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Musik

Songs 10/​25

Like Roses covern Cher (und wie!), Haim brin­gen einen Bonus­track mit Bon Iver raus, Tay­lor Swift singt über Holz, Ash klin­gen zusam­men mit Blur-Gitar­rist (und Blog-Namens­ge­ber) Gra­ham Coxon wie Weezer, The Moun­tain Goats haben sich Ver­stär­kung in Form von „Hamilton“-Erfinder Lin-Manu­el Miran­da geholt, Brock­hoff chan­nelt die hal­ben 90er (also: den musi­ka­lisch guten Teil), Hem haben ihr Debüt­al­bum „Rab­bit Songs“ remas­te­red — und noch so viel mehr tol­le Sachen!

Hört ein­fach rein:

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In memoriam Franz Josef Wagner

Die Nach­richt vom Tode Franz Josef Wag­ners hat mich trau­rig gemacht.

Noch im Juli hat­te ich in der „Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung“ über ihn geschrie­ben und dar­über, wie er im Alter eher nach­denk­li­cher, offe­ner und inter­es­sier­ter wur­de als umge­kehrt.

Zu sei­nem Geden­ken lese ich Wag­ners viel­leicht bes­ten Text — zwei­fel­los aber einen der bemer­kens­wer­tes­ten Brie­fe an eine Kuh, der je in einer deut­schen Tages­zei­tung gedruckt wur­de:

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Nach­trag, 18.48 Uhr: Ich hab bei Über­me­di­en noch ein biss­chen mehr über Wag­ner geschrie­ben.

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Musik

Songs 9/​25

Wie schnell so ein Jahr ver­geht, merkt man vor allem, wenn man für jeden Monat ein Mix­tape zusam­men­stellt. Jetzt ist 2025 also zu drei Vier­teln durch. Okay.

Ich hof­fe, die Musik hilft:

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Fernsehen Digital

Less Than Zero

Die ARD wird beim deut­schen Vor­ent­scheid zum ESC 2026 nicht mit Ste­fan Raab koope­rie­ren. Das hat der Sen­der­ver­bund ges­tern der Deut­schen Pres­se Agen­tur (dpa) bestä­tigt.

„Spie­gel Online“ nahm die­se Mel­dung unter einer Über­schrift auf, die so rät­sel­haft, refe­ren­zi­ell und fremd­spra­chig ist, dass ich für einen Moment dach­te, ich hät­te sie viel­leicht geschrie­ben:

ESC-Vorentscheid ohne Star-Moderator: Next year from public broadcasting, zero points to Stefan Raab

Der Text schließt mit die­sem Absatz:

Der Vorentscheid soll Ende Februar im Ersten ausgestrahlt werden. Der nächste ESC steigt im Mai 2026 in Wien. Wenn alles glattläuft, gibt es nicht so häufig »zéro point pour l'Allemagne«

Der letz­te Satz ist Quatsch.

In den bald 70 Jah­ren des ESC hat es vie­le unter­schied­li­che Voting-Ver­fah­ren gege­ben und das aktu­el­le, das seit 2016 gilt, ist tat­säch­lich ein biss­chen unüber­sicht­lich, des­we­gen erklä­re ich es gern noch ein­mal in Ruhe: Zunächst wird der Rei­he nach in die Teil­neh­mer­län­der (die­ses Jahr: 37) geschal­tet, wo eine soge­nann­te spo­kesper­son die Jury­punk­te aus dem jewei­li­gen Land bekannt gibt — und zwar nament­lich nur für das Land, das zwölf Punk­te erhal­ten hat; der Rest (1–8 und 10 Punk­te) wird ein­ge­blen­det. Danach ver­le­sen die Moderator*innen die akku­mu­lier­ten Publi­kums­punk­te für jedes ein­zel­ne Land — und zwar in der umge­kehr­ten Rei­hen­fol­ge des Jury-Ergeb­nis­ses.

Die­ses Jahr hat­te Island kei­nen ein­zi­gen Jury­punkt bekom­men, war also als ers­tes mit den Publi­kums­punk­ten dran:

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Nun ist es mög­lich, dass ein Land kei­nen ein­zi­gen Publi­kums­punkt bekommt (was nicht bedeu­tet, dass nie­mand für die­ses Land abge­stimmt hat, son­dern dass es nir­gend­wo auch nur ein­mal in die Top 10 des Publi­kums gekom­men ist, denn jedes Land gibt immer nur den belieb­tes­ten zehn Songs/​Acts/​Ländern Punk­te). In die­sem, für alle Betei­lig­ten unschö­nen, Fall müs­sen die Moderator*innen dann so etwas sagen wie: „Coun­try XY, we’­re sor­ry, but you recei­ved zero points!“. Es fol­gen kurz fas­sungs­lo­se Stil­le, dann Buh­ru­fe, dann fre­ne­ti­scher Auf­mun­te­rungs­ap­plaus. (Ich weiß, wovon ich spre­che, ich saß 2021 in der deut­schen Kom­men­ta­to­ren­ka­bi­ne in der Ahoy Are­na von Rot­ter­dam, als vier Län­der in Fol­ge null Punk­te beka­men.)

Für Deutsch­land ist der Fall der öffent­lich ver­kün­de­ten null Publi­kums­punk­te in neun Jah­ren bis­her erst zwei­mal ein­ge­tre­ten: 2019 und 2021.

Dass man „häu­fig »zéro point pour l’Al­le­ma­gne«“ hören könn­te, ist beim aktu­el­len Voting-Ver­fah­ren aus­ge­schlos­sen, denn des­sen Pro­ze­de­re führt dazu, dass es pro Song Con­test maxi­mal exakt ein Mal vor­kom­men kann, dass ein Land „zero points“ erhält. Übri­gens aus­schließ­lich auf Eng­lisch.

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Leben Gesellschaft

Am Lehrgutautomaten

Nach dem Sieg der deut­schen Mann­schaft im Fina­le der Bas­ket­ball-Euro­pa­meis­ter­schaft der Her­ren über­kam mich ges­tern Abend – nicht zum ers­ten Mal – die Fra­ge, was zum Hen­ker eigent­lich der Begriff „Unter­pfand“ aus­drü­cken soll, der da in der deut­schen Natio­nal­hym­ne so herr­lich sper­rig her­um­steht.

Die­ses Mal hab ich ein­fach gegoo­gelt und die meis­ten pro­mi­nent plat­zier­ten Such­ergeb­nis­se bezo­gen sich expli­zit auf die Fra­ge, was die­ses Wort in der Hym­ne aus­drü­cken soll.

Die Inter­net­sei­te der Gesell­schaft für deut­sche Spra­che erschien mir eine ange­mes­sen seriö­se Quel­le zu sein. Aller­dings ließ mein Ver­trau­en in den Erklär­text ins­ge­samt deut­lich nach, als ich das hier las:

Gerade im Kontext eines internationalen Turniers wie einer Fußballmeisterschaft oder einer Olympiade ist der Ausdruck interessant, da er mit ähnlicher Bedeutung in zahlreichen anderen Sprachen existiert:

Eine „Olym­pia­de“ ist der Zeit­raum zwi­schen zwei Olym­pi­schen Spie­len. Ich weiß das seit der sechs­ten Klas­se, als es mir Herr Lehr­feld in einer Ver­tre­tungs­stun­de erklärt hat, aber ich wür­de sagen, dass man es nicht zwin­gend wis­sen muss, wenn man nicht gera­de als Sportreporter*in arbei­tet — oder halt für die Gesell­schaft für deut­sche Spra­che.

Die Gesell­schaft für deut­sche Spra­che hät­te es aller­dings auch leicht nach­le­sen kön­nen. Zum Bei­spiel auf ihrer eige­nen Web­site.

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Musik

Songs 8/​25

Wenn es doch nur irgend­wel­che Lied­zi­ta­te gäbe, die beschrei­ben, wie schnell so ein August dann auch wie­der vor­bei ist. Naja. Die Schu­le hat wie­der begon­nen, der Som­mer dreht ein paar Abschluss­run­den — und ich hab ziem­lich viel zu tun.

Trotz­dem sollt Ihr natür­lich Euer monat­li­ches Mix­tape bekom­men. Wie es der Zufall will, sind dies­mal eini­ge mei­ner abso­lu­ten Lieb­lings-Acts dar­auf: Ben Folds hat ein paar Songs für das „Peanuts“-Musical bei Apple TV+ geschrie­ben; Jack’s Man­ne­quin haben zum 20. Jubi­lä­um ihres Debüt­al­bums eine EP ver­öf­fent­licht, die fünf Songs von „Ever­y­thing In Tran­sit“ ent­hält, die nur mit Gesang, Kla­vier, Strei­chern und Per­cus­sion ein­ge­spielt wur­den; Demi Lova­to beginnt, nach­dem sie ihre Dämo­nen mit reich­lich Punk-Pop aus­ge­trie­ben hat­te, eine neue Power­pop/EDM-Ära; Maro hat eine Akus­tik-EP ver­öf­fent­licht (und das zau­ber­haf­te nie­der­län­di­sche Duo Lumi, mit dem sie im letz­ten Jahr auf Tour war, hat damit sei­nen ers­ten offi­zi­el­len Release); Her­bert Grö­ne­mey­er ist für den Moment auch ganz akus­tisch und dann bringt Car­ly Rae Jep­sen auch noch eine Spe­cial Edi­ti­on ihres Albums „Emo­ti­on“ raus, die eini­ge bis­her unver­öf­fent­lich­te Tracks ent­hal­ten wird.

Ich sag mal so: Viel Spaß damit!

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Politik Gesellschaft

They Knew She Was Trouble.

Vor­her lau­fen Songs von Tay­lor Swift. Ich bin wahn­sin­nig schlecht im Schät­zen von Men­schen­men­gen, aber es mögen schon an die 300 Leu­te sein, die da in der Bochu­mer Innen­stadt auf dem Dr.-Ruer-Platz, benannt nach einem frü­he­ren jüdi­schen Ober­bür­ger­meis­ter, der von den Nazis in den Sui­zid getrie­ben wur­de, in der pral­len Mit­tags­son­ne ste­hen und war­ten.

Fast scheint es denk­bar, dass das alles, die Musik und das über­wie­gend jun­ge Publi­kum, nur hier ist, damit die Lokal­pres­se spä­ter schrei­ben kann, Hei­di Rei­chin­nek sei „emp­fan­gen wor­den wie ein Pop­star“. Und tat­säch­lich hat die 37-Jäh­ri­ge, seit der Bun­des­tags­wahl Gesicht und Stim­me der Lin­ken, das Wir­ken jun­ger, erfolg­rei­cher Frau­en in der Pop­kul­tur beob­ach­tet und ver­stan­den, wäh­rend man beim Rest der bun­des­deut­schen Poli­tik immer das Gefühl hat, irgend­wo zwi­schen Andre­as Gabal­li­er, Heinz-Rudolf Kun­ze und The Boss­Hoss rum­zu­grün­deln. Zumal, seit Robert Habeck, der Her­bert Grö­ne­mey­er der Poli­tik, das Gebäu­de ver­las­sen hat.

Ein Mann wirft klei­ne Tüt­chen in die Men­ge; für einen Moment ist unklar, ob es sich um Gum­mi­bär­chen oder Kon­do­me han­delt. Es sind Gum­mi­bär­chen. Wenn sie vegan sind, könn­te sich Ulf Pos­ch­ardt trotz­dem empö­ren. Wenn sie nicht vegan sind, wür­den die Fans – und so kann man die Aller­meis­ten hier wohl bezeich­nen – sicher­lich ein Auge zudrü­cken.

Das Publi­kum ist natür­lich so, wie man es sich an einem Werk­tag in den Schul­fe­ri­en um 13:30 vor­stellt: Sehr vie­le jun­ge Men­schen, aber nicht nur Schüler*innen. Es gibt sie noch, die schwar­zen Punk-Ruck­sä­cke mit vie­len But­tons dran; dazu vie­le Hips­ter aus dem Ehren­feld oder der Speck­schweiz, die aus­strah­len, dass sie es zeit­lich ein­rich­ten konn­ten, den Co-Working-Space oder Third-Wave-Cof­fee­shop vor­über­ge­hend zu ver­las­sen; dazu die erwart­ba­ren Veteran*innen von Hof­gar­ten, Start­bahn West und Wackers­dorf.

Bevor es wirk­lich los­ge­hen kann, bit­tet Rats­mit­glied Horst Hoh­mei­er dar­um, Ret­tungs­we­ge frei­zu­hal­ten und sich „mehr in die Mit­te zu ori­en­tie­ren“. Ent­schul­di­gung, wir sind doch hier, weil das mit der Mit­te zuletzt eher als Holz­weg erschien?!

Dann, end­lich: Der erwar­te­te Auf­tritt. Hei­di­ma­nia, in der Nach­bar­stadt erwä­gen sie schon die Umbe­nen­nung in Rei­chin­nek­kir­chen. Rats­kan­di­dat Batı­kağan Pulat, der mit Hei­di (sie möch­te geduzt wer­den und nach 30 Jah­ren Klum ist es ja wirk­lich an der Zeit, sich den Kin­der­buch­klas­si­ker­na­men mal zurück­zu­ho­len) auf die Büh­ne kommt, ruft ent­zückt: „Ihr seid so sweet, hier ist so viel Lie­be. Mega!“, und ich — nun, ich bin 41 Jah­re alt und hier nur bedingt die Ziel­grup­pe.

Heidi Reichinnek und Batıkağan Pulat auf einer Wahlkampfveranstaltung der Linken auf dem Dr.-Ruer-Platz in Bochum am 21. August 2025 (Foto: Lukas Heinser)

Auch Hei­di ist natür­lich „geflasht“ und kom­pli­men­tiert das Publi­kum in jetzt wirk­lich per­fek­ter Pop­star-Aneig­nung: „Sowohl die Son­ne als auch Ihr blen­det!“ Vor ihr auf dem Platz zwin­kert ein Pla­kat der Lin­ken für die Kom­mu­nal­wahl der Gen‑Z freund­schaft­lich zu: „Geht Wäh­len, ihr Mäu­se“. Ich bin ein biss­chen ver­un­si­chert (und habe eh eine irra­tio­na­le Angst, dass Susan­ne Daub­ner an jedem noch so abge­le­ge­nen Ort plötz­lich auf­tau­chen und „Crin­ge, Dig­ger!“ sagen könn­te), möch­te mich aber vehe­ment nicht wie Tho­mas Gott­schalk füh­len und wäh­ne mich daher mit­ge­meint.

Sie freue sich, hier zu sein, erklärt Hei­di, würzt die­se Politiker*innen-Klischee-Äußerung aber mit einem Rund­um­schlag gegen den Nah­ver­kehr in NRW, die­se Acht-Bit-Simu­la­ti­on exis­tie­ren­der Infra­struk­tur, der auch wech­seln­de Ver­kehrs­mi­nis­ter und läs­si­ge Social-Media-Stra­te­gien der ca. 200 ver­schie­de­nen Nah­ver­kehrs­an­bie­ter nichts von ihrer abscheu­li­chen Unter­durch­schnitt­lich­keit neh­men kön­nen. Bei ihr ist es nur ein Halb­satz, aber es ist ein sehr emo­tio­na­les The­ma, bei dem sie mich sofort hat.

Schnell singt sie noch das Lob­lied des Ruhr­ge­biets; Malo­chertum, Struk­tur­wan­del. Es erin­ne­re sie hier an ihre Hei­mat im Osten, sagt sie, weil es da ähn­lich aus­sä­he, und das durch­aus wohl­wol­len­de Publi­kum ist jetzt für einen Moment wirk­lich ver­un­si­chert, ob das irgend­wie als Kom­pli­ment durch­ge­hen kann und wenn ja, als ein toxi­sches.

Es wür­de abso­lut nie­mand erwar­ten und auch gar nicht pas­sen, aber: Hei­di Rei­chin­nek hält hier kei­ne Bier­zelt­re­de. Per Social Media hat­te man im Vor­feld Fra­gen mit den Schwer­punk­ten Bochum und Jun­ge Leu­te ein­rei­chen kön­nen, von denen Batı­kağan jetzt eine Aus­wahl vor­liest. Das ist natür­lich dop­pelt cle­ver, bringt es doch Nähe und geht gleich­zei­tig auf Num­mer Sicher, denn nie­mand ist so doof, im Jahr 2025 noch ein Mikro­fon ins Publi­kum zu hal­ten — noch dazu bei einer Kli­en­tel, wo die Stim­mung zwi­schen zwin­gend not­wen­di­ger Kri­tik an der israe­li­schen Regie­rung von Ben­ja­min Netan­ja­hu und stump­fem Anti­se­mi­tis­mus, der aber natür­lich „anti­ko­lo­ni­al“ und „auf­klä­re­risch“ gele­sen wer­den möch­te, schwankt. Vor mir steht ein ca. 15-jäh­ri­ges Mäd­chen in einem T‑Shirt, des­sen schlich­te Sym­bo­lik eigent­lich nur so ver­stan­den wer­den kann, dass sie die Abschaf­fung Isra­els zuguns­ten eines Paläs­ti­nen­ser­staats for­dert. So unschön wie all­täg­lich die­ser Tage.

Es soll also bit­te nicht um geo­po­li­ti­sche Groß­the­men gehen, die lösen zu kön­nen wol­len schon die unend­li­che Schlicht­heit eines Donald Trump erfor­dert. Statt­des­sen: Wie kann man Jugend­li­che davon abhal­ten, rechts­ra­di­kal zu wer­den? Kei­ne ganz schlech­te Fra­ge an eine stu­dier­te Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin, die lan­ge in der Jugend­hil­fe gear­bei­tet hat. 

Die Ant­wort, nicht wirk­lich über­ra­schend, aber eben auch nahe­lie­gend und nach­voll­zieh­bar: Brei­te Ange­bo­te für Jugend­li­che, direkt vor der Haus­tür. Schul­so­zi­al­ar­beit, die jun­gen Men­schen das Gefühl gibt, gese­hen zu wer­den, bevor es rechts­ra­di­ka­le Grill­aben­de und Social-Media-Accounts tun. Sozia­le Infra­struk­tur als Absi­che­rung gegen den Rechts­ruck. Also das, was markt­ra­di­ka­li­sier­te Durch­op­ti­mie­rungs­fe­ti­schis­ten am Liebs­ten immer als Ers­tes kür­zen. 

Und dann, ein Hauch wohl­do­sier­tes Barack-Oba­ma-Gedächt­nis­pa­thos, das aber auch die ganz simp­le Wahr­heit ist: „Wenn Ihr Euch umguckt, ver­bin­det Euch mit den Men­schen um Euch viel mehr, als Euch tren­nen könn­te.“ Natür­lich greift Hei­di den poli­ti­schen Geg­ner immer mal wie­der an, aber Chris­ti­an Lind­ner und Fried­rich Merz blei­ben die ein­zi­gen Ver­tre­ter, die sie nament­lich nennt. Die AfD erwähnt sie als sol­che nur ein­mal; recht spät, als sie über deren Social-Media-Stra­te­gie spricht, die ja lei­der ziem­lich erfolg­reich sei. Anders als gewis­se bay­ri­sche Minis­ter­prä­si­den­ten, die erst glück­lich schei­nen, wenn sie ande­ren Par­tei­en minu­ten­lang Unfä­hig­keit unter­stellt haben wie ein Trin­ker in der Eck­knei­pe, der sich immer über sei­ne „Alte“ auf­regt, ver­sucht sie es lie­ber mit kon­struk­ti­vem Opti­mis­mus, der sich um etwas mehr bemüht, als „Zuver­sicht“ zu sagen. Gleich­zei­tig betont sie, dass Fort­schritt immer Zeit brau­che: „Wir ver­spre­chen Euch nicht das Blaue vom Him­mel“. Na gut, Wil­ly Brandt hat­te es, hier im Ruhr­ge­biet, auch am Him­mel ver­spro­chen. Und gehal­ten.

Die Fra­ge, ob sie wegen ihrer hohen Sprech­ge­schwin­dig­keit mal über eine Rap-Kar­rie­re nach­ge­dacht habe, ver­neint sie: kein Flow. Rhe­to­risch wäre sie den aller­meis­ten Deutschrap­pern weit über­le­gen und man ahnt, dass sie das weiß. Leu­ten, die mit 1.500 Euro net­to in Tik­Tok-Kom­men­ta­ren Mil­li­ar­dä­re ver­tei­di­gen, ruft sie zu: „Du musst die Stie­fel, mit denen Du getre­ten wirst, nicht auch noch lecken!“, um dann, welt­of­fen und humo­ris­tisch durch­aus gelun­gen, hin­zu­zu­fü­gen: „Nicht falsch ver­ste­hen: No Kink-Shaming!“ Und es scheint zu exakt glei­chen Tei­len plau­si­bel, dass sie die­sen Gag schon mehr­fach gebracht hat, oder er gera­de ein­fach so aus ihr her­aus­ge­spru­delt kam.

Man kann sich vor­stel­len, war­um die­se Frau Men­schen trig­gert, die unge­lenk vor iPads sit­zen und ver­su­chen, locker oder auch nur mensch­lich zu wir­ken, wäh­rend sie in eine Han­dy­ka­me­ra Social-Media-Fra­gen von jun­gen Men­schen beant­wor­ten — und zwar mög­lichst ohne „Tagesschau“-taugliche Wort­hül­sen, also qua­si nackt.

Es erscheint über­flüs­sig, das bei einer Mil­len­ni­al, die Social Media so gut beherrscht, noch ein­mal zu beto­nen, aber Hei­di ist natür­lich auch selbst­iro­nisch: „Wenn wir was kön­nen als Lin­ke, dann ist es Papie­re schrei­ben“, sagt sie und bezeich­net sich selbst als „Kom­mu­nal­nerd“. Sicht­lich begeis­tert stei­gert sich in die Details hin­ein, wie man die dau­ern­den Miet­preis­stei­ge­run­gen been­den könn­te, und bricht doch das Meis­te sehr gut run­ter und for­mu­liert ziel­grup­pen­op­ti­miert — also jung und aka­de­misch ange­haucht. 

Wenn sie mal eine Voka­bel aus dem Fremd­wör­ter­le­xi­kon holt, wird die so anmo­de­riert, dass die allein­er­zie­hen­de Kas­sie­re­rin aus Hof­stede dabei noch was ler­nen kann. Wie das Wort „Femi­zid“: „Das ist kein ‚Bezie­hungs­dra­ma‘ oder eine ‚Fami­li­en­tra­gö­die‘, son­dern das ist ein ver­fick­ter Mord.“ Und irgend­wo fällt wie­der einem Boo­mer das Mon­okel run­ter.

Nach einer hal­ben Stun­de ist das Q&A been­det, es soll noch genug Zeit für Fotos und Auto­gram­me blei­ben: „Stellt Euch bit­te in einer Rei­he auf!“ Ich habe mir im Alter von elf Jah­ren mal die Unter­schrift von Hei­ner Geiß­ler auf dem Neu­tor­platz in Dins­la­ken geholt, weil ich den aus der Zei­tung kann­te, und ver­wah­re das Auto­gramm von Wil­ly Brandt, das mir ein Kol­le­ge mei­nes Vaters mal über­las­sen hat, wie einen Schatz (in dem Sin­ne, dass ich es erst­mal suchen müss­te), aber das hier heu­te ist nicht mei­ne Par­ty.

Man kann es selt­sam fin­den, dass Hei­di der­art abge­fei­ert wird („Wie ein Pop­star“, kommt, schreibt es, „WAZ“!), aber wenn man kein mit­tel­al­ter, wei­ßer Mann ist, mit Hemd, Kra­wat­te und Anzug ver­wach­sen, fin­det man in der Poli­tik immer noch auf­fal­lend weni­ge Men­schen, die so aus­se­hen wie man selbst. Solan­ge in der Uni­on (und durch­aus auch an ande­ren Stel­len) nie­mand merkt, wie wenig reprä­sen­ta­tiv die immer­glei­chen Grup­pen­fo­tos voll geklon­ter stell­ver­tre­ten­der Spar­kas­sen­fi­li­al­lei­ter sind; solan­ge Phil­ipp Amt­hor so etwas wie fri­schen Wind ver­kör­pern soll; solan­ge die SPD, Regie­rungs­par­tei in 23 der ver­gan­ge­nen 27 Jah­re, sich wie ein ideen­lo­ser nas­ser Sack durch jede Mane­ge und jeden Ring schlei­fen lässt; so lan­ge wer­den es die­se Par­tei­en schwer haben, auch nur annä­hernd so einen Hype zu erzeu­gen wie Hei­di Rei­chin­nek es gera­de für die Lin­ke tut. 

Sie schließt mit „Auf die Bar­ri­ka­den!“, dann läuft wie­der Tay­lor Swift.

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Literatur Sport

Einmal gemischte Gefühle, bitte!

Chris­toph Kra­mer ist mir grund­sätz­lich schon mal sym­pa­thisch, denn er hat sowohl für den VfL Bochum (2011–2013) als auch für Borus­sia Mön­chen­glad­bach (2013–2015, 2016–2024) gespielt. Das haben an nam­haf­ten Spie­lern sonst eigent­lich nur Kevin Stö­ger und Micha­el Front­zeck geschafft — und über Letz­te­ren redet in Städ­ten, in denen er mal unter Ver­trag gestan­den hat, nie­mand gern.

Außer­dem ist Chris­toph Kra­mer einer der weni­gen Fuß­ball-Exper­ten im deut­schen Fern­se­hen, die ich nicht bei jedem zwei­ten Satz schüt­teln möch­te,1 und der bis­her ein­zi­ge Mensch, der Fuß­ball­welt­meis­ter wur­de und einen Roman auf Platz 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste hat­te.

In einer Welt, in der es Sport­me­di­en erwäh­nens­wert erscheint, wenn ein Fuß­ball­pro­fi Bücher liest, gibt es natür­lich schnell ein gro­ßes Hal­lo, wenn einer ein Buch schreibt. Die Öffent­lich­keit – Sport- und Kul­tur­me­di­en in sel­te­ner Ein­tracht Braun­schweig, sowie der durch­schnitt­li­che Dul­li auf Social Media, der ja einem weit unter­durch­schnitt­li­chen Dul­li in der Eck­knei­pe ent­spricht – wit­tert ein wei­ches Ziel. So wie wir Musi­ker bei Bene­fiz-Fuß­ball­tur­nie­ren für selbst­ver­ständ­lich hal­ten, aber bei Fuß­bal­lern, die im Trai­nings­la­ger oder andern­orts zur Gitar­re grei­fen, schon mal in vor­aus­ei­len­der Fremd­scham zusam­men­zucken, soll der Herr Mil­lio­när bit­te­schön bei sei­nem Leis­tungs­druck blei­ben.2

Kra­mers Roman „Das Leben fing im Som­mer an“, jeden­falls, erschien Mit­te März und es ist nicht dem Umfang oder der Kom­ple­xi­tät des Werks geschul­det, dass ich erst jetzt mit dem Rezen­si­ons­exem­plar fer­tig gewor­den bin, son­dern allein mei­ner eige­nen Ver­plant­heit. Es ist aller­dings auch ange­mes­sen, die­ses Buch auf einer Cam­ping­de­cke in der Juni­son­ne zu lesen, trägt es den Som­mer (die Jah­res­zeit, nicht Yann — oh, bit­te!) doch schon im Titel.

Haupt­fi­gur und Erzäh­ler ist der 15-jäh­ri­ge Chris Kra­mer aus Solin­gen, der gera­de aus der Jugend­ab­tei­lung von Bay­er Lever­ku­sen geflo­gen ist, und alle, die an die­ser Stel­le fra­gen: „Häää, also ist das eine Auto­bio­gra­phie und gar kein Roman?!“, haben in den letz­ten ca. 15 Jah­ren offen­bar nicht viel vom Lite­ra­tur­be­trieb (Knaus­gård, Mey­er­hoff, Stuck­rad-Bar­re) mit­be­kom­men. Aber das ist natür­lich auch ein schö­ner Neben­ef­fekt, wenn so ein Fuß­bal­ler mal ein Buch schreibt: Dass das plötz­lich ganz vie­le Men­schen lesen, die sonst viel­leicht nur zum „Kicker“-Sonderheft zum Sai­son­be­ginn grei­fen. Da muss man als kul­tur­pes­si­mis­ti­scher Bil­dungs­bür­ger schon mal sei­ne Prio­ri­tä­ten straf­fen.

Chris spielt Fuß­ball, hängt mit sei­nen bes­ten Freun­den John­ny und Sal­vo rum, him­melt sei­ne Mit­schü­le­rin Debbie an, fühlt sich aber viel zu uncool und zu häss­lich, um sie anzu­spre­chen. Er ist also ein ganz nor­ma­ler Teen­ager in einer Zeit, in der sich jun­ge Män­ner noch nicht via Tik­Tok und Männ­lich­keits-Pod­casts radi­ka­li­siert haben, denn der Roman spielt im Som­mer 2006.

Also: Der Roman gibt vor, im „Sommermärchen“-Sommer von 2006 zu spie­len, aber nahe­zu jede Pop­kul­tur-Refe­renz ist ana­chro­nis­tisch: Songs wie „Apo­lo­gi­ze“, „The Way I Are“ und „After Tonight“ und der Film „Nachts im Muse­um“, die alle­samt erwähnt wer­den, kamen erst spä­ter raus und im Buch beginnt die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft, als in NRW schon Som­mer­fe­ri­en sind. Das lässt sich mit Schlud­rig­keit nicht erklä­ren, das muss Absicht sein, um eine klei­ne Neben­wirk­lich­keit zu erschaf­fen, die eben Roman ist und nicht Tat­sa­chen­be­richt. Was ja auch total okay ist — selbst wenn man in jedem Freund­schafts­buch „Pop­kul­tur“ und „Fak­ten che­cken“ als liebs­tes Hob­by ein­trägt.

In drei Tagen ent­spinnt sich auf einer Par­ty im Ver­eins­heim, im Frei­bad, im Kino, auf dem Hof­fest der eige­nen Eltern und in einem frem­den Auto eine Geschich­te, wie wir sie so oder so ähn­lich fast alle erlebt haben: Freund­schaf­ten, Alko­hol, die (natür­lich gro­ße und ein­zig wah­re) ers­te Lie­be, maxi­ma­le emo­tio­na­le Auf­ge­wühlt­heit und ein Aben­teu­er, das einem hin­ter­her kei­ner glau­ben wird. Da kann man jetzt ober­leh­rer­haft am Rand ste­hen und meckern, dass das aber alles ganz schön gene­risch sei, aber so ist das Leben ja nun wirk­lich meis­tens in dem Alter und nur die, die so etwas nicht erlebt haben (oder erfolg­reich ver­drängt haben, dass sie selbst mal jung waren), ste­hen hin­ter­her am Rand und meckern ober­leh­rer­haft rum.

Die Schil­de­run­gen kamen mir sogar so bekannt vor, dass ich mich irgend­wann gefragt habe, ob eigent­lich alle Jungs gleich sind oder wir nur alle die glei­chen Bücher, Fil­me und Songs kon­su­miert haben und des­halb alle die glei­chen Gedan­ken hat­ten, was Mäd­chen3 anging. Kra­mer schafft es dan­kens­wer­ter­wei­se, sei­nen Prot­ago­nis­ten aus­rei­chend reflek­tie­ren zu las­sen: „Ich hass­te es eigent­lich, so zu reden, aber alle Jungs spra­chen so über Mäd­chen.“ Stellt sich raus: Wer­den­de Män­ner hat­ten schon vor Tik­Tok und Männ­lich­keits-Pod­casts den Hang zu pro­ble­ma­ti­schem Ver­hal­ten, peer pres­su­re sei Dank.

Ich habe genug Roma­ne gele­sen und abge­bro­chen, in denen mir die Spra­che zu manie­riert erschien, die Cha­rak­te­re zu uner­träg­lich oder das gan­ze Werk zu unin­ter­es­sant. Das war hier alles nicht der Fall. Natür­lich ist es min­des­tens frag­lich, ob der Roman ver­öf­fent­licht wor­den wäre (und dann noch mit einem der­ar­ti­gen media­len Bohei) und ich ihn gele­sen hät­te, wenn der Autor nicht Chris­toph Kra­mer gehei­ßen hät­te, aber ich wür­de behaup­ten, dass ich Werk und Autor aus­rei­chend tren­nen kann, um das Buch auch so gut zu fin­den.

Klar: Kra­mer ist nicht Wolf­gang Herrn­dorf (und der Gedan­ke, dass er „Tschick“ gele­sen hat und moch­te, klopft mehr als ein­mal an) und ein Buch, das ich mit 41 lese, wird mich nicht mehr so beein­dru­cken wie es Jochen Tills „Der Jun­ge Son­nen­schein“ mit 16 oder eben „Tschick“ mit 27 tat, aber ver­gli­chen mit einem wei­te­ren Coming-of-Age-Roman, den ich mit Anfang Zwan­zig irgend­wie moch­te, vor eini­gen Jah­ren aber mit einer Mischung aus Rat­lo­sig­keit und Ableh­nung noch ein­mal gele­sen hat­te („Rock­ta­ge“ von Dana Bönisch), habe ich mich mit sei­nem Buch immer wohl gefühlt. Was viel­leicht auch dar­an liegt, dass der Haupt­cha­rak­ter im Lau­fe der Geschich­te sehr viel mehr zum Akteur wird als die Schluf­fis in vie­len ver­gleich­ba­ren Büchern und man das mit fort­ge­schrit­te­nem Alter und nach erfolg­rei­cher The­ra­pie dann doch zu schät­zen weiß.

Wenn der Schrift­stel­ler Chris­toph Kra­mer mit 15 wirk­lich schon so weit war wie sein Chris im Roman, kann man ihn jeden­falls nur beglück­wün­schen: Der weint und spricht davon, wie er sei­nen bes­ten Freund liebt („Nicht Lie­be im klas­si­schen Sin­ne. Eine ande­re, aber, glaub­te ich gera­de, viel­leicht ja die ein­zig wah­re.“). Der redet zu kei­nem Zeit­punkt davon, dass er sei­nen Crush ger­ne „ficken“, „bum­sen“, „nageln“, „vögeln“ oder sonst­wie beschla­fen möch­te (unge­fähr das ein­zi­ge, was ich aus Ben­ja­min Leberts „Cra­zy“ erin­ne­re). Der nicht so cool und abge­klärt tun will wie die ande­ren Jungs.

Trotz­dem gibt es in „Das Leben fing im Som­mer an“ die Frau bzw. das Mäd­chen als erra­ti­sches und unlo­gi­sches Wesen, die­sen John-Green-Topos. Eigent­lich müss­te man dafür die augen­rol­len­de Gesell­schafts­kri­tik­vo­ka­bel „schwie­rig“ her­vor­ho­len, wenn einem nicht genug Frau­en aus dem eige­nen Umfeld ein­fie­len, deren Ver­hal­ten zumin­dest an irgend­ei­nem Punkt erstaun­li­che Ähn­lich­keit zu dem der weib­li­chen Roman­fi­gur auf­ge­wie­sen hät­te. Aber bei kur­zem Nach­den­ken: Män­ner eben auch. Hier greift das Ave Maria für die etwas rum­pe­li­ge­ren Begeg­nun­gen inner­halb unse­rer Gene­ra­ti­on: „Ich hof­fe, da war in der Zwi­schen­zeit mal ein The­ra­pie­platz frei“.

Für mich ist die Hand­lung der meis­ten Bücher zweit­ran­gig. Ent­schei­dend ist, wie es geschrie­ben ist, und wie man sich beim Lesen fühlt.4 Und in die­sen Kate­go­rien ist das Buch mehr als ein schmut­zi­ger Sieg, denn Kra­mer hat ein Auge für Details und ein Talent für ori­gi­nel­le Ver­glei­che und For­mu­lie­run­gen. Er muss kein gro­ßes world buil­ding betrei­ben, es rei­chen ein paar gro­be Stri­che: Feld, Frei­bad, Trink­hal­le — sofort läuft der Asso­zia­ti­ons­film; wobei erst­mal unklar ist, ob man die eige­ne Jugend erin­nert oder Fil­me wie „Cra­zy“, „Schu­le“ oder „Tschick“.

Am Ende geht alles ganz schnell: Statt eines Zeit­sprungs wie am Ende von „Dawson’s Creek“, „O.C. Cali­for­nia“ oder „Har­ry Pot­ter“ gibt es drei. Eine spek­ta­ku­lä­re Kurz-vor-Schluss­poin­te5 hält das Buch noch bereit, dann sehen wir dem pen­sio­nier­ten Fuß­ball­pro­fi Chris­toph Kra­mer beim Schrei­ben zu und sol­len all das glau­ben, was er uns auf den 240 Sei­ten davor erzählt hat, obwohl der legal dis­clai­mer am Ende des Buchs natür­lich das Gegen­teil behaup­ten muss. Wer die Fra­ge, ob das, was in einem Roman steht, jetzt der Wahr­heit ent­spricht (und wie­weit), für spiel­ent­schei­dend hält, kann sich an die­sem Bei­spiel unnö­tig in Rage den­ken.

Für alle ande­ren ist eine im bes­ten Sin­ne total okaye Som­mer­lek­tü­re.

  1. Man muss da nie­man­den nament­lich her­vor­he­ben und außer­dem ist Stef­fen Freund ja nur für RTL im Euro­pa­po­kal-Ein­satz, also dort, wo kei­ner mei­ner Ver­ei­ne auf abseh­ba­re Zeit spielt. []
  2. Oder gefäl­ligst wenigs­tens gleich so einen aus­ge­wie­se­nen Trash schrei­ben wie wei­land Bodo und Bian­ca Ill­gner. []
  3. Es ist ja dann doch eine recht hete­ro­nor­ma­ti­ve Welt. []
  4. Him­mel: wie ich mich beim Lesen füh­le. Män­ner und ihre Gefüh­le, ey. []
  5. Tref­fer in der Nach­spiel­zeit, der Mann hat schließ­lich mal für Bay­er Lever­ku­sen gespielt. []
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Leben Unterwegs Musik

Surf’s Up — In memoriam Brian Wilson

Die Son­ne mach­te sich gera­de bereit, sich das Prä­fix „Abend-“ über­zu­wer­fen und, wenn auch schon tief ste­hend, den Tag wür­de­voll abzu­run­den. Am Strand wäre es sicher­lich noch mal bedeu­tend schö­ner gewe­sen (so wie es am Meer immer schö­ner ist) als am Ran­de der Bochu­mer Innen­stadt, aber da wären wir jetzt nicht so schnell hin­ge­kom­men, außer­dem war Abend­essens­zeit und als wir uns an den Tisch setz­ten, frag­te ich also mei­nen Sohn, ob er jetzt bereit sei für mein klei­nes Impuls­re­fe­rat über Bri­an Wil­son und die Beach Boys.

Eine Stun­de zuvor war die Nach­richt auf mei­nem Smart­phone ein­ge­gan­gen, dass Wil­son, einer der Pio­nie­re der Pop­mu­sik im 20. Jahr­hun­dert; einer der aller­größ­ten Künst­ler der Pop­kul­tur; ich zöge­re nicht zu sagen: einer der Göt­ter der schö­nen Küns­te, im Alter von 82 Jah­ren gestor­ben war. Die Spo­ti­fy-Play­list „This Is The Beach Boys“ hat­te also schon die Zube­rei­tung unse­res Abend­essens laut­stark unter­malt.

Strand von Scheveningen, Niederlande

Wäh­rend wir Hähn­chen­brust mit Thy­mi­an und Gnoc­chi mit Lauch – ein ange­mes­sen som­mer­li­ches Gericht – aßen, muss­te das Kind nun erdul­den, wie ich ihm von der Grün­dung der Beach Boys durch die Gebrü­der Wil­son und ihren Cou­sin berich­te­te; davon, wie Bri­an Wil­son Ein­flüs­se aus Rock ’n‘ Roll, R&B und Bar­ber­shop-Gesang auf bis­her unbe­kann­te Art kom­bi­niert und damit die moder­ne Pop­mu­sik min­des­tens mit-erfun­den hat­te; wie wir Ein­flüs­se von Beach-Boys-Kom­po­si­tio­nen auch heu­te noch in den Songs unse­rer Lieb­lings-Car­toon-Serie „Phi­ne­as & Ferb“ wie­der­fin­den könn­ten. Ich erzähl­te von Bri­an Wil­sons psy­chi­schen Pro­ble­men, sei­nem Aus­stieg aus dem Tour-Leben und den Jah­ren, die der Musi­ker qua­si nur im Bett ver­bracht hat­te — ein so absur­der und pop­kul­tu­rell bedeut­sa­mer Fakt, dass die Baren­aked Ladies ihm in den Neun­zi­gern einen gan­zen Song wid­me­ten, den Wil­son selbst, eini­ger­ma­ßen gene­sen, eini­ge Jah­re spä­ter covern soll­te.


Die Musik der Beach Boys war in mei­ner Kind­heit so all­ge­gen­wär­tig, dass ich gar nicht sagen könn­te, wo sie mir erst­mals begeg­net ist. Viel­leicht im „Babybel“-Werbespot der frü­hen 1990er Jah­re, in dem der wachs­ver­klei­de­te Mini­kä­se auf die Melo­die von „Bar­ba­ra-Ann“ (übri­gens kei­ne Wil­son-Kom­po­si­ti­on) besun­gen wur­de; viel­leicht durch die ein­ge­deutsch­ten Ver­sio­nen ihrer Hits durch eine Band namens – I kid you not – Strand­jungs, die damals im Radio lie­fen (aus „Sur­fin‘ USA“ wur­de etwa „Sur­fen auf­’m Bag­ger­see“ — übri­gens mit mei­nem heu­ti­gen „MoMa“-Kollegen Peter Groß­mann am Mikro­fon); viel­leicht durch „Koko­mo“, die­sen objek­tiv furcht­ba­ren – und Bri­an-Wil­son-frei­en – Ohr­wurm aus dem Tom-Crui­se-Film „Cock­tail“;  viel­leicht durch die maxi­mal unse­riö­se „Super Hits“-CD aus den Wild­west-Tagen der Musik­in­dus­trie, die mein Vater besaß und die sich extrem auf das Surf-las­ti­ge Früh­werk der Band fokus­sier­te. Ver­dammt: Sogar bei „Hal­lo Spen­cer“, der NDR-Ant­wort auf die „Mup­pet Show“, tauch­te eine Band auf, die Quietsch­beus hieß!

Maximal unseriöse „Super Hits“-CD der Beach Boys

Als ich dann selbst tief ein­tauch­te in die Welt der Pop­kul­tur führ­te natür­lich gar kein Weg mehr an Bri­an Wil­son und den Beach Boys vor­bei: In den Sound­tracks von „Almost Famous“, „Vanil­la Sky“ und sogar „Das Expe­ri­ment“, in den Musik­zeit­schrif­ten, die ich ver­schlang, erst recht in der Musik, die ich hör­te und lieb­te. Ben Folds Five, The Ramo­nes, Tra­vis und so vie­le ande­re Bands wür­den nicht so klin­gen, wie sie klan­gen, wenn sie nicht auf die Wilson’schen Chor-Arran­ge­ments und Har­mo­nien hät­ten zurück­grei­fen kön­nen.

Ihre Songs waren so groß und teil­wei­se syn­onym mit Lie­be, dass Neil Han­non von The Divi­ne Come­dy in sei­nem Mehr­fach-Meta-Lie­bes­lied zwei bedeu­ten­de Zuta­ten für den „Per­fect Love­song” aus­mach­te: „A divi­ne Beat­les bass­li­ne /​ And a big old Beach Boys sound“. Mir ist genau heu­te auf­ge­fal­len, dass „Remem­ber“ von Air aus­gie­big den Beach-Boys-Song „Do It Again“ sam­plet.

Man kann eigent­lich fast jeden Song aus ihrem Gesamt­werk hören – und glaubt mir, ich arbei­te seit ges­tern Abend inten­siv dar­an! – und wird immer einen ande­ren, spä­te­ren Song fin­den, der mehr oder weni­ger deut­lich dar­an erin­nert (aller­dings auch etli­che frü­he­re Songs, bei denen sich Bri­an Wil­son und sei­ne Band­mit­glie­der bedient hat­ten).

Ich hab mich immer schon min­des­tens so sehr für die Hin­ter­grün­de und Ent­ste­hungs­pro­zes­se von Pop­kul­tur inter­es­siert wie für das eigent­li­che Werk und Bri­an Wil­son ist da in den 1960er Jah­ren etwas gelun­gen, was in die­ser Form sonst eigent­lich nur die Beat­les beherrsch­ten: Die Pro­duk­ti­ons­tech­ni­ken immer zu erwei­tern und die Gren­zen des Kon­zepts „Pop­song“ per­ma­nent zu ver­schie­ben und dabei immer noch Musik zu erschaf­fen, die einen ein­fach nicht kalt­las­sen kann. Das, was bei ande­ren in unschö­nem Mucker-Voka­bu­lar wie „Rock-Oper“ oder „Kon­zept­al­bum“ gip­fel­te, waren bei ihm immer noch Pop­songs — unend­lich kom­pli­ziert, so dass sie Men­schen, die sich mit Musik­pro­duk­ti­on oder Kom­po­si­ti­on beschäf­ti­gen, noch heu­te als Anschau­ungs­ma­te­ri­al die­nen, dabei aber immer noch so ein­deu­tig Pop, dass ich von den eige­nen Groß­el­tern bis zu mei­nem damals neu­ge­bo­re­nen Sohn wider­spruchs­los alle damit beschal­len konn­te.


Jan Wie­le ist für sei­nen Wil­son-Nach­ruf bei FAZ.net auf die – viel­leicht nicht wahn­sin­nig ori­gi­nel­le, aber wich­ti­ge – Idee gekom­men, den Tod von Bri­an Wil­son (und den von Sly Stone weni­ge Tage zuvor) mit der aktu­el­len Situa­ti­on in Kali­for­ni­en zu ver­schnei­den: Dass die­se bei­den Musi­ker, „die bei­de auf ihre Wei­se für kali­for­ni­sche Träu­me stan­den“, nun aus­ge­rech­net in jenen Tagen ster­ben muss­ten, in denen Donald Trump die Natio­nal­gar­de im frei­heits­lie­ben­den „Gol­den Sta­te“ auf­mar­schie­ren und Pro­tes­te gegen sei­ne unmensch­li­che Abschie­be­po­li­tik nie­der­schla­gen lässt, muss einem schon sym­bo­lisch vor­kom­men.

Strand von Santa Cruz, CA

Kali­for­ni­en – der ein­zi­ge USA-Bun­des­staat, der bis heu­te einen eigen­stän­di­gen deut­schen Namen hat – prägt für die meis­ten von uns Aus­län­dern das Ame­ri­ka­bild wie maxi­mal noch New York City. Der Staat ist gleich­zei­tig pars pro toto für die USA und unend­lich weit weg von den red­necks im fly-over coun­try. Es ist die Geschich­te des Gold­rauschs, der Enter­tain­ment-Indus­trie, des Inter­nets in all sei­nen befrei­en­den und beun­ru­hi­gen­den Aggre­gat­for­men, die vom Paci­fic Coast High­way und die vom Strand. Die Beach Boys haben – auch wenn jetzt wie­der über­all zu lesen ist, dass ja nur Bri­ans Bru­der Den­nis, der Schlag­zeu­ger der Band, wirk­lich Sur­fer war – Kali­for­ni­en und damit die USA auf eine Art erfun­den und zur Mar­ke gemacht.

In den ers­ten Zei­len von „Fun, Fun, Fun“ – einem Song, der den Spaß der­art ernst nimmt, dass er ihn gleich drei­mal im Titel trägt – singt Mike Love „Well, she got her daddy’s car /​ And she crui­sed through the ham­bur­ger stand now“ und skiz­ziert damit – von der unend­lich genia­len Phra­sie­rung von „ham­bur­ger stand now“ mal ganz ab – das, was Men­schen, die sich nicht näher für die USA inter­es­sier­ten, über Jahr­zehn­te über die USA dach­ten: Autos und Fast Food. Wenn Du hier einen Pflock in die Erde schlägst, bil­det er eine Linie mit Geor­ge Lucas‘ „Ame­ri­can Graf­fi­ti“ und wei­ten Tei­len von Quen­ti­on Taran­ti­nos „Pulp Fic­tion“. Dass der Song im Früh­jahr 1964 erschien, zwei­ein­halb Mona­te nach der Ermor­dung von John F. Ken­ne­dy, zu einer Zeit, als der Viet­nam­krieg gera­de anfing, rich­tig unschön zu wer­den, ist Kon­text, der das Ame­ri­ka-Kli­schee per­fekt macht. Stu­die­ren­den­pro­tes­te an kali­for­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten? The Beach Boys got you cover­ed.

Mein Kali­for­ni­en-Bild ist geprägt von den Besu­chen bei mei­ner Fami­lie, die in der San Fran­cis­co Bay Area, in Nor­Cal, lebt, weit weg von den ober­fläch­li­chen Show­biz-Leu­ten in SoCal (natür­lich ist auch Kali­for­ni­en noch ein­mal in sich gespal­ten, wenn auch nicht so tief wie der Rest der USA). Ich hab’s – von einem Aus­flug nach Dis­ney­land per Flug­zeug mal ab – nie wei­ter süd­lich geschafft als Big Sur. Und gleich­zei­tig ist der Mythos Süd­ka­li­for­ni­ens natür­lich auch tief in mein Herz ein­ge­ba­cken — durch „The O.C.“, die Red Hot Chi­li Pep­pers und die Bands von Andrew McMa­hon. Der ist gera­de auf Tour­nee, um das 20. Jubi­lä­um von „Ever­y­thing In Tran­sit“ zu fei­ern, und pos­te­te ges­tern sogleich ein Insta­gram-Reel, in dem er Wil­son gedach­te und des­sen Ein­fluss auf sein eige­nes Album wür­dig­te. Soll­te ich jemals mit mei­nem vor vier Jah­ren begon­ne­nen Solo­al­bum fer­tig wer­den, wird dar­auf ein Song ent­hal­ten sein, der „Cali­for­nia Girls“ heißt, den Mythos Kali­for­ni­en fei­ert und sich im Refrain natür­lich scham­los bei den Beach Boys bedient — man kann das Wort „Cali­for­nia“ ja nur im Satz­ge­sang sin­gen.


Ich bin mir rela­tiv sicher, dass ich das Meer auch ohne die Beach Boys lie­ben wür­de (ich fah­re nach Hol­land, seit ich zwei Jah­re alt bin!), aber die Melan­cho­lie, die jeden Strand­be­such umweht, die kommt wahr­schein­lich zu einem guten Teil von der Band.

Jens Bal­zer schafft es in sei­nem Nach­ruf bei „Zeit Online“, wirk­lich jeden Win­kel von Wil­sons Schaf­fen aus­zu­leuch­ten und doch per­sön­lich und mensch­lich zu schlie­ßen. Ann Powers, die gro­ße Pop-Erklä­re­rin bei „NPR Music“, erin­nert auch noch mal aus­führ­lich an die vie­len Her­aus­for­de­run­gen und Tief­schlä­ge im Leben des Man­nes, des­sen Musik für sehr ober­fläch­li­che Beobachter*innen vor allem für „Son­ne, Strand und gute Lau­ne“ stand.

Strand von Egmond Aan Zee, Niederlande

Dabei muss man ja nicht ein­mal zu „God Only Knows“, „I Just Was­n’t Made For The­se Times“ (schon der Titel!) oder „Surf’s Up“ grei­fen: Selbst „Fun, Fun, Fun“ hat eine bedroh­lich an eine Sire­ne erin­nern­de Hin­ter­grund­me­lo­die und der gan­ze Spaß endet, wenn Vati dem über­mü­ti­gen Mäd­chen die Auto­schlüs­sel weg­nimmt. Die­se Wider­sprüch­lich­keit des Lebens wird in „God Only Knows“ beson­ders deut­lich: Die ers­te Zei­le lau­tet – für ein Lie­bes­lied eher unge­wöhn­lich – „I may not always love you“; eine Tren­nung bedeu­te zwar nicht das Ende der Welt, aber ob und wie der Spre­cher her­nach wei­ter­le­ben kön­ne, dass wis­se nur Gott allein.

Bei Bob Dylan hat­te die Ant­wort auf alle wich­ti­gen Fra­gen ein paar Jah­re zuvor schon deut­lich irdi­scher im Wind geweht.

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Musik

Songs 5/​25

Asche in Vinyl. Jaz­z/Afro­beat-Fusi­on. Indie­rock. Ame­ri­ca­na. Rob­bie Wil­liams. Das sind die 5 Songs, die Ihr im Mai 2025 gehört haben soll­tet:

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Die­se und noch mehr Songs gibt’s im Cof­fee And TV-Mix­tape:

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Musik

Songs 4/​25

Ein Song, bei dem ich mich immer erin­nern wer­de, wo ich ihn das ers­te Mal gehört hat; ein über­ra­schen­des Come­back; ein Song, der für und gegen schlech­te Lau­ne geeig­net ist, und mehr — das sind die 5 Songs, die Ihr im April 2025 gehört haben soll­tet:

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Noch mehr Songs gibt’s wie immer auf unse­rem Cof­fee-And-TV-Mix­tape:

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PS: Ja, wir sind ein biss­chen spät dran, aber ein paar tech­ni­sche Her­aus­for­de­run­gen, Fei­er­ta­ge und die ESC-Vor­be­rei­tung sind schuld!

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Musik Leben

Wir haben die Musik

Es war im Som­mer 2000, der 12. August: Mein bes­ter Freund hat­te her­aus­ge­fun­den, dass in Rees-Hald­ern, rund 40 Kilo­me­ter von Dins­la­ken ent­fernt, ein Musik­fes­ti­val statt­fand, auf dem unter ande­rem Embrace, Soul­wax und K’s Choice auf­tre­ten wür­den — und zwar heu­te, am letz­ten Sams­tag der Som­mer­fe­ri­en! Da woll­ten wir hin, also druck­te ich bei mei­ner Mut­ter in der Stadt­bi­blio­thek eine Weg­be­schrei­bung aus und das, was wir damals noch nicht „Time­ta­ble“ nann­ten. Ich besorg­te Geträn­ke und ein paar Snacks und mein bes­ter Freund über­zeug­te sei­ne gro­ße Schwes­ter, uns dort­hin zu fah­ren und abends wie­der abzu­ho­len („Um halb Elf, an der glei­chen Stel­le!“ — klingt wie Mit­tel­al­ter, es gibt aber ver­ein­zel­te Hun­de, die damals schon leb­ten und es heu­te auch noch tun). Es soll­te mein ers­tes von zwölf Hald­ern Pop Fes­ti­vals wer­den und mich, dem but­ter­fly effect fol­gend, von Dins­la­ken nach Bochum brin­gen.

Einer der zahl­rei­chen Acts, deren Namen uns nichts sag­ten, war ein Typ mit ver­knautsch­tem Gesicht und Akus­tik­gi­tar­re. Das Pro­gramm­heft klär­te uns auf, dass es sich um Tom Liwa aus Duis­burg hand­le, bis­her bekannt als Sän­ger einer Band namens Flower­porn­oes, jetzt auf Tour mit sei­nem Solo-Debüt mit dem etwas schnul­zig klin­gen­den Titel „St. Amour“. Wir waren anfangs nicht über­zeugt, aber irgend­wie gelang es die­sem Mann, uns wäh­rend sei­nes knapp 40-minü­ti­gen Sets auf sei­ne Sei­te zu zie­hen. Die Songs waren eigen­tüm­lich inter­es­sant, sowas kann­ten wir nicht aus dem Radio und noch nicht mal von Viva II. Wir waren als Skep­ti­ker gekom­men und gin­gen als Fans.

Tom Liwa beim Haldern Pop 2000

Das war inso­fern bemer­kens­wert, als ich damals nicht nur nichts von deutsch­spra­chi­ger Musik wis­sen woll­te, son­dern mir sogar eng­lisch­spra­chi­ge Acts aus Deutsch­land suspekt waren. Ja, okay: Die Fan­tas­ti­schen Vier exis­tier­ten, aber ich hat­te gera­de erst ange­fan­gen, mich vor­sich­tig mit Toco­tro­nic und den Ster­nen zu beschäf­ti­gen; eine Rück­kehr zu Her­bert Grö­ne­mey­er oder der Mün­che­ner Frei­heit, mit denen ich auf­ge­wach­sen war, erschien noch undenk­bar.

Es ist für Men­schen, die heu­te jung sind, unvor­stell­bar und selbst für uns, die wir dabei waren, manch­mal über­ra­schend, aber: Man konn­te damals nicht ein­fach sofort jede Musik hören, die man hören woll­te. Schon gar nicht in nie­der­rhei­ni­schen Klein­städ­ten. Theo­re­tisch hät­te ich das Album noch am sel­ben Abend bei Ama­zon bestel­len kön­nen, prak­tisch hat­te ich noch nicht mal ein Giro­kon­to, von dem aus ich es hät­te bezah­len kön­nen. Es dau­er­te also bis zu den Herbst­fe­ri­en, bis ich im Media­markt in der Köl­ner Hohen Stra­ße nach die­ser „Plat­te“, wie man damals rät­sel­haf­ter­wei­se auch zu CDs sag­te, suchen konn­te.

Die ers­ten Zei­len des Albums, „Dies ist kein Brief /​ Nur eine Stra­ßen­kar­te /​Auf der ich mit dem Fin­ger ent­lang­fahr /​ Wäh­rend ich auf Ant­wort war­te“ im Song „Eski­mo“, waren auf­re­gen­der als neun Jah­re Deutsch­un­ter­richt am Gym­na­si­um. Und dann so lapi­dar dahin­ge­wor­fe­ne Zei­len wie „All mei­ne Geschwis­ter sind Ein­zel­kin­der“, „Die­se Welt ist ein selt­sa­mer Platz, an dem man immer wie­der ver­gisst, wie trau­rig man ist“, „Und jetzt sitzt Du da mit Dei­nem Streich­quar­tett und ich hab Kopf­schmer­zen vom Tele­fo­nie­ren“ — wow!

Die Tex­te haben genau jenes Mischungs­ver­hält­nis aus kon­kret und kryp­tisch, dass man sich in nahe­zu Lebens­pha­se dar­in wie­der­zu­fin­den glaubt: „Und was denkt ein Pin­gu­in /​ In sei­nem Käfig im Zoo /​ Im Herbst, wenn die Vögel zieh’n /​ In die Son­ne?“ Ja, klar: Fühl ich. Und das vor­ge­tra­gen mit die­ser leicht knar­zi­gen, aber trotz­dem sehr war­men Stim­me, die ein­fach klingt wie die eines Freun­des, den „alt“ zu nen­nen man sich ver­bie­ten wür­de, weil man doch ein Jahr­gang ist, der aber am Ende eben dann doch genau das ist. Bei „The Voice“ kommt man damit nicht weit, aber das ist ja – neben der text­li­chen Qua­li­tät – eben genau das, was Tom Liwa von heu­ti­gen wie­der­ver­wert­ba­ren Deutsch­pop­mu­si­kern unter­schei­det.

„Gib ihnen was sie wol­len“ klingt wie eine bru­ta­le, aber nicht unem­pa­thi­sche Abrech­nung mit Baby­boo­mern — aber das kann eigent­lich nicht sein, die waren doch erst Mit­te 40, als das Album erschien, und Liwa gehört selbst dazu. Also doch? Wahn­sin­nig viel pas­siert auch auf der Rück­bank irgend­wel­cher Autos — oder: Es pas­siert eben nicht, es wird immer nur ange­deu­tet, dass dort in der Ver­gan­gen­heit irgend­et­was pas­siert ist. Das ist für einen 17-Jäh­ri­gen, der sei­nen Füh­rer­schein nicht so bald machen soll­te, natür­lich wahn­sin­nig auf­re­gend!

Wie das oft so ist bei Songs, die man schon sehr lan­ge kennt: Wenn man sie nach vie­len Jah­ren wie­der hört, kann man immer noch jedes Wort mit­sin­gen — was einen aber nicht unbe­dingt näher an den Inhalt der Tex­te her­an­bringt, weil man über die­se eben gar nicht mehr nach­denkt, egal ob auf Eng­lisch oder Deutsch. Wovon han­deln also die gan­zen Lie­der? Von Men­schen und ihren Pro­ble­men; von Bezie­hun­gen, die dar­aus ent­ste­hen und dar­un­ter lei­den; von schlaf­lo­sen Näch­ten, eige­nen Unzu­läng­lich­kei­ten, Lei­den­schaf­ten und Ein­sam­kei­ten.

Das könn­te man ehr­li­cher­wei­se über wahr­schein­lich 90% aller Pop­songs sagen, aber irgend­wie war Tom Liwa hier etwas gelun­gen, was bis heu­te nur wahn­sin­nig weni­ge deutsch­spra­chi­ge Tex­ter geschafft haben: so zu for­mu­lie­ren, dass es für mich – und ich bin ja hier die ein­zi­ge Instanz, wenn es um mei­nen Geschmack geht! – nicht pein­lich, gestelzt oder aus­ge­dacht klang, son­dern wie im Gespräch daher­ge­sagt. Mar­cus Wie­busch und Rei­mer Bus­torf von kett­car und Thees Uhl­mann sind für mich die Ein­zi­gen, die mich seit Jahr­zehn­ten beglei­ten, aber ihre Qua­li­tä­ten lie­gen ein biss­chen woan­ders; Muff Pot­ter, Wir Sind Hel­den und Jupi­ter Jones haben vor rund 20 Jah­ren jeweils ein paar Alben lang zu mir gespro­chen, aber Tom Liwa ist wirk­lich ein Soli­tär: Ich wür­de auch heu­te noch nicht sagen, dass er mei­ne Lebens­wirk­lich­keit abbil­det, und die Situa­tio­nen, in denen sich sei­ne Ich-Erzäh­ler befin­den, sind in den sel­tens­ten Fäl­len erstre­bens­wert, aber es blei­ben Geschich­ten, die mich anrüh­ren und inter­es­sie­ren — etwas, was ande­ren deutsch­spra­chi­gen Acts unge­fähr nie gelingt (it’s not you, it’s me).

Tom Liwa - St. Amour (abfotografiert von Lukas Heinser)

Für einen 17-Jäh­ri­gen, der gera­de dabei war, sich die ers­ten paar Male unglück­lich zu ver­lie­ben, bot die­ses Album reich­lich Pro­jek­ti­ons­flä­che: Ein Song, der „Selt­sa­mes Mäd­chen“ hieß; Geschich­ten von offen­bar dra­ma­tisch geen­de­ten Lieb­schaf­ten; eine Erzähl­stim­me, die offen­bar schon mehr wuss­te (Tom Liwa war bei Ver­öf­fent­li­chung des Albums 38 Jah­re alt), aber uns klei­ne Hol­den Caul­fields mit­neh­men konn­te durch die­se Erwach­se­nen­welt, an deren Tür wir gera­de anklopf­ten (oder von deren Tür von uns erwar­tet wur­de, dass wir an sie anklop­fen wol­len wür­den oder müss­ten).

Unter den zwölf Tracks des Albums gibt es nicht einen schwa­chen, einer der bes­ten Songs wur­de noch nicht mal von Liwa selbst geschrie­ben: „Zuhau­se“ stammt von Flo­ri­an Gläs­sing, mit dem Tom Liwa 2002 ein gemein­sa­mes Album auf­neh­men soll­te, und auf des­sen Durch­bruch ich seit über 20 Jah­ren war­te. Nach­dem sich die­ser Song in ein Pearl-Jam-ähn­li­ches Fina­le hoch­ge­schraubt hat, erklingt plötz­lich die Stim­me von Chris­ti­an Brück­ner (oder, wie wir schon damals sag­ten: „die deut­sche Stim­me von Robert de Niro“) und rezi­tiert einen Liwa’schen Text, der „Wir haben die Musik“ heißt und cle­ver­er­wei­se eben genau auf sel­bi­ge ver­zich­tet.

Wenn es auf „St. Amour“ einen Hit gibt, dann „Für die lin­ke Spur zu lang­sam“: Ein Song, des­sen vol­les Aus­maß ich erst im Lauf der Jah­re lang­sam zu erfas­sen begann. Die ers­te Stro­phe han­delt von den Ansprü­chen an sich selbst, vom „Geschenk für die Welt“, an dem man arbei­tet. Die drit­te Stro­phe schleicht sich neben­säch­lich an, um im letz­ten Moment ihre vol­le, fast meta­phy­si­sche Wucht zu ent­fal­ten: „Und dann fahr ich ans Meer raus /​ So wie ich’s immer mach /​ Wenn ich allem ent­flieh’n will /​ Das ich nicht mehr etrag /​ Park den Bus in den Dünen /​ Und setz mich irgend­wo­hin /​ Seh raus aufs Was­ser und war­te /​ Bis ich jemand anders bin“.

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Tref­fen­de­re Wor­te sind sel­ten über Män­ner geschrie­ben wor­den. Die­ses gan­ze „Born To Run“-Dingen (also: Motor­rad oder Auto neh­men und los) wird hier ein­mal kurz dekon­stru­iert: Es ist halt ein­fach immer eine ganz bana­le Flucht. Vor dem, was der Mann „nicht mehr erträgt“. Ich ken­ne kaum einen Mann, egal wel­cher Gene­ra­ti­on, auf den die­se Stro­phe nicht pas­sen wür­de: Wenn mei­nem Groß­va­ter sei­ne Fami­lie zu viel wur­de oder ihm Kon­flik­te unlös­bar erschie­nen, fuhr er ein­fach weg. Ich hab mich als Teen­ager auf mein Fahr­rad geschwun­gen und bin zum Rhein­deich gefah­ren; spä­ter, in Bochum, bin ich ins Auto gestie­gen und zum Kem­n­ader See gefah­ren. Das Meer, das mich noch heu­te beru­higt wie sonst nichts auf der Welt, war mir dann doch immer ein biss­chen zu weit weg, aber Haupt­sa­che Was­ser! Ruhe fin­den im Fluss, pan­ta rhei. Das hier ein­mal so aus­for­mu­liert zu fin­den, in sei­ner gan­zen heroi­schen Lächer­lich­keit der Kon­flikt­ver­mei­dung und Kapi­tu­la­ti­on — das hat schon eine sehr ent­waff­nen­de, ernüch­tern­de Macht. Bis heu­te füh­le ich mich oft so, wie es Tom Liwa im Refrain beschreibt: „Für die lin­ke Spur zu lang­sam /​ Für die rech­te Spur zu schnell“. Eigent­lich müss­te es der Slo­gan aller Mil­len­ni­als sein.

In den Jah­ren 2000 und 2001 sahen mein bes­ter Freund und ich Tom Liwa vier Mal live. Meist stand er allein mit sei­ner Akus­tik­gi­tar­re auf der Büh­ne und spiel­te das, was er – in Anleh­nung an die damals popu­lä­ren „Dog­ma 95“-Filme – augen­zwin­kernd als „Dog­ma-Kon­zert“ bezeich­ne­te. Was aus den tol­len bis gran­dio­sen Songs ein rund­her­um groß­ar­ti­ges Album macht, ist jedoch auch die Pro­duk­ti­on Mar­cus Holz­ap­fel, die mir auch Jahr­zehn­te spä­ter noch wahn­sin­nig „undeutsch“ erscheint: sehr klar, alle Instru­men­te haben viel Raum, neben den domi­nie­ren­den Akus­tik- und den beglei­ten­den E‑Gitarren erklin­gen Quer­flö­ten, Vibra­pho­ne, Orgeln und Akkor­de­ons, gleich­zei­tig hat das Schlag­zeug einen fast absur­den Sta­di­on­rock-Appeal. Im Nach­hin­ein den­ke ich, dass die Vor­bil­der für die­sen Sound viel­leicht k.d. lang („Casa­no­vas Rück­kehr zum Pla­net der Affen“ klingt in den ers­ten Tak­ten buch­stäb­lich wie ein „Con­stant Craving“-Cover), Jeff Buck­ley und Wil­co gehei­ßen haben könn­ten. In jedem Fall ist es, neben all sei­nen inhalt­li­chen Stär­ken, immer noch eines der best­klin­gen­den deutsch­spra­chi­gen Alben aller Zei­ten.

Tex­te, die gleich­zei­tig auf magi­sche Art zugäng­lich und sper­rig sind, fand ich auch auf den frü­he­ren Flower­porn­oes-Alben, die ich mir nach und nach erschloss, wäh­rend vie­le Liwa-Alben nach „St. Amour“ oft­mals in buch­stäb­lich sehr ande­ren Sphä­ren spiel­ten. Zwi­schen­durch hat er mal sehr gute Alben beim Grand Hotel van Cleef ver­öf­fent­licht, aber sein Out­put und sei­ne Wech­sel von Labels und Ver­triebs­we­gen haben ähn­lich hohe Schlag­zah­len. Liwas aktu­ells­te Alben sind hoch­ge­lobt, aber weil er es sich erlau­ben kann (oder zumin­dest erlau­ben will), sie aus­schließ­lich außer­halb der Strea­ming­dienst-Aus­schlach­tungs­ket­ten anzu­bie­ten, sind sie ehr­lich gesagt auch ein biss­chen an mir vor­bei gegan­gen. Das weni­ge, was ich im ver­gan­ge­nen Jahr aus „Prim­zah­len aus dem Bar­do“ gehört habe, erin­ner­te aber durch­aus an alte Glanz­zei­ten. „Eine ande­re Zeit“ wur­de von der Redak­ti­on des deut­schen „Rol­ling Stone“ 2022 zum „Album des Jah­res“ gewählt. Klar: Ich käme heu­te sehr viel leich­ter an sei­ne Musik als vor 25 Jah­ren, aber ich bin eben auch Teil des Pro­blems der Musik­in­dus­trie (bzw. hier vor allem: der Künstler*innen), des­sen bin ich mir bewusst.

So ist auch „St. Amour“ bis heu­te nicht zum Strea­men ver­füg­bar. Man kann das Album zwar bei iTu­nes kau­fen, aber weder bei Apple Music noch bei Spo­ti­fy hören. Da sowohl das Label (Det­lef Diede­rich­sens Moll Ton­trä­ger) als auch der Ver­trieb (Ener­gie für Alle) inzwi­schen nicht mehr exis­tie­ren, kann man gebrauch­te CDs im Inter­net bestel­len, aber die Aura des etwas mys­ti­schen, nur mühe­voll zu beschaf­fe­nen, die das Album damals für mich hat­te, umgibt es inter­es­san­ter­wei­se bis heu­te.

Am 7. April 2000 ist es erschie­nen, heu­te vor 25 Jah­ren.