Wochen mit mir und meinen Gefühlen um zu begreifen, warum das so ist. Dann wurde mir klar: Es ist die völlige Bevormundung des Lesers. Er soll schon vor der Lektüre des ganzen (meist lächerlich kurzen) Artikels wissen, wie er zu reagieren hat — im konkreten Fall Lachen. Mal davon ab, dass die wenigsten als besonders lustig angepriesenen Geschichten die entstandene Erwartungshaltung erfüllen können, ist das für mich auf eine Art ausgeprägte Menschenverachtung. Es ist irgendwie noch schlimmer als Fast-Food-Verpackung, auf die groß “Lecker!” gedruckt ist, es ist die maximale Unterforderung des Rezipienten.

Das Law-and-Order-Format “Achtung Kontrolle” auf Kabel Eins arbeitet mit den gleichen rhetorischen Mitteln, wenn die laienschauspielernden Polizisten oder Steuerfahnder ebenso leb- wie lieblos Satzkonstruktionen ablesen, die ungefähr so gehen: “Ich habe den Mann dann noch mal aufgesucht und was ich dann sah, hat mich wirklich überrascht.” Darauf folgt die nachgestellte Szene, in der der Ordnungshüter den Mann noch einmal aufsucht und dann etwas sieht, was ihn wirklich überrascht. Normal entwickelte Fünfjährige würden diesen Ablauf korrekt verstehen und einordnen, aber für die angeblich erwachsenen Zuschauer, die die Macher dieser Sendung offenbar für lernbehinderte Matschkartoffeln auf dem heimischen Sofa halten, wird das schön erklärt — und nach der Werbepause noch mal vom Off-Sprecher wiederholt.

Klar, wir Akademiker könnten uns jetzt schön zurücklehnen und sagen: “Das ist halt Trash-TV fürs Trash-Volk. Bildungsferne Schichten, Hartz IV, Dosenbier — die sind halt doof.” Also genau das, was sich die Produzenten solcher TV-Sendungen in all ihrer Überheblichkeit – und der daraus folgenden Menschenverachtung – auch denken. Aber ich weigere mich, das zu glauben. Billy Wilder hat mal gesagt, ((Sinngemäß, ich finde das Zitat leider auf die Schnelle nicht mehr wieder, es ist aber irgendwo im Wilder-Buch von Hellmuth Karasek zu finden.)) man dürfe den Zuschauer nicht unterschätzen bzw. unterfordern, er sei schlau genug, eins und eins selbständig zusammenzuzählen.

Bei “Tagesschaum” hatten wir spaßeshalber mal das Mission Statement “Wir wollen den Zuschauer auf mehreren Ebenen überfordern” formuliert — und dieses Versprechen sicherlich auch oft genug eingelöst. ((Und, klar: Unsere Quoten konnten nicht mit denen von “Achtung Kontrolle” mithalten.)) Ich habe erst mit der Zeit begriffen, dass es beim Fernsehen wirklich außergewöhnlich ist, gewisse Fakten als bekannt vorauszusetzen und den Zuschauer vor allem mal eigene Schlüsse ziehen zu lassen. Man kann ja heute kaum noch eine Nachrichtensendung schauen, in denen Aufnahmen von hungernden Kindern, vertriebenen Menschen oder den Auswirkungen von Naturkatastrophen nicht als “schlimme Bilder” anmoderiert werden — ganz so, als wäre das Publikum nicht selbst in der Lage, das Gezeigte als schlimm einzuordnen.

Womöglich bin ich da alleine, aber ich fühle mich von solchen Erklärungen immer bevormundet — genauso übrigens wie von den meisten Auflösungen in Krimis. Da haben die Autoren im ersten und zweiten Akt schön ihre Fährten gelegt und Hinweise gegeben, ((Inzwischen muss man ja schon froh sein, wenn das noch halbwegs natürlich geschieht und nicht irgendwelche Einblendungen aufpoppen, auf denen “Achtung! Diese Information wird gleich noch wichtig!” steht.)) und dann wird im dritten Akt noch mal eine Rückblende abgefeuert, damit auch der größte Depp (aus Sicht der Macher: der Zuschauer an sich) begreift, was ambach ist.

Ich möchte hier noch mal in Betracht ziehen, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, dem es so geht, aber ich denke bei Filmen oder Romanen lieber “Das habe ich jetzt nicht verstanden, da hätte ich besser aufpassen müssen, mein Fehler!” als “Ja-haaa! Ich hab’s verstanden!”. Ich weiß noch, wie wütend ich beim Sehen von Quentin Tarantinos “Inglourious Basterds” an einer Stelle wurde: In einer Gaststätte hatte sich ein Brite als Deutscher ausgegeben, tadelloses Deutsch gesprochen und war doch aufgeflogen. Er hatte beim Bestellen von drei Gläsern Scotch den Zeige-, Mittel- und Ringfinger hochgehalten — ein echter Deutscher würde die Zahl Drei aber mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger anzeigen. Man sieht in der Szene, wie August Diehl Michael Fassbenders Finger anstarrt und sein Gehirn rattert. Selbst wenn man nicht mit den kulturellen Unterschieden des finger-countings vertraut ist, gehen an dieser Stelle quasi alle Sirenen an und der Satz “Hier stimmt etwas nicht, Ihr seid aufgeflogen!” läuft in Laufschrift über Diehls Stirn. ((Damit wir uns nicht falsch verstehen: August Diehl macht in diesem Film einen phantastischen Job. Ich fand ihn fast noch besser als Christoph Waltz.)) Und trotzdem hielt Tarantino (womöglich: hielten die Produzenten) es für notwendig, die Sache mit den Fingern später noch einmal im Dialog aufzulösen. Damit auch der Letzte begreift, warum die Tarnung aufgeflogen ist.

Man hört ja immer wieder davon, dass viele Menschen, allen voran natürlich Schulkinder, nicht mehr in der Lage seien, einfache Texte sinnentnehmend zu lesen. Klar: Wenn ich daran gewöhnt bin bzw. werde, dass eine überraschende Wendung als solche gekennzeichnet wird oder dass traurige Musik anschwillt, wenn etwas trauriges passiert, dann wird es schwierig, wenn sich plötzlich der Asphalt vor mir auftut und der Tagebruch nicht “Überraschung!” schreit und die Musik ausbleibt, wenn der Hamster stirbt. Da bedarf es schon ein bisschen Vorwissen und Transferleistung, um das von selber auf die Kette zu kriegen.

Verschwörungstheoretiker würden jetzt erklären, dass es Wunsch und Auftrag von Regierung und/oder Werbekunden sei, das Volk dumm zu halten, aber ich fürchte, die Erklärung ist wie so oft viel einfacher, also schlimmer: Irgendwelche Controller haben in irgendwelchen Umfragen herausgefunden, wie man mit noch weniger eigenem Aufwand noch mehr Leute erreichen kann, die sich schon so sehr daran gewöhnt haben, für Toastbrot gehalten zu werden, dass es sie gar nicht mehr aufregt.

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Der Untergang des Abendbrotlandes

Schon immer kam alles Schlechte aus den USA: Die Meinungsfreiheit, das Frauenwahlrecht, der Rock’n’Roll und das Fast Food. Der neueste (na ja: “neueste”) Angriff auf die deutsche Kultur ist ein Fest, das von denen, die es begehen wollen, heute begangen wird: Halloween.

Eines vorab: Ich hasse es, mich zu verkleiden. Ich habe das als Kind mit großer Begeisterung getan und meinen Vorrat dabei offenbar aufgebraucht. Wer sichergehen will, dass ich nicht zu seiner Geburtstagsfeier komme, richtet einfach eine Bad-Taste- oder Mottoparty aus. Es kostet mich schon Überwindung, einen Anzug zu tragen oder Hosen, die keine Jeans sind. Als ich vor sechs Jahren den Herbst in Nordkalifornien verbrachte, fand ich mich allerdings plötzlich in einem eilig aus grünen Filzbahnen zusammengetackerten Ampelmännchen-Kostüm wieder — und hatte großen Spaß. Niemand kannte mich, alle waren sehr aufwendig kostümiert und es herrschte diese feierliche amerikanische Ernsthaftigkeit vor.

Wenn ich mir allerdings einen amerikanischen Feiertag für den Import aussuchen dürfte, wäre es – neben einem Nationalfeiertag im Sommer – Thanksgiving: Die Festlichkeit und Geselligkeit von Weihnachten ohne diesen ganzen Geschenkestress — die Amerikaner verstehen es zu feiern. Halloween ist ja doch eher was für Menschen, die sich vom Kalender vorschreiben lassen, wann sie mal ausgelassen feiern gehen können, und denen Karneval zu spießig ist. ((Mein in Rheinlandnähe aufgewachsenes Herz hätte beinahe geschrieben: die für Karneval zu feige sind.))

Aber gut, muss jeder selbst wissen, wie er seine Freizeit verbringt. Fähnchenschwenkend durch das Pressezentrum bei Eurovision Song Contest zu rennen, fällt bei den meisten Leuten sicher auch eher unter “Special Interest”. Wir sind ein freies Land. Wenn ich mir aber so anschaue, wie heute in meiner Facebook-Timeline westliche Kultur auf westliche Kultur trifft, finde ich, dass die Kontakte mit der islamischen Welt im Großen und Ganzen doch beinahe harmonisch zu nennen sind.

Auf der einen Seite stehen die Leute, die Halloween mit quasi religiösem Eifer begehen. Auf der anderen jene, die sagen, heute sei doch Reformationstag und morgen Allerheiligen. ((Kleiner Ausfallschritt zu Allerheiligen: Es kann meines Erachtens nicht sein, dass in einem Land, in dem die Trennung von Staat und Kirche im Grundgesetz garantiert wird, sogenannte Tanzverbote an kirchlichen Feiertagen ausgesprochen werden. Und auch nicht, dass ein Land an zwei aufeinanderfolgenden Tagen volkswirtschaftlich gelähmt wird, weil am einen Tag in fünf Bundesländern, am nächsten in fünf anderen kirchlicher Feiertag ist. Die Katholiken haben schon Fronleichnam (wenn auch nicht überall), also wären hier mal die Protestanten dran!)) Ja, stimmt. Heute ist auch Weltspartag (außer in Deutschland, das für einen Welt-Irgendwas-Tag natürlich wieder eine Ausnahme brauchte — übrigens wegen des Reformationstags) und morgen – für die, denen die Katholische Kirche nicht ideologisch genug ist – Weltvegantag. Die verrücktesten Geister könnten sich nicht ausdenken, welche Gedenk-, Feier- und Aktionstage es im Laufe des Jahres so gibt, aber sie werden offenbar alle begangen — manche nur von denen, die sie ausgerufen haben, manche von weiten Teilen der Menschheit, wobei durchaus Schnittmengen von Personen möglich sind, die am 15. Oktober sowohl den “Tag des weißen Stockes” als auch den “Internationalen Tag der Frau in ländlichen Gebieten” begehen. Solange niemand einen Reformationstagsgottesdienst stürmt, um “Süßes oder Saures” zu rufen, klappt das auch ganz gut.

Der durchschnittliche Deutsche, die Volksseele, der Michel, Otto Normalverbraucher oder – wie ich ihn heute aus reiner Boshaftigkeit nennen möchte – Jürgen Sixpack hat eine panische Angst davor, dass ihm seine kulturelle Identität verloren geht. Die Angst vor der “Überfremdung” ist nicht auf den Islam oder Flüchtlinge aus Nordafrika beschränkt, sie gilt auch – und ganz besonders – im Bezug auf die USA: Junggesellenabschiede (bei denen ich mir tatsächlich staatliche Intervention wünschte) statt Polterabende, “Handy” statt “Mobiltelefon”, der Weihnachtsmann statt des Christkinds — Amerikanisierung lauert überall. Oder genauer: eine lokale Interpretation davon.

Mit der kulturellen Identität ist das so: Man braucht etwas, woran man sich halten kann, weswegen der Fußball – eine Sportart, die ich liebe, die amerikanische Sportfans aber als stillos und banal betrachten – hier so schön identitätsstiftend Raum greifen kann. Ansonsten sieht’s nämlich so aus: Unsere Städte sehen fast alle gleich trübe und grau aus, so wie Städte eben aussehen, wenn sie sehr schnell und billig wieder aufgebaut werden müssen, weil sie in Schutt und Asche lagen, nachdem es Deutschland mit der kulturellen Identität wirklich auf die Spitze getrieben hatte. Unsere Einkaufsstraßen sehen gleich aus, weil sie mit den immergleichen Filialen deutscher Großbäcker, Drogerie- und Supermarktketten, britischer Körperpflegemittelhersteller, amerikanischer Fastfoodverfütterer und schwedischer Bekleidungshändler vollgestopft sind.

Wohnungen weltweit sind von der Schwedenmafia uniformiert worden und müssten theoretisch alle gleich aussehen, was sie dann aber überraschenderweise doch nicht tun, weil da eben immer noch Persönliches, Individuelles mit reinkommt. Die kulturelle Identität des Einzelnen, der gleichzeitig Stifter und Rezipient der kulturellen Identität einer Gruppe ist.

Wer die Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in London gesehen hat, erlebte dort einen bunten Reigen britischer Geschichte und – vor allem – Popkultur. Schier unendlich der Fundus an aus England stammenden Welthits, Evergreens und Meisterwerken. Bei uns, so wurde dann schnell geunkt, stünden da Pur, Nena und Xavier Naidoo. ((Na ja, oder halt Kraftwerk, die Erfinder der modernen Popmusik, aber nun gut.)) Das deutsche Fernsehprogramm besteht ja auch überwiegend aus Krimiserien und Quizshows (beides keine genuin deutschen Produkte)

Die kulturelle Identität Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg hat gleich zwei amputierte Beine: Das mit dem Traum vom großen deutschen Volk war gründlich schief gegangen, fand seine Fortsetzung aber in einer Art Light-Version in Heimatfilmen und Volkstümelndem Schlager, und die Leute, die Berlin in den 1920er Jahren zum kulturellen Hotspot gemacht hatten, waren alle vertrieben oder gleich getötet worden. Billy Wilder prägte im Kino fleißig das Amerikabild der Nachkriegszeit, in Deutschland feierte “Grün ist die Heide” unglaubliche Erfolge. Die Jugendbewegungen schwappten in der Folgezeit fast alle aus den USA oder Großbritannien nach Deutschland und mit ihnen der seither andauernde Untergang des Abendlandes — oder präziser vielleicht: des Abendbrotlandes.

Zuvor waren die einst heidnischen Gebiete des heutigen Deutschlands christianisiert worden. Die Gotik war aus Frankreich gekommen, die Renaissance und der Barock aus Italien. Ohne diese äußeren Einflüsse hätten die Bomben der Alliierten allenfalls spätmittelalterliche Fachwerkhäuser, vermutlich eher irgendwelche Steinzeithöhlen treffen können. Eine Zeitlang galt es im Bürgertum als ausgesprochen chic, Maskenbälle venezianischer Prägung abzuhalten. Gehwege nannte man “Trottoir”, ((Kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde in einem deutschen Satz das Wort “sidewalk” benutzen.)) Aborte “Toilette”.

Überspitzt gesagt ist der Inbegriff von Kultur in Deutschland immer noch Bayreuth, dabei sind die Wagner-Festspiele auch nur eine Art gehobener Karneval: Menschen, die allenfalls den Schlusssatz von Beethovens Neunter von Mozarts “Kleiner Nachtmusik” auseinanderhalten können, verkleiden sich einen Abend als kulturinteressierte Bildungsbürger.

85 Prozent meiner eigenen kulturellen Identität sind von angelsächsischer Popkultur geprägt, der Rest von von angelsächsischer Popkultur Geprägten. Ja, ich mag keine französischen Filme und ein gut sortierter und gut gefüllter HMV löst in mir mehr Glücksgefühle aus als die Sixtinische Kapelle. Ich würde einen Urlaub im verregneten Schottland (und das dortige Pub Food) jederzeit einem Ausflug ans Mittelmeer vorziehen.

Aber ich steige nicht empört auf die Barrikaden (französische Spezialität), wenn Menschen Italienischkurse in der Volkshochschule besuchen, bei Aldi den etwas teureren Rotwein kaufen und ihren Urlaub in der Toscana verbringen wollen.

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Nimm mein Mixtape, Babe

Die Neunziger sind ein trauriges Jahrzehnt, denn sie mussten ohne die ganz großen, prägenden Teenager-Filme auskommen. Allenfalls “American Pie” (von 1999) hatte einen vergleichbaren Einfluss auf die Popkultur wie “Say Anything”, “Ferris Bueller’s Day Off”, “Fast Times At Ridgemont High” oder “Sixteen Candles”. Vor allem hatten die Neunziger keinen John Cusack.

Oh, glückliche Nuller, denn die haben Michael Cera, der in “Superbad” schon von erstaunlicher Lloyd-Dobler-Haftigkeit war, der in “Juno” die Rolle des liebenswerten, höflichen Jungen ohne Eigenschaften erneut spielte und jetzt mit gerade mal 20 schon sein “High Fidelity”-Pendant drehen durfte: “Nick and Norah’s Infinite Playlist”.

Nick ist ein Schüler, der nicht über die Trennung von seiner Freundin Tris hinwegkommt, ihre Mailbox vollquasselt und ihr unablässig Mix-CDs brennt. ((Ein bizarrer Anachronismus — sowohl Mixtapes als auch MP3-Listen würde man verstehen, aber CDs?!)) Die CDs, die Tris wegwirft, sammelt Norah (Kat Dennings) ein und verliebt sich über die Musik in den ihr unbekannten Absender. Dann treffen sich die Beiden erstmals in der Realität, mögen sich nicht, stolpern durch eine chaotische Nacht und Richtung Happy End.

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal das Gefühl hatte, dass bei einem Film von der Atmosphäre über die Darsteller bis zur Musik alles stimmt, aber das Drehbuch leider völliger Quark ist. Vielleicht bei Cameron Crowes “Elizabethtown” und ein bisschen bei “Garden State”. ((Dessen Drehbuch allerdings nicht völliger Quark, sondern nur ein bisschen unstrukturiert war.)) Man kann im Sinne der Drehbuchautoren eigentlich nur hoffen, dass da ein Zweistünder ganz brutal auf 89 Minuten zusammengekürzt wurde, denn vieles passt nicht so recht zusammen und gerade das Verhalten der beiden Hauptpersonen wirkt oft völlig unmotiviert.

“Nick and Norah’s Infinite Playlist” ((Oder “Nick und Norah – Soundtrack einer Nacht”, wie der eher so mittelgute deutsche Titel lautet.)) ist trotzdem ein wunderbarer Film — und das liegt an allem, was nicht Drehbuch ist. ((Das Drehbuch hat übrigens auch ein paar hübsche Einfälle an den Rändern, aber die zentrale Handlung ist halt völlig verunglückt.)) Für einen Musikliebhaber ((Oder auch Musiknerd.)) sind der Film und sein Soundtrack ((Im Abspann werden 37 Songs aufgeführt, nur ein paar weniger als bei “High Fidelity” und “Almost Famous”.)) wie ein Besuch bei Freunden: Viele kennt man schon und die anderen sind auch nett. Bishop Allen treten live auf und Devendra Banhart latscht als Supermarkt-Kunde durchs Bild, dazu kommen Songs von unter anderem Vampire Weekend, The Dead 60s, We Are Scientists, Shout Out Louds, Band Of Horses und Rogue Wave.

Die Schauspieler spielen ihre Charaktere auf eine für einen Teenie-Film überraschend zurückhaltende und damit sehr angenehme Art. New York zeigt sich abseits der 5th-Avenue-Klischees von seiner sympathischsten Seite. Und hatte ich erwähnt, wie großartig die ganze Atmosphäre ist?

Und so kommt es, dass ich ein paar Stunden nach dem Kinobesuch ((Und beim Hören des Soundtracks, den iTunes freundlicherweise auch nach Ladenschluss noch vorrätig hatte.) mit wohliger Erinnerung an einen Film zurückdenke, während dessen Sichtung ich fast die Leinwand angeschrien hätte, um die Autoren zu verfluchen.

Billy Wilder hat einmal gesagt, für einen guten Film brauche man drei Dinge: 1. Ein gutes Drehbuch, 2. Ein gutes Drehbuch und 3. Ein gutes Drehbuch. Ich würde dem Meister nie widersprechen, aber vielleicht ist “Nick and Norah’s Infinite Playlist” ja einfach die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Trailer
Offizielle Website
IMDb

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Unterwegs

Mein Berlin

Weil ich ja eh schon mal mit der Videokamera in Berlin war und in den vergangenen Jahren touristisch schon wirklich alles abgeklappert hatte, was da war, habe ich mir diesmal gedacht: Sei doch ein bisschen altruistisch und gib deinen Lesern, die vielleicht noch nie in Berlin waren, vielleicht nächste Woche hinwollen, auch etwas mit.

Herausgekommen ist ein kleiner Film, der völlig unprätentiös “Mein Berlin” heißt und den man sich bei YouTube ansehen kann. Oder gleich hier:

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Desperate Housewife

Kaum ist Eva Herman beim NDR rausgeflogen, macht sich die mediale Häme überall breit. Obwohl verbale Entgleisungen der Auslöser der ganzen Geschichte waren, scheuen sich diverse Kommentarwichsmaschinen nicht, den anrufenden Pressevertretern noch weiteren Schmonz in ihre Blöcke zu diktieren, wo ein einfaches “Ich habe den Rauswurf von Frau Herman mit Erleichterung/Wohlwollen/stiller Freude zur Kenntnis genommen und möchte die weitere Analyse gern den beteiligten Parteien und Arbeitsrechtlern überlassen”, auch getan hätte.

Gemeiner sind nur noch die Bildredaktionen der Online-Medien:

Eva Herman (links) und Britney Spears (rechts) bei “Spiegel Online”
Screenshot: “Spiegel Online”

Ich hatte schon beinahe einen Herzstillstand erlitten, als ich feststellte, dass die halbnackte blonde Frau bei “Spiegel Online” nicht Eva Herman war, sondern Britney Spears. Allerdings dürfte inzwischen für beide Damen das große Billy-Wilder-Zitat gelten, wonach eine Karriere am Besten in einem Wort zusammengefasst werden könne: “Vorbei!”

Es geht aber noch besser/böser, denn es gibt ja noch “Bild.de”. Oder glauben Sie wirklich, diese äußerst unglückliche Kombination von Foto und Bildunterschrift, die pubertäres Gekicher anzieht wie sonst nur Jahrestage TV-Dokumentationen, sei ein Produkt des Zufalls?

Eva Herman bereut ihren Fehltritt bei “Bild.de”
Screenshot: “Bild.de”

Nachtrag 20:09 Uhr: Okay, ich bin offenbar der Einzige, der das “Bild”-Foto irgendwie lustig oder zweideutig fand. Vielleicht sollte ich doch mal darüber nachdenken, erwachsen zu werden.

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Digital

Sachen gibt’s …

Google Alerts sind was tolles: Man gibt einmal einen Suchbegriff ein und bekommt dann jedes Mal, wenn der Begriff im Netz auftaucht, eine E-Mail. So habe ich Dank meines Google Alerts auf Billy Wilder heute das hier erfahren:

Über Billy Wilder spricht Hansjörg Just in der Reihe “Krankheit und Tod berühmter Persönlichkeiten” am Montag, 2. Juli, 17.15 Uhr, im Hörsaal der Inneren Medizin, Bau 205 an der Klinik.

Klingt sogar spannend.

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Musik Leben

The höher they come, the blöder they fall

Es mag Zufall sein, dass es fast auf den Tag genau acht Jahre her ist, dass ich zum ersten Mal von Britney Spears hörte. Sie trat mit ihrer ersten Single “Baby One More Time” bei “Top Of The Pops” auf und als mein bester Freund und ich das sahen und hörten, gaben wir dem Mädel drei Singles, dann sei alles wieder vorbei. Ich gebe zu: wir hatten uns verschätzt. Es waren dann doch vier Alben, die zu bewerten hier gar nicht Thema sein soll. (Nur ein Hinweis sei erlaubt: dass “Baby One More Time” ein toller Song war, wurde spätestens ein Jahr später klar, als Travis ihn coverten.)

Die Frage, wann eigentlich Britneys letzte Single erschienen sei (und wie die klang), könnte ich nicht ohne vorherige Recherche beantworten. Aber das ist inzwischen auch völlig egal, es interessiert ja auch nur noch die wenigsten, dass Pete Doherty noch Musik macht (die letzte Babyshambles-EP, das weiß ich wenigstens, hieß “The Blinding” und erschien Ende 2006). Britney Spears, die ja sowieso immer schon ein beliebtes Thema des sog. Boulevard-“Journalismus” war, ist endgültig zum Traum eines jeden Gossenbeobachters geworden, weil sie alles, aber auch wirklich alles vereint, wofür man sonst Paris Hilton, Robbie Williams und Pete Doherty bräuchte – oder die jetzt nicht mehr verfügbare Anna Nicole Smith.

Jetzt (das ist der Bildzeitungs-Begriff für “vor einiger Zeit”, in diesem Fall: “letze Woche”) hat sie sich eine Glatze schneiden lassen, was die “Panorama”-Redakteure hunderter Online-Magazine in Verzückung versetze. Zwar gab es allenfalls zwei grieselige Fotos von Spears’ Platte, aber fast niemand ließ sich die Gelegenheit entgehen, noch mal eine Foto-Galerie mit den schönsten glatzköpfigen Frauen (Sinead O’Connor, Skin, Natalie Portman, Demi Moore) zusammenzustellen. Entsetzt wurde das Phrasenschwein gemolken und die ewig gleiche Frage, wie es nur so weit habe kommen können, in den Raum oder zumindest auf die Titelseiten gestellt. Frau Spears, die vor dem Friseurbesuch eine Entziehungskur abgebrochen hatte, begab sich in der Zwischenzeit in eine Entzugsklinik, checkte nach 24 stunden wieder aus und hat nach neuesten Meldungen grad zum dritten Mal innerhalb einer Woche eine Reha-Klinik aufgesucht. (Ich muss mich korrigieren: nach neuesten Meldungen soll Frau Spears mit einem Regenschirm auf ein Auto losgegangen sein, das entweder ihrem Noch-Gatten oder einem Paparazzo gehörte. Das mit der Klinik könnte natürlich trotzdem stimmen. Oder schon wieder überholt sein.)

Der ziemlich brillante amerikanische Popjournalist Chuck Klosterman sagt in einem (im November 2006 geführten) Interview in der aktuellen Galore:

Es ist schwierig, jemanden wie Britney satirisch zu begleiten. Wenn jemand vor zwei Jahren eine Parodie auf Spears verfasst hätte, was hätte er getan? Wahrscheinlich hätte man sie mit einem weißen Mittelstands-Mann verheiratet, der von sich denkt, er sei ein Rapper. Und der dann in ihrem Keller wohnt und hinterher um das Sorgerecht für die Kinder klagt, um an ihr Geld zu kommen. Das wäre glatt als Satire durchgegangen. Aber es ist wirklich passiert. Man hätte auch eine Szene schreiben können, wie Britney barfuß aus einer öffentlichen Toilette kommt. Auch das ist wirklich passiert.

Bei YouTube kann man sich ein Video ansehen, wie Britney Spears von Paparazzi bedrängt wird und schließlich ausrastet. Die Berufszyniker der Scum Press werden wieder was faseln von “Wer die Medien für seinen Aufstieg nutzt, muss auch damit rechnen, in der Zeitung zu stehen, wenn es mal nicht so gut läuft.” (das Zitat ist zusammenerfunden, sollte aber als authentisch durchgehen) und auch der kleine Mann auf der Straße wird wieder geistreiche Leserbriefe absondern mit Sentenzen wie “Ich kann das Gejammer der ‘Reichen und Schönen’ nicht mehr hören. Er hat sich für das Leben, das er führt, entschieden, und entscheidet sich jeden Tag aufs Neue dafür.” (aus den Kommentaren zu einem sueddeutsche.de-Artikels über Robbie Williams’ aktuellen Tablettenentzug, der sich sowieso schon wie ein Nachruf liest). Und warum gucken wir uns das alle an? Weil “die da oben” viel schöner und länger fallen können. Das Schlusswort dieses quirligen Gedankenhoppings gebührt deshalb Billy Wilder:

Der Unterschied zwischen einer Komödie und einer Tragödie ist: Ein Mann läuft eine Straße hinunter und fällt hin. Wenn er wieder aufsteht, ist das eine Komödie, die Leute lachen; bleibt er liegen, ist es eine Tragödie.