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Stille Gefängnispost (Teil 2)

Die­ser Ein­trag ergibt nur nach der Lek­tü­re des ers­ten Teils Sinn. Wenn über­haupt.

Ich weiß nicht, ob man bei „Spie­gel Online“ heu­te über­haupt noch zum Arbei­ten gekom­men ist. War es mir ges­tern weder tele­fo­nisch noch per E‑Mail mög­lich gewe­sen, eine Stel­lung­nah­me zum „Fal­ten-Fritzl-Fall“ (Chef­re­dak­teur Rüdi­ger Ditz) zu bekom­men, gin­gen heu­te eini­ge E‑Mails von spiegel.de-Adressen bei mir ein. Gut, ein Teil davon waren Abwe­sen­heits­no­ti­zen, aber Rele­van­tes war auch dabei.

Chef­re­dak­teur Rüdi­ger Ditz selbst ant­wor­te­te am Nach­mit­tag und erklär­te, man gehe der Sache gera­de nach. Um 18:12 Uhr kam dann eine E‑Mail der Pan­ora­ma-Che­fin Patri­cia Drey­er.

Sie schrieb (wie auch im Ursprungs­ar­ti­kel steht), dass man nach Sich­tung der „Mirror“-Nachricht Kon­takt mit dem (angeb­li­chen) Zitat­ge­ber Oberst­leut­nant Huber-Günst­ho­fer auf­ge­nom­men habe. Der habe die Fra­ge, ob er mit dem „Mir­ror“ gespro­chen habe, ver­neint (was ja als gesi­cher­te Erkennt­nis gel­ten darf).

Gegen­über „Spie­gel Online“ habe Herr Huber-Günst­ho­fer gesagt, er kön­ne die „Geschich­te mit der Creme“ nicht bestä­ti­gen. Auf mei­ne Fra­ge, ob Herr Fritzl denn um Haut­creme gebe­ten habe, hat­te der Oberst­leut­nant ja geant­wor­tet, er habe die Creme gegen­über der „Kro­nen­zei­tung“ als Bei­spiel erwähnt. Was er genau zum Repor­ter der „Kro­nen­zei­tung“ gesagt hat, ist also wei­ter ein wenig unklar.

Und dann beging „Spie­gel Online“ einen klei­nen, aber ent­schei­den­den Feh­ler, der mir genau­so hät­te pas­sie­ren kön­nen:

Aus die­ser Aus­kunft Herrn Huber-Günst­ho­fers uns gegen­über zogen wir den Schluss, dass er sich nicht wie im „Mir­ror“ zitiert geäu­ßert hat­te.

Ob er mit ande­ren Medi­en über das The­ma Fritzl und Fal­ten­creme gespro­chen habe, haben wir Herrn Huber-Günst­ho­fer nicht gefragt.

Die Glei­chung „Mir­ror-Zitat falsch = Mir­ror-Zitat erfun­den“ lag ein­fach auf der Hand. Wer hät­te auch auf die Idee kom­men kön­nen, dass das „Mirror“-Zitat eine etwas holp­ri­ge Über­set­zung eines über­geig­ten „Kronenzeitung“-Zitats war?

Nun gut, „Spie­gel Online“ hät­te auf die Idee kom­men kön­nen:

Wir haben dar­auf­hin den „Mir­ror“ kon­tak­tiert, wo wir die Aus­kunft erhiel­ten, man habe die Infor­ma­ti­on einer Agen­tur­mel­dung ent­nom­men.

Und?

Wir haben kei­nen Ver­such unter­nom­men, die­se „Agen­tur­mel­dung“ selbst in Augen­schein zu neh­men, da uns nach den Äuße­run­gen des Herrn Huber-Günst­ho­fer belegt schien, dass die Mel­dung des „Mir­ror“, Fritzl ver­lan­ge nach einer Anti-Fal­ten­creme, so nicht stimm­te.

Mist!

In ihrer E‑Mail schrieb Frau Drey­er, es sei „ohne Zwei­fel ein Ver­säum­nis“, dass man den Arti­kel der „Kro­nen­zei­tung“ nicht gekannt habe. Das hät­te ande­rer­seits schon fast kri­mi­na­lis­ti­schen Ein­satz erfor­dert, denn selbst in der Agen­tur­mel­dung von Cen­tral Euro­pean News (CEN), wo man die Mel­dung aus der „Kro­nen­zei­tung“ für den eng­lisch­spra­chi­gen Markt über­setzt hat­te, fehl­te jeder Hin­weis auf die „Kro­ne“. Und in den Medi­en, die die Infor­ma­tio­nen von CEN wei­ter­ver­brei­te­ten und flei­ßig Details dazu erfan­den, fehl­te jeder Hin­weis auf CEN.

Nach Anga­ben von Frau Drey­er war­tet man bei „Spie­gel Online“ im Moment auf eine Ant­wort, von wel­chem „Gefäng­nis­ver­ant­wort­li­chen“ sich CEN die Zita­te hat­te bestä­ti­gen las­sen.

Für uns war Herr Huber-Günst­ho­fer heu­te bis Stand Absen­dung die­ser Mail nicht zu errei­chen.

Unter­des­sen hat „Spie­gel Online“ den Vor­spann des Tex­tes gekürzt und den Arti­kel mit fol­gen­der Anmer­kung ver­se­hen:

Anmer­kung der Redak­ti­on: SPIEGEL ONLINE hat eine zunächst in die­sem Arti­kel publi­zier­te For­mu­lie­rung, „Neu­ig­kei­ten“ über Fritzl wür­den „erfun­den“, ent­fernt.

Quel­le der vom „Mir­ror“ publi­zier­ten Agen­tur­mel­dung war offen­bar ein Bericht in der öster­rei­chi­schen „Kro­nen­zei­tung“, der gegen­über Erich Huber-Günst­ho­fer angeb­lich bestä­tig­te, Fritzl habe nach einer Haut­creme ver­langt – was er SPIEGEL ONLINE gegen­über aller­dings demen­tier­te.

Bleibt die Fra­ge, wel­che Rele­vanz eigent­lich die Beschaf­fen­heit der Haut des „Inzest-Mons­ters aus Amstet­ten“ („Bild“) hat. Und war­um Mel­dun­gen über ihn (es) offen­bar immer den Umweg über das Aus­land neh­men müs­sen.

[Fort­set­zung folgt bestimmt …]

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Fischen im Netz

Das Inter­net hat die Arbeit von Jour­na­lis­ten erheb­lich ver­ein­facht: Bin­nen weni­ger Sekun­den kann man Agen­tur­mel­dun­gen auf ihren Wahr­heits­ge­halt über­prü­fen (vor­aus­ge­setzt, man will), uralte Tex­te aus obsku­ren Archi­ven her­aus­su­chen und per E‑Mail Ansprech­part­ner in aller Welt kon­tak­tie­ren. Vor allem aber hat man blitz­schnell Infor­ma­tio­nen über jun­ge Leu­te zur Hand, über die zuvor noch nie­mand geschrie­ben hat – außer sie selbst.

Das fiel mir ges­tern wie­der auf, als ich auf der Inter­net­sei­te des „San Fran­cis­co Chro­nic­le“ einen Arti­kel über einen Stu­den­ten aus Ber­ke­ley las, der am frü­hen Sams­tag­mor­gen ersto­chen wur­de. Schon ohne die Fami­lie des Opfers heim­ge­sucht zu haben, konn­ten die Autoren am Sams­tag­abend eine eini­ger­ma­ßen leben­di­ge Cha­rak­te­ri­sie­rung des Toten abge­ben:

Chris­to­pher W.*, who loved ’80s music, poker, base­ball and foot­ball, accor­ding to his MySpace page, would have recei­ved his under­gra­dua­te degree later this month and was going to begin gra­dua­te school in nuclear engi­nee­ring at UC Ber­ke­ley in the fall.

[…]

W.* was acti­ve in his fra­ter­ni­ty, ser­ving as vice pre­si­dent and pledge edu­ca­tor.

„Nobo­dy can have a bet­ter set of fri­ends than I do,“ he wro­te on his MySpace page. „I’m a Sig­ma Pi for life.“

W.* lis­ted on MySpace the Bible as one of his favo­ri­te books and Jesus as one of his top inte­rests.

Among his heroes, he lis­ted „Jesus, my mom, my dad, my big brot­her, real­ly wise peo­p­le.“

* Anony­mi­sie­rung von mir

Exkurs: Dass die Opfer eines Ver­bre­chens (eben­so wie die Täter) meist mit vol­lem Namen genannt und auf Fotos gezeigt wer­den, ist im angel­säch­si­schen Jour­na­lis­mus nor­mal. Anders als in Deutsch­land, wo „Bild“ und Kon­sor­ten häu­fig die unrühm­li­che Aus­nah­me dar­stel­len, sind die Prot­ago­nis­ten von Kri­mi­nal­fäl­len in Groß­bri­tan­ni­en und den USA oft auch in den soge­nann­ten Qua­li­täts­me­di­en voll­stän­dig iden­ti­fi­zier­bar. Ent­spre­chend war es lei­der wenig über­ra­schend, dass BBC und CNN im „Fall Amstet­ten“ zu den ers­ten Medi­en gehör­ten, die Täter und Opfer bei vol­lem Namen nann­ten, bevor deutsch­spra­chi­ge Medi­en nach­zo­gen (lesen Sie dazu auch die­sen sehr klu­gen Ein­wurf bei medienlese.com). Exkurs Ende.

Doch zurück zum Toten von Ber­ke­ley und sei­nem MySpace-Pro­fil: Immer­hin hat man beim „Chro­nic­le“ (vor­erst) dar­auf ver­zich­tet, auch Fotos von sei­ner Sei­te zu ver­öf­fent­li­chen. Es ist nicht unwahr­schein­lich, dass sie noch zum Ein­satz kom­men wer­den, denn nie war es ein­fa­cher, an per­sön­li­che Bil­der und Infor­ma­tio­nen von Betrof­fe­nen zu kom­men – „Wit­wen­schüt­teln“, ganz ohne anstren­gen­de Haus­be­su­che, bei denen man Gefahr lau­fen könn­te, im Ange­sicht der Hin­ter­blie­be­nen doch noch Gewis­sens­bis­se zu bekom­men.

Als im Janu­ar eine Bie­le­fel­der Schü­le­rin beim Ski­fah­ren töd­lich ver­un­glück­te, nutz­ten „Bild am Sonn­tag“ (s. BILD­blog) und RTL (s. Indis­kre­ti­on Ehren­sa­che) Pri­vat­fo­tos aus dem Schue­lerVZ-Pro­fil der Toten zur Illus­tra­ti­on ihrer Arti­kel und Bei­trä­ge. Bei Schue­lerVZ muss man sich – anders als bei MySpace – erst ein­mal anmel­den, um die Pro­fi­le der ande­ren Mit­glie­der ein­se­hen zu kön­nen.

Im März brach­te die „New York Times“ ein gro­ßes Por­trät über das Call­girl, das die poli­ti­sche Kar­rie­re des New Yor­ker Gou­ver­neurs Eli­ot Spit­zer been­det hat­te – wei­te Tei­le stamm­ten aus Tele­fon­in­ter­views, die die Redak­teu­re mit der jun­gen Frau geführt hat­ten, ande­re Details und Fotos waren direkt ihrer MySpace-Sei­te ent­nom­men. Patri­cia Drey­er, „Panorama“-Chefin von „Spie­gel Online“ und Ex-Unter­hal­tungs­chefin bei „Bild“, muss­te wenig mehr machen, als den „New York Times“-Artikel noch zu über­set­zen und mit indi­rek­ter Rede zu ver­se­hen, um bei „Spie­gel Online“ einen „eige­nen“ gro­ßen Arti­kel dar­aus zu machen. Wie­der inklu­si­ve aller MySpace-Fotos, die dort plötz­lich mit den Quel­len­hin­wei­sen „AP“ und „AFP“ ver­se­hen waren.

Ende März brach­te die „taz“ einen län­ge­ren Arti­kel dar­über, wie sich „Bild“ immer wie­der bei Stu­diVZ bedient und frag­te auch in der Pres­se­stel­le von Stu­diVZ nach, wie man dort eigent­lich zu dem The­ma ste­he. Die Ant­wort fiel wenig über­ra­schend schwam­mig aus:

Die jour­na­lis­ti­sche Ver­wer­tung von Bil­dern aus Stu­diVZ ist nicht in unse­rem Inter­es­se. Das steht auch ein­deu­tig in unse­ren AGB. Wird den­noch ein Foto von einem unse­rer Nut­zer zu die­sem Zweck unau­to­ri­siert ver­wen­det, so han­delt es sich hier­bei um eine Ver­let­zung der Urhe­ber­rech­te. Der Nut­zer kann gegen das ent­spre­chen­de Medi­um vor­ge­hen.

Doch noch ein­mal zurück zum „San Fran­cis­co Chro­nic­le“, der – das muss man viel­leicht noch mal erwäh­nen – durch­aus zu den ame­ri­ka­ni­schen Qua­li­täts­zei­tun­gen zählt und des­sen Redak­teu­re regel­mä­ßig mit Jour­na­lis­mus­prei­sen geehrt wer­den: In einem wei­te­ren Arti­kel auf der heu­ti­gen Titel­sei­te wer­den dort Aus­sa­gen vom Bru­der des Opfers mit Zita­ten aus dem MySpace-Blog des Toten gegen­über­ge­stellt. Die Aus­sa­ge, der Ver­stor­be­ne sei ein fried­li­cher und reli­giö­ser Mensch gewe­sen, wer­den mit hor­mon- und alko­hol­ge­schwän­ger­ten Par­ty­ge­schich­ten ver­schnit­ten, die für jeden „Chronicle“-Leser drei Maus­klicks weit ent­fernt sind.

Ich muss also mei­ne eige­ne Mei­nung zur infor­ma­tio­nel­len Selbst­be­stim­mung, die ich hier schon ein­mal aus­ge­brei­tet habe, etwas ein­schrän­ken: Zwar glau­be ich nach wie vor, dass per­sön­li­che Blog­ein­trä­ge und Par­ty­fo­tos eines Tages für Per­so­nal­chefs wie­der völ­lig irrele­vant sein wer­den (ein­fach, weil es sie von jedem Bewer­ber und dem Per­so­nal­chef selbst geben wird), aber es besteht eben immer die Gefahr, unfrei­wil­lig zum Gegen­stand pseu­do-jour­na­lis­ti­scher Bericht­erstat­tung zu wer­den.

Ich wür­de nicht wol­len, dass, soll­te ich mor­gen unter einem LKW lie­gen, die Zei­tun­gen über­mor­gen mein Leben und Wesen so zusam­men­fass­ten: „Lukas moch­te, wie er auf sei­nem MySpace-Pro­fil schrieb, Acht­zi­ger-Jah­re-Komö­di­en und Musik von Oasis und Phil Coll­ins.“

Nach­trag, 6. Mai: BILD­blog gibt Tipps, wie man sich halb­wegs gegen die Ver­wen­dung von Fotos schüt­zen kann.