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Literatur

Hinter dem Horizont geht’s weiter

„lit.COLOGNE zählt nicht: Da ist über­all aus­ver­kauft!“

Ist das Koket­te­rie, Under­state­ment oder ech­ter Selbst­zwei­fel? Bei Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re weiß man ja nie. Ver­mut­lich hät­ten die Mit­ar­bei­ter vom Ver­lag und vom WDR allei­ne den Sen­de­saal („Ist das eigent­lich der gro­ße?“) voll­ge­macht, aber es gibt wohl auch genug zah­len­de Gäs­te und auch noch genug zah­lungs­wil­li­ge, für die dann aber lei­der echt kein Platz mehr ist. Qua­si-Heim­spiel, Come­back, jetzt aber wirk­lich!

Stuck­rad-Bar­re hat, das war in den letz­ten Tagen viel­leicht gele­gent­lich mal in den Feuil­le­tons und Kul­tur­sen­dun­gen ange­klun­gen, ein neu­es Buch geschrie­ben, das „Panik­herz“ heißt, von ihm selbst kon­se­quent als „Memoir“ bezeich­net wird und eine Bestands­auf­nah­me der ers­ten vier­zig Jah­re Leben ist, die auch Stoff für acht­zig Jah­re gebo­ten hät­ten. Jetzt sind’s eben 564 Sei­ten gewor­den.

Im ers­ten Kapi­tel, das hier heu­te Abend live vor­ge­le­sen wird, geht es um die Zeit in der Redak­ti­on der kurz­le­bi­gen ARD-Sen­dung „Pri­vat­fern­se­hen“ mit Fried­rich Küp­pers­busch. Das ist inso­fern lus­tig, weil Fried­rich selbst auf der Büh­ne sitzt und vor­liest, was da über ihn, Küp­pers­busch, in der drit­ten Per­son geschrie­ben steht. Ich habe mehr als 15 Jah­re spä­ter in der Redak­ti­on sei­ner (von vorn­her­ein als kurz­le­big geplan­ten) WDR-Sen­dung „Tages­schaum“ gear­bei­tet und neben mir sitzt der Redak­ti­ons­lei­ter bei­der Sen­dun­gen und ich ver­su­che, alle sei­ne Reak­tio­nen zu deu­ten. Hal­lo, Her­me­neu­tik!

Es geht dann aber recht schnell auch um das, was „Panik­herz“ für die etwas bou­le­var­desker ein­ge­stell­ten Jour­na­lis­ten inter­es­sant macht: um Dro­gen, Abstür­ze und Selbst­zwei­fel. In einer lan­gen, aber gran­dio­sen Pas­sa­ge erklärt Stuck­rad-Bar­re, war­um er unter kei­nen Umstän­den zu sei­nem 20-jäh­ri­gen Abi­tref­fen gehen konn­te – dass jeder sei­nen Auf­stieg und Fall, wenn schon nicht live medi­al mit­er­lebt, in der Wiki­pe­dia nach­le­sen kann, spielt dabei kei­ne Rol­le, er fin­det genug ande­re Grün­de.

In den vor­ge­le­se­nen Kapi­teln sind Selbst­zwei­fel und Maxi­mal­ab­stür­ze mit­un­ter schon auf Poin­te gebürs­tet, das hilft hier natür­lich, denn über zwei Stun­den Elends­beich­te wären dann – lit.COLOGNE hin oder her – viel­leicht doch ein biss­chen zu viel. Kann man ja dann zuhau­se noch mal nach­le­sen und fest­stel­len, dass es eigent­lich gar nicht lus­tig ist. Und ohne Stuck­rads Udo-Lin­den­berg-Imi­ta­tio­nen (es geht in dem Buch viel um Udo Lin­den­berg, den Hel­den seit Kind­heits­ta­gen und Ret­ter in den dun­kels­ten Stun­den) fehlt bei der Lek­tü­re im Lehn­stuhl dann auch was.

Zwi­schen­durch den­ke ich: Da sit­zen jetzt echt der Mann, des­sent­we­gen ich schon als Kind zum Fern­se­hen woll­te, und mit dem ich heu­te ab und zu Pod­casts pro­du­zie­re, und der Mann, des­sent­we­gen ich als Teen­ager mit dem Schrei­ben ange­fan­gen habe, auf einer Büh­ne und lesen aus einem Buch, das zwar eigent­lich eine Auto­bio­gra­phie – Ver­zei­hung: ein Memoir! – ist, das aber auch super als Atlas der Pop­kul­tur der letz­ten 20 Jah­re taugt. Tell me more, tell me more!

Zwi­schen dem Auf­tritt mit Rock­star­ges­te zu „Sub­ur­bia“ von – natür­lich! – den Pet Shop Boys und der Ver­ab­schie­dung mit völ­lig auf­rich­tig wir­ken­der Dank­bar­keit lie­gen vie­le Sei­ten des Buches und eini­ges an Geplän­kel zwi­schen den bei­den Vor­tra­gen­den. Wer alles deu­ten und inter­pre­tie­ren will, sieht das geal­ter­te ADHS-Kind wäh­rend die­ser Zeit siche­rer – und damit weni­ger albern – wer­den. Wer bei der lan­gen Umar­mung, bevor Fried­rich Ben­ja­min die Büh­ne zur Zuga­be über­lässt, nicht schlu­cken muss, hat ein frit­tier­tes Herz.

Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re ist wie­der da und es sieht aus, als pla­ne er zu blei­ben. Aber jetzt ent­schul­di­gen Sie mich bit­te: ich hab noch über 400 Sei­ten vor mir.