Die Sonne machte sich gerade bereit, sich das Präfix „Abend-“ überzuwerfen und, wenn auch schon tief stehend, den Tag würdevoll abzurunden. Am Strand wäre es sicherlich noch mal bedeutend schöner gewesen (so wie es am Meer immer schöner ist) als am Rande der Bochumer Innenstadt, aber da wären wir jetzt nicht so schnell hingekommen, außerdem war Abendessenszeit und als wir uns an den Tisch setzten, fragte ich also meinen Sohn, ob er jetzt bereit sei für mein kleines Impulsreferat über Brian Wilson und die Beach Boys.
Eine Stunde zuvor war die Nachricht auf meinem Smartphone eingegangen, dass Wilson, einer der Pioniere der Popmusik im 20. Jahrhundert; einer der allergrößten Künstler der Popkultur; ich zögere nicht zu sagen: einer der Götter der schönen Künste, im Alter von 82 Jahren gestorben war. Die Spotify-Playlist „This Is The Beach Boys“ hatte also schon die Zubereitung unseres Abendessens lautstark untermalt.
Während wir Hähnchenbrust mit Thymian und Gnocchi mit Lauch – ein angemessen sommerliches Gericht – aßen, musste das Kind nun erdulden, wie ich ihm von der Gründung der Beach Boys durch die Gebrüder Wilson und ihren Cousin berichtete; davon, wie Brian Wilson Einflüsse aus Rock ’n‘ Roll, R&B und Barbershop-Gesang auf bisher unbekannte Art kombiniert und damit die moderne Popmusik mindestens mit-erfunden hatte; wie wir Einflüsse von Beach-Boys-Kompositionen auch heute noch in den Songs unserer Lieblings-Cartoon-Serie „Phineas & Ferb“ wiederfinden könnten. Ich erzählte von Brian Wilsons psychischen Problemen, seinem Ausstieg aus dem Tour-Leben und den Jahren, die der Musiker quasi nur im Bett verbracht hatte — ein so absurder und popkulturell bedeutsamer Fakt, dass die Barenaked Ladies ihm in den Neunzigern einen ganzen Song widmeten, den Wilson selbst, einigermaßen genesen, einige Jahre später covern sollte.
Die Musik der Beach Boys war in meiner Kindheit so allgegenwärtig, dass ich gar nicht sagen könnte, wo sie mir erstmals begegnet ist. Vielleicht im „Babybel“-Werbespot der frühen 1990er Jahre, in dem der wachsverkleidete Minikäse auf die Melodie von „Barbara-Ann“ (übrigens keine Wilson-Komposition) besungen wurde; vielleicht durch die eingedeutschten Versionen ihrer Hits durch eine Band namens – I kid you not – Strandjungs, die damals im Radio liefen (aus „Surfin‘ USA“ wurde etwa „Surfen auf’m Baggersee“ — übrigens mit meinem heutigen „MoMa“-Kollegen Peter Großmann am Mikrofon); vielleicht durch „Kokomo“, diesen objektiv furchtbaren – und Brian-Wilson-freien – Ohrwurm aus dem Tom-Cruise-Film „Cocktail“; vielleicht durch die maximal unseriöse „Super Hits“-CD aus den Wildwest-Tagen der Musikindustrie, die mein Vater besaß und die sich extrem auf das Surf-lastige Frühwerk der Band fokussierte. Verdammt: Sogar bei „Hallo Spencer“, der NDR-Antwort auf die „Muppet Show“, tauchte eine Band auf, die Quietschbeus hieß!
Als ich dann selbst tief eintauchte in die Welt der Popkultur führte natürlich gar kein Weg mehr an Brian Wilson und den Beach Boys vorbei: In den Soundtracks von „Almost Famous“, „Vanilla Sky“ und sogar „Das Experiment“, in den Musikzeitschriften, die ich verschlang, erst recht in der Musik, die ich hörte und liebte. Ben Folds Five, The Ramones, Travis und so viele andere Bands würden nicht so klingen, wie sie klangen, wenn sie nicht auf die Wilson’schen Chor-Arrangements und Harmonien hätten zurückgreifen können.
Ihre Songs waren so groß und teilweise synonym mit Liebe, dass Neil Hannon von The Divine Comedy in seinem Mehrfach-Meta-Liebeslied zwei bedeutende Zutaten für den „Perfect Lovesong” ausmachte: „A divine Beatles bassline / And a big old Beach Boys sound“. Mir ist genau heute aufgefallen, dass „Remember“ von Air ausgiebig den Beach-Boys-Song „Do It Again“ samplet.
Man kann eigentlich fast jeden Song aus ihrem Gesamtwerk hören – und glaubt mir, ich arbeite seit gestern Abend intensiv daran! – und wird immer einen anderen, späteren Song finden, der mehr oder weniger deutlich daran erinnert (allerdings auch etliche frühere Songs, bei denen sich Brian Wilson und seine Bandmitglieder bedient hatten).
Ich hab mich immer schon mindestens so sehr für die Hintergründe und Entstehungsprozesse von Popkultur interessiert wie für das eigentliche Werk und Brian Wilson ist da in den 1960er Jahren etwas gelungen, was in dieser Form sonst eigentlich nur die Beatles beherrschten: Die Produktionstechniken immer zu erweitern und die Grenzen des Konzepts „Popsong“ permanent zu verschieben und dabei immer noch Musik zu erschaffen, die einen einfach nicht kaltlassen kann. Das, was bei anderen in unschönem Mucker-Vokabular wie „Rock-Oper“ oder „Konzeptalbum“ gipfelte, waren bei ihm immer noch Popsongs — unendlich kompliziert, so dass sie Menschen, die sich mit Musikproduktion oder Komposition beschäftigen, noch heute als Anschauungsmaterial dienen, dabei aber immer noch so eindeutig Pop, dass ich von den eigenen Großeltern bis zu meinem damals neugeborenen Sohn widerspruchslos alle damit beschallen konnte.
Jan Wiele ist für seinen Wilson-Nachruf bei FAZ.net auf die – vielleicht nicht wahnsinnig originelle, aber wichtige – Idee gekommen, den Tod von Brian Wilson (und den von Sly Stone wenige Tage zuvor) mit der aktuellen Situation in Kalifornien zu verschneiden: Dass diese beiden Musiker, „die beide auf ihre Weise für kalifornische Träume standen“, nun ausgerechnet in jenen Tagen sterben mussten, in denen Donald Trump die Nationalgarde im freiheitsliebenden „Golden State“ aufmarschieren und Proteste gegen seine unmenschliche Abschiebepolitik niederschlagen lässt, muss einem schon symbolisch vorkommen.
Kalifornien – der einzige USA-Bundesstaat, der bis heute einen eigenständigen deutschen Namen hat – prägt für die meisten von uns Ausländern das Amerikabild wie maximal noch New York City. Der Staat ist gleichzeitig pars pro toto für die USA und unendlich weit weg von den rednecks im fly-over country. Es ist die Geschichte des Goldrauschs, der Entertainment-Industrie, des Internets in all seinen befreienden und beunruhigenden Aggregatformen, die vom Pacific Coast Highway und die vom Strand. Die Beach Boys haben – auch wenn jetzt wieder überall zu lesen ist, dass ja nur Brians Bruder Dennis, der Schlagzeuger der Band, wirklich Surfer war – Kalifornien und damit die USA auf eine Art erfunden und zur Marke gemacht.
In den ersten Zeilen von „Fun, Fun, Fun“ – einem Song, der den Spaß derart ernst nimmt, dass er ihn gleich dreimal im Titel trägt – singt Mike Love „Well, she got her daddy’s car / And she cruised through the hamburger stand now“ und skizziert damit – von der unendlich genialen Phrasierung von „hamburger stand now“ mal ganz ab – das, was Menschen, die sich nicht näher für die USA interessierten, über Jahrzehnte über die USA dachten: Autos und Fast Food. Wenn Du hier einen Pflock in die Erde schlägst, bildet er eine Linie mit George Lucas‘ „American Graffiti“ und weiten Teilen von Quention Tarantinos „Pulp Fiction“. Dass der Song im Frühjahr 1964 erschien, zweieinhalb Monate nach der Ermordung von John F. Kennedy, zu einer Zeit, als der Vietnamkrieg gerade anfing, richtig unschön zu werden, ist Kontext, der das Amerika-Klischee perfekt macht. Studierendenproteste an kalifornischen Universitäten? The Beach Boys got you covered.
Mein Kalifornien-Bild ist geprägt von den Besuchen bei meiner Familie, die in der San Francisco Bay Area, in NorCal, lebt, weit weg von den oberflächlichen Showbiz-Leuten in SoCal (natürlich ist auch Kalifornien noch einmal in sich gespalten, wenn auch nicht so tief wie der Rest der USA). Ich hab’s – von einem Ausflug nach Disneyland per Flugzeug mal ab – nie weiter südlich geschafft als Big Sur. Und gleichzeitig ist der Mythos Südkaliforniens natürlich auch tief in mein Herz eingebacken — durch „The O.C.“, die Red Hot Chili Peppers und die Bands von Andrew McMahon. Der ist gerade auf Tournee, um das 20. Jubiläum von „Everything In Transit“ zu feiern, und postete gestern sogleich ein Instagram-Reel, in dem er Wilson gedachte und dessen Einfluss auf sein eigenes Album würdigte. Sollte ich jemals mit meinem vor vier Jahren begonnenen Soloalbum fertig werden, wird darauf ein Song enthalten sein, der „California Girls“ heißt, den Mythos Kalifornien feiert und sich im Refrain natürlich schamlos bei den Beach Boys bedient — man kann das Wort „California“ ja nur im Satzgesang singen.
Ich bin mir relativ sicher, dass ich das Meer auch ohne die Beach Boys lieben würde (ich fahre nach Holland, seit ich zwei Jahre alt bin!), aber die Melancholie, die jeden Strandbesuch umweht, die kommt wahrscheinlich zu einem guten Teil von der Band.
Jens Balzer schafft es in seinem Nachruf bei „Zeit Online“, wirklich jeden Winkel von Wilsons Schaffen auszuleuchten und doch persönlich und menschlich zu schließen. Ann Powers, die große Pop-Erklärerin bei „NPR Music“, erinnert auch noch mal ausführlich an die vielen Herausforderungen und Tiefschläge im Leben des Mannes, dessen Musik für sehr oberflächliche Beobachter*innen vor allem für „Sonne, Strand und gute Laune“ stand.
Dabei muss man ja nicht einmal zu „God Only Knows“, „I Just Wasn’t Made For These Times“ (schon der Titel!) oder „Surf’s Up“ greifen: Selbst „Fun, Fun, Fun“ hat eine bedrohlich an eine Sirene erinnernde Hintergrundmelodie und der ganze Spaß endet, wenn Vati dem übermütigen Mädchen die Autoschlüssel wegnimmt. Diese Widersprüchlichkeit des Lebens wird in „God Only Knows“ besonders deutlich: Die erste Zeile lautet – für ein Liebeslied eher ungewöhnlich – „I may not always love you“; eine Trennung bedeute zwar nicht das Ende der Welt, aber ob und wie der Sprecher hernach weiterleben könne, dass wisse nur Gott allein.
Bei Bob Dylan hatte die Antwort auf alle wichtigen Fragen ein paar Jahre zuvor schon deutlich irdischer im Wind geweht.