Kategorien
Leben Unterwegs

Die Jugend der Weltpresse

Gestern durfte ich beim Jugendmedienevent zwei Seminare unter dem Motto “Web 2.0 – Blogs, Social Networks & Co” leiten. ((Am Titel trifft mich keine Schuld.)) Zweimal 16 Nachwuchsjournalisten unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichsten Vorkenntnissen wollten unterhalten werden und sollten natürlich etwas lernen.

Die erste Gruppe war die pure Wonne: die Jugendlichen ((Genau genommen waren die Ältesten der Gruppe gerade mal zwei Jahre jünger als ich, die Jüngsten aber 14. Es war wohl eher Zufall, dass eine so heterogene Mischung gut ging.)) hatten Interesse am Thema, kannten Portale, von denen ich noch nie gehört hatten, und meldeten sich allesamt bei twitter an, nachdem ich ihnen den Dienst vorgestellt hatte. Sie wirkten angenehm skeptisch und zurückhaltend, was die Angabe persönlicher Daten im Netz anging, und sahen sich die Blogs, die wir uns gemeinsam vornahmen, mit Interesse an. ((Ich hatte wahllos Platzierungen aus den deutschen Blogcharts an die einzelnen Teilnehmer verteilt. Das war insofern spannend, weil ich selber nicht genau wusste, über welche Blogs wir sprechen würden. Dass das System auch Nachteile hat, musste ich feststellen, als ich eine Teilnehmerin zur Auseinandersetzung mit der “Achse des Guten” zwang. Es tut mir aufrichtig leid.))

Die zweite Gruppe erwies sich als sehr viel schwieriger zu knacken: die Frage, warum sie sich für dieses Seminar entschieden hätten, konnte niemand so recht beantworten. Statt halbwegs gleichmäßig verteilter Redeanteile gab es ein paar wenige aktive Teilnehmer ((Und Teilnehmerinnen. Wenigstens mit dem Gerücht, Mädchen würden das Internet nur für die Ansicht von Pferdefotos und das Erstellen von MySpace-Profilen nutzen, sollte an dieser Stelle einmal gründlich aufgeräumt werden.)), ein paar gelangweilte Besserwisser und viel Schweigen. Mit social networks war dieser Gruppe kaum beizukommen: nicht mal die Hälfte war bei einem der Holtzbrinck-Fauzette, kaum jemand bei Facebook und, wenn ich mich recht erinnere, niemand bei MySpace. Diese Menschen interessieren sich vor allem für Blogs.

Einige hätten vorab schon überlegt zu bloggen, wussten aber nicht genau, was, wie oder wo. Das “wo” lässt sich ja recht leicht beantworten (blogger.com, wordpress.com, twoday.net), das “wie” ist mit “(im Rahmen der juristischen Möglichkeiten) einfach drauf los” auch schnell zusammengefasst, das “was” bleibt als zentrale Frage. Als Betreiber eines thematisch völlig offenen Blogs hielt ich den Hinweis für angebracht, dass man sich darüber auf alle Fälle im Vorfeld im Klaren sein sollte. Manchmal habe ich einen etwas merkwürdigen Humor.

Ich weiß nicht, ob es an der Nachmittagszeit lag, die generell träge macht, am gleichzeitig stattfindenden Bundesligaspieltag oder an ganz anderen Gründen, aber das mit der zweiten Gruppe lief nicht so richtig rund. Mitunter hatte ich das Gefühl, zu skeptischen Vertretern meiner Eltern-Generation zu sprechen und nicht zu weltoffenen Jungjournalisten. Andererseits stellten ein paar von ihnen auch wirklich kluge Fragen.

Es war eine interessante Erfahrung, die unter anderem gezeigt hat, dass die fünf Jahre zurückliegende Entscheidung, auf keinen Fall Lehrer werden zu wollen, eine sehr weise war. Wie ich mit Till, der ebenfalls unter den Referenten war ((Das wussten wir vorher nicht. Die Veranstalter wollten vorab keine Referentenlisten herausgeben, weil sie nicht “sicherstellen [konnten], dass jeder damit einverstanden ist”. Entsprechend wussten wohl auch die Teilnehmer vorab gar nicht, mit wem sie das Vergnügen haben würden. Eine wie ich finde eher mittelprächtige Idee.)), später noch diskutierte, sind auch längst nicht alle Leute, die heute jung sind und einen Computer einschalten können, digital natives. Bei einigen besteht das Internet aus der “Dreifaltigkeit” (Till) Google, StudiVZ und Wikipedia. Aber um das zu ändern waren wir ja da.

Mein insgesamt positiver Grundeindruck der Jungjournalisten wurde allerdings heute etwas getrübt, als ich im Blog “Onlinemagazin” zum Jugendmedienevent den Bericht über mein Seminar las: die haben meinen Vornamen falsch geschrieben.

Kategorien
Print Digital

Fischen im Netz

Das Internet hat die Arbeit von Journalisten erheblich vereinfacht: Binnen weniger Sekunden kann man Agenturmeldungen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen (vorausgesetzt, man will), uralte Texte aus obskuren Archiven heraussuchen und per E-Mail Ansprechpartner in aller Welt kontaktieren. Vor allem aber hat man blitzschnell Informationen über junge Leute zur Hand, über die zuvor noch niemand geschrieben hat – außer sie selbst.

Das fiel mir gestern wieder auf, als ich auf der Internetseite des “San Francisco Chronicle” einen Artikel über einen Studenten aus Berkeley las, der am frühen Samstagmorgen erstochen wurde. Schon ohne die Familie des Opfers heimgesucht zu haben, konnten die Autoren am Samstagabend eine einigermaßen lebendige Charakterisierung des Toten abgeben:

Christopher W.*, who loved ’80s music, poker, baseball and football, according to his MySpace page, would have received his undergraduate degree later this month and was going to begin graduate school in nuclear engineering at UC Berkeley in the fall.

[…]

W.* was active in his fraternity, serving as vice president and pledge educator.

“Nobody can have a better set of friends than I do,” he wrote on his MySpace page. “I’m a Sigma Pi for life.”

W.* listed on MySpace the Bible as one of his favorite books and Jesus as one of his top interests.

Among his heroes, he listed “Jesus, my mom, my dad, my big brother, really wise people.”

* Anonymisierung von mir

Exkurs: Dass die Opfer eines Verbrechens (ebenso wie die Täter) meist mit vollem Namen genannt und auf Fotos gezeigt werden, ist im angelsächsischen Journalismus normal. Anders als in Deutschland, wo “Bild” und Konsorten häufig die unrühmliche Ausnahme darstellen, sind die Protagonisten von Kriminalfällen in Großbritannien und den USA oft auch in den sogenannten Qualitätsmedien vollständig identifizierbar. Entsprechend war es leider wenig überraschend, dass BBC und CNN im “Fall Amstetten” zu den ersten Medien gehörten, die Täter und Opfer bei vollem Namen nannten, bevor deutschsprachige Medien nachzogen (lesen Sie dazu auch diesen sehr klugen Einwurf bei medienlese.com). Exkurs Ende.

Doch zurück zum Toten von Berkeley und seinem MySpace-Profil: Immerhin hat man beim “Chronicle” (vorerst) darauf verzichtet, auch Fotos von seiner Seite zu veröffentlichen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie noch zum Einsatz kommen werden, denn nie war es einfacher, an persönliche Bilder und Informationen von Betroffenen zu kommen – “Witwenschütteln”, ganz ohne anstrengende Hausbesuche, bei denen man Gefahr laufen könnte, im Angesicht der Hinterbliebenen doch noch Gewissensbisse zu bekommen.

Als im Januar eine Bielefelder Schülerin beim Skifahren tödlich verunglückte, nutzten “Bild am Sonntag” (s. BILDblog) und RTL (s. Indiskretion Ehrensache) Privatfotos aus dem SchuelerVZ-Profil der Toten zur Illustration ihrer Artikel und Beiträge. Bei SchuelerVZ muss man sich – anders als bei MySpace – erst einmal anmelden, um die Profile der anderen Mitglieder einsehen zu können.

Im März brachte die “New York Times” ein großes Porträt über das Callgirl, das die politische Karriere des New Yorker Gouverneurs Eliot Spitzer beendet hatte – weite Teile stammten aus Telefoninterviews, die die Redakteure mit der jungen Frau geführt hatten, andere Details und Fotos waren direkt ihrer MySpace-Seite entnommen. Patricia Dreyer, “Panorama”-Chefin von “Spiegel Online” und Ex-Unterhaltungschefin bei “Bild”, musste wenig mehr machen, als den “New York Times”-Artikel noch zu übersetzen und mit indirekter Rede zu versehen, um bei “Spiegel Online” einen “eigenen” großen Artikel daraus zu machen. Wieder inklusive aller MySpace-Fotos, die dort plötzlich mit den Quellenhinweisen “AP” und “AFP” versehen waren.

Ende März brachte die “taz” einen längeren Artikel darüber, wie sich “Bild” immer wieder bei StudiVZ bedient und fragte auch in der Pressestelle von StudiVZ nach, wie man dort eigentlich zu dem Thema stehe. Die Antwort fiel wenig überraschend schwammig aus:

Die journalistische Verwertung von Bildern aus StudiVZ ist nicht in unserem Interesse. Das steht auch eindeutig in unseren AGB. Wird dennoch ein Foto von einem unserer Nutzer zu diesem Zweck unautorisiert verwendet, so handelt es sich hierbei um eine Verletzung der Urheberrechte. Der Nutzer kann gegen das entsprechende Medium vorgehen.

Doch noch einmal zurück zum “San Francisco Chronicle”, der – das muss man vielleicht noch mal erwähnen – durchaus zu den amerikanischen Qualitätszeitungen zählt und dessen Redakteure regelmäßig mit Journalismuspreisen geehrt werden: In einem weiteren Artikel auf der heutigen Titelseite werden dort Aussagen vom Bruder des Opfers mit Zitaten aus dem MySpace-Blog des Toten gegenübergestellt. Die Aussage, der Verstorbene sei ein friedlicher und religiöser Mensch gewesen, werden mit hormon- und alkoholgeschwängerten Partygeschichten verschnitten, die für jeden “Chronicle”-Leser drei Mausklicks weit entfernt sind.

Ich muss also meine eigene Meinung zur informationellen Selbstbestimmung, die ich hier schon einmal ausgebreitet habe, etwas einschränken: Zwar glaube ich nach wie vor, dass persönliche Blogeinträge und Partyfotos eines Tages für Personalchefs wieder völlig irrelevant sein werden (einfach, weil es sie von jedem Bewerber und dem Personalchef selbst geben wird), aber es besteht eben immer die Gefahr, unfreiwillig zum Gegenstand pseudo-journalistischer Berichterstattung zu werden.

Ich würde nicht wollen, dass, sollte ich morgen unter einem LKW liegen, die Zeitungen übermorgen mein Leben und Wesen so zusammenfassten: “Lukas mochte, wie er auf seinem MySpace-Profil schrieb, Achtziger-Jahre-Komödien und Musik von Oasis und Phil Collins.”

Nachtrag, 6. Mai: BILDblog gibt Tipps, wie man sich halbwegs gegen die Verwendung von Fotos schützen kann.

Kategorien
Digital Gesellschaft

Scheiß auf Freunde bleiben

Kürzlich fragte ich in die Runde der Dinslakener Schul- und Jugendfreunde, ob und wie sie eigentlich online zu erreichen wären. MySpace, Facebook, LiveJournal, Twitter, last.fm, … – es gäbe da ja zahlreiche Möglichkeiten. Eine der Antworten lautete sinngemäß, derartige Plattformen seien Zeitverschwendung und dienten nur der Ausbreitung des Privatlebens vor den Augen der Weltöffentlichkeit, persönliche Gespräche seien doch viel besser.

Nun kann man natürlich darüber streiten, ob eine solche Aussage nicht eher zu greisen Redakteuren Lesern der “Süddeutschen Zeitung” passe als zu aufgeschlossenen Mittzwanzigern – noch dazu, wenn diese schon aus beruflichen Gründen am Erhalt und Ausbau von Netzwerken interessiert sein sollten. Ich will aber gar nicht darüber urteilen, jeder Mensch soll bitte genau so leben und kommunizieren, wie er es für richtig hält. Ich will auf etwas völlig anderes hinaus: Die Gesellschaft wird sich über kurz oder lang nicht mehr (nur) in alt und jung, arm und reich, oder nach Wohnorten aufteilen, die Grenze wird entlang von “online” und “offline” verlaufen.

Natürlich: Ich verweigere mich ja auch vehement der Nutzung von StudiVZ (seit dem Eintrag sind bei denen noch mal etwa drei Dutzend neue Sündenfälle hinzugekommen). Wer das tut, verschließt sich automatisch einem breiten Teil seiner Altersgenossen, denn wenn jemand von denen online ist, dann bei StudiVZ. Andererseits stellt sich sowieso die Frage, ob man Leute, denen man in der Uni oder gar in der Schule ab und zu “Hallo” gesagt hat, in unregelmäßigen Abständen “Wie geht’s?” fragen und ihnen zum Geburtstag gratulieren sollte, wenn einen die entsprechende Website darauf hinweist. Ich habe Schulfreunde, die nicht bei Google zu finden sind, und zu denen ich seit Jahren keinen Kontakt mehr habe, was ich immerhin aufrichtiger finde, als wenn sie Karteileichen in meinem Facebook-Account wären.

Die meisten Leute, die davon sprechen “im Internet” zu sein, meinen damit ihre E-Mail-Adresse für die ganze Familie bei T-Online, bei der sie einmal in der Woche nach elektronischer Post gucken. Das ist völlig in Ordnung und wer seine Eltern oder gar Großeltern einmal so weit gebracht hat, will ihnen nicht auch noch Usenet, IRC, Instant Messenger und VoIP-Dienste erklären. Als meine Großmutter mir einmal in einem Nebensatz mitteilte, dass sie dieses Blog hier lese, hätte ich fast meinen Kaffee gegen den Fernseher über den Tisch geprustet.

Außenstehenden zu erklären, worum es sich beim Barcamp Ruhr oder der re:publica handelte, wird schwieriger, je tiefer man in der Materie drin ist. Zwar konnte ich gerade noch so erklären, was ein Startup ist (“ein junges Unternehmen im Internet”), aber die Frage nach Twitter hätte ich nicht beantworten wollen – geschweige denn die Frage, was man denn davon überhaupt habe.

Während die große Mehrheit an Leuten im Internet höchstens Nachrichten “Spiegel Online” liest, befasst sich ein kleiner Kreis von Leuten mit immer schneller wechselnden Spielzeugen. Aus der Mode gekommene Sachen sind heute nicht mehr “so 2000”, sondern “so März 2008”. Das, was ich mittlerweile doch ganz gerne “Web 2.0” nenne, ist selbst für viele Leute, die in Webforen und ähnlichen 1.0-Gebilden aktiv sind, oft genug noch terra incognita.

Ich war selbst lange Zeit skeptisch, was viele dieser Dinge angeht, habe aber mit der Zeit gemerkt, dass es gar nicht wehtut, Social Networks zu nutzen, zu twittern oder zu Treffen (pl0gbar, Barcamp, re:publica) hinzugehen. So habe ich über das Web 2.0 neue Leute kennengelernt und sogar neue Freunde gefunden. Mein Bekanntenkreis gliedert sich zunehmend in On- und Offliner, wobei ich mit ersteren fast täglich in Kontakt stehe, mit letzteren meist nur noch zu Weihnachten.

Kategorien
Politik Gesellschaft

“Nazi!” – “Selber!”

Beinahe wöchentlich erschüttert ein neuer “Nazi-Skandal” die Öffentlichkeit. Kaum jemand kann noch den Überblick behalten, wer gerade wieder versehentlich oder absichtlich etwas gesagt hat, was “halt nicht geht”.

Das Dienstleistungsblog Coffee And TV hat sich deshalb bemüht, einen historischen Abriss der skandalösesten Skandale und der empörenswertesten Entgleisungen zusammenzustellen, der selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will:

  • 1979 Als Franz Josef Strauß im Wahlkampf mit Eiern und Tomaten beworfen wird, vergleicht sein Wahlkampfleiter Edmund Stoiber das Verhalten der Menschen mit dem der “schlimmsten Nazi-Typen in der Endzeit der Weimarer Republik”.
  • September 1980 In “Konkret” erscheint ein Artikel von Henryk M. Broder, der glaubt, bei einer Artistiknummer im “Circus Roncalli” eine “faschistische Ästhetik” und den Hitlergruß beobachtet zu haben.
  • 15. Juni 1983 Heiner Geißler (CDU) sagt in einer Sicherheitsdebatte im Bundestag: “Ohne den Pazifismus der 30er Jahre wäre Auschwitz überhaupt nicht möglich gewesen.”
  • 15. Juli 1982 Oskar Lafontaine äußert sich über die “Sekundärtugenden” von Bundeskanzler Helmut Schmidt, mit denen “man auch ein KZ betreiben” könne.
  • 25. April 1983 Der “Stern” präsentiert auf einer Pressekonferenz die angeblichen Tagebücher Adolf Hitlers, die sich zehn Tage später als Fälschung erweisen. Die Chefredaktion muss zurücktreten, Reporter Gerd Heidemann und Fälscher Konrad Kujau werden zu Haftstrafen verurteilt.
  • 1985 Alt-Kanzler Brandt sagt, Heiner Geißler sei “seit Goebbels der schlimmste Hetzer in unserem Land.”
  • 15. Oktober 1986 In einem Interview mit “Newsweek” vergleicht Helmut Kohl die PR-Fähigkeiten des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow mit denen von Joseph Goebbels.
  • 17. Oktober 1988 In einem Artikel in der “taz” bezeichnet der freie Mitarbeiter Thomas Kapielski ein Disco als “Gaskammervoll”. Nach wochenlangen Leserprotesten werden die zuständigen Redakteurinnen entlassen.
  • 10. November 1988 Bundestagspräsident Philipp Jenninger hält eine Rede über das “Faszinosum” des Nationalsozialismus und muss nach öffentlichen Protesten seinen Rücktritt erklären.
  • 10. Dezember 1988 Wiglaf Droste überschreibt einen Artikel in der “taz” über Wolfgang Neuss mit “Trauerarbeit macht frei”. Die Leserbriefe treffen waschkörbeweise in der Redaktion ein.
  • 6. April 1994 Das für den 20. April geplante Fußballländerspiel Deutschland – England im Berliner Olympiastadion wird nach Protesten abgesagt.
  • 10. Februar 1997 In Florida herrscht ein betrunkener Harald Juhnke einen farbigen Wachmann an: “Du dreckiger N[*****], bei Hitler wäre so etwas vergast worden.”
  • Mai 1997 Bei einem Gastspiel in Israel unterschreibt ein Bassist der Deutschen Oper eine Hotelrechnung mit “Adolf Hitler”.
  • Juni 1998 Nokia wirbt mit dem Slogan “Jedem das Seine” für austauschbare Handycover. Nach Protesten wird die Kampagne eingestellt.
  • 11. Oktober 1998 Martin Walser hält in der Frankfurter Paulskirche seine “Moralkeulen”-Rede, für die er von Ignatz Bubis langanhaltend kritisiert wird.
  • Februar 1999 Nach dem Rauswurf von Trainer Horst Ehrmantraut sagt der Eintracht-Frankfurt-Spieler Jan-Age Fjörtoft laut Sportdirektor Gernot Rohr: “Vorher war es Hitlerjugend, jetzt ist es korrekt.”
  • 1. Februar 2001 Nicola Beer, FDP-Abgeordnete im hessischen Landtag, sieht den Unterschied zwischen den “Putzgruppen”, denen Joschka Fischer früher angehört hat, und Neonazis “nur darin, dass die Putztruppen damals mit Turnschuhen im Wald unterwegs waren und dass die heute Springerstiefel anhaben.”
  • 12. März 2001 Bundesumweltminister Jürgen Trittin sagt über den kahlköpfigen CDU-Generalsekretär, dieser habe “die Mentalität eines Skinheads und nicht nur das Aussehen”.
  • März 2002 Jamal Karsli, damals Grünen-Abgeordneter im NRW-Landtag veröffentlicht eine Presseerklärung mit der Überschrift “Israelische Armee wendet Nazi-Methoden an!” Kurz darauf verlässt er die Grünen und wird von Jürgen W. Möllemann kurzzeitig in die FDP-Fraktion geholt.
  • 13. Mai 2002 Im FAZ-Feuilleton schreibt Patrick Bahners über die fehlende Regierungserfahrung des FDP-Kanzlerkandidaten Guido Westerwelle: “Der letzte deutsche Kanzler, den nur das Charisma des Parteiführers empfahl, war Adolf Hitler.” FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper fordert vergeblich eine Entschuldigung.
  • 13. August 2002 Weil er sich vom Rasenmähen seiner Nachbarn belästigt fühlt, bezeichnet der Liedermacher Reinhard Mey diese als “Gartennazis”.
  • 29. August 2002 Wie der “Spiegel” berichtet, habe Helmut Kohl Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem privaten Gespräch als “schlimmsten Präsidenten seit Hermann Göring” bezeichnet.
  • September 2002 Nach einer wochenlangen Antisemitismusdebatte mit Michel Friedman veröffentlicht Jürgen W. Möllemann wenige Tage vor der Bundestagswahl ein Flugblatt, auf dem er Friedman und Ariel Sharon scharf angreift. Dem Parteiausschluss kommt er im März 2003 durch einen Austritt zuvor.
  • 18. September 2002 Herta Däubler-Gmelin vergleicht die Politik George W. Bushs mit der Adolf Hitlers.
  • 11. Dezember 2002 Roland Koch bezeichnet die Reichen-Kritik von Ver.di-Chef Frank Bsirske als “eine neue Form des Sterns auf der Brust”.
  • 2. Juli 2003 Im Europäischen Parlament schlägt Silvio Berlusconi den deutschen SPD-Abgeordneten Martin Schulz “für die Rolle des Lagerchefs” in einem Spielfilm über Konzentrationslager vor.
  • 3. Oktober 2003 Bei einer Rede zum Tag der deutschen Einheit hantiert der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann mit dem Begriff “Tätervolk” in der Nähe zu “den Juden” und wird im folgenden Jahr aus der Partei ausgeschlossen.
  • 30. August 2004 Auf dem selbstbetitelten Album der Libertines erscheint ein Song namens “Arbeit Macht Frei”. Da Pete Doherty aber noch nicht der “Skandal-Rocker” und “(Ex-)Freund von Kate Moss” ist, ist dieser Umstand keine Meldung wert.
  • 15. Dezember 2004 In Hessen dürfen Ordnungsämter “Ordnungspolizei” heißen. Da der Begriff schon für die Dachorganisation der Polizei im Nationalsozialismus verwendet wurde, kommt es zu Protesten und schließlich zur Auflösung der Behörde.
  • 6. Januar 2005 Der Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner vergleicht Abtreibungen mit den Verbrechen von Hitler und Stalin.
  • 13. Januar 2005 Der britische Prinz Harry erscheint in einer Nazi-Uniform auf einem Kostümball.
  • 13. Mai 2005 Der bayrische Wissenschaftsminister Thomas Goppel bezeichnet nach einer Rede das Verhalten protestierender Studenten als “Hinweis auf die Intoleranz, die uns damals in das Schlamassel gebracht haben”.
  • 12. Juli 2005 SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler vergleicht den CDU-Slogan “Sozial ist, was Arbeit schafft” mit der KZ-Inschrift “Arbeit macht frei”.
  • 16. September 2005 Weil CDU-Abgeordnete die Rede eines SPD-Abgeordneten mit Zwischenrufen stören, vergleicht Sigmar Gabriel deren Verhalten mit dem der Nazis.
  • September 2005 Dieter Thomas Heck vergleicht Angela Merkels Rhetorik mit der Adolf Hitlers.
  • 24. Februar 2006 Weil er einen jüdischen Journalisten mit einem KZ-Aufseher verglichen hatte, wird der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone für vier Wochen vom Dienst suspendiert.
  • 17. August 2006 Bei einem Testspiel in Italien formen kroatische Fußballfans auf der Tribüne ein Hakenkreuz.
  • November 2006 Der StudiVZ-Gründer Ehssan Dariani verschickt eine Geburtstagseinladung im Stile des “Völkischen Beobachters”.
  • 9. Februar 2007 Ein “Bild”-Leser entdeckt in Google Earth den Schriftzug “Nazi Germany” bei Berlin.
  • 9. Februar 2007 Die RTL-Wohnungsverschönerin Tine Wittler erwirkt eine einstweilige Verfügung gegen einen Trailer für die fiktive Sendung “Tine Hitler: Einmarsch in vier Wänden” bei Comedy Central (“täglich von 19.33 Uhr bis 19.45 Uhr”).
  • 14. März 2007 Bei einer internen Untersuchung stellt die Frankfurter Polizei fest, dass sich Personenschützer von Michel Friedman gerne mit Nazi-Symbolen präsentierten.
  • 11. April 2007 In seiner Trauerrede auf Hans Filbinger bezeichnet Günther Oettinger den früheren Marinerichter als “Gegner des NS-Regimes”.
  • 6. September 2007 Bei einer Buchvorstellung äußert sich Eva Herman umständlich und missverständlich über die Familienpolitik im Nationalsozialismus und wird vom NDR gefeuert.
  • 14. September 2007 Im Kölner Dom warnt Joachim Kardinal Meisner: “Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kult im Ritualismus und die Kultur entartet.”
  • 9. Oktober 2007 Bei einem Auftritt in der Show von Johannes B. Kerner verheddert sich Eva Herman abermals in rhetorischen Fußangeln, als sie von Hitlers Autobahnen spricht. Es ist ihr letzter Fernsehauftritt bis heute.
  • 20. Oktober 2007 Bischof Walter Mixa fühlt sich durch Äußerungen von Claudia Roth “in erschreckender Weise an die Propaganda-Hetze der Nationalsozialisten gegen die Katholische Kirche und ihre Repräsentanten” erinnert.
  • 25. Oktober 2007 In der ersten Sendung von “Schmidt & Pocher” kommt ein “Nazometer” zum Einsatz, das für Proteste sorgt.
  • 7. November 2007 Wolfgang Schäuble sagt im Hinblick auf die Massenklage gegen die Vorratsdatenspeicherung: “Wir hatten den ‘größten Feldherrn aller Zeiten’, den GröFaZ, und jetzt kommt die größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten.”
  • 27. Dezember 2007 Will Smith spekuliert über Adolf Hitlers Morgengedanken.
  • 20. Januar 2008 Guido Knopp fühlt sich durch einen Vortrag von Tom Cruise an die Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels erinnert.
  • 23. Januar 2008 “Bild” veröffentlicht ein Video, das DJ Tomekk mit erhobenem rechten Arm und beim Singen der ersten Strophe des “Deutschlandlieds” zeigt.
  • 30. Januar 2008 In der ProSieben-Quizshow “Nightloft” sagt Moderatorin Juliane Ziegler “Arbeit macht frei”. Am nächsten Morgen trennt sich der Sender von ihr.
  • 31. Januar 2008 In Rio de Janeiro verbietet ein Gericht den Einsatz eines Karnevalswagens mit übereinander gestapelten Holocaust-Opfern und eines Tänzers im Hitlerkostüm beim Karnevalszug.

Mit Dank an Niels W. für die indirekte Anregung und Stefan N. für die Unterstützung bei der Recherche.

Unter Zuhilfenahme von agitpopblog.org, FAZ.net und der Politikwissenschaftler an der FU Berlin.

Kategorien
Digital Gesellschaft

Warum ich meine Brüste bei MySpace zeige

Manche Dinge sind nur schwer zu erklären: die Abseitsregel angeblich, der Erfolg von Modern Talking oder alles, was mit dem sogenannten Web 2.0 zu tun hat. Wer einmal versucht hat, seinen Großeltern das Konzept eines Blogs oder gar die Funktionsweise von Twitter zu erklären, kennt danach alle Metaphern und Synonyme der deutschen Sprache.

Zu den Dingen, die für Außenstehende (aber nicht nur für die) unverständlich erscheinen, gehört die Bereitschaft junger Menschen, privateste Dinge im World Wide Web preiszugeben. Bei MySpace, Facebook, LiveJournal, StudiVZ und ähnlichen Klonen teilen sie theoretisch der ganzen Welt ihr Geburtsdatum, ihre Schule und ihre sexuelle Orientierung mit und bebildern das Ganze mit jeder Menge Fotos, auf denen sie – wenn man der Presse glauben schenken darf – mindestens betrunken oder halbnackt sind, meistens sogar beides.

In der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” von gestern war ein großer Artikel von Patrick Bernau zu dem Thema – interessanterweise im Wirtschaftsteil. Dort geht es hauptsächlich um die personalisierten Werbeanzeigen, die StudiVZ, Facebook und die “Hallo Boss, ich suche einen besseren Job!”-Plattform Xing zum Teil angekündigt, zum Teil eingeführt und zum Teil schon wieder zurückgenommen haben. Bernau montiert die Auskunftsfreudigkeit der User gegen die Proteste gegen die Volkszählung vor zwanzig Jahren, er hätte aber ein noch größeres scheinbares Paradoxon finden können: die Proteste gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Gelegentlich frage ich mich selbst, warum ich einerseits so entschieden dagegen bin, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im Juli nachgucken könnten, wen ich gestern angerufen habe (sie brauchen nicht nachzugucken: niemanden), ich aber andererseits bei diversen Plattformen und natürlich auch hier im Blog in Form von Urlaubsfotos (also Landschaftsaufnahmen), Anekdoten und Meinungen einen Teil meines Lebens und meiner Persönlichkeit einem nicht näher definierten Publikum anbiete. Aber erstens halte ich Auskünfte über meine Lieblingsbands und -filme oder die Tatsache, dass ich Fan von Borussia Mönchengladbach bin, für relativ unspektakulär (ich drücke diese Präferenzen ja auch durch das Tragen von entsprechenden T-Shirts öffentlich aus), und zweitens gebe ich diese Auskünfte freiwillig, ich mache von meinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung Gebrauch.

Wenn also beispielsweise die Juso-Hochschulgruppe Bochum auf einem Flugblatt angesichts der personalisierten Werbung im Web 2.0 fragt:

Muss der Staat eingreifen? Wie weit darf die “Marktwirtschaft 2.0” gehen?

und dann auch noch “SchnüffelVZ” und Vorratsdatenspeicherung bei einer Podiumsdiskussion gemeinsam behandeln will, weiß ich schon mal, welcher Liste ich bei der Wahl zum “Studierendenparlament” nächste Woche meine Stimme nicht gebe. ((Nicht, dass nach der großen Geldverbrennungsaktion des Juso-AStAs noch die Gefahr bestanden hätte, diesem Haufen mein Vertrauen auszusprechen, aber doppelt hält besser.))

Ich habe ein wenig Angst, wie die FDP zu klingen, aber: Die Mitgliedschaft in der Gruschelhölle oder beim Freiberufler-Swingerclub Xing ist freiwillig, niemand muss dort mitmachen, niemand muss dort seine Daten angeben. Sie ist darüberhinaus aber auch kostenlos (Xing gibt’s gegen Bares auch als Premium-Version, aber das soll uns hier nicht stören) und wird dies auf lange Sicht nur bleiben können, wenn die Unternehmen über die Werbung Geld verdienen. Und warum personalisierte Werbung effektiver (und damit für den Werbeflächenvermieter ertragreicher) ist, erklärt der “FAS”-Artikel in zwei Sätzen:

Wenn zum Beispiel nur die angehenden Ingenieure die Stellenanzeigen für Ingenieure bekommen, bleiben die Juristen von den Anzeigen verschont. Wenn ein beworbenes Rasierwasser schon zur Altersgruppe passt, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es dem Nutzer tatsächlich gefällt.

Ob ich nun nach der einmaligen postalischen Bestellung bei einem Musikinstrumentenversand unaufgefordert die Probeausgabe einer Musikerzeitschrift im Briefkasten habe, oder ein wenig automatisch erzeugte Digitalwerbung auf meinem Monitor, macht qualitativ kaum einen Unterschied. Wenn mich das nervt oder mir meine hinterlegten Daten zu ungeschützt erscheinen, kann ich mich ja bequem zurückziehen – dann allerdings sollte ich auch die Möglichkeit haben, meine Daten Rückstandslos entfernen zu lassen, diese Mindesterwartung habe ich an den Plattform-Anbieter.

Wir brauchen also viel weniger einen staatlichen Eingriff (obwohl die Vorstellung, dass Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im Fernsehen erklären soll, was denn so ein “social network” ist, durchaus einen erheblichen Trash-Charme hat) und viel mehr Medienkompetenz. Die kommt freilich nicht von selbst, wie man auch am Super-RTL-Kritiker Günther “Scheiß Privatfernsehen!” Oettinger sehen kann. Medienkompetenz könnte auch nicht verhindern, dass von ein paar Millionen Computerspielern und Horrorfilm-Zuschauern zwei, drei Gestörte auf die Idee kommen, das Gesehene nachzuahmen, aber sie könnte Jugendliche wenigstens so weit bringen, dass diese das Für und Wider von Betrunken-in-Unterwäsche-im-Internet-Fotos abwägen könnten.

Aber auch bei dem Thema sehe ich noch Verständnisschwierigkeiten: Wenn Mädchen und junge Frauen in ihren Fotogalerien bei MySpace oder Facebook Bikini- oder Unterwäschebilder von sich reinstellen, heißt das ja noch lange nicht, dass sie von einer Karriere im Pornogeschäft träumen, wie es für manche Beobachter aussehen mag. Zwar lässt sich bei ein paar Millionen Mitgliedern nicht ausschließen, dass darunter auch ein paar Perverse sind, aber die Bilder dienen ja ganz anderen Zwecken: sich selbst zu zeigen ((Und ich höre mich mit bebender Stimme rufen: “Wir sollten in Zeiten von Magerwahn froh sein, wenn unsere Töchter so zufrieden mit ihrem Körper sind, dass sie ihn im Internet zeigen!”)) und den Herren in der peer group gefallen.

Nacktfotos von sich selbst hat bestimmt jede zweite Frau, die heute zwischen 18 und 30 ist, schon mal gemacht – mindestens, denn die Digitaltechnik vereinfacht auch hier eine Menge. Ob sie die ins Internet stellt und vielleicht sogar bei SuicideGirls oder ähnlichen Seiten Karriere macht ((Ich finde SuicideGirls ziemlich spannend und sehe darin eine geradezu historische Möglichkeit weiblicher Selbstbestimmung, doch das vertiefen wir ein andermal.)), sollte sie natürlich auch vor dem Hintergrund der angestrebten Berufslaufbahn (“Frollein Meier, mein großer Bruder hat sie nackt im Internet gesehen!”), ihres Selbstverständnisses und des Risikos der Belästigung gut abwägen. In jeder Kleinstadt gibt es ein Fotostudio, das im Schaufenster mit schwarz-weißen Aktfotos irgendeiner Dorfschönheit wirbt – diese Bilder sind oft von geringer künstlerischer Qualität und sind Lehrern, Nachbarn und gehässigen Mitschülern oft viel leichter zugänglich als MySpace-Fotos.

Auch Bilder von Alkoholgelagen gibt es, seit die erste Kleinbildkamera auf eine Oberstufenfahrt mitgenommen wurde. Ob Kinder ihren betrunkenen Vater mit Papierkorb auf dem Kopf im Wandschrank einer Münchener Jugendherberge ((Ich habe eine blühende Phantasie, müssen Sie wissen.)) nun zum ersten Mal sehen, wenn er zum fünfzigsten Geburtstag von seinen Alten Schulfreunden ein großes Fotoalbum bekommt ((Alles ausgedacht!)), oder sie die Fotos jederzeit im Internet betrachten können, ist eigentlich egal. Nicht egal ist es natürlich, wenn die Abgebildeten ohne ihre Einwilligung im Internet landen oder die Bilder jemandem zum Nachteil gereichen könnten.

Doch auch das wird auf lange Sicht egal werden, wie Kolumnist Mark Morford letztes Jahr im “San Francisco Chronicle” schrieb:

For one thing, if everyone in Generation Next eventually has their tell-all MySpace journals that only 10 friends and their therapist are forced to read, then soon enough the whole culture, the entire workforce will mutate and absorb the phenomenon, and it will become exactly no big deal at all that you once revealed your crazy love of pet rats and tequila shooters and boys’ butts online, because hell, everyone revealed similar silliness and everyone saw everyone else’s drunken underwear and everyone stopped giving much of a damn about 10 years ago.

Es wird zukünftigen Politikern vermutlich nicht mehr so gehen wie Bill Clinton, der irgendwann mit nicht-inhalierten Joints konfrontiert war, oder Joschka Fischer, dessen Steinwurf-Fotos nach über dreißig Jahren auftauchten: Über wen schon alles bekannt (oder zumindest theoretisch zu ergoogeln) ist, der muss keine Enthüllungen oder Erpressungen fürchten. Auch die Bigotterie, mit der Menschen, die ihre eigenen Verfehlungen geheimhalten konnten, anderen dieselben vorhalten, könnte ein Ende haben. Und das Internet könnte über Umwege tatsächlich zur Gleichmachung der Gesellschaft beitragen.

Nachtrag 16. Januar: Wie es der Zufall so will, hat sich “Frontal 21” dem Thema gestern angenommen. Wenn man die übliche Weltuntergangsstimmung und die Einseitigkeit der Expertenmeinungen ausklammert, ist es ein recht interessanter Beitrag, den man sich hier ansehen kann.

Kategorien
Digital Politik Gesellschaft

Hot Turkey

An mehrere meiner zahlreichen E-Mail-Adressen ging im Laufe des Tages eine E-Mail mit dem Betreff “AN ALLE TUERKEN: Lasst den Jungen (Marco) frei. Euer Tourstik-Aufschwung ist in Gefahr. DIE EU-MITGLIEDSCHAFT AUCH”. Die E-Mail ist von sieben, mir unbekannten Personen unterschrieben, und ich soll sie an “alle TUERKEN”, die ich kenne, “oder Leute, die aus diesem Land kommen oder dort Urlaub machen wollen” weiterleiten. Es geht (natürlich) um den in der Türkei inhaftierten deutschen Schüler Marco W., dem vorgeworfen wird, eine 13jährige Britin missbraucht zu haben, und darin steht unter anderem folgendes:

Seid Ihr noch ganz normal, einen 17 Jahre alten Jungen einzusperren, nur
weil er eine junge Frau kennengelernt hat?
Das Gesetz ist doch nur geschaffen worden, damit es zu keinen Zwangsehen
kommt. Aber deshalb muss man doch
keinen 17 Jahre alten Jungen, der in Eurem Land Urlaub macht, monatelang
einsperren. Und das noch bei Euren
miserablen Haftbedingungen? DAS IST UNMENSCHLICH! SCHLUSS DAMIT. SOFORT!

Ein Unding in einer zivilisierten Welt, die Euch noch leid tun wird, wenn
nicht bald Schluss damit ist!

(Katastrophale Zeilenumbrüche übernommen)

Hui, da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll!

Versuchen wir es mal so: Nachdem anfangs von einem “Urlaubsflirt”, dann von einer “Knutscherei” die Rede war, hat inzwischen offenbar auch Marco W. “sexuelle Kontakte” eingeräumt. Damit hätte sich Marco W., wie im Lawblog ausgeführt wird, auch in Deutschland strafbar gemacht – auch wenn das Bundesjustizministerium offenbar Gegenteiliges verlautbaren lässt.
Dafür, dass “das Gesetz” nur geschaffen wurde, “damit es zu keinen Zwangsehen kommt”, findet sich in der gesamten Berichterstattung zu der Geschichte kein einziger Anhaltspunkt. Ich bin kein Experte für türkische Gesetze, möchte aber annehmen, dass sich ein solches Detail wenigstens in einem Teil der Artikel wiedergefunden hätte.
Auch will mir der Hinweis “der in Eurem Land Urlaub macht” nicht so ganz einleuchten: Soll die türkische Polizei etwa davon absehen, Touristen zu inhaftieren, weil die ja so nett sind, das Geld ins Land zu bringen, oder was?
Kommen wir zu den Haftbedingungen: Die sind, nach allem (nun ja: fast allem), was man liest, in der Tat “miserabel” – aber wohl für alle Gefangenen. Wenn die (sicherlich berechtigte) Aufregung darüber dazu führen würde, dass sich jetzt ein paar Hundert Leute bei Amnesty International engagieren, wäre das ein positives Signal, das man dem ganzen Fall abgewinnen könnte – ich glaube aber leider nicht daran.

Natürlich darf man Mitleid mit einem 17jährigen haben, der in einem fremden Land ins Gefängnis gesteckt worden ist. Ich will auch nicht über Schuld, Unschuld, moralische Vorstellungen oder gar den vermeintlichen Tathergang diskutieren.
Aber an diesem Fall wundert mich doch so einiges:

  • Warum dauerte es nach der Festnahme des Jungen am 11. April über zwei Monate, bis der Fall letzte Woche in der deutschen Presse ankam?
  • Wie würde die deutsche Bevölkerung, die deutsche Presse reagieren, wenn sich der türkische Außenminister Abdullah Gül lautstark für die Freilassung eines türkischen Staatsbürgers in Deutschland, dem ähnliches vorgeworfen wird, aussprechen würde?
  • Wo war Frank-Walter Steinmeier, als das letzte Mal ein deutscher Staatsbürger unter extremen Bedingungen im Ausland inhaftiert war? Oh, Moment, das wissen wir ja …
  • Welchen Zweck sollen solche E-Mails erzielen?

Womöglich stehen die Absender dieser beginnenden Kettenmail Marco W. nahe. Sie haben natürlich das Recht, besorgt und verzweifelt zu sein. Sie haben aber kein Recht, Halb- und Unwahrheiten zu verbreiten, und diffuse Drohungen (“die Euch noch leid tun wird”) auszustoßen.

Und wie immer, wenn Menschen mit Internetanschluss besorgt sind und irgendwas tun wollen, wird es auch diesmal nur eine Frage der Zeit bleiben, bis es dazu eine StudiVZ-Gruppe geben wird …

Nachtrag 28. Juni, 00:58 Uhr: Carsten Heidböhmer ruft in seinem Kommentar bei stern.de zu weniger Hysterie in Sachen Türkei (und Polen) auf. Sollte man gelesen haben.

Nachtrag 29. Juni, 18:35 Uhr: Bei mein Ding ist man weniger optimistisch/naiv als ich:

Das kommt mir vor wie ein Ablenkungsmanöver, um den Anschein zu erwecken, es sei ein Appell von Freunden des Inhaftierten.

Kategorien
Digital Leben

Ich gehöre nicht dazu

Vergangene Woche wurde ich von meinem besten Freund, den ich seit meinem ersten Tag am Gymnasium kenne (damals wollte ich ihm eine reinhauen), gefragt, warum ich denn immer noch nicht beim StudiVZ angemeldt sei. Da seien doch schließlich fast all unsere Freunde und Bekannten aus Schulzeiten und man könne so doch super in Kontakt bleiben. Ich erging mich in einem halbstündigen Vortrag, den ich – weil ich die Argumente einmal beisammen hatte – hier Auszugsweise wiedergeben will:

Persönliche Daten
Ich weiß, dass meine Daten im Internet nirgendwo wirklich sicher sind. Trotzdem würde ich sie nur äußerst ungern nie bei einem Anbieter hinterlegen, der schon mehrfach durch Sicherheitsmängel aufgefallen ist und in seinen “Datenschutzerklärungen” andeutet, möglicherweise meine Privatkorrespondenzen lesen zu wollen. Ferner schreckt es mich ab, wenn in den AGBs eine “vom Betreiber nach billigem Ermessen festzusetzende […] Vertragsstrafe” in den Raum gestellt wird, die “auf erstes Anfordern an den Betreiber zu zahlen” sei. Diese würde bei penibler Auslegung der AGBs zum Beispiel fällig, wenn nicht “alle von ihm [dem Nutzer] gegenüber dem Betreiber angegebenen persönlichen Daten der Wahrheit entsprechen” – ich also beispielsweise meine Körpergröße oder Augenfarbe (keine Ahnung, ob man die im Profil angeben kann, ich kann ja von außen nicht mal probeweise reingucken) nicht korrekt angebe.

Die Macher
Manchen Jungunternehmern steigt es zu Kopf, wenn sie plötzlich mit Geldsummen zu tun haben, die ihre Eltern in einem ganzen Leben harter und ehrlicher Arbeit nicht ansparen können. Manchen von ihnen entgleitet irgendwann alles. Ehssan Dariani, einer der drei StudiVZ-Gründer, benimmt sich hingegen nur wie die Axt im Walde: Er verfügt über eine recht eigentümliche Auffassung von “Satire” und Frauen. Das kann man natürlich als persönliche Erziehungsdefizite abtun, für mich hingegen ist klar, dass ich mit solchen Leuten so wenig wie möglich zu tun haben möchte.

Die Grundidee
Das Medium heißt Internet und eine seiner Stärken ist, dass man damit ganz schnell Kontakte knüpfen kann – weltweit eben. Wozu brauche ich da eine Plattform, die sich an die “Randgruppe” (etwas mehr als 2% Anteil an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik) deutschsprachiger Studenten richtet, wenn es Portale für alle gibt? Klar: Es gibt auch Fan-Foren für Tokio Hotel und Newsgroups für Kernphysiker. Das sind noch kleinere Zielgruppen. Aber bei denen sehe ich wenigstens ein, warum die unter sich bleiben wollen.
Ich habe aber generell ein Problem mit In-Kontakt-bleiben- und Neue-Leute-Kennenlernen-Plattformen: Wenn sich meine früheren Mitschüler für mich interessieren würden, wäre es ein Leichtes für sie, meine E-Mail-Adresse herauszufinden (falls sie die nicht eh hätten) oder mich über meine Eltern zu kontaktieren. Die, äh: geringe Anzahl von Kontaktaufnahmen seit unserem Abitur vor fünf Jahren lässt für mich den Schluss zu, dass das Interesse so groß nicht sein kann. Jede “Und was machst Du jetzt so?”-Botschaft im StudiVZ wäre also genauso albern wie ein Klassentreffen. Mit den Mitschülern, die wirkliche Freunde waren, stehe ich auch heute noch in (unregelmäßigem, aber herzlichen) Kontakt – auch ohne StudiVZ.
Und wieso sollte ich online Kommilitonen adden, mit denen ich im Seminarraum kein Wort spreche? Ganz extrem wird das dann an Geburtstagen: Wenn mir jemand gratuliert, möchte ich mir wenigstens vorstellen können, dass er dies tut, weil ich ihm etwas bedeute und er sich deshalb das Datum gemerkt oder aufgeschrieben hat. Ich habe sehr gute Freunde, die bis heute nicht wissen, wann ich mein Wiegenfest begehe, und das ist für mich völlig okay. Aber wenn mir Wild- und Halbfremde gratulieren, nur weil ihnen ein Computerprogramm automatisch mitteilt, dass sie dies zu tun hätten, fühle ich mich wie ein Kind, dessen Großeltern an Weihnachten den korrekten Namen vom Geschenkpapier ablesen müssen. Außerdem sollte ein Gespräch nicht schon mit dem Dank des Jubilars für die Glückwünsche enden, weil man sich sonst nichts zu sagen hat.

Die Übersättigung
Ich habe je einen Account bei ICQ und Skype; bin bei jetzt.de, last.fm, MySpace, xing.com und Livejournal angemeldet; kann bei Amazon, eBay und im iTunes Store einkaufen und treibe mich mehr oder weniger regelmäßig in mindestens einem Dutzend Blogs, Webforen und Newsgroups rum. Ich habe keinen Nerv mehr, mir noch einen Usernamen ausdenken zu müssen, nur weil mein Standardnick schon vergeben ist. Ich weiß, dass jegliche Sorgen zum Datenschutz längst absurd sind: Sollte ich morgen mein Gedächtnis verlieren, kann ich mir alles Wissenswerte (und sehr viel Unwichtiges) über meine Person im Internet zusammensuchen.
Mit nur 23 Jahren hat sich bei mir eine gewisse Technikmüdigkeit eingestellt und will gar nicht mehr wissen, was Twitter, Meebo und Seekfreed sind.
Trotzdem kommt alle paar Monate irgendwas daher, von dem ich nie dachte, dass ich es brauchen würde, was mich aber fesselt und fasziniert.

Für StudiVZ gilt aber das, was ich meinem Freund gleich zu Beginn meiner Tirade sagte: “Ich melde mich da an dem Tag an, an dem ich ein Bild-Zeitungs-Abo abschließe und mir einen Ken-Follett-Roman kaufe.”