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It’s in my honey, it’s in my milk.

The National - High Violet (Albumcover)

Eigentlich wollte ich keinesfalls so beginnen, um nicht später der Stringenz und Logik meiner Erzählung und der damit verbundenen Zeitleiste wegen in die Pflicht genommen zu werden, aber: Mein erstes Konzert der Band The National war, wenn ich recht erinnere, am 1. Dezember 2005. Ihr drittes Album “Alligator” war gerade im Mai erschienen. Der einzige Grund, warum ich es besaß, war der, dass ich eigentlich nach der damaligen im Nachhinein betrachtet überaus drögen Platte von Grand National Ausschau gehalten hatte und mich aber an den Namen der Band nicht mehr so ganz richtig erinnern konnte. Ein halbes Jahr später erklärte man “Alligator” und den Vorgänger “Sad Songs For Dirty Lovers” in mehreren Vollversammlungen meiner damaligen Peer Group zum Besten, was man jemals gehört hatte.

Ich war gerade im Oktober nach Berlin umgezogen, wo meine einzige Außer-Haus-Beschäftigung für zwei Monate darin bestand, aus einem Call-Center dem gesamtdeutschen Branchenbuch teure Drucker und Kopierer aufzunötigen (wofür ich mich sicherlich dereinst vor irgendeiner moralischen Höchstinstanz zu rechtfertigen haben werde). In meinem etwas unterkühlten Zwischen- bzw. Untermietverhältnis beschäftigte ich mich indes mangels sozialer Kontakte ausschließlich mit dem Hören von Feists “Let It Die” (wegen des überraschend zur Gesamtsituation passenden Titeltracks) und den beiden oben erwähnten Alben von The National. Nach einiger Zeit konnte ich alles fast so gut auswendig wie einige ältere Semester alle Dialoge der originalen Star-Wars-Trilogie herunter zu beten imstande sind. Das half natürlich meiner realen Lebenssituation nur bedingt und würde vermutlich auch keinen Studienplatz aus dem blauen Himmel auf mich hernieder fallen lassen, und so musste ich doch irgendwann, allen Stolzes beraubt und mit einigermaßen tief hängendem Kopf, den vorzeitigen Rückzug antreten und in meine Heimatstadt zurückgekrochen kommen. Nach einem halb gefüllten Konzert im Berliner Magnet-Club, das eine erstaunlich wohltuende und unaufregende Wirkung hatte, schlief ich drei Stunden und machte mich am am Morgen des 2. Dezember 2005 alleine mit einem viel zu kleinen Mietwagen auf den Weg. Dank meiner überstürzten Packtechnik, aufgrund derer alle meine CDs am hinteren unteren Ende des Wagens unter Büchern und einem Regal eingeklemmt waren, war ich gezwungen, die gesamte Fahrt über etwa neun Mal The Nationals am Vorabend erstandenes selbstbetiteltes Debut-Album durchlaufen zu lassen.

Mittlerweile ist das natürlich alles vergessen und die schlechten Erfahrungen vollkommen obsolet. Was ich aber damit sagen möchte: So etwas schweißt einen natürlich unwiderbringlich an so eine Band. Deswegen werde ich nicht einmal versuchen, Objektives über “High Violet”, das soeben erschienene fünfte Album der Band, abzugeben. Bitte verzeihen Sie mir!

Im Großen und Ganzen verläuft das Hören der knapp 50 Minuten genauso wie immer, wenn man große Angst hat, dass dies nun endlich diese Sell-Out-Enttäuschung ist, auf die man immer gewartet hat: Man zwingt sich, übermäßig kritisch an das Ganze heranzugehen und hört natürlich an jeder Ecke Dinge, die es so vorher nicht gab und mit denen sich zunächst angefreundet werden muss, und erwischt sich dann doch dabei, auf eine mittelmäßig schizophrene Art eine Verteidigungshaltung einzunehmen. Unterhaltsam ist das möglicherweise für den imaginären Beobachter. Die Wahrheit ist: Geigen, Posaunen, Trompeten und Klavier kannte man bereits aus dem 2007 erschienenen “Boxer”, und obwohl dies durchaus Instrumente sind, die aufgrund von übermäßiger Verwendung einen Kitsch-Effekt auslösen können, der seinesgleichen sucht, war vorher schon klar, dass sich hier nichts davon übel in den Vordergrund spielen würde. Weil das nunmal einfach nicht so The Nationals Art ist, überhaupt einen Vordergrund zu haben. Vielmehr präsentiert sich einem hier ein verschwommenes Bild aus verschiedensten Melodien, die im Zusammenspiel einen Teppich ergeben. Viel mehr als Akkordwechsel können dann gar nicht mehr vernommen werden, allenfalls ruft das schnörkelfreie, repetitive Schlagzeug Unterbrechungen und Akzentuierungen hervor. Wenn das mal nicht ein Idealziel in einer Band mit zuweilen drei Gitarren sein sollte: Über weiteste Strecken selbstlose Songdienlichkeit, frei von breitbeinigem Muckertum und Sportgitarrensolos.

Was aber außergewöhnlich ist: Vieles ist hier plötzlich heiter oder sogar lustig. Irgendwo habe ich neulich gelesen, dass der Sänger der Band, Matt Berninger, mit einem permanenten Marker das Wort “Happiness” an eine Wand in seiner Wohnung geschrieben haben soll, da der Plan war, ein fröhliches Album aufzunehmen. Das ist nun musikalisch gründlich in die Hose gegangen, und auch an Textzeilen wie “Sorrow found me when I was young. Sorrow waited, sorrow won.” ist so wahnsinnig viel rheinischer Witz nicht zu sehen. Dennoch gibt es wie auch in dieser Zeile Punkte, an denen augenscheinlich eine ironische Brechung vorgenommen werden musste, weil man die ganze Trauer sonst einfach nicht ausgehalten hätte. Der Song “Lemonworld” sagt im Refrain “You and your sister live in a lemonworld, I want to sit in and die.” und wer hier unbedingt an das plumpe, bodenlose Selbstmitleid glauben will, dem sei das erlaubt. Weil man solche Augenscheinlichkeit nicht von The National gewöhnt ist, darf schätzungsweise auch davon ausgegangen werden, dass hier ein Protagonist genug hat vom ständigen Verarbeiten und sich auch gerne ein wenig darüber lustig machen möchte. In “Conversation 16”, einem Song, den Berninger auf dem Konzert letzten Samstag im Berliner ‘Huxley’s’ mit den Worten “This is a love song. About cannibalism.” ankündigte, heißt es: “I was afraid that I’d eat your brains cause I’m evil”. Trauer setzt ja nun doch einiges an Ernst voraus. Was jedoch an dieser Zeile ernstzunehmen ist, kann ich mir beim besten Willen nicht anmaßen zu behaupten.

Letztlich sprießen diese Songs ja dann doch tendenziell vor “Es wird wieder!”-Schulterklopfern, und wann hat man denn so eine simple Botschaft zuletzt in Popmusik gut gefunden? Abgesehen davon, dass mir diese Gruppe nun sowieso nichts mehr vergällen kann, nachdem auch die fünfte Platte sich als etwas herausgestellt hat, das ich innerhalb von drei Tagen locker 15 Mal ohne jede Langeweile oder Lust auf etwas anderes durchhören kann, ist zumindest eine objektive Erkenntnis, die ich Ihnen anbieten kann, die eben erkannte: Es wird wieder! Wenn der Berninger das schafft, dann schaffen wir das auch. Ob es natürlich gesund ist oder gut für mein anderweitiges musikalisches Interesse, dass ich seit dem Erscheinen von High Violet vielleicht zwei andere Bands gehört habe, steht jetzt natürlich nicht auf diesem Blatt. Darüber reden wir dann in ein paar Monaten!

Zum Abschied gibt es hier übrigens noch das aktuelle Video der Auskopplung “Bloodbuzz Ohio” zu sehen. Vielleicht lachen wir ja auch ein Bisschen.

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The National – “Bloodbuzz Ohio” (official video) from The National on Vimeo.

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You should have known by now you were on my list

Nachdem Lukas nun seit Wochen schon erhebliche Stücke seiner Zeit dafür aufbringt, die letzten zehn Jahre nach den musikalischen Häfen seines Lebens zu durchforsten, ((Für den Strauß Stilblüten, der in den nächsten Zeilen sicher noch dicker werden wird, darf man sich dann am Schluss bei mir bedanken.)) macht sich mittlerweile angesichts des mit Pferden und Streitwagen heranbrausenden Jahresendes auch bei mir der Zugzwang bemerkbar, zumindest die letzten zwölf Monate dieses überdurchschnittlich guten Plattenjahres in eine gewisse, zumindest für mich gültige Ordnung zu bringen.

Wenn ich meinen last.fm-Statistiken Glauben schenken darf, und das ist aufgrund einiger über das erste Quartal 2009 verteilten Komplettabstürze meines alten Rechners, denen regelmäßig eine eher sporadische Neuinstallation irgendwelcher Statistik-Plugins folgte, höchst fragwürdig, dann beginnt das Jahr und beginnt diese Rangliste mit bedenklich hoher Rotation des Albums “Noble Beast” von Andrew Bird, der mich schon mit der 2007 erschienenen Platte “Armchair Apocrypha” an meiner despektierlichen Haltung gegenüber Sportmusik und Muckertum hatte zweifeln lassen. Entgegen der statistischen Hinweise kann ich mich allerdings seltsamerweise kaum daran erinnern, Birds jüngstes Werk eingehend unter die Lupe genommen zu haben, im Gegenteil erinnere ich mich nur noch daran, dass im Opener “Oh No!” an einer Stelle von einem Gefängnis die Rede ist. Den Rest der Songs finde ich in der Rückschau entweder gar nicht mehr, oder ziemlich bedeutungslos. Dennoch steht der Mann hier, weil mich die relative Enttäuschung über “Noble Beast” dazu verleitet hat, “Armchair Apocrypha” wieder zu hören, wenn nicht gerade der vermaledeite Computer wieder im Abrauchen begriffen war. Daher gibt es hier jetzt also für dieses nicht 2009 erschienene Album von mir Platz 10 des Jahres 2009. Schöne Doppelstandards habe ich ja.

Auf Listenplatz 9 landet eine Scheibe, bei der ich mir zum Zeitpunkt ihres Erscheinens, also im März, noch unumstößlich sicher war, dass nichts und niemand mehr dazu in der Lage sein würde, mich davon abzubringen, es schon aus der hier semantisch überaus schief verwendeten ex-ante-Perspektive zum Album des Jahres zu erklären. “Hazards Of Love” von The Decemberists ist im positiven Sinne ein Konzeptalbum ((Wenn ich im Zusammenhang mit Konzeptalben von positivem Sinn spreche, meine ich das durchaus als tiefe Würdigung des Künstlers. Das letzte “Konzeptalbum”, das mir von Freunden als hörbar nahegelegt worden ist, war irgendwas von Dream Theater und kann mittlerweile nachhaltig dazu verwendet werden, mich in rasender Geschwindigkeit aus der Wohnung zu jagen. Ob ich komplett angekleidet bin oder nicht.)) über so eine Art Liebesgeschichte. Allerdings werden da wohl auch Protagonisten von wilden Vögeln entführt und ins heutige Russland deportiert (ganz habe ich das noch nicht verstanden, vielleicht kommt das noch). Jedenfalls ist das ein wunderbares Album von einer ebenso wunderbaren Band, die wunderbarerweise am laufenden Band Aufnahmen veröffentlicht, ohne dass das nervt. Warum “Hazards Of Love” hier also nicht an der Pole Position steht, ((Zu Ihrem Stilblütenstrauß haben Sie nun noch eine besonders prächtige Rose dazugeschenkt bekommen.)) lässt sich wohl nur dadurch erklären, dass irgendwann folgende Dinge passiert sind:

Ich freundete mich mit Animal Collective an, was schon allein dadurch etwas Besonderes ist, weil ich ein paar Jahre vorher noch jedem vergiftete Blicke zugeworfen hatte, der mir deren vorletztes Album “Feels” nahelegen wollte. Für mich war diese Band und alles mit ihr Zusammenhängende ein vager Abklatsch von längst verblichenen Idolfiguren wie Circulatory System, Olivia Tremor Control und so weiter, mit dem Unterschied, dass Animal Collective es für meinen Geschmack ein wenig übertrieben mit der Psychedelität. Und nun diese Platte! “Merriweather Post Pavillion” ist einer der für mich (und vermutlich jeden anderen auch) seltenen Fälle, die sofort mit voller Wucht einschlagen und danach trotzdem immer noch besser und aber vor allen Dingen nicht langweilig werden. Dieses Album verursacht in mir ein nicht mehr wegzuleugnendes Bedürfnis zu tanzen, ((Liegt auf meiner persönlichen Wertschätzungsskala nur knapp oberhalb von Konzeptalben, diesmal aber eher aus vollkommen persönlichen Gründen.)) wo es möglich ist und ist auch sonst einfach ziemlich perfekt. Leider habe ich es erst sehr spät kennengelernt (lies: vor knapp eineinhalb Monaten) und kann es deshalb leider noch nicht guten Gewissens höher einstufen als auf Platz 8. Aber fragen Sie mich nächstes Jahr nochmal, wie ich retrospektiv entscheiden würde!

Ich springe chronologisch. Sie haben das vielleicht schon geahnt. Wenn ich mir also den Juni dieses Jahres so auf last.fm angucke, erschleicht mich ein Peinlichkeitsgefühl und noch dazu eine Mahnung an so etwas wie eine Pflichtschuldigkeit, nämlich dahingehend, dass es ja eigentlich nicht sein kann, dass man über vier Wochen hinweg nicht nur einen einzigen Künstler, sondern tatsächlich immer ein- und dasselbe Album des gleichen Künstlers hört, wieder und wieder. Dieses Deliktes habe ich mich schuldig gemacht, und das auch noch mit schmierigstem englischen Indierock, den man drüben beim NME in der Jahresendliste vermutlich auch irgendwo aufgeführt hat, aber fragen Sie mich nicht, ich habe keine Ahnung vom NME, die Charts dort verfolge ich quasi nicht. Ich vermute einfach, dass die da eine Great-Britain-Quote haben, die ihnen verbietet, mehr als fünfzig Prozent der jeweiligen Charts von Nicht-Briten einnehmen zu lassen, andernfalls wird wohl einfach irgendwas eingefügt, das entfernt nach Franz Ferdinand klingt. Aber ich schweife ab: Dieses schleimige, auf Hochglanz polierte und viel zu pathetische Album, das mich aus Gründen der inneren Kohärenz und der Gefühlsgewalt so umgeworfen hat, dass ich wage, ihm eine bessere Stelle als den Decemberists zukommen zu lassen, ist “Wall Of Arms” von The Maccabees. Man kann heutzutage keinen toten Fisch werfen, ohne jemanden zu treffen, der genauso klingt, ich weiß, aber dennoch: Sehr schönes Ding. Empfehlenswert ist hier insbesondere der Song “William Powers”. Platz 7 für die Maccabees und “Wall Of Arms”.

Irgendwann im September stolperte ich über eine Band namens Tap Tap, von der ich absolut gar nichts weiß, außer, dass sie dem Akzent des Sängers nach ebenfalls aus dem Vereinigten Königreich stammt und ein Album namens “On My Way” herausgebracht hatte. Es passiert mir indes nicht oft, dass mich eine Platte so überzeugt wie diese hier, ohne dass ich auch nur den geringsten Schimmer habe, wer eigentlich dahinter steckt. Vermutlich hängt das mit der Minimalmenge Fanboy-Tum zusammen, die einen dazu bringt, erstmal anhimmeln können zu wollen, ehe man entscheidet, das Produkt auch “objektiv” gut zu finden. Aber hier! So einfache, eigentlich so sehr nach Schema F komponierte Songs, dass man sofort wieder Pearl Jam hören dürfen will, und dennoch so originell und Vertrauensvorschuss heischend, dass es mir schon arg Weh tun würde, müsste ich irgendwann herausfinden, dass Tap Tap eine Band von politisch am rechten Rand sich tummelnden Sauerkrautstampfern wären, die wochentags gerne Vorschulkindern die Baseballmützen vom Kopf schießen oder sowas. Aber ich glaube auch nicht, dass es so weit kommen muss. Platz 6 over here!

Jetzt wird es ernst. Bei allem, was jetzt kommt, musste ich für die finale Reihenfolge derart grübeln, dass sich an meinen Schläfen nun tatsächliche Grübelgruben gebildet haben, aus denen man dann gerne mal kollektiv Zwiebeldip abstippen darf, sollte ich dereinst als Tisch in einem mexikanischen Restaurant angestellt sein. Es muss daher jetzt auch vergleichsweise schnell gehen, weil ich mir das mit dem Grübeln nicht so richtig abgewöhnen konnte und nun, einmal entschlossen, lieber mit geschlossenen Augen durch die Wand fahre, als mich wieder in endlosen Abwägungen wieder zu finden.

Platz 5 dieser mit niemandem abgesprochenen und überaus subjektiven Albumchartliste des vergangenen Jahres geht an eine kleine, feine Band namens Clues, die allerdings insofern hochkarätig ist, als in ihr sowohl ein ehemaliges Mitglied der Unicorns als auch ein Prä-Funeral-Mitmusiker von The Arcade Fire ihr zweifelsohne ernst gemeintes Blut-Schweiß-Tränen-Handwerk tun. Im Mai veröffentlichten sie ihr selbstbetiteltes Debut, bei dem es sich um den sprichwörtlichen Wahnsinn handelt. Der Grund, warum dieses Album fünf Plätze fallen musste und deshalb nicht auf dem ersten Platz liegt, ist ein in der Mitte des Albums verorteter Song namens “You Have My Eyes Now”, bei dem ich überhaupt keinen Zugang fand, und der meines Erachtens auch kohärenzmäßig überhaupt nicht auf dieses Album passt. Natürlich will ich nicht behaupten, dass ich die minutiös geplante Liedabfolge solch einer guten Platte besser verstehe als die betreffende Band selbst, aber in diesem Fall hat sich immer eine sehr interessante Reise in meinem Kopf aufgebaut, ehe dieser Track eine Verwirrung bei mir auslöst, die mich leider zum sofortigen Weiterskippen zwingt.

Platz 4 geht an “The Conformist” von Doveman, einem jungen Mann, der mir als Tourposaunist der fantastischen New Yorker Band The National bekannt wurde. “The Conformist” ist eine sehr ruhige und beständig traurige, aber natürlich auch aus anderen Gründen schöne Platte, die unter anderem mit Bryce und Aaron Dessner von The National aufgenommen und produziert wurde. Ab und an, zum Beispiel im Song “Angel’s Share” hört man gar Matt Berninger als zweite Stimme mitgrummeln, was für jemanden, der wie ich eine durchaus irrationale Liebe zu The National pflegt, eine vermutlich ebenso irrationale Verklärung aller Musik, in der die drin hängen, bedeutet. Aber das ist ja dann auch wieder egal, wenn das Produkt so schön klingt. Super Sache! ((Eine ebenso super Sache ist außerdem, dass weitere Backing Vocals von einer gewissen Norah Jones gesungen wurden, zu der man vermutlich auch nur eine höchst irrationale Liebe haben kann, was im vorliegenden Fall aber auch so ist.))

Royal Bangs aus Knoxville greifen für ihr zweites Album “Let It Beep” den dritten Platz ab. Es gibt ja immer solche Scheiben, an denen alles stimmt. Die letzte dieser Art, die nicht aus 2009 stammt und an die ich mich ohne Hilfe erinnern kann, ist “Reconstruction Site” von The Weakerthans. ((Musik, Lyrics und Artwork waren so umwerfend, dass ich schon beim dritten oder vierten Hören wusste, dass hier jemand mal eben ein Meisterwerk abgeliefert haben musste, scheinbar ohne besonders exaltiert mit irgendwelchen Wimpern zu zucken.)) Dieses Jahr gibt es für mich immerhin zwei dieser Art. Eine davon ist die eben Genannte der Royal Bangs, die ich mir einzig und allein wegen des Covers zulegte und dann zwei Wochen am Stück hören musste, wo ich ging und stand (eine Ausdrucksweise, die vom Erschaffer derselben vermutlich wohl doch eher ausschließlich für das Präsens gedacht war). Innerhalb dieser zwei Wochen gab es dann auch noch überraschend ein Konzert im Kreuzberger “Westgermany”, was natürlich kein Zufall sein konnte. Elektro-Rock ohne alles, was das Wort “Elektro-Rock” zu einem so wirkungsvollen Brechmittel machen kann. Die Herren landen aus Gründen der leider nicht verschwindend geringen “Tot-Hörbarkeit”, aber auch deshalb auf dem dritten Platz, weil ich ihnen dank oben erwähnten Konzertes einen gewissen Malus einräumen muss: Selten habe ich eine Band, die ihre Songs so gut vorträgt, so lustlos erlebt, mutmaßlich aufgrund der vielleicht zwanzig anwesenden Gäste. Das Konzert selbst war super, aber es hätte wegen der sieben Tage Regenwetter, die in den Bandgesichtern stattfanden, mit geschlossenen Augen höchstwahrscheinlich viel besser gefallen. Nur mäßig entschuldbares Verhalten, leider.

Platz zwei erhält eindeutig “Eskimo Snow” von WHY?. Ein fantastisches Album aus Folksongs von Hiphop-Musikern, die schon mit ihrer letzten Veröffentlichung “Alopecia” etwas herausgebracht hatten, was nirgends einzuordnen war und dennoch – nicht: “gerade deshalb” ((Einfach weil der Stilblütenstrauß wohl sonst am Packlimit angekommen und bei Übertretung der Gewichtsgrenze nur noch als Sperrgut zu transportieren wäre.)) – eingängig und nachhaltig erheiternd. “Eskimo Snow” ist nun etwas ganz anderes als alle Vorgängeralben, vielleicht dadurch auch gewöhnungsbedürftig, aber ich bitte Sie: Hören Sie es durch. Vielleicht viermal, vielleicht hundertmal. Sie werden es lieben, allein für Texte wie “And when a thing starts finishing around me, I faint or fake a moustache, an accent, or flee, in fear my expired license be pulled by sheer proximity”, aber wahrscheinlich auch für das ganze Drumherum. ((Meine Damen und Herren, der Stilblütenstrauß ist soeben an Adipositas verendet und lässt sich nun auch nicht mehr durch ein beiläufig eingeworfenes “Bitte eine Packung gute Laune mitbringen!” ins Leben zurückholen. Das haben wir nun davon!))

So nun, zu Platz 1. Ich mache es kurz und schmerzlos: “Veckatimest” von Grizzly Bear. Nein, ich möchte gar nicht hypen. Unter allen Umständen will ich das vermeiden. Man sollte vielleicht denken, dass es nach allen Lobhudeleien auf diese Platte langsam einmal genug wäre, aber: Nein, ist es nicht. Dies ist eines der beiden Alben, bei denen in diesem Jahr für mich schon beim ersten Hören der Musik und Sehen des Artworks nichts auch nur vage unangenehm aufstößt, sondern mit jedem Blick und Hinhören, so flüchtig beides auch sein mag, nur wächst und wächst. Das hier ist aber schon deshalb weit großartiger, weil es mindestens zehnfaches Anhören der gesamten CD braucht, um es überhaupt auch nur in Teilen so weit verstanden zu haben, dass man es ohne Vorurteile gegenüber einer Pseudo-Prog-Rock-Haltung, die Grizzly Bear von anderen schon nachgesagt worden ist, gut finden kann. Hat man sich allerdings darauf eingelassen, ist es meiner Ansicht nach völlig unmöglich, das Gefallen an diesem Album zu verlieren, im Gegenteil ist man bis auf Weiteres dazu verurteilt, es nach jedem Durchhören um ein Vielfaches mehr zu mögen als vorher, sofern das überhaupt möglich ist. Auf Schultern klopfen und “Sehr gut gemacht!” sagen möchte man hier.

So. Ich freue mich, dergleichen mit Ihnen allen geteilt zu haben! Allerdings kann ich, wie bereits gesagt, nicht garantieren, dass ich in einer leicht anderen Tagesform die ersten fünf Plätze nicht vollkommen anders geordnet hätte. Ich hoffe, Sie verzeihen mir das. Außerdem sollte noch gesagt werden, dass es dieses Jahr auch einige sehr schöne Platten gab, die nicht zu meinen zehn Favoriten gehören, beispielsweise “Bitte Orca” von den Dirty Projectors, die ich noch vor Kurzem intern auf Platz 2 geführt habe. Aber diese Dinge ändern sich schnell, und insofern ist es vielleicht gut, wenn ich wie jedes Jahr nicht möchte, dass sich irgendein Album ärgert oder traurig ist. Deshalb, und weil zehn Ordnungsplätze einfach reichen, rangieren alle übrigen Veröffentlichungen, von denen ich dieses Jahr wohlwollend Kenntnis genommen habe, gleichrangig auf Platz 11. Hoffentlich gibt das kein Gedränge da unten!

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Schreipflicht

Kennen Sie das? Man fährt gemütlich in seinem Dienstwagen an der Spree entlang, hört ein bisschen Radio, und ab und an kriegt man die Scheiben an den Ampeln geputzt. Manchmal sagt man “Nein”, dann machen die Damen und Herren das trotzdem, man gibt fünfzig Cent, kein Problem, schließlich ist man ja Gesundheitsministerin, und schwupps hat man die Zeit vergessen und sitzt irgendwo in Spanien und das Auto ist einem unter dem Allerwertesten weg geklaut worden. So schnell kann’s gehen. Erstmal zum zweiten Thema:

Dienstwagen im Sommerloch – das ist ganz und gar brandgefährlich. Die Gedankenverbindung von “Dienstwagen” zu “Affäre” ist eine der kürzesten überhaupt.

Das steht heute auf Zeit Online und auch im Online-Angebot des “Tagesspiegel”. Man kann jetzt versuchen, sich zu erinnern, wann man das letzte Mal diese kürzeste aller Gedankenbrücken schlagen musste. Und wenn das überraschenderweise noch nie der Fall gewesen sein sollte, setzt man alles daran, die Assoziationskette genuin und neu nachzuverfolgen, aber wenn ich das tue, komme ich von “Dienstwagen” immer nur bei “Benzin” vorbei zu “Tankstelle” und dann vielleicht noch zu “Scheiße, EC-Karte nicht dabei”, aber das ist ja schon eine relativ lange Verbindung. Und wie man von “Scheiße, EC-Karte nicht dabei” so flugs zu “Affäre” kommt, ist mir in dem Zusammenhang eher schleierhaft. Vermutlich ist es eher so, dass da einmal wieder jemand dachte, dass man durch möglichst uneigentlichen Schreibstil besonders leicht zu knüppelharten Aphorismen kommt. Das sei so sicher wie die Rente.

Persönlich, und das muss natürlich nichts heißen, bin ich der Meinung, dass es nicht unbedingt nötig war, so eine Panzerlimousine mit in den Urlaub zu nehmen, aber die paar Tausend Euro hätte man auch ohne Dienstwagen gut anderweitig loswerden können. Muss man sich also nicht drüber aufregen. Aber: Wer bin ich schon, um so eine Behauptung aufzustellen?

Aufregen kann man sich nämlich auch über weit geringere Dinge, womit wir beim eigentlich ersten Thema angelangt wären. Die “Süddeutsche Zeitung” druckt heute (wie an jedem Tag seit 1946) auf ihrer Titelseite die Glosse mit dem Namen “Streiflicht”. Die ist manchmal ziemlich witzig, oft ziemlich bemüht, witzig zu sein und in den gottlob seltensten Fällen irgendwie ein Griff ins Klo. Heute geht es um besagte Fensterputzer an Berliner Ampelkreuzungen:

Bis vor kurzem handelte es sich bei diesen Serviceleuten um Punks. Sie waren sehr freundlich, denn an jeder Kreuzung des Lebens, an der es links zur Anarchie geht und rechts zur Schrankwand aus Eiche, waren sie einfach geadeaus weitergetrottet […]. Lehnte also der gemeine Berliner ihre Offerte ab, etwa mit den Worten “Solange ick dir hierdurch erkennen kann, lässte deine Finger von”, trollten sich die artigen Punks. Was ihre dem Aussehen und Vernehmen nach aus Südosteuropa kommenden Nachfolger nicht tun. Sie wischen trotzdem. Dann halten sie die nasse Hand auf.

Dann wird sich da noch ein bisschen über ein paar Aufkleber ausgelassen und geendet wird mit der unspezifischen Aussage, dass nicht jeder gleich ein Schwein sei, der an der Ampel nein sagt. Zunächst war ich mir nicht so ganz sicher, was ich davon zu halten hatte. Ich kenne leider niemanden persönlich, der sich durch seine finanziellen Umstände irgendwie dazu gezwungen sieht, den halben Tag mit Schwimmfingern auf der Friedrichstraße herumzustehen, aber ich kann mir vorstellen, dass dieser jemand, läse er diese Kolumne, sich ein bisschen fühlen würde wie der, über den man in der achten Klasse gelästert hat, ohne zu bemerken, dass er hinter einem stand. Auf der Titelseite ist das Ding jedenfalls irgendwie frech, auf der Meinungsseite wäre es aufgrund der fehlenden Relevanz sowieso nicht aufgetaucht, und wenn man es in die Panorama-Ecke stellt, wüsste der Leser ja sowieso gleich, was Phase ist. Hätte man man besser abgebügelt.

Dennoch gibt es heute auch eine frohe Botschaft: Die “taz” hat begriffen, dass die Wahrheit manchmal einfach schöner und leichter verdaulich ist als die Wahrheit.

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It’s always raining somewhere

Im Geiste von Harry Rowohlt habe ich mich entschlossen, es folgendermaßen zu sagen: Ich erzähle mal kurz was übers La-Pampa-Festival. Ich habe das inzwischen überall rumerzählt; da sehe ich nicht ein, weshalb ich es ausgerechnet Ihnen nicht auch erzählen soll. Das war’s jetzt aber auch mit dem freien Zitieren.

Über das Festival selbst muss man zumindest Folgendes sagen: Es stehen zwei bis drei Bühnen (die Zahl hängt massiv davon ab, wie die persönliche Definition des Wortes “Bühne” bei den jeweiligen Besuchern beschaffen ist) auf einem Seebad-Gelände am Südostzipfel des Landes Sachsen, in der Nähe von Görlitz, genauer: Hagenwerder bei Görlitz. Um den See herum kann man zelten, unmittelbare Nähe zum Wasser ist hierbei unbedingt empfehlenswert. Denn mit jedem Zentimeter, um den man sich mit dem Zelt vom See entfernt, steigt die ohnehin schon gefährliche Proximität zur anliegenden Gleisanlage. Diese wird zwar nur jede Stunde von einer S-Bahn der ODEG (Ostdeutsche Eisenbahn GmbH – deshalb müsste sie eigentlich ODEGMBH heißen, aber was weiß ich schon?) befahren, ist aber auch nicht mit einem Zaun vom Weg um den See abgetrennt. Wie durch ein Wunder kommt, soviel ich weiß, am ganzen Wochenende niemand dabei ums Leben.

Ich werde jetzt hier nicht chronologisch aufzählen, was alles schief gegangen ist oder schlechter als gedacht funktioniert hat. Das mit dem Wetter, dafür kann ja niemand was, aber wenn es jeden Abend pünktlich um 22 Uhr anfängt, ein piesackendes Bisschen mehr als zu nieseln, macht das aus einem entspannten Konzert von The Notwist am Freitag schon mal eine kleine Hängepartie, vor allen Dingen deshalb, weil an den Stellen der Songs, die aufgrund ihrer steigenden Intensität auch mit mehr Licht untermalt werden, das Ausmaß des Regens erst gut beleuchtet sichtbar wird und man dadurch ganz und gar nicht zum Jubeln und Frohlocken aufgelegt ist.

Irgendwann hat man sich natürlich dran gewöhnt. So um 1 Uhr nachts oder so, da ist man dann halt nass, Leugnen hilft auch nicht mehr. Was dazu führt, dass ich Bonaparte um Viertel vor Drei schon so früh zu meinem persönlichen Festivalhöhepunkt erkläre und mir vornehme, zukünftig mein streng abschätziges Verhältnis zu, pardon, Hüpf- und Springmusik, noch einmal zu überdenken.

Die Nacht findet allerdings leider nicht statt, weil es so laut regnet, dass ich das Gefühl habe, eine Million kleiner Steine fiele auf das Zeltdach. Das wird nur übertroffen von einer Handvoll männlicher Jugendlicher aus dem nahe gelegenen Görlitz-Hagenwerder/Weinhübel, oder wie auch immer das heißt, die einen gefühlten Zentimeter von meinem Ohr entfernt einen unfassbaren Radau machen, unter anderem so geartet, dass mit steigendem Alkoholisierungsgrad die Lautstärke steigt, die Qualität der Witze allerdings rapide absinkt, bis sie bei wahnsinnigunterirdischen Rassismen gegen Polen angekommen sind, bei denen ich eigentlich hoffnungsvoll überzeugt war, dass sie endlich, endlich, endlich einmal aus der Mode kommen würden. Stattdessen schäme ich mich stellvertretend für die gesamte Menschheit und versuche neurotisch, mich in den Schlaf zu wiegeln. Immerhin finde ich ein Oropax, das ich in der Mitte salomonisch zerteile, damit beide meiner Ohren ihre Ruhe kriegen.

Samstag spielen Portugal. The Man in der Hauptsache, und vielleicht noch ClickClickDecker, den/die ich eigentlich sehr gern mag, die aber im Vergleich zum immer noch nachwirkenden großartigen Eindruck von Bonaparte eine eher schwammige und lasche Vorstellung abliefern, mitunter sicher auch deshalb, weil sie sehr leise sind. Andererseits aber auch deshalb, weil ich glaube ich so langsam genug Lieder gehört habe, die am Achtel-Fieber leiden. But that’s just me.

Wenn ich aber nun zusammenfassend ein bisschen zwiegespalten bin und sage, dass ich schon weiß, warum ich kaum auf Festivals gehe, und mein letztes davor mittlerweile schon sechs Jahre her ist (und deshalb notwendig war, weil ich sonst vermutlich nie mehr Radiohead live gesehen hätte, ohne dafür meine Seele für den Ticketpreis zu verkaufen), dann liegt das mit Sicherheit nicht an der Musik, die nämlich, trotz aller bösen Konnotation des Ausdrucks, wenn nicht sehr gut, dann immerhin gut gemeint war. Es liegt vielmehr daran, dass ich noch heute, zwei Tage danach, Ohrenzwicker aus dem Zelt in meinem Zimmer finde. Oder dass ich die Schuhe, die ich dabei hatte, wahrscheinlich wegwerfen muss, nachdem ich versucht habe, mit dem Messer den alten krustigen Schlamm aus den offenen Zwischenräumen zwischen Stoff und Sohle zu entfernen. Und an einem mehr oder weniger fiesen Schnupfen, den ich so gut gebrauchen kann wie ein Loch im Knie.

Zum Schluss noch eine pädagogische Note. Wenn Sie unsicher darüber sind, wie das Wort “Material” richtig ausgesprochen wird, und sich diesbezüglich informieren möchten, halten Sie nicht, ich wiederhole, nicht, unter keinen Umständen, an einem Rasthof in der Nähe von Kosel an der Bundesstraße 99. Egal, wie leer der Tank ist. Es sei denn natürlich, sie wollen für den Rest Ihres Lebens mit einem breiten, aufdringlichen “Mattärjol” auf der Zunge herumlaufen.

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Musik Rundfunk

Something evil’s lurking in the dark.

Angela Merkel ist endlich sicher über den Teich, immerhin ein Grund, kurz erleichtert aufzuatmen und sich eines vagen Gefühls lange nicht mehr verspürter “Sturmfrei!”-Euphorie hinzugeben. Im Zuge dieses nicht kleinen Anteils tagespolitischen Geschehens in dieser Woche diskutiert im Augenblick das RadioEins vom Rundfunk Berlin-Brandenburg mit wahrnehmbarer Erstauntheit darüber, wie viele US-Amerikaner Angela Merkel “tatsächlich nicht kennen”. Das ist, wenn schon nicht dem Wortsinn nach interessant, immerhin etwas, womit man mehrere Minuten leere Sendezeit, über die man sich in der Programmsitzung sicherlich den Kopf zerbrochen hat, einigermaßen elegant füllen kann. Zumindest ohne, dass schon wieder empörte Klagen über die innere Zersetzung des moralischen Gewebes und des kulturellen Gehalts  in den audiovisuellen Medien laut werden. Außerdem wäre es gewiss happiger gewesen, eine Diskussion darüber vom Zaun zu brechen, wie viele US-Amerikaner Michael Jackson “tatsächlich nicht kennen”. Ihn kann man jedenfalls ungemein schwieriger mit der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi verwechseln als Frau Merkel.

Radio hören ist eine nervenzehrende, murmeltierhafte Angelegenheit. Wird man, wie ich, am Arbeitsplatz nachgerade dazu genötigt, stundenlange Berieselungen eines hausinternen Senders hinzunehmen oder möglichst zu ignorieren, ergeben sich zwei Folgen, die in der Kombination einen, wie man so sagt, hochgradig explosiven Cocktail fürs Nervenkostüm darstellen. Erstens: Die unvermeidlichen ungewollten Ohrwürmer. Eine einstündige Heimfahrt in der S-Bahn mit einem quietschenden Mädchen im Gehörgang, das in geradem Rhythmus abwechselnd entweder “ah”, “ah”, oder “dance!” sagt, dauert für die innere Uhr ein halbes Leben und resultiert gerne in verfrühtem Haarausfall auf der Stirnpartie. Glauben Sie mir.

Das andere Phänomen ist, dass diese Göre im Ohr nachhaltig meine Lust auf jedwede Art von Musik für den Rest des Tages vernichtet, im schlimmsten Fall verbringe ich also mein kärgliches Abendessen, das darauffolgende Zähnereinigen und das nicht gar so friedliche Einschlummern mit einer schrillen Stimme im Kopf, die rücksichtslos und beständig darauf insistiert, dass ich doch endlich zu tanzen anfangen möge.

Worauf ich hinaus will: Vor etwa hundertzwanzig Jahren oder so, als ich noch jung war, also vierzehn, fand ich im heimischen Videoschrank, in dem sich sonst Disney-Klassiker tummelten (auch etwas, über das dereinst einmal irgendjemand etwas Tadeliges sagen sollte), eine einzelne unbeschriftete Kassette mit einer dünnen Staubschicht obendrauf. In der pubertären Hoffnung, es möge sich dabei doch bitte um irgend etwas Schmuddeliges halten, oder zumindest um einen altersbeschränkten Actionfilm, zog ich das Band irgendwann in Abwesenheit meiner Eltern aus der Versenkung und legte es in den Player.

Leider befanden sich darauf  weder Action noch Schmuddel, sondern die gesammelten Musikvideos von Michael Jackson, von meinem Vater in mühsamer Kleinarbeit irgendwann in den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kompiliert.  Vermutlich in einer Trotzreaktion auf das enttäuschende Fehlen von aufregenderen Inhalten, und um vielleicht doch noch irgendeinen positiven Effekt aus meinem Fund zu ziehen, schaute ich mir das ganze Band nicht nur einmal an, sondern geschätzte dreißig Mal, über eine Woche verteilt. Am häufigsten von allen Clips sah ich mich gezwungen, das knapp 15-minütige “Thriller” wieder und wieder auf mich wirken zu lassen.

Der buchstäblich einzige Effekt dieser schlimmen, schlimmen Idee war nicht etwa, dass ich ein Jackson-Fan wurde, sondern vielmehr ein fürchterlich hartnäckiger und genauso nervtötender Ohrwurm einer von Vincent Price vorgetragenen Textzeile aus dem Rap-Teil dieses so unheilvollen Liedes: “Creatures crawl in search of blood / To terrorize y’alls’ neighborhood”. Was auf dem Papier so aussieht, als würde es sich reimen, ist in Wahrheit eine schreckliche phonetische Enttäuschung, da lässt sich ja die etwas expressionistische Anwendung der zweiten Person Plural fast unbesehen hinnehmen.

Jedenfalls muss es an dieser textlichen Unfeinheit gelegen haben, dass ich von den Osterferien bis zu den darauffolgenden Pfingstferien des Jahres 1999 brauchte, um diesen vermaledeiten Ohrwurm wieder los zu werden.

Und jetzt, zehn Jahre später? Was würde ich dafür geben, mir sicher sein zu können, heute Nacht von “ah”, “ah” oder “dance!” in den Schlaf gesungen zu werden, anstatt wieder für die nächsten sechs Wochen von Jacko und Price geplagt zu werden? Ich würde sogar öffentlich zugeben, zu den US-Amerikanern zu gehören, die Vincent Price tatsächlich nicht kennen!