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25 Jahre „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“

Dieser Eintrag ist Teil 4 von bisher 5 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Ben Folds Five - The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner (abfotografiert von Lukas Heinser)

Bisher spielten die Geschichten dieser Reihe ja allesamt nicht im Jahr 1999 und ich denke, ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass die meisten weiteren Kapitel über die wichtigsten Alben dieses Jahres auch später spielen werden. Schon in dieser Hinsicht ist das heutige Album ein besonderes. Aber auch in fast jeder anderen.

Man kann das jungen Menschen ja nur noch schwer vermitteln, aber es gab eine Zeit, da standen einem das Wissen und die Kulturgüter dieser Welt nicht jederzeit kostenlos von zuhause aus zur Verfügung — man musste dafür während der Öffnungszeiten die örtliche Stadtbibliothek aufsuchen. Weil meine Mutter immer in solchen Einrichtungen gearbeitet hatte (erst in Mülheim an der Ruhr, dann in Dinslaken), bin ich quasi dort aufgewachsen und mit den Büchern, Zeitschriften, VHS-Kassetten, Audiokassetten und später auch CDs.

Ich weiß nicht mehr das genaue Datum, aber der 26. April war es nicht (da kam das Album in Deutschland ja gerade erst in die Läden, ich war nachmittags mit Stefan T. in der Lichtburg „The Faculty“ gucken und montags hat die Stadtbibliothek Dinslaken seit jeher geschlossen), als ich in der durchaus beeindruckenden CD-Abteilung bei den Neuerscheinungen dieses Album mit dem merkwürdigen, sperrigen Namen sah. Ben Folds Five hatte ich im Jahr zuvor auf dem Soundtrack zu Roland Emmerichs „Godzilla“ kennengelernt (der Hype war damals enorm gewesen, der Film eher egal, aber das Soundtrack-Album stellte auch noch meinen Erstkontakt mit den Wallflowers, Jamiroquai, Rage Against The Machine und Michael Penn dar), also nahm ich „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ mit nach Hause. Ich erinnere mich nicht unbedingt an die allererste listening session (die Chancen stehen gut, dass es nach der Schule während des Mittagessens war, das – seit meine Eltern eine Mikrowelle mit einer sogenannten Crunch-Funktion hatten – gefühlt jeden Tag aus Tiefkühlpizza Capricciosa aus dem Aldi bestand), aber es ist in der Rückschau schon erstaunlich, dass mich der jazzige, manchmal Kammerpop-artige Sound dieser Band nicht überraschte oder gar abschreckte. Ich wusste noch nicht viel über Musik und das musste wohl so.

Ich wusste auch noch nicht viel über Ben Folds Five. Dass es sich trotz des Bandnamens um ein Trio handelte, konnte ich mir aufgrund der Credits und des Bandfotos im Booklet zusammenreimen. Dass da gar keine Gitarren zu hören waren, auch (ich wusste, wie gesagt, wirklich noch nicht viel über Musik und beim Hören allein wäre es mir wohl nicht aufgefallen). Auf dem Bandfoto begutachteten zwei der Bandmitglieder (Sänger/Pianist Ben Folds und Bassist Robert Sledge) ihre Fingernägel, was mir ausgesprochen gut gefiel, und im Booklet erklärte die Band ebenfalls, dass sie (Amerikaner!) gar nicht gewusst hätten, dass Reinhold Messner ein berühmter Bergsteiger sei — dieser exotisch klingende Name sei einfach das gewesen, was Schlagzeuger Darren Jessee und seine Freunde im Feld “name:” auf ihren gefälschten Führerscheinen (also dem amerikanischen Äquivalent zum Personalausweis) stehen gehabt hätten, als sie noch zu jung waren, um mit echten Dokumenten in eine Bar gehen zu dürfen.

Ich hörte das Album viel in diesem Summer of ’99. Sehr viel. Ich hatte noch nicht sehr viele eigene CDs; neben Film-Soundtracks waren „Maybe You’ve Been Brainwashed Too“ von den New Radicals, „Synkronized“ von Jamiroquai und „TUBORM“, wie wir Ben-Folds-Fans es später in den Online-Foren nennen sollten, im Wesentlichen das, woraus ich zu dieser Zeit auswählen konnte.

Im zweiwöchigen Sommerurlaub in – natürlich! – Domburg entwickelte ich die Angewohnheit, meine Tage allabendlich im Bett mit drei Songs aus meinem Discman zu beschließen: „Changes“ von 2Pac, das damals ein ziemlicher Hit und auf dem 2Pac-Best-Of enthalten war, das mir mein bester Freund für den Urlaub geliehen hatte, zweimal hintereinander und dann „Lullabye“, der closer dieses Reinhold-Messner-Albums. In den Herbstferien in einer Jagdhütte im Hunsrück wuchs mir darüberhinaus „Your Redneck Past“ ans Herz, einer der rockigeren Songs, dessen genaue lyrische Bedeutung sich mir bis heute nur unzureichend erschließt. Auch das musste wohl so.

Wenn ich mir „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ heute anhöre, bin ich erstaunt, wie melancholisch, geradezu depressiv das Album klingt. Zwar hat Ben Folds zuvor und danach bewiesen, dass er sich ganz großartig Geschichten ausdenken kann, aber auf diesem Album handeln fast alle Songs vom Scheitern, Versagen oder Sterben und das Lyrische Ich zieht sich selbst derart durch den Staub, dass da schon mehr dahinterstecken musste. Musikalisch ist das zweifelsohne ganz große Songwritingkunst, handwerklich gekonnt umgesetzt, aber eigentlich nicht das, womit 16-Jährige zu einer Band finden sollten. Wie „anders“ das Album auch für die Band selbst war, verstand ich erst, als ich mir ihr sonstiges Schaffen erschlossen hatte, aber es ist eines dieser Alben, von denen ich jeden einzelnen Ton kenne, jedes Knarren des Schlagzeughockers, jeden Bläsersatz und jede Zeile Text. Ich wohne seit acht Jahren in meiner Wohnung und laufe immer noch mindestens einmal pro Woche gegen einen Türrahmen, aber in meinem Elternhaus kann ich zur Not betrunken im Dunkeln die Treppe hochgehen und finde problemlos den Weg in mein altes Kinderzimmer. Genau so fühlt sich dieses Album für mich an. Selbst der „Hospital Song“, der nur eine Strophe hat, und das ausufernde Quasi-Instrumentalstück „Your Most Valuable Possession“, das die Band im Studio zu einer Art spoken word performance improvisierte, die Ben Folds’ Vater Dean seinem Sohn zu nächtlicher Stunde auf dem Anrufbeantworter (googelt das, GenZ!) hinterlassen hatte, müssen genau so.

Die CD aus der Stadtbibliothek („Leihfrist: vier Wochen, Verlängerung zwei Mal möglich“) begleitete mich eigentlich durch den Rest des Jahres, bis ich bei der Erstellung meines weihnachtlichen Wunschzettels „Alle bisher erschienenen Alben von Ben Folds Five“ schrieb. Weil das Booklet der Bücherei-Version so viele Reisen mit mir unternommen hatte, regelte meine Mutter das auf der Arbeit sogar so, dass dieses Booklet gelöscht und durch die in der für mich als Geschenk gekauften CD-Hülle enthaltene Version ersetzt wurde. Ich durfte also das Booklet behalten, mit dem ich schon so viel Zeit verbracht hatte.

Als ich meine eigene Version des Albums zu Weihnachten bekam, war die „Rolling Stone Roadshow“ schon Geschichte: Im Namen des Musikmagazins waren Ben Folds Five, Travis und Gay Dead durch die Bundesrepublik getourt und hatten am 29. November 1999 in der Kölner Live Music Hall gespielt. Ich hatte es mir notiert und dann gedacht: „Ach, mit dem Zug abends alleine nach Köln und zurück — die werden schon noch mal wiederkommen!“ Ich hatte endlich eine Lieblingsband. Weniger als ein Jahr später lösten sich Ben Folds Five auf, aber das habe ich schon ein paar mal aufgeschrieben.

„The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ hat keine Hits im eigentlichen Sinne. Der Song „Army“ ist – vor allem wegen des vom Publikum gesungenen Bläser-Arrangements – auch heute noch ein Ereignis bei jedem Konzert von Ben Folds. Aber der Song, der mich von Anfang an am Meisten gepackt hat, ist „Magic“: ein schleppender Walzer; das einzige Lied auf dem Album, das Schlagzeuger Darren Jessee geschrieben hat, und in dem sich die Trauer um einen verstorbenen Menschen und das Wissen, dass diese Person es hinter sich hat, auf ganz wunderbare Weise vermischen. Dieser Song hat, bevor überhaupt irgendjemand aus meinem näheren Umfeld gestorben war, mir immer Hoffnung gegeben. Und nachdem meine Omi vor anderthalb Jahren gestorben war, wusste ich plötzlich ganz genau, welchen Songtext ich auf Instagram zitieren würde.

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Saw you last night
Stars in the sky
Smiled in my room

Ben Folds Five – The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner
(550/Caroline Music; 26. April 1999)
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Leben Familie

Abschied von Omi

Ich weiß noch, wie ich im Februar 2006 mit einer Kollegin unterwegs war, sie einen offenbar unspektakulären Anruf bekam, aber hinterher sagte: „Jedes Mal, wenn meine Mutter anruft, denke ich, es ist was mit Omma!“ Damit fasste sie etwas in Worte, was ich auch schon unterbewusst gedacht hatte, und was ich seitdem immer wieder dachte, wenn mein Handy anzeigte, dass meine Eltern anriefen.

Ich weiß im Gegensatz dazu nicht so genau, wann das angefangen hat, dass ich an Weihnachten und den Geburtstagen meiner Großeltern dachte: „Ich fahr mal lieber nach Dinslaken; wer weiß, wie oft wir das noch zusammen feiern?“, aber auch das muss jetzt über zehn Jahre her sein.

Drei Anrufe hatte ich schon bekommen (alle auf dem Festnetztelefon): im Juli 2012, als mein entfremdeter Großvater gestorben war, ein Mann, den ich zuletzt Mitte der 1990er Jahre gesehen hatte und den ich in der Stadt nicht erkannt hätte, wenn wir uns begegnet wären; im August 2017, als meine Großmutter mütterlicherseits nach einer Operation im Krankenhaus starb, zu der sie sich mit den Worten verabschiedet hatte, es wäre nicht schlimm, wenn das jetzt schief ginge, wir bräuchten nicht traurig zu sein, es sei dann auch gut gewesen; Ende Dezember 2017, 96 Stunden nachdem wir mit unserem Großvater väterlicherseits noch einmal Weihnachten gefeiert und geahnt hatten, dass es das letzte Mal sein würde, aber noch an ein letztes gemeinsames Osterfest geglaubt hatten.

Aber eine Großmutter war ja immer noch da, so wie sie immer dagewesen war: Omi, von der wir zwölf Enkelkinder wirklich fast immer nur als Omi sprachen — so als gäbe es nur eine einzige auf der Welt; die anderen bekamen ihren Namen angehängt, aber „Omi Sigrid“ sagten wir wirklich selten, es war doch eh klar, von wem wir sprachen.

Mit jedem Geburtstag und jedem Weihnachtsfest sank – die trockenen Zahlen betrachtet – die Wahrscheinlichkeit, dass wir in einem Jahr noch einmal gemeinsam feiern können würden. In den Seuchenjahren 2020 und ’21 schafften wir es immerhin, ihren Geburtstag auf der Terrasse zu feiern; mit Masken und Abstand, aber auch mit Sekt, so wie es sich gehörte. 2020 saßen wir an Weihnachten vor dem Tablet und winkten nach Dinslaken, in der Hoffnung, dass die Pharmaindustrie schnell genug sein würde, damit wir eine geimpfte Omi noch einmal in den Arm nehmen könnten. Vielleicht sogar zu Weihnachten. Und auch wenn es 2021 keine Feier in ihrem engsten Familienkreis (Stand damals: 43 Personen) mehr gab, weil es einfach zu viel gewesen wäre und sie in großen Gruppen nicht mehr gescheit zuhören konnte, so waren wir im Laufe der Feiertage doch fast alle noch mal bei ihr im Wohnzimmer, aßen Lebkuchen, die sie selbstverständlich selbst aus der Küche geholt hatte, denn davon würde sie sich niemals abbringen lassen, und genossen das Geschenk, allen Widrig- und Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, noch einmal Weihnachten mit Omi verbringen zu dürfen.

Im Juni wurde Omi – für uns Enkelkinder: plötzlich; für ihre Kinder, die sie Tag für Tag besuchten und umsorgten: absehbar – schwächer. Auf einmal schien die entscheidende Frage, ob wir es noch mal an ihr Bett nach Dinslaken schaffen würden; ihr eine Sonnenblume hinstellen könnten; noch einmal mit ihr sprechen und uns bedanken können würden. Wir konnten. Es wurden noch einige Sonnenblumen und Gespräche und Ende August saß sie an ihrem 96. Geburtstag wie selbstverständlich auf der Terrasse, ließ Gesänge und Lobpreisungen eher widerwillig über sich ergehen, freute sich über neugeborene Urenkelinnen und fast 80-jährige Nichten, die zu Besuch gekommen waren, und erhob natürlich das obligatorische Glas Sekt.

Luki und Omi

Wenn ich in den letzten Jahren die Todesanzeigen in der Zeitung studierte (was ich aus einer Mischung aus „Memento mori“ und „Ich könnte ja jemanden kenne“ regelmäßig tue), vergingen inzwischen manchmal ganze Monate, ohne dass auch nur eine einzige verstorbene Person älter als Omi gewesen wäre. In die Nachrichten schafften es immerhin Betty White, Queen Elizabeth II und Angela Lansbury, die allesamt älter waren (wenn auch zum Teil nur wenige Monate). Eingedenk der Weltlage erschien es mir irgendwann zumindest theoretisch möglich, dass wir uns nie von Omi verabschieden müssen würden, sondern einfach alles vor ihr endet.

Nun: Der Anruf kam am Abend des 25. Oktober 2022. Nach Tagen, an denen sie nicht mehr gegessen und getrunken hatte, war Omi – man soll diese Formulierung in der Gegenwart von Kindern vermeiden, denn Tote sind tot, sie können nicht wieder aufwachen; aber hier trifft sie dann eben doch mal in einem weniger als 50% metaphorischen Sinne zu – friedlich eingeschlafen.

Ich glaube, es war Thees Uhlmann, der mal gesagt hat, dass man versuchen sollte, Denkmäler für die Menschen zu errichten, denen sonst keine Denkmäler gebaut werden. Also habe ich bei Instagram versucht, in Worte zu fassen, was Omi, ihre Süßigkeiten, ihre Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe und ihr Glaube für mich bedeutet haben und immer bedeuten werden. Ich hab bei ihrem Beerdigungskaffeetrinken eine kleine Ansprache gehalten, in der ich versucht habe, ihr Leben (oder wenigstens die 39 Jahre, die ich mit ihr verbringen durfte) zu würdigen. Ich wusste vorher schon: Ich könnte ein Buch schreiben über Omi, unsere Familie und das Ruhrgebiet, dessen Geschichte so eng mit der unserer Familie verwoben ist. Und damit fange ich jetzt an!

Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter “Post vom Einheinser”, für den man sich hier anmelden kann.