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Einmal gemischte Gefühle, bitte!

Chris­toph Kra­mer ist mir grund­sätz­lich schon mal sym­pa­thisch, denn er hat sowohl für den VfL Bochum (2011–2013) als auch für Borus­sia Mön­chen­glad­bach (2013–2015, 2016–2024) gespielt. Das haben an nam­haf­ten Spie­lern sonst eigent­lich nur Kevin Stö­ger und Micha­el Front­zeck geschafft — und über Letz­te­ren redet in Städ­ten, in denen er mal unter Ver­trag gestan­den hat, nie­mand gern.

Außer­dem ist Chris­toph Kra­mer einer der weni­gen Fuß­ball-Exper­ten im deut­schen Fern­se­hen, die ich nicht bei jedem zwei­ten Satz schüt­teln möch­te,1 und der bis­her ein­zi­ge Mensch, der Fuß­ball­welt­meis­ter wur­de und einen Roman auf Platz 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste hat­te.

In einer Welt, in der es Sport­me­di­en erwäh­nens­wert erscheint, wenn ein Fuß­ball­pro­fi Bücher liest, gibt es natür­lich schnell ein gro­ßes Hal­lo, wenn einer ein Buch schreibt. Die Öffent­lich­keit – Sport- und Kul­tur­me­di­en in sel­te­ner Ein­tracht Braun­schweig, sowie der durch­schnitt­li­che Dul­li auf Social Media, der ja einem weit unter­durch­schnitt­li­chen Dul­li in der Eck­knei­pe ent­spricht – wit­tert ein wei­ches Ziel. So wie wir Musi­ker bei Bene­fiz-Fuß­ball­tur­nie­ren für selbst­ver­ständ­lich hal­ten, aber bei Fuß­bal­lern, die im Trai­nings­la­ger oder andern­orts zur Gitar­re grei­fen, schon mal in vor­aus­ei­len­der Fremd­scham zusam­men­zucken, soll der Herr Mil­lio­när bit­te­schön bei sei­nem Leis­tungs­druck blei­ben.2

Kra­mers Roman „Das Leben fing im Som­mer an“, jeden­falls, erschien Mit­te März und es ist nicht dem Umfang oder der Kom­ple­xi­tät des Werks geschul­det, dass ich erst jetzt mit dem Rezen­si­ons­exem­plar fer­tig gewor­den bin, son­dern allein mei­ner eige­nen Ver­plant­heit. Es ist aller­dings auch ange­mes­sen, die­ses Buch auf einer Cam­ping­de­cke in der Juni­son­ne zu lesen, trägt es den Som­mer (die Jah­res­zeit, nicht Yann — oh, bit­te!) doch schon im Titel.

Haupt­fi­gur und Erzäh­ler ist der 15-jäh­ri­ge Chris Kra­mer aus Solin­gen, der gera­de aus der Jugend­ab­tei­lung von Bay­er Lever­ku­sen geflo­gen ist, und alle, die an die­ser Stel­le fra­gen: „Häää, also ist das eine Auto­bio­gra­phie und gar kein Roman?!“, haben in den letz­ten ca. 15 Jah­ren offen­bar nicht viel vom Lite­ra­tur­be­trieb (Knaus­gård, Mey­er­hoff, Stuck­rad-Bar­re) mit­be­kom­men. Aber das ist natür­lich auch ein schö­ner Neben­ef­fekt, wenn so ein Fuß­bal­ler mal ein Buch schreibt: Dass das plötz­lich ganz vie­le Men­schen lesen, die sonst viel­leicht nur zum „Kicker“-Sonderheft zum Sai­son­be­ginn grei­fen. Da muss man als kul­tur­pes­si­mis­ti­scher Bil­dungs­bür­ger schon mal sei­ne Prio­ri­tä­ten straf­fen.

Chris spielt Fuß­ball, hängt mit sei­nen bes­ten Freun­den John­ny und Sal­vo rum, him­melt sei­ne Mit­schü­le­rin Debbie an, fühlt sich aber viel zu uncool und zu häss­lich, um sie anzu­spre­chen. Er ist also ein ganz nor­ma­ler Teen­ager in einer Zeit, in der sich jun­ge Män­ner noch nicht via Tik­Tok und Männ­lich­keits-Pod­casts radi­ka­li­siert haben, denn der Roman spielt im Som­mer 2006.

Also: Der Roman gibt vor, im „Sommermärchen“-Sommer von 2006 zu spie­len, aber nahe­zu jede Pop­kul­tur-Refe­renz ist ana­chro­nis­tisch: Songs wie „Apo­lo­gi­ze“, „The Way I Are“ und „After Tonight“ und der Film „Nachts im Muse­um“, die alle­samt erwähnt wer­den, kamen erst spä­ter raus und im Buch beginnt die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft, als in NRW schon Som­mer­fe­ri­en sind. Das lässt sich mit Schlud­rig­keit nicht erklä­ren, das muss Absicht sein, um eine klei­ne Neben­wirk­lich­keit zu erschaf­fen, die eben Roman ist und nicht Tat­sa­chen­be­richt. Was ja auch total okay ist — selbst wenn man in jedem Freund­schafts­buch „Pop­kul­tur“ und „Fak­ten che­cken“ als liebs­tes Hob­by ein­trägt.

In drei Tagen ent­spinnt sich auf einer Par­ty im Ver­eins­heim, im Frei­bad, im Kino, auf dem Hof­fest der eige­nen Eltern und in einem frem­den Auto eine Geschich­te, wie wir sie so oder so ähn­lich fast alle erlebt haben: Freund­schaf­ten, Alko­hol, die (natür­lich gro­ße und ein­zig wah­re) ers­te Lie­be, maxi­ma­le emo­tio­na­le Auf­ge­wühlt­heit und ein Aben­teu­er, das einem hin­ter­her kei­ner glau­ben wird. Da kann man jetzt ober­leh­rer­haft am Rand ste­hen und meckern, dass das aber alles ganz schön gene­risch sei, aber so ist das Leben ja nun wirk­lich meis­tens in dem Alter und nur die, die so etwas nicht erlebt haben (oder erfolg­reich ver­drängt haben, dass sie selbst mal jung waren), ste­hen hin­ter­her am Rand und meckern ober­leh­rer­haft rum.

Die Schil­de­run­gen kamen mir sogar so bekannt vor, dass ich mich irgend­wann gefragt habe, ob eigent­lich alle Jungs gleich sind oder wir nur alle die glei­chen Bücher, Fil­me und Songs kon­su­miert haben und des­halb alle die glei­chen Gedan­ken hat­ten, was Mäd­chen3 anging. Kra­mer schafft es dan­kens­wer­ter­wei­se, sei­nen Prot­ago­nis­ten aus­rei­chend reflek­tie­ren zu las­sen: „Ich hass­te es eigent­lich, so zu reden, aber alle Jungs spra­chen so über Mäd­chen.“ Stellt sich raus: Wer­den­de Män­ner hat­ten schon vor Tik­Tok und Männ­lich­keits-Pod­casts den Hang zu pro­ble­ma­ti­schem Ver­hal­ten, peer pres­su­re sei Dank.

Ich habe genug Roma­ne gele­sen und abge­bro­chen, in denen mir die Spra­che zu manie­riert erschien, die Cha­rak­te­re zu uner­träg­lich oder das gan­ze Werk zu unin­ter­es­sant. Das war hier alles nicht der Fall. Natür­lich ist es min­des­tens frag­lich, ob der Roman ver­öf­fent­licht wor­den wäre (und dann noch mit einem der­ar­ti­gen media­len Bohei) und ich ihn gele­sen hät­te, wenn der Autor nicht Chris­toph Kra­mer gehei­ßen hät­te, aber ich wür­de behaup­ten, dass ich Werk und Autor aus­rei­chend tren­nen kann, um das Buch auch so gut zu fin­den.

Klar: Kra­mer ist nicht Wolf­gang Herrn­dorf (und der Gedan­ke, dass er „Tschick“ gele­sen hat und moch­te, klopft mehr als ein­mal an) und ein Buch, das ich mit 41 lese, wird mich nicht mehr so beein­dru­cken wie es Jochen Tills „Der Jun­ge Son­nen­schein“ mit 16 oder eben „Tschick“ mit 27 tat, aber ver­gli­chen mit einem wei­te­ren Coming-of-Age-Roman, den ich mit Anfang Zwan­zig irgend­wie moch­te, vor eini­gen Jah­ren aber mit einer Mischung aus Rat­lo­sig­keit und Ableh­nung noch ein­mal gele­sen hat­te („Rock­ta­ge“ von Dana Bönisch), habe ich mich mit sei­nem Buch immer wohl gefühlt. Was viel­leicht auch dar­an liegt, dass der Haupt­cha­rak­ter im Lau­fe der Geschich­te sehr viel mehr zum Akteur wird als die Schluf­fis in vie­len ver­gleich­ba­ren Büchern und man das mit fort­ge­schrit­te­nem Alter und nach erfolg­rei­cher The­ra­pie dann doch zu schät­zen weiß.

Wenn der Schrift­stel­ler Chris­toph Kra­mer mit 15 wirk­lich schon so weit war wie sein Chris im Roman, kann man ihn jeden­falls nur beglück­wün­schen: Der weint und spricht davon, wie er sei­nen bes­ten Freund liebt („Nicht Lie­be im klas­si­schen Sin­ne. Eine ande­re, aber, glaub­te ich gera­de, viel­leicht ja die ein­zig wah­re.“). Der redet zu kei­nem Zeit­punkt davon, dass er sei­nen Crush ger­ne „ficken“, „bum­sen“, „nageln“, „vögeln“ oder sonst­wie beschla­fen möch­te (unge­fähr das ein­zi­ge, was ich aus Ben­ja­min Leberts „Cra­zy“ erin­ne­re). Der nicht so cool und abge­klärt tun will wie die ande­ren Jungs.

Trotz­dem gibt es in „Das Leben fing im Som­mer an“ die Frau bzw. das Mäd­chen als erra­ti­sches und unlo­gi­sches Wesen, die­sen John-Green-Topos. Eigent­lich müss­te man dafür die augen­rol­len­de Gesell­schafts­kri­tik­vo­ka­bel „schwie­rig“ her­vor­ho­len, wenn einem nicht genug Frau­en aus dem eige­nen Umfeld ein­fie­len, deren Ver­hal­ten zumin­dest an irgend­ei­nem Punkt erstaun­li­che Ähn­lich­keit zu dem der weib­li­chen Roman­fi­gur auf­ge­wie­sen hät­te. Aber bei kur­zem Nach­den­ken: Män­ner eben auch. Hier greift das Ave Maria für die etwas rum­pe­li­ge­ren Begeg­nun­gen inner­halb unse­rer Gene­ra­ti­on: „Ich hof­fe, da war in der Zwi­schen­zeit mal ein The­ra­pie­platz frei“.

Für mich ist die Hand­lung der meis­ten Bücher zweit­ran­gig. Ent­schei­dend ist, wie es geschrie­ben ist, und wie man sich beim Lesen fühlt.4 Und in die­sen Kate­go­rien ist das Buch mehr als ein schmut­zi­ger Sieg, denn Kra­mer hat ein Auge für Details und ein Talent für ori­gi­nel­le Ver­glei­che und For­mu­lie­run­gen. Er muss kein gro­ßes world buil­ding betrei­ben, es rei­chen ein paar gro­be Stri­che: Feld, Frei­bad, Trink­hal­le — sofort läuft der Asso­zia­ti­ons­film; wobei erst­mal unklar ist, ob man die eige­ne Jugend erin­nert oder Fil­me wie „Cra­zy“, „Schu­le“ oder „Tschick“.

Am Ende geht alles ganz schnell: Statt eines Zeit­sprungs wie am Ende von „Dawson’s Creek“, „O.C. Cali­for­nia“ oder „Har­ry Pot­ter“ gibt es drei. Eine spek­ta­ku­lä­re Kurz-vor-Schluss­poin­te5 hält das Buch noch bereit, dann sehen wir dem pen­sio­nier­ten Fuß­ball­pro­fi Chris­toph Kra­mer beim Schrei­ben zu und sol­len all das glau­ben, was er uns auf den 240 Sei­ten davor erzählt hat, obwohl der legal dis­clai­mer am Ende des Buchs natür­lich das Gegen­teil behaup­ten muss. Wer die Fra­ge, ob das, was in einem Roman steht, jetzt der Wahr­heit ent­spricht (und wie­weit), für spiel­ent­schei­dend hält, kann sich an die­sem Bei­spiel unnö­tig in Rage den­ken.

Für alle ande­ren ist eine im bes­ten Sin­ne total okaye Som­mer­lek­tü­re.

  1. Man muss da nie­man­den nament­lich her­vor­he­ben und außer­dem ist Stef­fen Freund ja nur für RTL im Euro­pa­po­kal-Ein­satz, also dort, wo kei­ner mei­ner Ver­ei­ne auf abseh­ba­re Zeit spielt. []
  2. Oder gefäl­ligst wenigs­tens gleich so einen aus­ge­wie­se­nen Trash schrei­ben wie wei­land Bodo und Bian­ca Ill­gner. []
  3. Es ist ja dann doch eine recht hete­ro­nor­ma­ti­ve Welt. []
  4. Him­mel: wie ich mich beim Lesen füh­le. Män­ner und ihre Gefüh­le, ey. []
  5. Tref­fer in der Nach­spiel­zeit, der Mann hat schließ­lich mal für Bay­er Lever­ku­sen gespielt. []