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Unterwegs Musik

Camp Indie Rock

– von Tommy Finke –

DONNERSTAG
Großzügigerweise habe ich mich als Fahrer angeboten und nehme meinen Teil der Reisegruppe Haldern 2010 vom Bahnhof Bochum aus mit.

Während Rosa und Marie beide vorne Platz nehmen, nehme auch ich vorne Platz. Die Vorzüge eines Bandautos: 3 Sitze in der ersten Reihe. Marie hat ein iPad eingepackt, ich muss darüber ein wenig lachen, bin aber eigentlich neidisch. Ihr Ziel beim Haldern ist medientechnischer Natur: Sie hat einen der begehrten Fotopässe. Mit Rosa war ich 2008 schon mal auf dem Haldern. Und ich freue mich, dass sie diesmal wieder dabei ist! Die Fähigkeit, sich über Tage fast ausschließlich von Rotwein und Musik zu ernähren, macht Rosa zu einer perfekten Fetivalbesucherin. Und zu einem medizinischen Wunder.

Unser Zeltplatz ist, einmal angekommen, leicht abschüssig, dafür haben wir aber in alle Richtungen nette Nachbarn. Wir verzweifeln an Maries Zelt, aber der Hinweis, man könne zumindest mal versuchen, alle Stangen mit der gleichen Nummer ineinander zu stecken, ist ausschlaggebend. Inzwischen ist auch Christoph mit Sophie angereist.

Ich spiele den Realisten und öffne das erste Dosenbier. Das ist hier schließlich kein Kindergeburtstag und wir haben schon deutlich nach 16 Uhr. Alle wollen wir zwar Seabear im Spiegelzelt sehen, aber die Schlange ist schon um 18 Uhr so lang, dass wir uns entschließen, nochmal kurz zurück zum Zeltplatz zu gehen und, nunja, vorzuglühen. Ich stolpere an Foto-Gerrit vorbei, meine einzige feste Haldern-Freundschaft. Gerrit ist berühmt geworden mit einer Ausstellung über die Fotos der Schuhe der Stars: “Dancing Shoes”.

Gerrit macht den Vorschlag, mich am nächsten Tag zu fotografieren, aber wie jedes Jahr kriegen wir es überhaupt nicht hin, uns zu einer festen Uhrzeit irgendwo zu treffen, obwohl wir uns die nächsten 3 Tage immer wieder begegnen. Ganz so schlimm ist das dann aber doch nicht nicht, Gerrit hatte in Zusammenhang mit der Fotosession das Wort “nackt” gebraucht. Ich hoffe, das liegt an seinem letzten großartigen Projekt, ein Herz geformt aus nackten Festivalbesuchern beim Melt.

Wir anderen gehen zurück zum Zeltplatz, den wir für heute dann nicht mehr verlassen, denn auch später berichten unsere Spione von undurchdringlichen Menschenmassen an und ums Spiegelzelt. Uns ist das egal, die Christophsche Einkaufswut beschert uns Grillgut und Gin-Tonic. Zusätzlich ist Nacht der Sternschnuppen und so gucken wir alle stundenlang in den Himmel. Irgendwelche leicht zu begeisternden Leute rufen bei jeder Sternschnuppe “Oh!” und “Ah!”, wir bleiben still, weil wir das nicht für Feuerwerk halten, sondern für etwas Größeres. Ich bin gerührt, weil ich jede Sternschnuppe zweimal sehe.

Aus einem nahen Zelt dringt ein schwäbelndes Stöhnen. Das Prinzip “Wenn ich sie nicht sehe, dann hören sie mich auch nicht”, hat wieder nicht funktioniert.

Haldern Pop 2010

FREITAG
Am nächsten Morgen habe ich einen Geschmack im Mund, der Tote umbringen könnte. Ich nehme mir vor, diesen Abend dringend die Zähne zu putzen, bevor ich ins Zelt steige. Marie ist schon wach und macht Kaffee.

Heute ist der Tag, an dem wir mindestens Delphic und Mumford & Sons sehen müssen. Außerdem gibt es auf dem Programm heute ein Fragezeichen und es ging das Gerücht rum, dass es sich um Belle & Sebastian handeln könnte. Aber nein, es kommt anders, und zwar in Form von: Philipp Poisel. Die Leute: nicht begeistert. Was für ein unangemessener Ersatz für die gedanklich schon gebuchten Belle & Sebastian. Da hätte ja gleich ich spielen können. Selbstreflexion, meine Damen und Herren.

Ein paar hundert Meter weiter hatte ich gestern schon Teile der Fog Joggers und Oh, Napoleon getroffen. Ja, meine Damen und Herren, hier campen die kleinen Künstler noch selbst. Ich beschließe, nochmal rüberzugehen und hallo zu sagen. Sophie schließt sich mir an, da auch sie dort jemanden (“Frederik!!!”) kennt. Jan von den Fog Joggers hat mein Album dabei, er mag es. Dass ich die Fog Joggers EP so richtig großartig finde, behalte ich für mich, damit es ihm nicht zu Kopf steigt. Sophie hat inzwischen Frederik am Rande der Joggers-Gruppe ausfindig gemacht. Er liegt auf dem Boden mit einem T-Shirt über seinem Kopf, verkatert und apathisch. Einmal aufgewacht, stellt er sich als sympathischer Kerl heraus, lacht über wirklich jeden meiner bekanntermaßen schlechten Witze. Ich überlege, ihn zu adoptieren oder zumindest anzustellen.

Sophies Freundin Lisa reist auch noch an und hat ein Sagrotan-Arsenal eingepackt, das manche Klofrau neidisch machen dürfte. Dass Sie Ihren Hund Treu nicht mitnehmen durfte, findet sie doof. Außerdem wirkt sie augenscheinlich etwas irritiert, wie die Leute hier so leben. Der Grund dafür ist schnell gefunden: Es ist, mit 28 Jahren, ihr allererstes Festival.

Die arme Lisa! Wir beschließen, Ihr alles wichtige über das Haldern Pop beizubringen und gehen zusammen zum berühmten See zum Schwimmen. Ich selbst war da zwar bisher auch noch nie drin, ist aber auch erst mein viertes Haldern. Dass jedoch Christoph nach knapp 10 Jahren Haldern noch nie in dem See schwimmen war, finde ich bemerkenswert. Immerhin ist der See umsonst, die Duschen kosten Geld. Sie verstehen? Eben.

Björn und Frederik schwimmen nicht nur, sie haben auch Bier mitgebracht. Für Im-See-trinken. Ich habe aus Fuß-Aufschlitzungsangst meine Gummistiefel an. Beim Schwimmen. Zur Badehose sieht das scheiße aus, aber das hier ist ja kein Modewettbewerb.

Wir machen uns den Spaß und gucken uns Philipp Poisel an. Nun ja. Das Fragezeichen bleibt eines. Mir fällt auf, dass der Keyboarder, der übrigens schwäbelt, nicht richtig zu hören ist. Schade. Ich bin da etwas altmodisch: Ich mag meine Instrumente hörbar. Ansonsten schwankt der Auftritt irgendwo zwischen Xavier Naidoo und Madsen. Zumindest nicht meine bevorzugten musikalischen Eckpunkte.

Während Philipp noch vor sich hin poiselt, besuchen wir das Spiegelzelt, und irgendwie passiert das Unglück: Die Zeit ist zu schnell vergangen! Als wir auf die Uhr sehen und zur Hauptbühne hechten, spielen Delphic gerade ihr letztes Lied. Ich beiße mir in den Arsch, denn was ich sehe und höre ist die großartigste Indie-Electro-Explosion seit Langem. Da könnt Ihr Euch mal alle umgucken, Ihr Zoot Women. Ich bin trotzdem hin und weg, das hat mir wirklich gut gefallen. Delphic. Scheiß Name, geiler Sound.

Diesmal sind wir schlauer und bleiben an der Hauptbühne. Denn es folgt die Band der Stunde: Mumford & Sons, liebevoll in Manfred & Söhne umgetitelt von … nunja. Muss ich zur Band noch was sagen? Ich mag die wechselnden Instrumente, von der Seite sehe ich nicht genau, wer wann singt. Später sagt man mir, der Sänger hätte auch getrommelt. Ich muss an Phil Collins denken, erschieße mich aber innerlich dafür. Was für eine Band! Diese folkige Melancholie, diese holzige Euphorie. Gänsehaut, Tränen in meinen Augen. Und zack: vorbei.

Als Beirut folgen versuche ich, einen akustischen Filter in meinem Kopf zu formen, der aus Beirut wieder Mumford & Sons macht. Gelingt mir nicht, aber Beirut sind auch klasse. Vielleicht etwas undankbar, die armen hinter dieser Kracherband auf die Bühne zu schicken.

Aber abgesehen davon: ein wirklich ausgelassener Freitag auf dem Haldern Pop. Für mich persönlich noch von der Tatsache veredelt, dass ich auf dem Boden 20 “Poptaler” finde, die Halderner Währung für die Getränke. Wenn man den Pfand für sich selbst abzieht (und den scheiß Becher nicht verliert), kann man gut und gerne 9 Bier dafür eintauschen. Hurra.

Haldern Pop 2010

SAMSTAG
Diesmal gehen wir eher auf das Gelände, weil wir gerne Portugal. The Man sehen möchten. Schaffen wir sogar. Tolle Band, sind an diesem Tag aber sehr Riff-lastig. Ich selbst hasse ja Riffs, weil ich so ein schlechter Gitarrist bin und mir beim zuhören immer die Noten in den Kopf fliegen und mich daran erinnern, dass ich üben sollte. Mach ich vielleicht mal. Der Auftritt macht auf jeden Fall Spaß und Sophie hat Seifenblasenzeugs dabei, welches wir einsetzen. Und – oh naturbelassenes Haldern Pop – eine majestätische Libelle lässt sich neben der Bassbox nieder, während ein Security-Mitarbeiter die Unterseite seiner Arme in die Sonne hält. Nicht aus Freude am Bräunen, sondern aus gesundheitlichen Gründen: Die Oberseite sieht schon genießbar aus. Möglicherweise hat der Geruch die Libelle angelockt.

Sophie und ich schaffen bei Everything Everything im Spiegelzelt wieder nur das letzte Lied. Aber auch diese Band schafft es, mich mit dem letzten Lied komplett zu überzeugen. Das Delphic-Phänomen. Scheiß Name, geile Band. Ich ärgere mich, dass ich nie das letzte Lied von Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs gesehen habe.

Irgendwann dann The Low Anthem im Spiegelzelt. Ich habe inzwischen einen toten Punkt erreicht und finde, dass die Band klingt wie das Simon & Garfunkel Album, das ich manchmal im Auto höre. Ich schlafe im Stehen ein. Das wirkt repektlos, soll aber die Band nicht schmälern. Countryesquer Folk. Oder sowas. Naja, ich brauche frische Luft und hänge draußen rum. Hier und da wieder bekannte Gesichter: Sven, ein Fotograf aus Bochum, Gerrit natürlich (“Tommy, später aber Fotos, ne?”), Manuel von den Wedges. Ein bisschen wie ein kleines Dorf. Hier sollte man keine Dummheiten machen, da weiß jeder gleich Bescheid. Und dann tuscheln die Nachbarn.

Efterklang werden mir als Sigur-Rós-Verschnitt schmackhaft gemacht, enttäuschen aber in dieser Hinsicht gewaltig. Das ist das Problem mit großer Erwartungshaltung: Mit dieser Band werde ich heute nicht mehr warm. Ich nutze meine letzten Fund-Poptaler und gebe eine Runde. Christoph hat von seiner Oma 50 Euro Taschengeld mitbekommen!!! Obwohl das einen tiefen Eingriff in die adulte Selbstversorgungspflicht darstellt. Er weiß um seinen Stellenwert als Gruppenbetreuer und kauft davon Poptaler. Als ihm klar wird, dass er davon weder Essen noch sonstwas, sondern nur Bier und Wein kaufen kann, ist es bereits zu spät. Der Poptaler ist wie das Spielgeld in Disneyland, er regt zum Konsum an.

Und dann endlich irgendwann: The National. Erst denke ich, dass da irgendwas Interpol-ähnliches auf mich zukommt, aber schnell wird klar, dass diese Band komplexer ist. Irgendwie muss ich zwar die ganze Zeit an Depeche Mode denken, woran der Gesang seinen Anteil hat, aber das würde der ganzen Sache nicht gerecht. Denn The National klingen tatsächlich sehr eigen und interessant, rocken außerdem wie Hölle und haben eine unglaublich stimmungsvolle Lightshow. Marie regt sich später darüber auf, weil ihr das natürlich die besten Fotos versaut: Immer irgendein scheiß Licht in der Kameralinse. Mir ist das egal, ich muss ja nur gucken und glotzen. Wahrscheinlich starre ich inzwischen schon, wenn ich trinke werde ich immer zum Starrer, da ich vergesse zu blinzeln. Bei dieser Band sollte man die Augen sowie so nicht schließen, nicht mal für eine Nanosekunde.

Inzwischen sind die letzten Poptaler bestimmungsgemäß verbraucht und eine gewisse Festivalmelancholie macht sich breit: Wir haben die letzte Band auf der Hauptbühne gesehen. Jetzt ins Spiegelzelt? Undenkbar. Der harte Kern unserer Reisegruppe, Christoph, Rosa, Sophie, Marie und ich, geht zum Zeltplatz und lässt den Abend gebührend ausklingen: Wir singen 90er Jahre Plastikpophits von East 17 und Take That. Weil wir uns nämlich nicht zu fein sind, zu erkennen, dass das in der Retrospektive auch schöne Musik sein kann. Und dann packt Sophie ihr Handy aus und spielt die Musik ab, die mich danach nicht mehr losgelassen hat, massiver als eine der Bands von den Bühnen: Oh, Napoleon. Ironie des Schicksals. Vor zwei Tagen noch am Zeltplatz gesehen und trotzdem vorher gar nicht reingehört. Man sagt ja oft “Die Band kenn’ ich!” und meint “…vom Namen.” Ich auf jeden Fall: begeistert und verstört, weil die doch noch so jung sind und die Sängerin da Sachen raushaut wie ein alter Hase

Der nächste Morgen bringt den ersten grauen Tag. Ist aber auch egal, weil wir jetzt packen und heimwärts fahren. Ich denke darüber nach, den herausragenden Sonnenschein der Halderner Tage als gutes Omen zu deuten, dann fällt mir aber ein, dass ich an so einen Hokus Pokus nicht glaube. Manchmal, ganz selten, stimmen eben alle umgebenden Faktoren so überein, dass für ein paar Tage alles perfekt ist.


Tommy Finke ist 29 Jahre alt, Musiker und lebt in Bochum. Im Februar ist sein Album “Poet der Affen / Poet of the Apes” erschienen.

Für Coffee And TV hat er das Haldern Pop 2010 besucht und seine Eindrücke von Zeltplatz, See und Festival aufgeschrieben. Die Namen der Mitreisenden wurden dafür geändert.

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Musik Unterwegs

Haldern Pop 2010 – A place to come home to

“That will literally blow your mind” sagte Fyfe Dangerfield während seines Auftritts im Spiegelzelt am Donnerstag, als er sich an sein Keyboard setzte. Wie viel Wahrheit in diesem Satz vor allem im Bezug auf die Erlebnisse des Festivalwochenendes stecken würde, konnte ich noch gar nicht ahnen.

Seit 2001 in regelmäßigen Abständen beim Haldern Pop Festival gewesen gab es in jedem Lineup mindestens vier Bands, die ich unbedingt sehen wollte, doch in diesem Jahr war es anders: Ich kannte vielleicht 50% der gebuchten Acts, lediglich zwei standen auf meiner “unbedingt angucken!”-Liste. Trotzdem kein Grund, nicht hinzufahren – in Haldern stimmt eben das Gesamtpaket, selbst wenn das Wetter schlecht ist. Und am Ende hat man einige neue Bands auf seiner Favoritenliste, die da vorher nicht gestanden haben. Dies war auch in diesem Jahr so.

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Musik

Listenpanik 07/09

Der Sommer ist traditionell nicht die veröffentlichungsstärkste Jahreszeit, aber entweder habe ich die meisten Highlights im Juli übersehen oder es war tatsächlich ein besonders dürrer Monat. Wenn Saturn nicht gerade wieder MP3-Alben verramscht hätte, hätte ich mir vermutlich nicht mal das eher mittelprächtig besprochene Album von The Airborne Toxic Event angehört — und durchaus ein paar gute Songs verpasst.

Aber kommen wir nun zu den wie immer streng subjektiven Höhepunkten des zurückliegenden Musikmonats:

Alben
Portugal. The Man – The Satanic Satanist
Die Liste der Künstler, von denen ich immer schon mal gehört hatte, die mir aber so direkt nichts sagten, wird naheliegenderweise nie kürzer, auch wenn ich jetzt mein erstes Album von Portugal. The Man besitze. Ein Album, das mir durchaus sehr zusagt und das mit großer Geste das erzeugt, was Werbetexter ein “positives Lebensgefühl” nennen. Angesichts der vielen Einflüsse aus Soul, Rock, Pop und wasweißichnochwas möchte ich zur näheren Verortung gern zur universellen Nicht-Schublade “Haldern-Musik” greifen, auch wenn die Band beim Traditionsfestival am Niederrhein ((Donnerstag geht’s wieder los!)) überraschenderweise noch ohne Auftritt ist, wie ich gerade festgestellt habe. ((Dafür aber beim La-Pampa-Festival.)) Als weiteren hoffnungslosen Erklärungsversuch könnte ich noch “wie Kings Of Leon mit weniger Testosteron” anbieten, aber vielleicht hören Sie einfach lieber selbst rein.

Jack’s Mannequin – The Glass Passenger
Andrew McMahons Hauptband Something Corporate (3 Alben) liegt seit mehreren Jahren auf Eis — darf man da bei Jack’s Mannequin und ihrem zweiten Album überhaupt noch von einem “Nebenprojekt” sprechen? Eigentlich auch egal, denn wem der Collegerock von Something Corporate noch eine Spur zu … äh: “hart” war, der könnte am Radiopop von Jack’s Mannequin seine Freude haben. ((Es kann kein Zufall sein, dass ich ausgerechnet über WDR 2 von der Veröffentlichung des Albums in Deutschland erfuhr.)) Auch in den Texten ist etwas mehr Pathos, aber wer mit Anfang Zwanzig eine Leukämie-Erkrankung übersteht, hat alles Recht, ein bisschen öfter “survive” oder “make it” zu singen. Hätte man die 14 Songs auf zehn bis zwölf eingedampft, wäre “The Glass Passenger” rundherum gelungen, aber auch so ist es ein souveränes Indiepop-Album geworden.

The Airborne Toxic Event – The Airborne Toxic Event
Die erste Generation der Achtziger-Düsterpop-Epigonen (Interpol, Editors) ging völlig an mir vorbei, bei der zweiten Welle habe ich ganz schnell den Überblick verloren: Glasvegas haben ewig gebraucht, bis ich sie mochte, ((Eine dieser Bands, die man auf keinen Fall als erstes live sehen sollte.)), bei White Lies warte ich immer noch auf diesen Moment und jetzt eben die Band mit dem unmerkbaren Namen: The Airborne Toxic Event. “Gasoline” geht Libertines-mäßig nach vorne, “Happiness Is Overrated” erinnert an Elefant und “Missy” wirkt, als sei bei einem Belle-And-Sebastian-Song irgendwas schief gelaufen. Es klingt also mal wieder alles, wie schon mehrfach da gewesen, aber der Trick ist ja, genau daraus ein abwechslungsreiches Album zu machen. Und das ist The Airborne Toxic Event gelungen.

Songs
Jack’s Mannequin – Annie Use Your Telescope
Klavier, Akustikgitarre, schleppende Beats, künstliche Streicher ((Davon bekommen sie jetzt in der YouTube-Liveversion wenig mit.)) und Stimmen, die sich ineinander verzahnen und vom Unterwegssein und Nachhausekommen singen — sowas kann ganz schlimm sein oder ganz großartig. Ich finde es großartig und dieses “Annie I will make it” lässt auch keine Zweifel und keinen Widerspruch zu. Mal wieder einer dieser Songs dieses Jahr, den ich auf Dauerrotation hören könnte.

Portugal. The Man – People Say
Ein Popsong der Geschmacksrichtung “euphorietrunkener Mitschunkler”, wie sie etwa die Britpop-Band Embrace vor gut einem Jahrzehnt regelmäßig aus dem Ärmel geschüttelt hat. Wenn man allerdings auf den Text achtet, wird die ganze strahlende gute Laune plötzlich zum eiskalten Zynismus: “All the people, they say: / ‘What a lovely day, yeah, we won the war / May have lost a million men, but we’ve got a million more.'”

The Airborne Toxic Event – Sometime Around Midnight
Die Ex-Freundin mit dem neuen Typen in einer Bar? Das soll noch ein Songthema sein? Ernsthaft?! Ja, ernsthaft. Warum denn nicht? Wie sich der Song musikalisch steigert und damit den Text untermalt, das ist schon große Songwriter-Schule. Sicher: Man muss mögen, wie Mikel Jollett da mit jeder neuen Zeile noch eine Schüppe mehr Dramatik in seine Stimme legt. Aber er kann’s und es funktioniert. Und mal ehrlich: Ist nicht jedes Thema eigentlich schon tausendmal besungen worden?

Colbie Caillat – Fallin’ For You
Es macht nichts, wenn Ihnen der Name Rick Nowels nichts sagt, aber Songs aus seiner Feder kennen Sie bestimmt aus dem Radio. Jetzt hat der Ex-New-Radical also einen Song mit Colbie Caillat geschrieben ((Was die Plattenfirma nicht davon abhält, zu behaupten, “die Tochter von Fleetwood Mac-Produzent Ken Caillat” habe “für das neue Album ‘Breakthrough’ alle Songs selbst” geschrieben.)) und er klingt wie ungefähr alles, wo Nowels oder sein Ex-Partner Gregg Alexander in den letzten zwanzig Jahren ihre Finger dran hatten: Gut gelaunt, sommerlich, radiopoppig. Auch das muss man mögen, aber wer’s nicht mag hat mutmaßlich eine schwarze Seele.

[Listenpanik, die Serie]

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Musik Unterwegs

It’s always raining somewhere

Im Geiste von Harry Rowohlt habe ich mich entschlossen, es folgendermaßen zu sagen: Ich erzähle mal kurz was übers La-Pampa-Festival. Ich habe das inzwischen überall rumerzählt; da sehe ich nicht ein, weshalb ich es ausgerechnet Ihnen nicht auch erzählen soll. Das war’s jetzt aber auch mit dem freien Zitieren.

Über das Festival selbst muss man zumindest Folgendes sagen: Es stehen zwei bis drei Bühnen (die Zahl hängt massiv davon ab, wie die persönliche Definition des Wortes “Bühne” bei den jeweiligen Besuchern beschaffen ist) auf einem Seebad-Gelände am Südostzipfel des Landes Sachsen, in der Nähe von Görlitz, genauer: Hagenwerder bei Görlitz. Um den See herum kann man zelten, unmittelbare Nähe zum Wasser ist hierbei unbedingt empfehlenswert. Denn mit jedem Zentimeter, um den man sich mit dem Zelt vom See entfernt, steigt die ohnehin schon gefährliche Proximität zur anliegenden Gleisanlage. Diese wird zwar nur jede Stunde von einer S-Bahn der ODEG (Ostdeutsche Eisenbahn GmbH – deshalb müsste sie eigentlich ODEGMBH heißen, aber was weiß ich schon?) befahren, ist aber auch nicht mit einem Zaun vom Weg um den See abgetrennt. Wie durch ein Wunder kommt, soviel ich weiß, am ganzen Wochenende niemand dabei ums Leben.

Ich werde jetzt hier nicht chronologisch aufzählen, was alles schief gegangen ist oder schlechter als gedacht funktioniert hat. Das mit dem Wetter, dafür kann ja niemand was, aber wenn es jeden Abend pünktlich um 22 Uhr anfängt, ein piesackendes Bisschen mehr als zu nieseln, macht das aus einem entspannten Konzert von The Notwist am Freitag schon mal eine kleine Hängepartie, vor allen Dingen deshalb, weil an den Stellen der Songs, die aufgrund ihrer steigenden Intensität auch mit mehr Licht untermalt werden, das Ausmaß des Regens erst gut beleuchtet sichtbar wird und man dadurch ganz und gar nicht zum Jubeln und Frohlocken aufgelegt ist.

Irgendwann hat man sich natürlich dran gewöhnt. So um 1 Uhr nachts oder so, da ist man dann halt nass, Leugnen hilft auch nicht mehr. Was dazu führt, dass ich Bonaparte um Viertel vor Drei schon so früh zu meinem persönlichen Festivalhöhepunkt erkläre und mir vornehme, zukünftig mein streng abschätziges Verhältnis zu, pardon, Hüpf- und Springmusik, noch einmal zu überdenken.

Die Nacht findet allerdings leider nicht statt, weil es so laut regnet, dass ich das Gefühl habe, eine Million kleiner Steine fiele auf das Zeltdach. Das wird nur übertroffen von einer Handvoll männlicher Jugendlicher aus dem nahe gelegenen Görlitz-Hagenwerder/Weinhübel, oder wie auch immer das heißt, die einen gefühlten Zentimeter von meinem Ohr entfernt einen unfassbaren Radau machen, unter anderem so geartet, dass mit steigendem Alkoholisierungsgrad die Lautstärke steigt, die Qualität der Witze allerdings rapide absinkt, bis sie bei wahnsinnigunterirdischen Rassismen gegen Polen angekommen sind, bei denen ich eigentlich hoffnungsvoll überzeugt war, dass sie endlich, endlich, endlich einmal aus der Mode kommen würden. Stattdessen schäme ich mich stellvertretend für die gesamte Menschheit und versuche neurotisch, mich in den Schlaf zu wiegeln. Immerhin finde ich ein Oropax, das ich in der Mitte salomonisch zerteile, damit beide meiner Ohren ihre Ruhe kriegen.

Samstag spielen Portugal. The Man in der Hauptsache, und vielleicht noch ClickClickDecker, den/die ich eigentlich sehr gern mag, die aber im Vergleich zum immer noch nachwirkenden großartigen Eindruck von Bonaparte eine eher schwammige und lasche Vorstellung abliefern, mitunter sicher auch deshalb, weil sie sehr leise sind. Andererseits aber auch deshalb, weil ich glaube ich so langsam genug Lieder gehört habe, die am Achtel-Fieber leiden. But that’s just me.

Wenn ich aber nun zusammenfassend ein bisschen zwiegespalten bin und sage, dass ich schon weiß, warum ich kaum auf Festivals gehe, und mein letztes davor mittlerweile schon sechs Jahre her ist (und deshalb notwendig war, weil ich sonst vermutlich nie mehr Radiohead live gesehen hätte, ohne dafür meine Seele für den Ticketpreis zu verkaufen), dann liegt das mit Sicherheit nicht an der Musik, die nämlich, trotz aller bösen Konnotation des Ausdrucks, wenn nicht sehr gut, dann immerhin gut gemeint war. Es liegt vielmehr daran, dass ich noch heute, zwei Tage danach, Ohrenzwicker aus dem Zelt in meinem Zimmer finde. Oder dass ich die Schuhe, die ich dabei hatte, wahrscheinlich wegwerfen muss, nachdem ich versucht habe, mit dem Messer den alten krustigen Schlamm aus den offenen Zwischenräumen zwischen Stoff und Sohle zu entfernen. Und an einem mehr oder weniger fiesen Schnupfen, den ich so gut gebrauchen kann wie ein Loch im Knie.

Zum Schluss noch eine pädagogische Note. Wenn Sie unsicher darüber sind, wie das Wort “Material” richtig ausgesprochen wird, und sich diesbezüglich informieren möchten, halten Sie nicht, ich wiederhole, nicht, unter keinen Umständen, an einem Rasthof in der Nähe von Kosel an der Bundesstraße 99. Egal, wie leer der Tank ist. Es sei denn natürlich, sie wollen für den Rest Ihres Lebens mit einem breiten, aufdringlichen “Mattärjol” auf der Zunge herumlaufen.