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Aaaah, Glückauf

Bochum im Frühling

Als BILD­blog­ger muss man regel­mä­ßig „Bild“ lesen. Um nicht als Vor­zei­ge-Leser zu gel­ten und irgend­wann nament­lich begrüßt zu wer­den, ver­su­che ich, mei­ne Zei­tung immer woan­ders zu kau­fen. Bei uns im Vier­tel gibt es eine Tank­stel­le, einen Aldi, eine Lot­to­an­nah­me­stel­le und ein Büd­chen, die „Bild“ im Sor­ti­ment haben. Ich ver­su­che mich an einem rotie­ren­den Sys­tem, gehe aber trotz­dem am liebs­ten zum Büd­chen.

Das liegt nicht nur am nächs­ten, es hat auch die schöns­te Atmo­sphä­re: Neben Bou­le­vard­zei­tun­gen wer­den dort auch Eis und gemisch­te Tüten ver­kauft. Da ich nicht weiß, ob letz­te­res außer­halb des Ruhr­ge­biets über­haupt bekannt ist, hier eine kur­ze Erklä­rung: In zahl­rei­chen Glas- oder Plas­tik­ge­fä­ßen lagern ver­schie­de­ne Süßig­kei­ten, die einem der Büd­chen-Besit­zer dann nach Wunsch („Drei Frö­sche, vier Sala­mi-Bre­zeln und drei Cola-Kra­cher“) oder nach Pau­scha­le („Eine gemisch­te Tüte für einen Euro, bit­te“) zusam­men­stellt. Das ist zwar teu­rer als im Super­markt, fühlt sich aber bes­ser an.

Schon die knapp 200 Meter zum Büd­chen sind wun­der­bar. An man­chen Com­pu­ter-inten­si­ven Tagen sind sie das ein­zi­ge, was ich von der Außen­welt sehe. Im Moment zeigt sich der Früh­ling von sei­ner knal­ligs­ten Sei­te (Büsche in pink und gelb leuch­ten am Weges­rand) und die Men­schen brin­gen ihre Bal­ko­ne und Vor­gär­ten in Ord­nung. Da wer­den Fens­ter geputzt, Rasen gemäht und Trep­pen geschrubbt.

Vor­hin sah ich eine alte Frau in Kit­tel­schür­ze, die sich mit einem Leder, des­sen Ober­flä­che zu mehr als 50% aus Löchern bestand, und einem Schrub­ber abmüh­te. Kin­der gin­gen von der nahen Grund­schu­le nach hau­se, sag­ten so klu­ge Kin­der­sät­ze wie „Die größ­te Win­ter­zeit war mal in Nor­we­gen. Da waren Minus neu­nen­neun­zich Grad!“ und ein Mäd­chen erin­ner­te mich unfrei­wil­lig an eines mei­ner größ­ten Kind­heits­trau­ma­ta: Mit dem Tor­nis­ter auf dem Rücken hin­fal­len und dann hilf­los wie ein Mai­kä­fer lie­gen blei­ben.

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Die Schere im Kopf

Wenn der Herbst durch das Ruhr­ge­biet streift wie ein zau­se­li­ger Wan­ders­mann und die Bäu­me in Wal­dorf­schul-mäßi­ge Far­ben taucht, dann spü­re ich mei­nen Hang zur Sozi­al­ro­man­tik.

Die Tage ging ich zur U‑Bahn-Sta­ti­on, vor­bei an den Vor­gär­ten der Dop­pel­häu­ser, und sah Haus­frau­en, die vom Ein­kau­fen kamen; Rent­ner, die in ihrer Ein­fahrt Laub zusam­men­kehr­ten, wohl wis­send, dass ihre Arbeit schon wie­der ver­ges­sen sein wür­de, wenn sie den Rechen in den Werk­zeug­schup­pen stel­len wür­den. Ich sah eine alte Frau, die aus ihrem offe­nen Wohn­zim­mer­fens­ter, hin­ter dem die Tages­gar­di­nen im Auf­wind der Hei­zung flat­ter­ten, ein Ver­län­ge­rungs­ka­bel in den Vor­gar­ten gewor­fen hat­te, an das sie nun den Elek­tro­mä­her ihres Gat­ten anschloss, um den letz­ten Rasen­schnitt der Sai­son vor­zu­neh­men – peni­bel genau bis zu der ansons­ten unsicht­ba­ren Grund­stücks­gren­ze, an der auch die Fas­sa­de des Dop­pel­hau­ses von Schie­fer­ver­tä­fe­lung in dun­kel­grü­nen Rauh­putz über­ging. Die Frau grüß­te wort­los und für das mensch­li­che Auge kaum sicht­bar den Post­bo­ten, der auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te Brie­fe aus­trug, ver­mut­lich Anschrei­ben der Bun­des­knapp­schaft, Post­kar­ten der Enkel aus den Herbst­fe­ri­en und viel­leicht die eine oder ande­re Todes­an­zei­ge.

Es roch nach nas­sem Laub, frisch gemäh­tem Rasen und Kohl­rou­la­den, als sich die Son­ne in einem sol­chen Win­kel durch eine schon kah­le Baum­kro­ne brach, dass jeder Maler dies­seits von Monet kopf­schüt­telnd von sei­ner Staf­fe­lei zurück­ge­tre­ten wäre und gewar­tet hät­te, bis es alles ein biss­chen weni­ger kit­schig aus­sieht. Ich ging an der nahe gele­ge­nen Grund­schu­le vor­bei und war bei­na­he froh, kein fröh­lich glu­ckern­des Kin­der­la­chen zu ver­neh­men, weil mir das in die­sem Moment wohl den Rest gege­ben hät­te und ich voll­ends davon über­zeugt gewe­sen wäre, in der 3Sat-Vari­an­te der „Tru­man Show“ mit­zu­spie­len. Nein, die Kin­der saßen, wie es sich gehört, in der Schu­le auf ihren klei­nen Stühl­chen, auf denen sich ihre Eltern beim Eltern­abend immer so komisch zusam­men­fal­ten müs­sen, an ihren klei­nen Tisch­chen und mal­ten hof­fent­lich Bil­der von herbst­li­chen Stra­ßen­zü­gen oder bas­tel­ten aus Kas­ta­ni­en und Zahn­sto­chern klei­ne Männ­chen, die immer wie­der umfal­len wür­den.

Und so ging ich selig lächelnd mei­nes Wegs, trat nicht in die Hun­de­schei­ße und frag­te mich: „War­um zum Hen­ker soll­test Du das jetzt blog­gen?“