Kategorien
Leben Musik

Another Decade Under The Influence: 2017

Dieser Eintrag ist Teil 8 von bisher 10 in der Serie Another Decade Under The Influence

2017. Schnee! Meine Oma zieht ins Seniorenheim. Ich habe eine neue Brille, ein „New Yorker“-Abo (plus Stoffbeutel) und eine Therapeutin — jetzt noch ein Cordsakko und ich bin ein echter Ostküsten-Intellektueller! Ein neues Tattoo. Ganz viele Ausflüge mit U-Bahnen, Straßenbahnen und Zügen. Ich entwerfe und baue mein erstes ganz eigenes Möbel! The Ataris, Wanda und Soulwax live. Ostern ohne Eltern, aber mit eigenem Kaffeetrinken. Wir fallen runter wie Glitzer auf Beton / Und malen die Stadt so bunt wie wir eben sind. ESC in Kiew: Dr. Peter Urban ist zum 20. Mal dabei, ich inzwischen auch schon zum achten. Eltern-und-Kind-Turnen, ein Euphemismus für „Eltern die letzte Lebensenergie aussaugen“. Mein MacBook, treuer Begleiter seit Duslog-Tagen, raucht ab. Endlich wieder Stadtpark-Nachmittage! I want a life, that’s all I need lately / I am alive but all alone. Meine Oma verabschiedet sich für immer. I got loyalty, got royalty inside my DNA. Flugzeuge gucken in Düsseldorf. Wie die Starken die Schwachen, die Müden die Wachen / Umarmen, umarmen. Einen ganzen Tag Geburtstag feiern! Ein Familientreffen in Freiburg. kettcar sind zurück — aber sowas von! Wir gehen zur Eröffnung von neuen Stadtbahnhaltestellen und Straßenbahnlinien. Ich hab jetzt lange Haare. Plätzchenbacken und Weihnachtsmärkte. Eine Schneeballschlacht vor der eigenen Haustür. Eine Modelleisenbahn unterm Weihnachtsbaum. An Weihnachten wird klar: Das ist das letzte Mal mit unserem Opa; was keiner ahnt: 96 Stunden später ist er tot. Nobody else will be there then / Nobody else will be there. Einmal Silvester mit Raclette und Bleigießen feiern, wie so ganz normale Erwachsene.

Ein ziemlich okayes Jahr, auch wenn gleich zwei meiner Großeltern gestorben sind. Ein Jahr, das aber auch einigermaßen öde gewesen wäre, wenn meine beste Freundin mich nicht ständig vor die Tür und ins Leben geschleift hätte: zu Phil Collins, ins Stadion, auf die Cranger Kirmes, zu 15 Jahre Grand Hotel van Cleef, an meinem Geburtstag ins Phantasialand und ein Wochenende nach Holland an den Strand. Und nicht eher schlafen, bevor wir hier / Heute Nacht das Meer sehen / Spüren, wie kalt es wirklich ist.

Hier klicken, um den Inhalt von Spotify anzuzeigen.
Erfahre mehr in der Datenschutzerklärung von Spotify.

Kategorien
Leben

In memoriam Renate Erichsen

Ich schreibe jetzt seit über 25 Jahren: Schulaufsätze, Liedtexte, Drehbücher, Rezensionen, Artikel, Seminararbeiten, Blogeinträge, Vorträge, Witze, Moderationen, Newsletter, Tweets, … 

Letzte Woche gab es eine Premiere, auf die ich auch noch ein paar Jahre hätte verzichten können: Ich habe meine erste Trauerrede geschrieben und gehalten — auf meine Oma, die heute vor einem Monat im Alter von 84 Jahren gestorben ist.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich darüber etwas schreiben soll, weil es ja nicht nur um mein Privatleben geht, sondern auch um das meiner Oma und meiner Familie, deswegen will ich nicht ins Detail gehen, aber andererseits war meine Oma medial bis zuletzt fit, hat mein Blog (und andere) gelesen, “Lucky & Fred” gehört (weswegen ich ihren Tod auch in der letzten Folge thematisiert habe) und mit uns Enkeln per Telegram kommuniziert (WhatsApp lief nicht auf ihrem iPad). Außerdem gab es ja sonst keine Nachrufe auf sie und mutmaßlich wird man auch keine Straßen nach ihr benennen oder ihr Statuen errichten.

Renate Erichsen, die für uns nur Omi Nate war, wurde 1932 in Berlin geboren, während des Krieges floh ihre Familie nach Fehmarn und ließ sich dann später in Dinslaken (of all places) nieder. Sie war, wohl auch deshalb, politisch und gesellschaftlich sehr interessiert und wollte von ihren Enkelinnen und Enkeln immer wissen, wie wir über bestimmte Dinge denken. 

Die Renationalisierungen, die in der EU – aber nicht nur dort – in den letzten Jahren zu beobachten waren, bereiteten ihr große Sorgen, politische Strömungen wie AfD und Donald Trump auch. “Das habe ich alles schon mal erlebt”, sagte sie dann und es gab keine Zweifel daran, dass sie das nicht noch mal haben musste — und auch niemandem sonst wünschte.

Bei einem unserer Telefongespräche nach dem Brexit-Referendum im vergangenen Jahr beklagte sie sich darüber, dass so wenige junge Menschen zur Wahl gegangen waren — aber auch und vor allem, dass so viele alte Menschen über die Zukunft der Jungen abgestimmt und ihnen damit die Zukunft verbaut hätten. Obwohl sie, wie sie oft erwähnte, eine kleine Rente hatte, stimmte sie bei Wahlen lieber so ab, wie sie es für “die jungen Leute” (also: uns) für richtig hielt.

All das und einige andere Dinge habe ich versucht, in meine Rede einzubauen und dabei festgestellt, dass das auf ein paar Seiten Text gar nicht so einfach ist. Klar: Auch in meinen journalistischen Arbeiten ist nie Platz für alles, aber die fühlen sich nicht an, als müssten sie ein Thema (oder in diesem Fall: ein Leben) quasi “abschließend” verhandeln.

Vor der Trauerfeier war es auch so, dass ich hauptsächlich an meine Rede gedacht habe, was sich einerseits total egoistisch und fehl am Platze anfühlte, andererseits aber eine ganz gute emotionale Ablenkung war — und ich wollte ja auch, dass die Rede einigermaßen gut und vor allem angemessen wird.

Ich habe deshalb auch noch mal die Rede gegoogelt, die Thees Uhlmann von Tomte im Februar 2004 (Wahnsinn, wie lang das schon wieder her ist!) auf der Beerdigung von Rocco Clein gehalten hat — für meine Zwecke nur bedingt hilfreich, aber auch all die Jahre später immer noch groß, gewaltig und tröstend. Und bei der Suche bin ich auch auf ein Doppelinterview mit Thees und Benjamin von Stuckrad-Barre gestoßen, das letztes Jahr im “Musikexpress” erschienen ist. Die beiden liegen mir ja eh sehr am Herzen (im Sinne von: ich würde ohne die beiden vermutlich gar nicht schreiben — oder zumindest nicht so, wie ich es jetzt – auch hier, gerade in diesem Moment – tue), aber es ist auch so ein schönes Gespräch, in dem es auch um besondere Menschen geht.

Und so erschien mir der Rückweg aus Dinslaken nach Trauerfeier, Urnenbeisetzung, Kaffeetrinken und sehr engem familiären Beisammensein dann auch der richtig Zeitpunkt, um nach Jahren mal wieder “Hinter all diesen Fenstern” zu hören, das Album mit dem Tomte damals in mein Leben gekracht waren und das ich damals ganz oft im Zug von Dinslaken nach Bochum und zurück gehört hatte.

Es war sicherlich auch den besonderen Umständen geschuldet, dass mich das Album noch einmal mitten ins Herz traf: “Schreit den Namen meiner Mutter, die mich hielt”, “Das war ich, der den wegbrachte, den Du am längsten kennst”, “Es könnte Trost geben, den es gilt zu sehen, zu erkennen, zu buchstabieren”, “Von den Menschen berührt, die an dem Friedhof standen, am Ende eines Lebens” — ich hätte mir sofort das gesamte Album tätowieren lassen können.

Dieses Gefühl, dass da jemand vor inzwischen 15 Jahren ein paar Texte geschrieben hat, die etwas mit seinem damaligen Leben zu tun hatten, und dass diese Texte dann zu verschiedenen Zeitpunkten im eigenen Leben in einem genau die wunden Stellen treffen und gleichzeitig wehtun und beim Heilen helfen: Wahnsinn! Immer wieder aufs Neue!

Und dann noch mal die liner notes zum Album lesen und immer wieder nicken und sich verstanden fühlen. Meine Oma hat Zeit ihres Lebens alle Literatur verschlungen, derer sie habhaft werden konnte — “ich habe mehr durch Musik gelernt, als durch Bibliotheken”, sang wiederum Thees Uhlmann auf der finalen Tomte-Platte.

Im Übrigen hat sich herausgestellt, dass so ein Tod (zumindest, wenn er nach einem langen und erfüllten Leben kam und die Verstorbene sich angemessen verabschieden konnte) ein vielleicht etwas abseitiger, aber zuverlässiger Gesprächsmotor ist. Ich habe jedenfalls in den letzten Wochen viele sehr gute Gespräche mit engen Freunden, aber auch ganz anderen Menschen geführt.

Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter “Post vom Einheinser”, für den man sich hier anmelden kann.