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Wette sich, wer kann

Die Nachricht, dass die Unterhaltungssendung “Wetten, dass..?” nach 33 Jahren ihren Geist aufgeben würde, war der Redaktion von “Spiegel Online” am Abend des 5. April sogar eine Breaking News wert. Autopsie und Trauerfeier waren da bereits in vollem Gange.

Das ZDF wurde für seine Pressemitteilungsformulierung der “geänderten Sehgewohnheiten” mit Häme überzogen — überwiegend von Menschen, die gerne amerikanische TV-Serien auf Computern und Tablets schauen und sich Sonntagsabends online verabreden, um gemeinschaftlich eine einzelne deutsche TV-Serie scheiße zu finden. Markus Lanz und die Redaktion wurden zu den Alleinschuldigen erklärt, was auch Quatsch war: Zwar hatten der joviale Baumarkteröffnungscharmeur und seine Truppe im Hintergrund, die es auch schon mal für eine gute Idee gehalten hatte, sich völlig ohne Grund eine ausschweifende Rassismusdebatte an den Hals zu holen, tatsächlich keinen guten Job gemacht, aber das Problem lag auch woanders. In einer Zeit, wo wirklich jeder durch Castingshow und YouTube zum “Star” werden kann, braucht der Normalbürger keine abseitigen Begabungen mehr, um für einen Abend im Rampenlicht zu stehen. Man kann es jetzt zu mittelfristiger TV-Prominenz bringen, ohne Wärmflaschen aufzupusten oder die Postleitzahlen aller deutschen Städte benennen zu können. ((Oder ohne irgendetwas zu können.)) Frank Elstner meldete sich auf Twitter zu Wort und vielerorts las man wieder von Elstner, kleinen Kindern in der Badewanne und im Bademantel. ((Was jetzt vielleicht ein bisschen unglücklich formuliert ist.))

Immer wieder kam das Bild auf, das Florian Illies 2000 beschrieben hatte: Wie er als Kind Samstagsabends, frisch gebadet und im Bademantel auf der Couch sitzen und “Wetten, dass..?” mit Frank Elstner gucken durfte. Illies beschrieb dies in seinem Bestseller “Generation Golf”, dessen Titel schon Teil des Problems ist, zu dem wir gleich noch kommen, und je mehr deckungsgleiche Wortmeldungen in den Sozialen Netzwerken aufschlugen, desto bohrender wurde die Frage: Hatten wir – das Personalpronomen ist hier besonders wichtig – wirklich so ähnliche Kindheitserlebnisse oder brach sich hier gerade die Erinnerungsverfälschung Raum, die sonst gerne auch schon mal gerne dafür sorgt, dass Menschen sich detailreich daran erinnern, wo sie bei der Mondlandung, der Ermordung John F. Kennedys, dem Mauerfall, dem Unfalltod von Diana Spencer und am 11. September 2001 waren — nur, dass das oft gar nicht stimmt.

Ich für meinen Teil bin zum Beispiel zu jung, um jemals bewusst “Wetten, dass..?” mit Frank Elstner gesehen zu haben. Ich erinnere mich an eine Ausgabe, in der jemand mithilfe handlicher Schrottballen sagen konnte, um was für ein Auto es sich zuvor gehandelt hatte. Es mag mein erster bewusster Kontakt mit der Sendung gewesen sein, der Moderator war wohl schon Thomas Gottschalk und wenn es da draußen jemanden gibt, der auf Anhieb sagen kann, ob das stimmt, wann die Sendung lief und aus welcher Mehrzweckhalle die Sendung damals kam, dann ist es jetzt zu spät, um aus dieser Inselbegabung noch Kapital zu schlagen.

Frank Elstner, das war für mich der Moderator von “Nase vorn”, dem vielleicht überambitioniertesten Unterhaltungsshowversuch, bis es ProSiebenSat1 mit der “Millionärswahl” versuchte, und der teilweise live von der Trabrennbahn in Dinslaken übertragen wurde, in deren buchstäblicher Wurfweite unsere damalige Wohnung lag. Mit großem Eifer glotzte ich damals jede Samstagabendshow weg, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen Ende der 1980er, Anfang der 1990er auf die Gebührenzahler losließ, ((“Verstehen Sie Spaß?” mit Paola und Kurt Felix! Der “Flitterabend”! Die “Goldmillion”!)) zur Not zwang ich meine Großeltern (und nicht andersherum), mit mir den “Musikantenstadl” zu schauen — es war eben Samstagabend, ich war da und wollte unterhalten werden! Am Liebsten aber die “Rudi Carrell Show” ((Ich bin unsicher, wann genau ich begriff, dass die Kandidaten – “gerade noch im Reisebüro, jetzt auf unserer Showbühne!” – sich gar nicht so schnell umziehen konnten, sondern dort mit vorab aufgezeichneten Beiträgen gearbeitet wurde, fürchte aber, es ist noch gar nicht sooo lange her.)) und später “Geld oder Liebe” mit Jürgen von der Lippe, das ich im Nachhinein gerne zur besten Samstagabendshow aller Zeiten verkläre. Wenn es mir gelänge, heute etwas ähnlich harmlos-anarchisch-unterhaltsames zu konzipieren, wäre ich ein gemachter Mann.

“Wetten, dass..?”, jedenfalls, ist im Begriff, sehr bald Geschichte zu sein, und all jene, die damals tatsächlich oder gefühlt im Bademantel zugeschaut hatten, gaben sich dem hin, was seit “Generation Golf” Allgemeingut ist: der fraternisierenden, leicht anironisierten Nostalgie derer, die für echte Nostalgie nicht nur zu jung sind, sondern auch zu wenig erlebt hatten. Und weil die Vertreter dieser … nun ja: Generation heute an den entscheidenden Stellen bundesdeutscher Onlinedienste und Medienseiten sitzen, kann man diese Erinnerungen überall lesen, wo sie von Menschen mit den gleichen tatsächlichen oder gefühlten Erinnerungen kommentiert werden, auf dass sich auch die Nachgeborenen damit infizieren und sich später felsenfest daran erinnern, wie sie damals selbst auf der Couch …

“Kids today gettin’ old too fast / They can’t wait to grow up so they can kiss some ass / They get nostalgic about the last ten years / Before the last ten years have passed”, hat Ben Folds mal gesungen. Das ist inzwischen neun Jahre her und die Entwicklung der Sozialen Netzwerke hat seitdem nicht gerade zu einer Entspannung der Situation beigetragen. “Throwback Thursday” nennen sie es, wenn Menschen am Donnerstag besonders peinliche ((Zu irgendeiner Zeit hätte man gesagt: “affige”.)) Fotos von sich selbst in einem jüngeren Zustand auf Facebook oder Twitter posten, was besonders reizvoll ist, wenn die Menschen Anfang Zwanzig und die Fotos selbst noch nicht mal im Grundschulalter sind. Jan Böhmermann ((Je nach Bezugsgeneration der Harald Schmidt oder Stefan Raab seiner eigenen Generation.)) sorgte im Frühjahr mit einem “So waren die 90er”-Video für Furore im deutschsprachigen Internet, 90er-Parties erfreuen sich schon seit einiger Zeit wachsender Beliebtheit und ich saß auch schon stocknüchtern inmitten unterschiedlich alkoholisierter Menschen auf Parties, starrte auf einen Laptopbildschirm und nahm einen YouTube-Reigen von Mr. President, Take That, Echt und Tic Tac Toe mit einer stets wechselnden Mischung aus Faszination, Abscheu, Nostalgie, Fassungslosigkeit und Begeisterung zur Kenntnis. Es waren Menschen mit ansonsten vermutlich tadellosem Musikgeschmack, aber niemand kam auf die Idee, wenigstens mal zur Abwechslung Interpreten wie Nirvana, Oasis oder Pearl Jam in die Runde zu werfen. Das war auch nicht mehr mit dem leidigen Thema Überironisierung zu erklären.

Mein Vater verabscheut heute mit großer Hingabe vieles, was sich auf den angeblich repräsentativen Hit-Samplern seiner Jugend findet, ((Mungo Jerry! The Lovin’ Spoonful!)) trotz fehlenden Alters waltet bei mir eine erschütternde Milde: Ich könnte jederzeit ausführlich und fundiert begründen, warum Sunrise Avenue große Grütze sind, würde mich aber im Zweifelsfall vermutlich dazu hinreißen lassen, “What Is Love?” von Haddaway wortreich gegen jedwede Kritik zu verteidigen.

Die Musik, die heute dort angesagt ist, wo Indiebereich und Mainstream kleinen Grenzverkehr pflegen, klingt oft, als sei sie schon mindestens 40 Jahre alt. Vor zehn, fünfzehn Jahren wurden haufenweise Fernsehserien der 70er und 80er fürs Kino adaptiert, heute sind plötzlich Fernsehserien erfolgreich, die auf 20 Jahre alten Kinofilmen basieren. Und das ist erst der Anfang.

Der Herm fragte letzte Woche auf Twitter:

Kurz darauf ging dann ein neuer “Terminator”-Trailer online.

Über das Phänomen der “Retromanie” sind inzwischen Artikel und ganze Bücher geschrieben worden. Und, klar: Wenn Kulturepochen nicht mehr 50 oder 100 Jahre dauern, sondern nur ein paar Monate ((Oder gar 140 Zeichen.)), können sie auch schneller wiederkommen. Die Renaissance rekurrierte noch auf ein Zeitalter, das seit etwa 800 Jahren vorbei war.

Und so ist in einer Zeit, in der angeblich alles individueller wird ((Mode- und Einrichtungsblogs sprechen da eine etwas andere Sprache.)), die Erinnerung an “Dolomiti”, “Yps” und “Raider” (“heißt jetzt ‘Twix'”) das, was die Menschen heimelig zusammenbringt. Die Jeanette-Biedermeier-Epoche.

Um “Wetten dass..?” wird jetzt bis zuletzt ein Gewese gemacht, das die Show selbst seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gerechtfertigt hat. Aber so ist das in Deutschland: Wir haben ja kulturell nicht so viel und wenn wir doch mal jemanden haben, werden diejenigen so sehr gefeiert, bis sie niemand mehr ernsthaft ertragen kann. Stichwort: Til Schweiger, Jan Josef Liefers, Helene Fischer, Unheilig. Alle vier sind am Samstag bei der letzten Sendung dabei.

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Musik Digital

Man sollte die guten Kerzen kaufen

Ich kann mit der Band Unheilig und ihrer Musik nichts anfangen, habe aber einen gewissen Respekt davor, wie der sogenannte Graf da seit Jahren sein Ding durchzieht und damit inzwischen auch große Erfolge feiert. Vergangenen Freitag erschien das neue Album “Lichter der Stadt”, das natürlich auf Platz 1 der Charts einsteigen wird.

Der Kollege Sebastian Dalkowski hat den Grafen für “RP Online” getroffen und es ist das großartigste Interview mit dem König des Gothic-Schlagers, das ich je gelesen habe.

Gut: Es ist auch das bisher Erste, aber es ist trotzdem überraschend unterhaltsam.

Auf Ihren Konzerten und in Ihren Videos sind immer Kerzen zu sehen. Wo kaufen Sie die?

Das sind Altarkerzen. Meine ersten Kerzen habe ich, da ich aus Aachen komme, noch im Kerzenladen am Dom gekauft. Die haben sich natürlich gefreut, als ich 30 Stück genommen habe. Die Dinger sind schließlich schweineteuer. Damals war es noch richtig schwer, so viele auf einmal zu kaufen. Heute geht das alles übers Internet. Als ich mit Unheilig angefangen habe, war Internet noch nicht normal. Ich habe 1999 noch darüber nachgedacht: Sollste dir dieses Internet anschaffen?

Augen auf beim Kerzenkauf?

Man sollte die guten Kerzen kaufen. Die Kerzen werden auf Tour oft an- und ausgemacht. Und bei schlechten Kerzen wird der Docht dann immer kürzer und du bekommst sie nicht mehr an. Das kennen wir vom Adventskranz, wenn schon am zweiten Advent die Kerze vom ersten Advent nicht mehr brennen will. Da musst du dann das Schweizer Taschenmesser rausholen, um den Docht freizukratzen.

“Kauft keine schlechten Kerzen!” bei “RP Online”

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Musik Gesellschaft

Death Of A Clown

Heute pfeifen wir mal auf all unsere Prinzipien und bringen eine Pressemitteilung im vollen Original-Wortlaut:

Pressemitteilung

Top Ten der Trauerhits: Unheilig Aufsteiger des Jahres bei Beerdigungen

Hamburg, 08. September 2011 – Seit über einem Jahr dominiert die Band Unheilig die deutschen Album Charts. Ihre Hitsingle “Geboren um zu leben” ist laut einer Umfrage von Bestattungen.de schon das zweitmeist gespielte Lied bei Trauerfeiern. Dies ist nur ein Beispiel für den allgemeinen Trend: Trauermusik wird aktueller und individueller. Bestattungen.de hat Bestatter und Angehörige befragt und die diesjährigen Top Ten der “Trauerhits” erstellt.

2011 belegt wie im Vorjahr “Time To Say Goodbye” von Sarah Brightman den ersten Platz. “Pop-Balladen dominieren weiter. Aber der Erfolg von Unheilig und die Top Ten Platzierung des Titels ‘Highway To Hell’ von AC/DC zeigen, dass sich der gesellschaftliche Trend zum Individualismus ebenfalls bei der Auswahl von Trauermusik abzeichnet”, erläutert Bestattungen.de-Geschäftsführer Fabian Schaaf.

Hinter Brightman und Unheilig folgt der verstorbene Hawaiianer Israel Kamakawiwo’ole mit “Somewhere Over The Rainbow” auf Platz drei. Auch Klassik und Schlager findet sich in der Bestenliste, wie “Ave Maria”
von Franz Schubert (Platz vier) und “Über den Wolken” von Reinhard Mey (Platz acht). “Ältere Titel sind weiterhin stark vertreten. Jedoch zeigt sich, dass sich immer mehr Angehörige für aktuelle Titel entscheiden”, erläutert Schaaf.

Während Bestattungen früher gemäß den gesellschaftlichen Normen sehr konservativ waren, gibt es heute nicht mehr die “normale” Bestattung. Daher erwarten die Experten von Bestattungen.de, dass sich der Trend
zu individueller und ausgefallener Musik weiter verstärken wird.

“Musik ist enorm wichtig für die Trauerbewältigung. Bestatter müssen mit der Zeit gehen und den persönlichen Willen des Verstorbenen und der Angehörigen akzeptieren. Ganz egal, welche Musikrichtung gewünscht wird”, fordert Bestatter Burkhard Huber. Musik von Unheilig und Lieder wie “Always Look On The Bright Side Of Life” von Eric Idle oder sogar “Biene Maja” von Karel Gott sind heute kein Tabu mehr, sondern werden bei Trauerfeiern immer häufiger gespielt.

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Musik

2010 – the year something broke

In Jahresendzeitstimmung schaut man ja gerne zurück auf das endende Jahr, resümiert und fertigt – wenn man derlei Neurosen pflegt – obskure Listen an. Auf eine Leserwahl haben wir nach dem Muse-Debakel im Vorjahr einfach mal verzichtet und Unheilig per Akklamation zu Ihrer Lieblingsband 2010 ernannt.

Doch die letzten Dezembertage ließen mich auch persönlich nachdenklich zurück: Was hatte ich eigentlich gehört und gut gefunden?

Meine last.fm-Charts waren einigermaßen wertlos: Aus verschiedenen Gründen tauchten Songs wie “Fireflies” (Owl City), “Baby” (Justin Bieber) oder “Catch Me I’m Falling” (Real Life, hätten Sie’s gewusst?) in meinen Jahres-Top-25 auf, was ich in erster Linie besorgniserregend fand. Außerdem waren alle Songs des Albums von The National dabei, was immerhin schon mal einen deutlichen Hinweis auf das Album des Jahres gibt, denn so unfassbar groß wie “High Violet” war 2010 tatsächlich nichts mehr.

Es ist nicht auszuschließen, dass ich das Beste wie üblich übersehen habe: Arcade Fire, Get Cape. Wear Cape. Fly, Eels, Sufjan Stevens — alles nicht oft genug gehört, weil mir der Sinn grad nach etwas Anderem stand. So habe ich ja auch “Only Revolutions” von Biffy Clyro erst im Oktober 2010 für mich entdeckt, es ist also denkbar, dass es auch im letzten Jahr wenigstens ein gutes Gitarrenrock-Album gab — wahrscheinlich ist es allerdings nicht, zu wenig ist in den vergangenen Jahren im Rocksegment passiert. Die Manic Street Preachers etwa haben mit “Postcards From A Young Man” ein durchaus sehr gutes Spätwerk rausgebracht, aber geknallt hat das jetzt auch nicht richtig. Und falls es spannende Neulinge gab, muss ich sie allesamt übersehen haben: The Hold Steady haben souverän gerockt, Jason Lytle hat mit seiner Post-Grandaddy-Band Admiral Radley schön verschrobenen Indierock gemacht, The Gaslight Anthem waren okay, Ende des Jahres kam mit “All Soul’s Day” ein ordentliches Lebenszeichen von The Ataris — aber, Entschuldigung: Wir sprechen vom Jahr 2010! Völlig okay, dass Ben Folds mit lyrischer Unterstützung von Nick Hornby endlich mal wieder ein richtig gutes Album gemacht hat, aber der Mann ist jetzt auch schon seit 17 Jahren dabei.

Immerhin haben nicht alle Bands so enttäuscht wie Wir Sind Helden, Shout Out Louds, Stereophonics oder – richtig schlecht – Jimmy Eat World und Danko Jones. Weezer haben angeblich schon wieder mindestens ein Album veröffentlicht. Die meisten meiner Lieblingsbands hatten sich eh eine Auszeit genommen und ihre Sänger solo vorgeschickt: Alles überragte dabei Jónsi von Sigur Rós, dessen “Go” zu den besten Alben des Jahres gehört. Jakob Dylan war schon zum zweiten Mal ohne Wallflowers unterwegs, hat die Band aber immer noch nicht aufgelöst. Dabei ist das düster-folkige “Women & Country” eigentlich besser als alles, was er vorher gemacht hat. Fran Healy (Travis) und Brandon Flowers (The Killers) ließen erst Therapiesitzungen erwarten, klangen dann aber gar nicht mehr so anders als ihre Bands — eben gut, aber auch nicht mehr so richtig spannend. Carl Barât gehört auch irgendwie in diese Aufzählung, obwohl er die Dirty Pretty Things ja längst aufgelöst hat und es die Libertines wieder gibt. Kele (Bloc Party) und Paul Smith (Maxïmo Park) hab ich verpasst. Und dieses Jahr veröffentlicht dann Thees Uhlmann (Tomte) sein Solo-Debüt …

In Sachen Hip-Hop ging auch nicht mehr so richtig viel: Kid Cudi blieb mit seinem Zweitwerk hinter den Erwartungen zurück, Kanye West hat ein irres Gesamtkunstwerk rausgebracht, das mit dem Album eines Einzelinterpreten wenig gemein hat und sich mir womöglich erst in ein, zwei Jahrhunderten erschließen wird. Eminem war durchaus kraftvoll wieder da, kriegte den meisten Airplay aber für ein Duett mit der langsam unvermeidlichen Rihanna. Aus Großbritannien kam immerhin Professor Green mit einem dreckig-bunten Grime-Strauß.

Im Pop gab es (neben Lady Gaga) vor allem zwei Themen: Das große Comeback von Take That als Quintett und Lena. Mit Hilfe von Stuart Price (s.a. Scissor Sisters) nahm die einstige Vorzeige-Boygroup (Huch, aus welchem Paralleluniversum kam denn diese Klischee-Formulierung?) ein erstaunlich elektronisches Album auf — “reif” hatte die Band seit ihrem Comeback 2006 ja die ganze Zeit geklungen. Die zu “Progress” gehörende Dokumentation “Look Back, Don’t Stare” zeigt die Fünf dann auch als weise ältere Herren, die ihre Dämonen langsam aber sicher alle bekämpft haben und jedem Mann Mitte/Ende Zwanzig Mut machen, in zehn bis fünfzehn Jahren so gut auszusehen wie nie zuvor. Oder man zeugt wenigstens eine Tochter wie Lena Meyer-Landrut, die exakt fünf Takte brauchte, bis sich erst alle Zuschauer von “Unser Star für Oslo” und dann 85% der deutschen Bevölkerung in sie verliebten. Natürlich war der Triumph beim Eurovision Song Contest eine mittelschwere Sensation und auch für mich persönlich ein Erlebnis, aber das Album “My Cassette Player” war leider trotzdem eine ziemliche Enttäuschung. Textlich schwer rührend, aber auch völlig seelenlos produziert, ragt das von Ellie Goulding geschriebene “Not Following” hervor, der Rest ist nett, aber belanglos.

Was kam sonst aus Deutschland? Tocotronic, die mich etwas ratlos zurückließen, Erdmöbel mit dem besten deutschsprachigen Album seit Jahren, Die Fantastischen Vier, die sich irgendwo zwischen “Bild”-Interview (in Morgenmänteln im Bett!) und Werbedeals vollends der Bedeutungslosigkeit hingaben, während Fettes Brot ihr vorläufiges Ende verkündeten. Und dann halt so Leute, die man persönlich kennt wie Tommy Finke, Enno Bunger oder die phantasischen Polyana Felbel.

Auf vier bis acht großartige Alben folgt eine ganze Menge Mittelmaß und die Gewissheit, dass ich vieles sicher noch überhört habe. Dafür haben mich die Alben, die ich dann tatsächlich gehört habe, zu sehr aufgehalten: The National, Erdmöbel, Delphic, Jónsi, Jakob Dylan und die Vorjahresübersehungen Biffy Clyro und Mumford & Sons. Die Liste meiner Lieblingssongs wird irgendwo hinter Platz 8 recht schnell beliebig, hat aber immerhin einen richtigen Kracher auf der Eins: “Tokyo” von The Wombats, mit denen ich ehrlich gesagt am allerwenigsten gerechnet hätte.

In den Charts dominierten erst die Fußballhymnen (das vom Kommerz zerstörte “Wavin’ Flag” von K’naan und das nur nervige “Waka Waka” von Shakira), ehe sich das Land zum Jahresende zwei wahnsinnig unwahrscheinliche Nummer-Eins-Hits gönnte: Eine 17 Jahre alte Kreuzung zweier Evergreens auf der Ukulele, gesungen vom schwergewichtigen und zwischenzeitlich verstorbenen Israel Kamakawiwo’ole und ein aus dem Werbefernsehen bekannter, ursprünglich nicht als Single angedachter Song von Empire Of The Sun, die anderthalb Jahre zuvor erfolglos versucht hatten, mit einem sehr viel eingängigeren Song über das Werbefernsehen erfolgreich zu sein. In den Albumcharts durfte sowieso jeder mal ran und wenn gerade kein großer Name (Peter Maffay, AC/DC, Iron Maiden, Joe Cocker, Depeche Mode, Bruce Springsteen) sein neues Album rausgehauen hatte, schossen wie selbstverständlich Unheilig wieder an die Spitze der Hitparade.

Na ja: Neues Jahr, neues Glück.

Songs & Alben 2010 — Die Listen

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Rundfunk Musik

Leser fragen, Heinser antworten (1)

Leserin Katharina S. aus K. fragt: “Unheilig. Was ist das für Musik, wer hört das?”

Lukas Heinser antwortet: Viele Menschen, die sich sonst nicht für Musik interessieren

Und: Elmar Theveßen, Stellvertretender Chefredakteur und Terrorismusexperte des ZDF:

Was hat ihn am meisten beschäftigt, beeindruckt, betroffen gemacht?

“Zwischen all dem Leid in diesem Jahr haben die Bilder von der Rettung der Bergleute in Chile so unendlich gut getan. Dazu noch der Song ‘Geboren, um zu leben’. Genau darum geht es doch eigentlich bei allem, auch wenn wir das manchmal vergessen”, so Theveßen.

[Quelle: Pressenewsletter des ZDF.]

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2010 — Der Jahresrückblick (Teil 2)

In der zweiten Folge unseres Jahresrückblicks sprechen Herr Finke, Herr Redelings und ich über Musik, Fußball und Politik, sowie über andere Katastrophen:

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Musik Digital

Wer kann am längsten?

Das mit den Charts ist natürlich sowieso so eine Sache: Bis vor wenigen Jahren wurden die Hitparaden der meistverkauften Tonträger noch mit Hilfe der Knochen von im Mondlicht geschlachteten Hühnern errechnet. Mittlerweile listen sie tatsächliche Verkäufe auf, aber was drückt das schon aus, solange die absoluten Zahlen geheim gehalten werden und man in manchen Wochen angeblich schon mit dreistelligen Absatzzahlen in die Top 100 kommt?

Diese Woche wurde dennoch eine kleine Sensation gefeiert: Die Band Unheil…

Moment, bevor ich weiterschreibe: Ich habe keine Ahnung, wer oder was Unheilig ist oder wie ihre Musik klingt. Die Single “Geboren um zu Leben”, die angeblich über Wochen die Charts und die Radiostationen dominiert hat und in dieser Zeit mehrere Milliarden Male gekauft wurde, habe ich ein einziges Mal versehentlich im Musikfernsehen gesehen. Ich fand’s nicht gut, aber auch zu egal, um mich darüber aufzuregen, solange es noch Revolverheld gibt.

Unheilig jedenfalls ist eine kleine Sensation gelungen: 15 Mal stand ihr Album “Große Freiheit” auf Platz 1 der deutschen Charts — ein Mal öfter als Herbert Grönemeyers “Ö” von 1988.

Wichtig ist hier das Wörtchen “öfter”, denn während Grönemeyer 14 Wochen am Stück die Chartspitze blockierte, gingen Unheilig immer mal wieder “auf Eins”. Die Behauptung “am längsten” wäre also falsch.

Und damit kommen wir zu einer Pressemitteilung, die Media Control, das Unternehmen, das in Deutschland die Charts ermittelt, am Dienstag verschickte:

Unglaublicher Rekord für den Grafen und seine Band Unheilig: Zum 15. Mal stehen sie mit “Große Freiheit” an der Spitze der media control Album-Charts – und legen damit das am längsten auf eins platzierte deutsche Album aller Zeiten hin.

Dabei schloss man sich der Formulierung von Unheiligs Plattenfirma Universal an, die am Vortag verkündet hatte:

Seit dieser Woche ist Unheilig mit dem aktuellen Album “Grosse Freiheit” mit insgesamt 15 Wochen an der Spitze der deutschen Albumcharts das am längsten auf Nummer 1 platzierte deutsche Album aller Zeiten!

Mit diesen Vorlagen standen die Chancen auf eine fehlerfreie Berichterstattung bei Null:

Die Platte “Große Freiheit” ist das am längsten auf eins platzierte deutsche Album in den deutschen Charts.

(“Welt Online”)

Damit ist die Platte “das am längsten auf eins platzierte deutsche Album”.

(dpa)

Damit ist die Platte das am längsten auf Rang eins platzierte deutsche Album aller Zeiten.

(“RP Online”)

Zum 15. Mal stehen sie mit ihrer Platte “Große Freiheit” an der Spitze der Album-Charts und legen damit das am längsten auf Platz 1 platzierte deutsche Album aller Zeiten hin, wie Media Control mitteilte.

(Bild.de)

Und weil die Anzahl der Chartplatzierungen keinerlei Schlüsse auf die tatsächlichen Absatzzahlen zulässt, ist die Formulierung von motor.de besonders falsch:

Damit verdrängt Bernd Heinrich Graf, wie der Musiker mit bürgerlichen Namen heißt, seinen Kollegen Herbert Grönemeyer vom ewigen Thron der am meistverkauften deutschsprachigen Pop-Alben aller Zeiten.

Das Schöne ist: Es ist alles noch komplizierter. Media Control ist nämlich erst seit 1977 für die Erfassung der deutschen Musikcharts zuständig, vorher oblag diese Aufgabe dem Magazin “Musikmarkt”. Und das führte vom 31. Mai bis zum 3. Oktober 1974 – und damit geschlagene 18 Wochen – “Otto 2” von Otto Waalkes auf Platz 1. Somit würden Unheilig, die heute mal wieder von der Spitzenposition gefallen sind, noch vier Wochen fehlen zum Rekord.

Aber auch hier gibt es wieder einen Haken: Der “Musikmarkt” hat die Charts damals noch Monatsweise veröffentlicht, man kann also nicht sagen, ob sich während der 18 Wochen nicht vielleicht mal das eine oder andere Album für eine Woche besser verkauft hat als “Otto 2”.

Wie gesagt: Das mit den Charts ist so eine Sache. Aber was wären die Medien und die Plattenfirmen ohne sie?

Mit Dank auch an Marco Sch.