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Gone 4 Real

Am 1. Februar 1995 verschwand Richey James Edwards, Texter und Rhythmus-Gitarrist der Manic Street Preachers. Zwei Wochen später wurde sein Auto auf dem Parkplatz einer Raststätte in der Nähe der Severn Bridge gefunden.

In der Folge gab es immer wieder Gerüchte, er sei hier und dort gesichtet worden, immer mal wieder wurden Knochen gefunden, die aber nicht von Edwards stammten.

Die Band hat nach seinem Verschwinden weitergemacht — zunächst mit den Texten, die er ihnen hinterlassen hatte, dann nur noch mit Material von Bassist Nicky Wire. Sie waren erfolgreicher denn je und landeten mit “If You Tolerate This Your Children Will Be Next” ihre erste Nummer 1 in Großbritannien. Von allen Einnahmen gingen 25% auf ein Treuhandkonto, das die Band auf Edwards’ Namen eingerichtet hatte. Vor wenigen Wochen kündigten sie ein neues Album an, auf dem noch übrig gebliebene Richey-Edwards-Texte verarbeitet werden sollen.

Obwohl Edwards’ Familie seit 2002 die Gelegenheit gehabt hätte, ihren Sohn für tot erklären zu lassen, hat sie davon jahrelang keinen Gebrauch gemacht. Als ich Manics-Sänger James Dean Bradfield vor zwei Jahren zu seinem Soloalbum interviewt habe (Überreste des Gesprächs sind hier nachzulesen), kam er nach weniger als dreißig Sekunden erstmals auf Richey zu sprechen — von sich aus.

Vor wenigen Tagen aber haben sich Edwards’ Eltern nun doch dazu entschieden, Richey James für tot erklären zu lassen.

Bandsprecherin Teri Hall ließ die “Mail on Sunday” wissen:

The band has been aware this was coming,’ she said. ‘It is hugely emotional for all of us. This is the parents’ choice and the band is happy to go with what the parents decide is best. We all dream Richey will come back one day. You hope he is still around somewhere.

But it is no longer a realistic hope and if this offers some kind of closure then the band will be content with that.

Und so konnte der “Guardian” dann auch heute seinen seit mindestens 13 Jahren geschriebenen Nachruf aus der Schublade kramen und veröffentlichen.

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Großkatzen in kleinen Stücken

Send Away The Tigers - Coverentwurf (Abgelehnt)

Gestern erschien “Send Away The Tigers”, das achte Album der Manic Street Preachers. Vorgestern gab’s das Interview mit deren Sänger James Dean Bradfield, hier gibt’s die (wie immer total subjektive) Track-by-track-Analyse:

Send Away The Tigers
Der erste Titeltrack seit “Everything Must Go” – und danach klingt das Lied mit seinem Gitarren-Feedback-gestütztem Hymnen-Refrain auch ein wenig. “There’s no hope in the colonies” ist natürlich eine Auftaktzeile nach Maß und wenn die Manics auch noch ein “slow boat to China” nehmen wollen, ist mal wieder Politdisko angesagt.

Underdogs
Der Song braucht genau 42 Sekunden, bis Sean Moore ein Trommelfeuer entzündet und die Nummer in bester Leise-Strophe-lauter-Refrain-Manier in höhere Sphären prügelt. “Like the underdogs we are / Shining bright but now disappeared” kann man natürlich mal wieder auf den verschwundenen Gitarristen Richey Edwards beziehen – oder einfach ebenso laut mitgrölen wie die Zeile “People like you need to fuck / Need to fuck people like me”.

Your Love Alone Is Not Enough
James Dean Bradfield und Nina Persson schmachten sich gegenseitig an! Muss man mehr dazu schreiben? Na gut: “unübertroffen schlecht” ist höchstens Dein Geschmack, Jan Kühnemund.

Indian Summer
Da ist sie wieder: die Stadionhymne im Dreivierteltakt. Mit etwas Anstrengung kann man sogar den Text “A Design For Life” darauf singen. Atmosphärisch ganz dicht, Musikgewordene Jahreszeit.

The Second Great Depression
Ein Song, der klingt, als sei er bei den Aufnahmesessions zu Bradfields Soloalbum übriggeblieben – musikalisch wie textlich. Aber das macht zumindest mir nichts, den ich mochte “The Great Western” ja auch. Der Refrain kommt mit einem paar opulenter Streicher daher und schreit schon wieder nach Stadionrund und Feuerzeugen. “This Is My Truth Reloaded”, sozusagen.

Rendition
Diesmal geht’s gleich ganz weit zurück: “You Love Us” klopft an und mit “I wish we still had Jack Lemmon”, “Oh good God I sound like a liberal” und “I never knew the sky was a prison” gibt’s wieder jede Menge Sprüche für die Schultische und Unterarme kleiner Jungrevolutionäre.

Autumnsong
Hurrah, die Manics covern die Pumpkins!
Oh nee, doch nicht, klang nur so: nicht “Today is the greatest day I’ve ever known”, sondern “Remember that the best times are yet to come”. Die Streicher kommen diesmal schon in der Strophe, die Bridge klingt wie bei Queen. Und trotzdem – oder gerade deshalb? – eine der besten Manics-Nummern seit Jahren.

I’m Just A Patsy
Das ist der Beweis: die Manics stehen wieder voll im Saft. Selbst die nicht ganz so guten Songs rocken und bleiben besser im Ohr als zwei Drittel “Lifeblood”. Aber vielleicht hätte irgendjemand noch einen neuen Text schreiben sollen, bevor man Bradfield “I’m just a patsy for your love / I need an angel from above” singen lässt.

Imperial Body Bags
White Trash as its best. Ein Rundumschlag in Sachen Krieg, Schönheitswahn, Oberflächlichkeit und was uns sonst noch am Westen nervt. Klingt ein bisschen wie Guns N’ Roses …

Winterlovers
Die dritte Jahreszeit im zehnten Song, dazu ein “Nanana”-Refrain, der die Kaiser Chiefs beinahe neidisch machen könnte. Irgendwie nicht so ganz der große Wurf, aber eigentlich ein ganz passender Schlusstrack …

Working Class Hero
… wäre da nicht noch die heimtückische Attacke auf John Lennon. Selten waren sich Rezensenten derart einig: diese Coverversion geht gar nicht. Aber die Idee, ein ziemlich gutes Album mit dem vermutlich schlechtesten Song der Bandkarriere zu beenden, erfordert ja auch irgendwie Mut. Oder eine eindeutige “Leckt mich!”-Einstellung.

Fazit
Eigentlich darf ich sowas gar nicht schreiben, denn ich fand eh jedes Manics-Album mindestens okay: Trotzdem ist “Send Away The Tigers” das in sich stimmigste und emotional aufpeitschendste, daher vielleicht beste Album seit “Everything Must Go”. Alle Experimente sind vorbei, die Band besinnt sich auf das, was sie am besten kann, und liegt damit goldrichtig.

Send Away The Tigers - Cover (Original)
Manic Street Preachers – Send Away The Tigers

VÖ: 04.05.2007
Label: RedInk/SonyBMG
Vertrieb: Rough Trade

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Gott und die Welt: Ein Interview mit James Dean Bradfield

Morgen erscheint “Send Away The Tigers”, das achte Album der Manic Street Preachers (ausführliche Besprechung folgt). Zeit, für ein Gespräch mit deren Sänger James Dean Bradfield.

Das letzte Manics-Album “Lifeblood” wurde von der Kritik und den Hörern nicht so gut aufgenommen. Waren die Soloprojekte von Dir und Nicky der Versuch, neue Energie für die Manics zu sammeln?

Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir nach den Reaktionen auf „Lifeblood“ eine Auszeit nehmen mussten. Wir hatten das Gefühl, irgendwie unsere Perspektive verloren zu haben, und wussten zum allerersten Mal nicht, was wir als nächstes tun wollten. Ich denke, dass unsere Soloprojekte neues Leben in die Manics gebracht haben. Die neuen Songs klingen sehr lebendig und nach Rock’n’Roll. Sie sind viel optimistischer, seit ich dieses Soloding gemacht habe.

Wenn wir über Perspektiven sprechen: Ihr habt Millionen von Platten verkauft und zum Jahreswechsel 1999/2000 eine riesige Show im Millennium Stadium in Cardiff gespielt – wie motiviert man sich nach solchen Aktionen wieder, neues zu machen?

Wenn ich je Schwierigkeiten hätte, mich selbst zu motivieren, würde ich aufgeben. Es ist verdammt einfach, sich für eine Show wie die im Millennium Stadium zu motivieren – eigentlich für jede Show. Ich mache das jetzt, seit ich 15 war, und es war mir von Anfang an klar: Ich finde nicht viel Katharsis im Songwriting, aber sehr viel, wenn wir spielen. Für mich ist Katharsis, wenn das Emotionale auf das Körperliche trifft. Und deshalb liebe ich es, Konzerte zu spielen. Selbst, wenn es ein Konzert ist, das ich nie spielen wollte, ist es für mich das einfachste auf der Welt, motiviert zu sein.

Ihr wart immer und seid auch heute noch eine sehr politische Band. Wie ist das in Zeiten, wo immer noch kein Frieden im Nahen Osten herrscht und die Menschen fast überall gegen soziale Einschnitte protestieren: inwiefern hat das die neuen Songs beeinflusst?

Ich denke, die letzten fünf, sechs Jahre waren für die politische Linke die größte Herausforderung, der sie sich je stellen musste. Die zentrale Frage lautet, ob sie an die Demokratie glauben oder einen Gottesstaat gutheißen. Die Linken haben Religion immer gehasst, eines ihrer Grundprinzipien lautet, dass Religion das Opium des Volkes ist. Die Mischung von Staat und Kirche ist eine Todsünde für die Linke.
Im Irak hatten wir plötzlich die Situation, dass eine Theokratie gestürzt wurde, aber eine imperialistische amerikanische Macht hat sie ersetzt. Ich glaube, dass hat die Linke sehr verwirrt im Hinblick darauf, was sie will. Dabei geht es weniger um die Kriege an sich, sondern viel mehr um das Selbstverständnis der Linken.

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Listenpanik (2): Hier kommt Rock’n’Roll

Die letzte Bestandsaufnahme ist schon wieder fast zwei Monate her und so richtig sinnvoll will mir dieses unstrukturierte Vorgehen nicht erscheinen. Deswegen gibt es hier ab demnächst immer am Monatsende eine Liste der wichtigsten Platten und Singles. Jetzt aber erst mal die für Ende Februar bis Mitte April – natürlich wie immer streng subjektiv und garantiert unter versehentlichem Vergessen von hundert anderen Sachen, die auch toll sind.

Alben
1. Get Cape. Wear Cape. Fly – The Chronicles Of A Bohemian Teenager
Passender kann ein Albumtitel kaum sein: Ganz großes Gefühlskino mitten aus dem Leben, das von verspieltem Geplucker vor dem Sturz in den Emo-Strudel bewahrt wird. Sam Duckworth ist gerade mal 20 und damit ein mehr als würdiger Erbe für Connor Oberst, dessen Bright Eyes das Tal der Tränen langsam zu verlassen wollen scheinen.

2. Mika – Life In Cartoon Motion
Passender kann ein Albumtitel kaum sein: Höchst vergnüglicher Bubblegum-Pop, der immer kurz davor steht, ins Alberne abzuschweifen, sich aber immer wieder rettet. Dass der 23jährige Sänger (als Kind mit seiner Mutter aus dem Libanon geflohen, der Vater sieben Monate im Irak verschwunden, hat früher Telefonwarteschleifen besungen) bisher schon ein für heutige Verhältnisse erschreckend bewegtes Leben geführt hat, macht ihn auch als Interviewpartner interessant.

3. Flowerpornoes – Wie oft musst du vor die Wand laufen, bis der Himmel sich auftut?
Passender … Nee, anders: Es mag Zufall sein, dass Tom Liwa seine Band in dem Jahr reaktivierte, in dem mit Blumfeld eine andere große deutschsprachige Indieband der ersten Stunde die Bühne verlässt. Strapazierte Liwa auf seinen letzten Soloplatten die Nerven seiner bodenständigeren Fans mitunter erheblich mit esoterischen Themen, steht er plötzlich wieder mitten im Leben. Die E-Gitarren bollern und er singt Geschichten von Zahnarzttöchtern, Apfelkernen und Rock’n’Roll. Und der ist bekanntlich größer als wir alle.

4. Maxïmo Park – Our Earthly Pleasures
Die neben Bloc Party vermutlich spannendste Band der British Class of 2005 legt ebenfalls nach. Wie es sich für einen guten Zweitling gehört, wirkt die Band gefestigter und scheint ihren Weg gefunden zu haben. Musikalisch großer Indiepop mit vollem Instrumentarium, textlich oft genug ganz tief drin in den menschlichen Abgründen.

5. Just Jack – Overtones
Hip Hop? Funk? Pop? Na ja, in irgendeine Schublade wird man das Album schon stopfen können. Besser aufgehoben ist es aber im Discman, während man auf der Wiese in der Sonne liegt. So laid back und sommerlich kann Musik klingen, ohne gleich süßlich duften zu müssen.

Singles
1. Manic Street Preachers – Your Love Alone Is Not Enough
Okay, okay: noch ist die Single nicht erschienen. Aber wenn die Manic Street Preachers durch die Soloausflüge von James Dean Bradfield und Nicky Wire zu alter Stärke zurückfinden und dann noch ein Duett mit Nina Persson von den Cardigans, der Frau in die jeder ordentliche Indiehörer und -musiker mindestens einmal verliebt war, veröffentlichen, ist das Releasedate ja wohl egal. Wenn Bradfield und Persson durch diese nach Petticoat und Tanztee klingende Nummer schunkeln und nebenbei noch ein paar Selbstzitate verbraten (“You stole the sun” – “Straight from my heart, from my heart, from my heart”), ist das eben ganz und gar großartig.

2. Travis – Closer
Auch noch nicht erschienen, aber ebenfalls bereits zu hören ist die Comeback-Single von Travis. “Closer” ist ein echter grower, der beim ersten Hören langweilig erscheint, und den man nach fünf Durchgängen schon ewig zu kennen glaubt. “Gänsehaut-Zeitlupen-Stadion-Pophymne” nennt das die Presseinfo und hat damit sogar irgendwie recht. Die Band tänzelt durchs Video und man würde es ihr gerne gleichtun. Das macht – zusammen mit den anderen Hörproben, die es bereits gab – ganz große Lust auf das neue Album.

3. Just Jack – Starz In Their Eyes
Night fever, night fever! In der sog. gerechten Welt wäre das der Tanzbodenfüller der Saison. So ist es eben nur der Funksong, mit dem man sich bis zum Erscheinen des nächsten Phoenix-Albums die Beine vertreten kann. Oder was man sonst mit Beinen so macht, wenn Musik läuft.

4. Kilians – Fight The Start
Ja ja, die klingen total wie die Strokes. Nur, dass ich mich nicht erinnern könnte, dass die Strokes je A Tribe Called Quest zitiert hätten. Außerdem können Menschen, die sich für besonders schöne Bassläufe interessieren, hier noch richtig was lernen. Und alle anderen auch. Gerechte Welt: Riesenhit. Kann man sogar nachhelfen.

5. The View – Wasted Little DJ’s
Bevor alle Welt New Rave feiert – was auch immer das genau sein soll – gibt es hier noch mal Indierock. Der Song dengelt zwischen Libertines und Beach Boys dahin und sollte dieses Jahr auf keinem Mixtape fehlen.