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Abschied von Omi

Ich weiß noch, wie ich im Febru­ar 2006 mit einer Kol­le­gin unter­wegs war, sie einen offen­bar unspek­ta­ku­lä­ren Anruf bekam, aber hin­ter­her sag­te: „Jedes Mal, wenn mei­ne Mut­ter anruft, den­ke ich, es ist was mit Omma!“ Damit fass­te sie etwas in Wor­te, was ich auch schon unter­be­wusst gedacht hat­te, und was ich seit­dem immer wie­der dach­te, wenn mein Han­dy anzeig­te, dass mei­ne Eltern anrie­fen.

Ich weiß im Gegen­satz dazu nicht so genau, wann das ange­fan­gen hat, dass ich an Weih­nach­ten und den Geburts­ta­gen mei­ner Groß­el­tern dach­te: „Ich fahr mal lie­ber nach Dins­la­ken; wer weiß, wie oft wir das noch zusam­men fei­ern?“, aber auch das muss jetzt über zehn Jah­re her sein.

Drei Anru­fe hat­te ich schon bekom­men (alle auf dem Fest­netz­te­le­fon): im Juli 2012, als mein ent­frem­de­ter Groß­va­ter gestor­ben war, ein Mann, den ich zuletzt Mit­te der 1990er Jah­re gese­hen hat­te und den ich in der Stadt nicht erkannt hät­te, wenn wir uns begeg­net wären; im August 2017, als mei­ne Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits nach einer Ope­ra­ti­on im Kran­ken­haus starb, zu der sie sich mit den Wor­ten ver­ab­schie­det hat­te, es wäre nicht schlimm, wenn das jetzt schief gin­ge, wir bräuch­ten nicht trau­rig zu sein, es sei dann auch gut gewe­sen; Ende Dezem­ber 2017, 96 Stun­den nach­dem wir mit unse­rem Groß­va­ter väter­li­cher­seits noch ein­mal Weih­nach­ten gefei­ert und geahnt hat­ten, dass es das letz­te Mal sein wür­de, aber noch an ein letz­tes gemein­sa­mes Oster­fest geglaubt hat­ten.

Aber eine Groß­mutter war ja immer noch da, so wie sie immer dage­we­sen war: Omi, von der wir zwölf Enkel­kin­der wirk­lich fast immer nur als Omi spra­chen — so als gäbe es nur eine ein­zi­ge auf der Welt; die ande­ren beka­men ihren Namen ange­hängt, aber „Omi Sig­rid“ sag­ten wir wirk­lich sel­ten, es war doch eh klar, von wem wir spra­chen.

Mit jedem Geburts­tag und jedem Weih­nachts­fest sank – die tro­cke­nen Zah­len betrach­tet – die Wahr­schein­lich­keit, dass wir in einem Jahr noch ein­mal gemein­sam fei­ern kön­nen wür­den. In den Seu­chen­jah­ren 2020 und ’21 schaff­ten wir es immer­hin, ihren Geburts­tag auf der Ter­ras­se zu fei­ern; mit Mas­ken und Abstand, aber auch mit Sekt, so wie es sich gehör­te. 2020 saßen wir an Weih­nach­ten vor dem Tablet und wink­ten nach Dins­la­ken, in der Hoff­nung, dass die Phar­ma­in­dus­trie schnell genug sein wür­de, damit wir eine geimpf­te Omi noch ein­mal in den Arm neh­men könn­ten. Viel­leicht sogar zu Weih­nach­ten. Und auch wenn es 2021 kei­ne Fei­er in ihrem engs­ten Fami­li­en­kreis (Stand damals: 43 Per­so­nen) mehr gab, weil es ein­fach zu viel gewe­sen wäre und sie in gro­ßen Grup­pen nicht mehr gescheit zuhö­ren konn­te, so waren wir im Lau­fe der Fei­er­ta­ge doch fast alle noch mal bei ihr im Wohn­zim­mer, aßen Leb­ku­chen, die sie selbst­ver­ständ­lich selbst aus der Küche geholt hat­te, denn davon wür­de sie sich nie­mals abbrin­gen las­sen, und genos­sen das Geschenk, allen Wid­rig- und Wahr­schein­lich­kei­ten zum Trotz, noch ein­mal Weih­nach­ten mit Omi ver­brin­gen zu dür­fen.

Im Juni wur­de Omi – für uns Enkel­kin­der: plötz­lich; für ihre Kin­der, die sie Tag für Tag besuch­ten und umsorg­ten: abseh­bar – schwä­cher. Auf ein­mal schien die ent­schei­den­de Fra­ge, ob wir es noch mal an ihr Bett nach Dins­la­ken schaf­fen wür­den; ihr eine Son­nen­blu­me hin­stel­len könn­ten; noch ein­mal mit ihr spre­chen und uns bedan­ken kön­nen wür­den. Wir konn­ten. Es wur­den noch eini­ge Son­nen­blu­men und Gesprä­che und Ende August saß sie an ihrem 96. Geburts­tag wie selbst­ver­ständ­lich auf der Ter­ras­se, ließ Gesän­ge und Lob­prei­sun­gen eher wider­wil­lig über sich erge­hen, freu­te sich über neu­ge­bo­re­ne Uren­ke­lin­nen und fast 80-jäh­ri­ge Nich­ten, die zu Besuch gekom­men waren, und erhob natür­lich das obli­ga­to­ri­sche Glas Sekt.

Luki und Omi

Wenn ich in den letz­ten Jah­ren die Todes­an­zei­gen in der Zei­tung stu­dier­te (was ich aus einer Mischung aus „Memen­to mori“ und „Ich könn­te ja jeman­den ken­ne“ regel­mä­ßig tue), ver­gin­gen inzwi­schen manch­mal gan­ze Mona­te, ohne dass auch nur eine ein­zi­ge ver­stor­be­ne Per­son älter als Omi gewe­sen wäre. In die Nach­rich­ten schaff­ten es immer­hin Bet­ty White, Queen Eliza­beth II und Ange­la Lans­bu­ry, die alle­samt älter waren (wenn auch zum Teil nur weni­ge Mona­te). Ein­ge­denk der Welt­la­ge erschien es mir irgend­wann zumin­dest theo­re­tisch mög­lich, dass wir uns nie von Omi ver­ab­schie­den müs­sen wür­den, son­dern ein­fach alles vor ihr endet.

Nun: Der Anruf kam am Abend des 25. Okto­ber 2022. Nach Tagen, an denen sie nicht mehr geges­sen und getrun­ken hat­te, war Omi – man soll die­se For­mu­lie­rung in der Gegen­wart von Kin­dern ver­mei­den, denn Tote sind tot, sie kön­nen nicht wie­der auf­wa­chen; aber hier trifft sie dann eben doch mal in einem weni­ger als 50% meta­pho­ri­schen Sin­ne zu – fried­lich ein­ge­schla­fen.

Ich glau­be, es war Thees Uhl­mann, der mal gesagt hat, dass man ver­su­chen soll­te, Denk­mä­ler für die Men­schen zu errich­ten, denen sonst kei­ne Denk­mä­ler gebaut wer­den. Also habe ich bei Insta­gram ver­sucht, in Wor­te zu fas­sen, was Omi, ihre Süßig­kei­ten, ihre Hilfs­be­reit­schaft und Nächs­ten­lie­be und ihr Glau­be für mich bedeu­tet haben und immer bedeu­ten wer­den. Ich hab bei ihrem Beer­di­gungs­kaf­fee­trin­ken eine klei­ne Anspra­che gehal­ten, in der ich ver­sucht habe, ihr Leben (oder wenigs­tens die 39 Jah­re, die ich mit ihr ver­brin­gen durf­te) zu wür­di­gen. Ich wuss­te vor­her schon: Ich könn­te ein Buch schrei­ben über Omi, unse­re Fami­lie und das Ruhr­ge­biet, des­sen Geschich­te so eng mit der unse­rer Fami­lie ver­wo­ben ist. Und damit fan­ge ich jetzt an!

Die­ser Text erschien ursprüng­lich in mei­nem News­let­ter „Post vom Ein­hein­ser“, für den man sich hier anmel­den kann.

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Another Decade Under The Influence: 2014

Die­ser Ein­trag ist Teil 5 von bis­her 10 in der Serie Ano­ther Deca­de Under The Influence

2014. Das wird unser Jahr! Mit den Nacht­freun­den in Ber­lin. Die ers­te Fol­ge „Lucky & Fred“. Eine quä­lend lan­ge Woh­nungs­su­che, eine Reno­vie­rung und ein Umzug. Die letz­ten guten Tage: zu zweit mit Hund in Ham­burg. Eigent­lich hab ich kei­nen Stress, Herr Dok­tor. Are we out of the woods? /​ Are we in the clear yet? Eine abge­sag­te Hoch­zeit. Ein neu­er Job, mit­ten in der Nacht. Der ESC in Kopen­ha­gen, 10 Jah­re BILD­blog. Noch mehr neue Jobs in Köln. Kin­der­zim­mer ein­rich­ten, Baby­kla­mot­ten kau­fen, Baby­par­ty schmei­ßen. I’ve made some fri­ends /​ And I’ve lost some, too. Hol­land wird WM-Drit­ter. Eine schwe­re Geburt. Hal­lo, ich bin Dein Papa! Die Dia­mant-Hoch­zeit mei­ner Groß­el­tern — ob ich 60 Jah­re je schaf­fe? Der ers­te Spa­zier­gang, das ers­te Bad. Was genau muss ich tun?! Alles, was ich je woll­te: Mama, Papa, Kind & Hund. Immer wie­der Dis­kus­sio­nen und Streits. Wer ist die­ses Ske­lett im Spie­gel? Das ers­te Mal Baby­schwim­men. Halt den Kopf oben. Eine Tau­fe am 1. Advent. Zu Besuch bei Har­ry Pot­ter. Okay, lass uns sagen, das war’s. Statt 200 Aben­de in der Knei­pe viel­leicht zehn außer Haus. Das ers­te Weih­nach­ten als Fami­lie, trotz allem. Wri­te it, wri­te it, wri­te it down /​ I will read it when the days don’t look so bad.

Ein Jahr wie ein Auto­un­fall in Zeit­lu­pe: über­höh­te Geschwin­dig­keit, Hin­der­nis­se auf der Fahr­bahn, schlech­te Wit­te­rungs­be­din­gun­gen und mei­ne Hän­de nicht am Steu­er. Das hat­ten wir uns alles anders vor­ge­stellt. Heu­te weiß ich: Es gibt Situa­tio­nen, die kann man nicht allei­ne schaf­fen. Es ist nie falsch, sich Hil­fe zu holen. Irgend­wann reicht es nicht mehr zu hof­fen, dass alles gut aus­geht. Mit­ten­rein in die­se implo­die­ren­de Lie­be wird unser Kind gebo­ren. Und als an dem Tag die Son­ne unter­geht, ist alles für immer anders. Bes­ser, trotz allem.

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Nachtgeschichte

Heu­te Nacht ist er das ers­te mal plötz­lich wach. Er hat nicht geweint.
Ich schla­ge die Augen auf und er liegt neben mir. Zieht mir, wenig zärt­lich, an den Haa­ren und lacht, als gehe die Son­ne auf.
Es ist aller­dings erst zwei Uhr. Nachts. Die Son­ne hat noch nicht ein­mal dar­an gedacht, wie­der auf­zu­ge­hen.
„Dada bab­aba da“, höre ich.
„Genau“, den­ke ich bene­belt.
Zunächst ver­su­che ich, mich schla­fend zu stel­len. Viel­leicht schläft er ja dann auch wie­der ein. Er brab­belt und lacht aber ein­fach fröh­lich wei­ter und will mir offen­sicht­lich mit­tei­len, wie schön er es fin­det, gera­de so wach neben mir rum­zu­stram­peln. Das ist ja auch ne ganz neue Erfah­rung. Alles so dun­kel und ruhig.
Schla­fend stel­len funk­tio­niert also nicht. „Ich kann aber nicht schla­fen wenn er nicht schläft“, den­ke ich und döse weg. 10 Minu­ten spä­ter mache ich die Augen wie­der auf. Naja eher das eine Auge, das ande­re will nicht, das schläft ein­fach wei­ter.
Ich ste­he auf, neh­me ihn auf den Arm und lau­fe wip­pend durchs Zim­mer.
Wipp Wipp Wipp, Schu­ckel Schu­ckel Schu­ckel.
Und lau­fe voll vor die Wäsche­ton­ne. Ver­dammt.
Wir zucken bei­de erschro­cken zusam­men und sind aus der Ent­span­nung geris­sen. Naja, müder ist er offen­sicht­lich eh nicht gewor­den. Er strahlt mich von mei­nem Arm aus an und betrach­tet auf­merk­sam die dunk­le Umge­bung. Zwi­schen­durch ver­sucht er im Vor­bei­ge­hen, Din­ge von der Kom­mo­de zu schnap­pen.
Wir legen uns wie­der ins Bett. Mitt­ler­wei­le ist es 3 Uhr. Ich sehe neben mich. Er liegt auf dem Bauch und trom­melt mit bei­den Hän­den begeis­tert auf mei­nem nack­ten Unter­arm. Mein per­sön­li­cher Applaus.
3 Uhr 15. Er liegt auf dem Rücken neben mir und ist mitt­ler­wei­le dazu über­ge­gan­gen, sei­ne Hän­de im Dun­keln zu betrach­ten. Ich muss unwill­kür­lich lächeln. Das ist so ein fried­li­ches, voll­kom­me­nes Bild. Er betrach­tet die Hän­de kon­zen­triert und dreht sie hin und wie­der her, hin und her, hin und her, hin und her und gähnt.
Er gähnt.
Ha!
Ich schnap­pe ihn mir erneut und lau­fe wip­pend und Kind-schu­ckelnd durch den Raum. Er sieht mich an und lächelt breit. Kein Anzei­chen von Müdig­keit mehr vor­han­den. Viel­leicht hat­te ich mir das Gäh­nen auch nur erträumt.
Ich lege ihn wie­der neben mich ins Bett. Es ist halb 4. Lang­sam wer­den sei­ne Augen dann doch müde und er reibt sie mit sei­nen klei­nen Händ­chen.
Ich neh­me ihn in den Arm und wie­ge ihn leicht.
Die Augen schlie­ßen sich.
Sein Atem wird gleich­mä­ßi­ger, mei­ner auch.
Ich schlie­ße die Augen.
Stil­le.
Etwas zieht mich an den Haa­ren.
Ein „Bab­aba“ kämpft sich in mein müdes Bewusst­sein.
Mei­ne Augen kämp­fen erneut, um sich zu öff­nen.
Er lacht mich an.
Ich schaue auf die Uhr.
Es ist zwan­zig vor 4.
Nachts.
Gut ange­täuscht.
Ich ste­he auf, um wach zu wer­den, und spie­le kurz mit dem Gedan­ken, den Tag ein­fach zu begin­nen und Kaf­fee zu kochen, ent­schei­de mich aber aus zwan­zig vor vier Grün­den dage­gen.
Ich set­ze mich zu ihm ins Bett, set­ze ihn in mei­nen Schnei­de­sitz und wie­ge mich mit ihm hin und her. Ich ver­su­che zu sin­gen, aber sogar mei­ne Stim­me und mein Mund sind zu müde, es ist eher ein Kräch­zen. Ihm und mir zulie­be las­se ich das lie­ber.
Es ist 4 Uhr.
Er wiegt sich neben mir im Dun­keln hin und her, stram­pelt, lacht, kaut auf sei­nem Nil­pferd rum.
Ich mache die Affen­spiel­uhr an.
La Le Lu erfüllt den Raum.
Bei mir funk­tio­niert das super, ich wer­de direkt noch müder.
Er lacht mich an und freut sich über die Musik. So lie­gen wir da.
Abwar­tend.
Es ist 4 Uhr 15, als er end­lich beginnt, allei­ne die Augen zu schlie­ßen. Ich sehe ihm beim Ein­schla­fen zu. Ich betrach­te das klei­ne, völ­lig fried­li­che, wun­der­schö­ne Gesicht.
Es ist 4Uhr 30. Er schläft und ich bin müde, müde, müde und voll mit Lie­be für die­ses klei­ne Wesen.
Mor­gen ist Kaf­fee mein bes­ter Freund.